Wie wir die Nazizeit erlebten (Steidl Pocket) - Bernt Engelmann - E-Book

Wie wir die Nazizeit erlebten (Steidl Pocket) E-Book

Bernt Engelmann

0,0

Beschreibung

Fast neunzig Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten beschäftigt uns immer noch die Frage, die heute aktueller ist denn je: Wie konnte das alles geschehen? Wie erlebten 65 Millionen Männer, Frauen und Kinder im »Dritten Reich« die Zeit zwischen der Machtübernahme und dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Bernt Engelmann, der den Beginn des Terrors als Zwölfjähriger miterlebte, hat ganz verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen befragt: Menschen, die von den Ideen der »Bewegung« begeistert waren, Menschen, die sich aus Angst vor Repressionen in den Dienst der Nazis stellten, aber auch Menschen, die Widerstand leisteten, wie »Tante Änne«, in deren Konditorei NS-Größen verkehrten und die Verfolgten half, ins sichere Ausland zu fliehen. So ist eine ungewöhnliche, vielstimmige Chronik des »Dritten Reiches« entstanden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 832

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



BERNT ENGELMANN

WIE WIR DIE NAZIZEIT ERLEBTEN

Steidl Pocket

Inhalt

Cover

Titel

Im Gleichschritt marsch 1933 bis 1939

Vorbemerkung des Autors

Wie die Republik unterging

1Schatten der Vergangenheit

2Wie das ›Dritte Reich‹ begann

3Zwischen Tanzstunde und Folterkeller

4Wie wir gleichgeschaltet wurden

5Wie viele Nazis gab es?

6Wie der letzte Widerstand gebrochen wurde

7Konnte man wirklich nichts dagegen machen?

8Von Menschen, die zu helfen verstanden

9Wie die Schraube weiter angezogen wurde

10Vom Widerstand in Hamburg

11Besuch aus Basel

12Der Führer hat immer recht

13Wie manch einer durch die Nazizeit kam

14Vom ›Anschluss‹ zur ›Reichskristallnacht‹

15Bei der blonden Katrein

16Kennen Sie Buchenwald?

17Das Marschieren kann eine Idee sein

18Vorsicht – Feind hört mit!

19Der Anfang vom Ende

Bis alles in Scherben fällt 1939 bis 1945

Vorbemerkung des Autors

1Wie der Krieg begann

2Wo die Nordseewellen …

3›Weserübung‹ und die Folgen

4›Lebensborn‹ – in dreißig Jahren 6.000 Regimenter mehr

5Sommer 1940 – Hitlers Triumph und der Anfang vom Ende

6Der Tod des ›Seelöwen‹

7… die im Dunkeln sieht man nicht …

8Gegen den Uhrzeiger

9Von Kakadus und Nachtigallen

10Wie aus dem ›Endsieg‹ die ›Spinnstoffsammlung‹ wurde

11Wie sich Menschen an Hoffnungen klammern

12Von einem, der nur seine Pflicht tat

13Eine Künstlerin auf Tournee I

14Die Abenteuer eines deutschen Dichters in Polen

15Eine Künstlerin auf Tournee II

16Plan 7

17Anspannung aller Kräfte

18Einer, der der Hölle entrann

19›Tante Martha‹ wird beerdigt

20Die drei Schutzengel

21Warten auf Befreiung

Impressum

Vorbemerkung des Autors

Dieser Schilderung des Lebens in Deutschland während der Nazi-Herrschaft, deren erster Band, Im Gleichschritt marsch!, die Jahre 1932 bis 1939 beschreibt, liegen – neben meinen eigenen Erinnerungen – die Berichte von vielen Personen zugrunde. Ihre Aussagen sind größtenteils wörtlich, anhand von Tonbandaufzeichnungen, in den Text aufgenommen worden.

Dabei wurden – wie es meinen Interviewpartnern von mir zugesichert worden war – die meisten Namen, Orts- und sonstigen Angaben, die auf die wahre Identität der betreffenden Personen schließen lassen könnten, abgeändert. An dem Wahrheitsgehalt ändert sich dadurch nichts.

Alle Schilderungen tatsächlicher Ereignisse wurden, da im Abstand von fast einem halben Jahrhundert Irrtümer und Verwechslungen nicht auszuschließen waren, sorgfältig überprüft und, wo nötig, korrigiert.

Zahlenangaben, zum Beispiel in Bezug auf Preise oder Löhne, wurden mit den amtlichen Statistiken verglichen. Ebenfalls zur Überprüfung, besonders von Stimmungsberichten, wurden die vorhandenen Lageberichte des Sicherheitsdienstes (SD) sowie die ›Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade)‹ aus den Jahren 1934–1940 herangezogen.

Wie die Republik unterging

Die Herrschaft der Nazis, die sie selbst das ›Dritte Reich‹ nannten, begann für mich nicht erst am 30. Januar 1933, einem Montag. Da wehte, als ich morgens, kurz vor acht Uhr zur Schule kam, am Mast des kleinen Türmchens auf dem Dach unseres Gymnasiums in Berlin-Wilmersdorf eine große Hakenkreuzfahne. Unter den Schülern und erst recht bei den Lehrern herrschte große Aufregung. Alle standen auf dem Schulhof herum und redeten aufeinander ein. Im Vorübergehen hörte ich, wie ein älterer Lehrer den Hausmeister anfuhr: »Nun holen Sie sie doch endlich herunter! Es ist ein Skandal! Warum stehen Sie hier herum?«

Der Hausmeister antwortete, ziemlich unverschämt grinsend, dass der Schlüssel zur Turmtür verschwunden sei. Der Herr Direktor telefoniere gerade mit der Schulbehörde, die entscheiden solle, was nun zu geschehen habe. Einige ältere Schüler, die dabeistanden, lachten. Einer sagte: »Vielleicht ist Adolf Hitler schon Reichskanzler geworden – dann muss die Fahne natürlich am Mast bleiben!«

»Dann rollen bald Köpfe!«, ließ sich ein anderer vernehmen, und der Hausmeister nickte beifällig.

Der Lehrer tat so, als hätte er nichts gehört, und wandte sich ab. Dann wurde es plötzlich still auf dem Schulhof. Alle reckten die Hälse und starrten nach oben, wo jemand aus einer Dachluke kletterte, und als erkennbar wurde, wer der Mann auf dem Dach war und was er dort machte, begannen erst einige wenige, dann immer mehr Schüler und Lehrer Beifall zu klatschen. Die Pfui-Rufe und Pfiffe, die folgten, gingen unter in dem nun schon stürmischen Applaus.

Der Mann auf dem Dach war Dr. Levy, unser Französischlehrer. Wir erkannten ihn daran, dass der linke Ärmel seines Jacketts leer war und lose im Wind flatterte, als er sich von außen über das Dach dem Türmchen näherte, die eiserne Feuerleiter hinaufstieg, sich über das Gitter schwang und die Hakenkreuzfahne einholte. In der zweiten Stunde hatten wir bei Dr. Levy Unterricht. Alle Hoffnungen, er würde mit uns über den Vorfall sprechen, wurden enttäuscht. Die Stunde verlief wie gewöhnlich: Wir nahmen ein neues Stück durch, und dann schrieb Dr. Levy die unregelmäßigen Verben an die Tafel. Die Reihe wurde immer länger, und als die Tafel voll war, schob er sie nach oben, um auf der zweiten, bisher verdeckten Tafel die letzten, noch fehlenden Verben anzuschreiben. Aber da standen bereits, in großen Blockbuchstaben, zwei Worte: SALOPE JUIF!

Diese Vokabeln waren uns unbekannt, und auch Dr. Levy, so schien es zunächst, wusste damit nichts anzufangen. Jedenfalls starrte er kopfschüttelnd auf die Tafel. Dann drehte er sich zur Klasse um und fragte: »Hat jemand von euch das geschrieben? Nein? Ich glaube es euch – in dieser Klasse gibt es keinen, dem ich so etwas zutraue … Weiß jemand, was die Worte bedeuten sollen? Nein? Ich dachte es mir … Also, ›salope‹ bedeutet umgangssprachlich und figürlich soviel wie ›Sau‹. Das Wort ist auch im Französischen feminin – ›la salope‹ -, und daher müsste das Adjektiv richtig ›juive‹ heißen, nicht ›juif‹. ›Le juif‹ ist die französische Bezeichnung für ›Jude‹, ›juif, juive‹ heißt ›jüdisch‹ … Was dort geschrieben steht, könnte also mit ›jüdische Sau‹ übersetzt werden. Gemeint ist vermutlich ›Judensau‹, aber derjenige, der mir diese Beschimpfung zugedacht hat, kann mit der französischen Sprache nicht umgehen und war nicht einmal imstande, aus dem Lexikon richtig abzuschreiben …«

Dann nahm er den Schwamm, wischte das Wort ›SALOPE‹ aus und schrieb dafür ein neues Wort. Nun stand ›MANCHOT JUIF‹ an der Tafel. ›Manchot‹, das wussten wir von ihm, war die umgangssprachliche Bezeichnung für Kriegskrüppel, die einen Arm verloren hatten – wie er 1917 bei Arras.

An diesem Tag, dem 30. Mai 1932, fühlten sich die Nazis schon ›so gut wie an der Macht«, wie ich einen von ihnen sagen hörte, als wir mittags nach Hause gingen. Es war ein Untersekundaner, drei oder vier Jahre älter als ich. Er trug auch in der Schule Breecheshosen, braune Motorradstiefel und unter dem Pullover, den er noch auf dem Schulhof auszog, ein Braunhemd mit Hakenkreuzarmbinde, Koppel und Schulterriemen.

Der Grund für die Siegesgewissheit, die sich unter den Nazis ausgebreitet hatte, war ihr Sieg bei den Landtagswahlen in Oldenburg, wo sie tags zuvor die absolute Mehrheit errungen hatten. Außerdem war der Reichskanzler Brüning, dem der Reichspräsident v. Hindenburg »das Vertrauen entzogen« hatte, soeben zurückgetreten. Viele rechneten damit, dass Hitler Brünings Nachfolger werden würde, obwohl sich erst im April bei den Präsidentenwahlen fast zwei Drittel aller deutschen Wähler gegen ihn entschieden hatten.

Die etwa vierzig Nazis unter den rund 450 Schülern unseres Gymnasiums waren wohl davon überzeugt, dass die Stunde ihres Sieges schon geschlagen hätte. Jedenfalls führten sie sich an diesem Montag so auf; die Flaggenhissung und die Verunglimpfung des einzigen jüdischen Lehrers stellten nur den Auftakt dar zu dem, was sich im Laufe des Vormittags noch ereignete:

In der großen Pause gingen drei Schüler aus der Oberstufe, einer in SA-, die beiden anderen in HJ-Uniform, zum Direktor, um sich über Dr. Levy zu beschweren. Es war eine offene Provokation, denn die Reichsregierung hatte ein striktes Uniformverbot für alle politischen Kampfverbände erlassen. Der Direktor hätte eigentlich sofort die Polizei rufen müssen. Stattdessen hörte er sich an, was die drei gegen Dr. Levy vorbrachten: Er habe als Jude kein Recht, sich in ›deutsche Angelegenheiten‹ einzumischen, außerdem habe er die Fahne der ›Bewegung‹ entweiht! Anstatt die drei hinauszuwerfen, versprach der Direktor ihnen ›eine sorgfältige Prüfung‹ des Falles, und den Studienrat Dr. Levy beurlaubte er ›bis auf Weiteres‹ Es sprach sich an der Schule wie ein Lauffeuer herum. Die meisten Schüler waren empört, die Nazis feixten.

So ermuntert, begannen sie mittags, als der Unterricht vorbei war, Jagd auf jüdische Mitschüler zu machen. Ihr erstes Opfer war Philipp Löwenstein, ein schmächtiger, immer sehr blasser Junge von knapp zwölf Jahren aus meiner Parallelklasse.

Vier Hitlerjungen aus der Mittelstufe, alle einen Kopf größer und wesentlich stärker als Philipp, überfielen ihn am Hohenzollerndamm und schlugen ihn mit Fäusten und Schulterriemen so zusammen, dass er aus Mund und Nase blutend am Boden lag und sich vor Schmerzen krümmte. Als einige meiner Klassenkameraden und ich herbeigerannt kamen, ließen sie eilig von ihm ab und zogen sich auf die andere Straßenseite zurück. Einer schrie uns zu: »Wenn Hitler heute an die Macht kommt, dann hängen wir sie alle auf, diese Judensäue!«

Als ich dann mit einiger Verspätung zu Hause am Mittagstisch Platz nahm, erkundigte ich mich als Erstes, ob es wirklich stimme, dass Hitler heute zum Reichskanzler ernannt werden würde. Ich war sehr erleichtert, als ich erfuhr, dass sich die Nazis zu früh gefreut hatten. Ich erzählte dann meinen Eltern, was in der Schule passiert war und wie sich unser Direktor von den Hitlerjungen hatte einschüchtern lassen.

»An solcher Feigheit geht die Republik zugrunde«, sagte mein Vater, und meine Mutter meinte, schon auf der letzten Elternversammlung sei ihr einiges aufgefallen: Der Direktor habe zwar erklärt, er werde ›mit äußerster Strenge‹ jede Politisierung seiner Schule verhindern, aber er habe es vermieden, etwas zu sagen, das sich gegen die Nazis richtete. Es ging immer nur gegen die anderen, sagte sie, und das mit sehr markigen Sprüchen. Man erkenne es ja schon am Ton, wenn einer mit den Nazis sympathisiere.

Bald darauf zogen wir von Berlin fort, und ich kam auf eine neue Schule, wo vom ›Dritten Reich‹ glücklicherweise noch nichts zu spüren war.

Seitdem sind fast fünfzig Jahre vergangen, und zwölf davon waren dann das ›Dritte Reich‹, die Jahre der Nazi-Herrschaft. Sie haben meine Generation geprägt, die Hoffnungen der einen gründlich zerstört, die schlimmsten Befürchtungen der anderen noch bei Weitem übertroffen. Und dennoch begegnet man mitunter Überlebenden dieser Jahre, an denen die größte Katastrophe der neueren deutschen Geschichte anscheinend spurlos vorübergegangen ist.

1Schatten der Vergangenheit

»Hören Sie, lieber Doktor, dieses ewige Verhandeln, das ist doch Quatsch, das führt doch zu nichts! Die einzige Sprache, die der Russe versteht, ist eiserne Härte! Nachgeben ist Schwäche, und die nutzt er sofort aus. Er muss die Überlegenheit zu spüren bekommen, glauben Sie mir das!«

Es war in Detmold, im Herbst 1981. Der Herr am Nebentisch des Hotelrestaurants, in dem ich zu Mittag gegessen hatte, redete so laut, dass ich die Lektüre der ›Lippischen Rundschau‹ unterbrach und zu ihm hinsah. Es war ein hochgewachsener Endsechziger mit kurz geschnittenen grauen Haaren, ein sonnengebräunter, energischer Managertyp. Am Revers seines dunkelblauen Blazers trug er ein winziges Rotarierabzeichen.

»Stellen Sie sich vor, lieber Doktor, die Sowjets greifen uns wieder an! Dann helfen keine wirtschaftlichen Sanktionen und keine bloßen Proteste … Man darf beim Russen keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass man selbst der Stärkere ist, sonst fällt er erbarmungslos über einen her. Ich kenne doch den Iwan! Damals, im Dezember ’43, westlich von Kiew, bei Schitomir, da war ich als junger Dachs …«

Während er nun von seinen Kriegserlebnissen erzählte, rechnete ich nach: 1943/44, als die sowjetischen Truppen bei ihrer großen Gegenoffensive eine deutsche Armee nach der anderen eingekesselt und aufgerieben hatten, musste dieser Herr am Nebentisch schon etwa dreißig Jahre alt gewesen sein, jedenfalls alt genug, um gewusst zu haben, dass der Krieg im Osten mit einem deutschen Überfall, erst auf Polen, dann auf die Sowjetunion, begonnen hatte, und wer dann mit wem ›erbarmungslos‹ umgegangen war. Er erzählte gerade seinem Gesprächspartner – der sich mir dann mehrmals, etwas verlegen, zuwandte, wie wenn er für den anderen um Entschuldigung bitten wollte –, dass er damals ›Panzerführer bei der Leibstandarte‹ war; dass er sich freiwillig zum Fronteinsatz im Osten gemeldet hatte. Ich musste an jemanden denken, der vor vielen Jahren ebenfalls in Russland gewesen war und damals ganz ähnlich geredet hatte: ›Hart durchgreifend‹ ›keine Schlappheit‹, ›Volkstumskampf‹ und ›staatspolitische Notwendigkeiten‹ … Schon seit Tagen verfolgten mich solche und ähnliche Erinnerungen, immer wieder wachgerufen durch irgendwelche Äußerungen anderer, die ich zufällig gehört oder gelesen hatte. Am Morgen dieses Tages, im Speisewagen des Zugs, mit dem ich von Köln nach Bielefeld gereist war, hatten sich zwei Herren über die Lage in Mittelamerika unterhalten. Der eine hatte die Militärs verteidigt, die sich der Guerilleros – ›Das sind doch Partisanen, und da gibt’s bekanntlich kein Pardon!‹ – anders als durch sehr drastische ›Maßnahmen‹ nicht mehr erwehren könnten.

»Wo gehobelt wird, fallen Späne«, hatte er noch hinzugefügt und damit meine Erinnerung an eine Zeit wachgerufen, als dieses Sprichwort immerzu zur Entschuldigung von Gräueltaten herhalten musste, wie sie unser Land seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr erlebt hatte.

Später, beim Umsteigen in Bielefeld, als ich durch die Unterführung zum Zug nach Detmold gegangen war, hatte ich die mit schwarzer und roter Farbe an die Tunnelwand gemalten Parolen gelesen: ›Türken raus!‹, ›Ali go home‹ und ein paar Meter weiter ›Haut ab ihr Judenschweine‹. In demselben Tunnel, so hatte ich mich erinnert, waren am 10. November 1938, vor fast auf den Tag genau 43 Jahren, mehrere Tausend jüdische Männer aus ganz Westfalen auf dem Weg ins KZ Buchenwald von SS-Leuten mit Lederpeitschen ›bearbeitet‹ worden; auf den Steinstufen der Treppe gegenüber hatten sie den 75-jährigen Rabbiner mit Stiefeltritten ›erledigt‹ …

Und jetzt, im Hotelrestaurant in Detmold, sagte der grauhaarige Manager mit dem Rotarierabzeichen gerade zu dem anderen Herrn an seinem Tisch: »Ach, Sie haben ja keine Ahnung, Doktor! Für uns gab es doch damals nicht den geringsten Zweifel an unserer guten Sache und am Endsieg. So sind wir doch aufgewachsen und erzogen worden – zu Hause, in der Schule und bei der HJ. Ich war ja schon vor ’33 dabei. Beinahe wäre ich deshalb noch kurz vor dem Abitur vom Gymnasium geflogen …«

Er lachte fröhlich und erzählte, dass seine Familie damals ihren ganzen Einfluss habe aufbieten müssen, damit er mit einer Verwarnung davonkam. Man habe ihm seinen jugendlichen Idealismus zugutegehalten.

»Wir verstanden uns natürlich vor allem als Schutzwall gegen die rote Gefahr … Vergessen Sie nicht, Doktor, dass ein bolschewistischer Umsturz drohte! Denken Sie an die sechs Millionen Arbeitslosen, die es 1932 gab! Wir kleinen Fabrikanten wären doch die Ersten gewesen, die sie aufgehängt hätten!« Sein Gegenüber machte einen Einwand.

Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, aber gewiss fand er, dass der Grauhaarige die Ängste der Detmolder Bürger übertrieben dargestellt hatte. Jedenfalls gab dieser nun zu, dass die Kommunisten in Detmold keine große Rolle gespielt hätten; dass die Mehrheit der Bevölkerung, zumal auf dem Lande, »national gesinnt‹ gewesen wäre.

»Auch die meisten Beamten und sogar ein Großteil unseres Personals hatten durchaus gesunde Ansichten«, sagte er. Er erinnerte sein Gegenüber daran, dass die Partei Hitlers, die NSDAP, schon kurz vor der Machtübernahme in Lippe-Detmold einen großen, für den schließlichen Durchbruch entscheidenden Wahlsieg errungen hatte.

»Das war am 15. Januar 1933, zwei Wochen vor der Machtergreifung – erinnern Sie sich, Doktor? Oder waren Sie damals noch nicht hier?«

Diesmal konnte ich die Antwort verstehen. Der als ›Doktor‹ Angeredete erwiderte, dass er sich gerade erst ein paar Tage vor diesem Datum in Detmold niedergelassen hätte.

»Na ja, da kannten Sie sich hier noch nicht aus. Aber gesehen werden Sie es doch auch haben: das Fahnenmeer, die jubelnde Menschenmenge, die ungeheure Begeisterung. Ich werde das nie vergessen! Soviel glückstrahlende Gesichter habe ich weder vorher noch seitdem je wieder gesehen. Es war ein wahrer Freudentaumel … Am Abend des 30. Januar 1933, als Hitler endlich Reichskanzler geworden war, da holte mein Vater selbst die besten Flaschen aus dem Keller und schrie noch mitten in der Nacht von unserem Balkon immerfort »Sieg Heil! Sieg Heil!« … Und meine Mutter weinte vor lauter Freude. »Dass ich das noch erleben darf«, sagte sie, »jetzt wird alles gut …« Im Übrigen ist dann ja alles wirklich sehr korrekt und diszipliniert zugegangen, jedenfalls hier in Detmold. Daran müssen Sie sich doch auch noch erinnern, Doktor?! Bei uns ist niemandem ein Haar gekrümmt worden – auch später nicht, jedenfalls: soviel ich weiß …«

Er brach ab.

Vielleicht hatte sein Gesprächspartner eine Bemerkung gemacht, die ihm nicht gefiel. Jedenfalls fuhr der Grauhaarige nach kurzem Zögern in leicht verändertem Ton fort: »Na ja, wir sind inzwischen alle klüger geworden … Obwohl ich mir manchmal wünsche, unsere heutige Jugend hätte wenigstens halb soviel Disziplin wie wir damals und etwas mehr Begeisterungsfähigkeit für die wesentlichen Dinge – na, Sie wissen schon …«

Dann winkte er den Kellner heran, zahlte und erklärte, dass er noch mal ins Werk müsse.

»Morgen früh kommt wichtige ausländische Kundschaft – da gibt’s immer noch einiges zu tun … Also, es hat mich wirklich sehr gefreut, lieber Doktor! Bis auf bald einmal wieder, hoffe ich …«

Kaum hatte der Grauhaarige den Speisesaal verlassen, wechselte sein Gesprächspartner auf den gerade frei gewordenen Platz. Es war ein kleiner, rundlicher Herr von Mitte siebzig mit Apfelbäckchen und flinken Augen hinter funkelnden Brillengläsern. Er bestellte sich eine Tasse Kaffee und begann unvermittelt ein Gespräch mit mir.

Nachdem er sich erkundigt hatte, ob ich für längere Zeit in Detmold sei oder nur auf der Durchreise und ob ich mir die Stadt schon angesehen hätte – es lohne sich wirklich, sagte er: »Also, ganz so braun, wie es der Herr, der an meinem Tisch saß, geschildert hat, war Detmold nun wirklich nicht! Natürlich hatte die Hitler-Partei auch hier in Lippe ihre Anhänger, aber unser Ländchen war keineswegs eine Nazi-Hochburg. Und was Detmold betrifft, so war es – wie im Grunde auch heute noch – eine biedere Kleinstadt mit damals erst etwa achtzehntausend Einwohnern. Die Stadt hatte kaum Industrie. Man sprach zu Recht von der ›stillen Vornehmheit der einstigen Residenz‹ …«

Er erzählte dann, dass er aus Anklam in Pommern gebürtig sei, in Greifswald studiert hatte und im Januar 1933 als Assistenzarzt nach Detmold ans Krankenhaus gekommen war. Er hatte sich später als praktischer Arzt hier niedergelassen.

»Ich kenne mich in Detmold aus«, erklärte er, »und ich kann Ihnen versichern: Es gab im Lippischen auch vor 1933 eine demokratische Tradition. Das weiß ich von meiner Frau, einer hiesigen Pastorentochter. Bis 1932 waren die Sozialdemokraten die bei Weitem stärkste Partei in Lippe-Detmold. Ihr Vorsitzender, der alte Heinrich Drake, genoss allgemeine Achtung. Er war bis zur Machtübernahme durch die Nazis der Chef der hiesigen Landesregierung …«

Lippe war damals noch selbstständig gewesen, ein Land des Deutschen Reichs wie Hessen oder Bayern. Neben der SPD hatten dort vor allem die Nationalliberalen von der Deutschen Volkspartei eine Rolle gespielt. An dritter Stelle standen die Deutschnationalen unter Führung von Geheimrat Hugenberg, der auf einem Gut in der Nähe von Detmold lebte. Den vierten und fünften Platz nahmen das gemäßigt konservative Lippische Landvolk und die Liberale Staatspartei ein, und erst an siebter Stelle in der Wählergunst, noch hinter den Kommunisten und nur knapp vor dem in Lippe fast bedeutungslosen katholischen Zentrum, kamen die Nazis. Sie hatten bis 1932 im ganzen Ländchen weniger als dreitausend Anhänger und waren kaum mehr als eine Splitterpartei ohne Sitz im Landesparlament. Bei den letzten Landtagswahlen im Freistaat Lippe-Detmold, am 15. Januar 1932, hatte die Nazi-Partei jedoch einen mächtigen Stimmenzuwachs zu verzeichnen gehabt und fast vierzig Prozent der Wähler für sich gewinnen können. »Aber«, erklärte der alte Herr, »dazu muss man wissen, dass es für die Nazis bei dieser Wahl um Kopf und Kragen ging, und was sie alles anstellten, um diesen Erfolg zu erringen!«

Während der Weltwirtschaftskrise, die 1929 begonnen und sich bis 1932 ständig verschärft hatte, waren durch das wachsende Elend und die Massenarbeitslosigkeit immer mehr Wähler den Parolen der Nazis – ›Gemeinnutz geht vor Eigennutz‹, ›Arbeit und Brot für jeden‹, ›Brechung der Zinsknechtschaft‹ – sowie dem Irrtum erlegen, dass es sich bei der NSDAP tatsächlich um eine nationalsozialistische Partei handelte. Vor allem aus dem untersten Mittelstand hatten sich viele für den »starken Mann« begeistert, der jedem versprach, was er hören wollte, und für alles Elend die Juden verantwortlich machte.

Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 hatte der Zustrom, den die Hitler-Partei aus dem Heer der arbeitslosen, kleinen Angestellten, der vor dem Ruin stehenden Kleinbauern und Gewerbetreibenden bekam, seinen Höhepunkt erreicht.

Von da an begannen ihr die Wähler wieder davonzulaufen, und bei den erneuten Reichstagswahlen im November 1932 erlitt die NSDAP im ganzen Reich schwere Rückschläge. Allein im Freistaat Lippe-Detmold verlor sie fast ein Viertel ihrer Wähler vom Juli, und außerdem drohte der Hitler-Partei die Spaltung.

Der Reichswehrgeneral Kurt v. Schleicher, den der Reichspräsident v. Hindenburg dann mit dem Kanzleramt betraute, versuchte im Dezember, sich die ihm fehlende Mehrheit im Parlament dadurch zu verschaffen, dass er einigen der, wie er meinte, gemäßigteren Nazi-Führer Kabinettsposten anbot. Er verhandelte mit dem »Reichsorganisationsleiter« der NSDAP, Gregor Strasser, gleichzeitig aber auch mit den rechten Sozialdemokraten in der Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Gegen Jahresende 1932 sahen sich Hitler und seine Getreuen in der Lage von Schwimmern, die sich schon in greifbarer Nähe des rettenden Ufers wähnten und dann feststellen müssen, dass sie die Strömung weit zurückgerissen hat und in den Untergang zu ziehen droht: Die Wähler liefen ihnen davon, der Strasser-Flügel drohte abzufallen und ins Regierungslager überzugehen, und, was für Hitler das Schlimmste war, seine finanziellen Förderer in Industrie und Bankwelt wollten nicht mehr zahlen.

»So boten die Nazis in einer gerade verzweifelten Anstrengung noch einmal alle ihre Kräfte auf, um sich bei den – im Grunde bedeutungslosen – Landtagswahlen in Lippe zu behaupten«, fuhr der alte Herr fort. »Hätten sie nämlich hier erneut eine Schlappe erlitten, und wäre es auch nur ein Minus von zwei-, dreitausend Wählerstimmen gewesen, dann hätten die Leute, auf die es den Nazis ankam, sie endgültig abgeschrieben und fallengelassen. Die Partei wäre dann höchstwahrscheinlich auseinandergebrochen, und dann …«

Er machte eine Handbewegung, die zu besagen schien, dass uns Deutschen dann das ›Dritte Reich‹ und Europa der Zweite Weltkrieg mit allen Scheußlichkeiten, die damit verbunden waren, hätten erspart bleiben können.

»In den Tagen um die Jahreswende 1932/33 stand es in Deutschland tatsächlich auf des Messers Schneide, und deshalb kam der sonst belanglosen lippischen Landtagswahl vom 15. Januar 1933 so überaus große Bedeutung zu! Die Nazi-Führung war sich dessen auch bewusst. Jedenfalls machten Hitler und Goebbels den Detmolder Landtag zum Ziel des gewaltigsten Propagandafeldzugs, den es bis heute jemals in Deutschland bei einer Wahl gegeben hat. Glauben Sie mir, als ich Anfang Januar ’33 als junger Arzt nach Detmold kam – mitten in diesen Wahlkampf hinein! –, da wäre ich am liebsten gleich umgekehrt. Sie können sich nicht vorstellen, was damals über Lippe-Detmold hereinbrach!«

Das Ländchen, an Fläche nur ein Viertelprozent des Reichsgebiets und mit weniger Einwohnern als eine mittlere Großstadt, erlebte dann tatsächlich einen beispiellosen Wahlkampf. Die Nazi-Führung bot ihre letzten Reserven an Geld und Propagandamaterial auf, holte aus dem ganzen Reich Redner, Agitatoren, Redakteure und Helfer herbei und setzte zu einem Großangriff auf die Gunst der knapp hunderttausend lippischen Wähler an. Mehrere Tausend SA- und SS-Leute aus anderen Gegenden wurden nach Lippe-Detmold geschafft – alles mit dem Ziel, den Verfall der Partei aufzuhalten und die Geldgeber sowie die bürgerliche Presse und damit die öffentliche Meinung mit einem neuerlichen spektakulären Wahlsieg zu beeindrucken. Denn ein weiterer Rückschlag wäre für Hitler und die NSDAP katastrophal gewesen.

»Stellen Sie sich vor«, fuhr der alte Herr fort, »innerhalb von nur zehn Tagen, vom 4. bis zum 14. Januar, musste unser Ländchen neunhundert Veranstaltungen der Nazis über sich ergehen lassen! Neunzig Parteiredner waren hier eingesetzt. Hitler selbst sprach in diesen zehn Tagen hier auf sechzehn Großkundgebungen! Die örtliche Nazi-Zeitung, der ›Lippische Kurier‹ brachte täglich Sonderseiten und Extrablätter heraus, und die ihre Kampfparolen grölenden SA-Kolonnen marschierten von früh bis spät durch die Dörfer und Städtchen. Auf jedem Marktplatz spielte eine SA-Kapelle oder ein Spielmannszug stundenlang Marschmusik, und Dutzende von Lautsprecherwagen fuhren durch das Land.«

Er machte eine Pause und sah mich triumphierend an.

»Wissen Sie, warum ich Ihnen das erzähle? Nun, ich will es Ihnen sagen: Weil trotz dieser beispiellosen Wahlkampfanstrengungen, trotz aller Tricks, Versprechungen und massiven Einschüchterungsversuche am 15. Januar 1933 dann doch mehr als sechzig Prozent der lippischen Wähler nicht für die Nazis gestimmt haben! Gewiss, die Hitler-Partei brachte es auf insgesamt etwa 39.000 Stimmen – das waren knapp sechstausend mehr als bei den Reichstagswahlen zwölf Wochen zuvor und immer noch zweitausend weniger als im Juli 1932. Aber die Nazis schafften es damit, den Eindruck zu erwecken, dass der Trend sich wieder zu ihren Gunsten gewendet habe.«

Ich erfuhr dann noch, dass auch die Linken – Sozialdemokraten und Kommunisten – es am 15. Januar 1933 in Lippe auf über vierzigtausend Stimmen, also mehr als die Nazis, gebracht hatten. Aber das war, trotz der erheblichen Zugewinne von SPD und KPD, von der Presse kaum beachtet worden. Alle Zeitungen hatten in ihren Schlagzeilen auf den ›Sieg der Hitler-Partei‹ hingewiesen, obwohl die demokratischen Parteien – von der SPD bis zu den Konservativen – von fast 50.000 lippischen Wählern unterstützt worden waren, gegen 39.000 Stimmen für die Nazis und 11.000 für die Kommunisten.

»So wurde genau der von Hitler gewünschte Eindruck erzielt: Die NSDAP hatte wieder zugenommen und war zur stärksten Partei in Lippe geworden. Damit senkte sich die Waage zugunsten der Nazis, und vierzehn Tage später wurde Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.«

»Und wie wirkte sich das für das Land Lippe-Detmold aus?«, erkundigte ich mich. »Hitler muss den lippischen Wählern doch sehr dankbar gewesen sein.«

Der alte Herr schüttelte den Kopf.

»Von Dankbarkeit konnte nicht die Rede sein, im Gegenteil. Unser Ländchen verlor seine Selbständigkeit, auf die es so stolz gewesen war. Es wurde dann, zusammen mit anderen Kleinstaaten, von einem Reichsstatthalter diktatorisch regiert. Der neugewählte Landtag wurde nach Hause geschickt und nicht mehr gebraucht … Aber davon ahnten die Leute noch nichts, als sie am 30. Januar 1933 Hitlers Einzug in die Reichskanzlei feierten. Es jubelten ja ohnehin nur die Anhänger der Nazis – die »schweigende Mehrheit«, fast zwei Drittel der hiesigen Bevölkerung, hatte keinen Grund zum Feiern und blieb an diesem Tag zu Hause …« Er schwieg und schien das Gespräch beenden zu wollen. Aber nun hatte ich noch eine Frage: »Können Sie sich an diesen 30. Januar 1933 noch erinnern?«

Er schien ein wenig überrascht.

»Aber gewiss«, sagte er nach einem Augenblick des Überlegens, »ich erinnere mich noch recht genau: Ich war damals erst vier Wochen in Detmold, arbeitete am Krankenhaus und hatte als jüngster Assistenzarzt Spätdienst in der Ambulanz. Ich weiß noch, wie mir die Oberschwester ganz aufgeregt erzählte, dass Hitler Reichskanzler geworden sei. ›Ist das nicht wunderbar?‹ sagte sie. ›Jetzt wird bestimmt alles besser!‹ Ich lachte darüber. Ich interessierte mich überhaupt nicht für Politik. Später, in der Teepause, fiel mir ein, dass mein Vater – er war Studienrat – gesagt hatte, wenn Hitler an die Macht käme, hätten wir bestimmt bald wieder Krieg. Ich hielt das für übertrieben, außerdem schreckte mich der Gedanke nicht sehr, denn mir als Mediziner, so sagte ich mir, kann ja auch im Krieg nicht viel passieren. Ärzte bleiben zu Hause oder arbeiten in einem Lazarett. Nein, ich machte mir keine großen Sorgen wegen der Nazis …«

»Auch keine Hoffnungen?«

Er schien nachzudenken. Schließlich sagte er: »Ich habe mich damals tatsächlich gefragt, ob mir die ›Machtergreifung‹ Hitlers nützen könnte. Ich hatte in Greifswald studiert, und von meinen Kommilitonen war mir immer wieder gesagt worden, dass die Berufsaussichten für uns Mediziner von Jahr zu Jahr schlechter würden, weil es zu viele Ärzte in Deutschland gebe. Wenn aber Hitler an die Macht käme, dann würde er die jüdische Konkurrenz ›ausschalten‹, und dann hätte jeder von uns ›Ariern‹ seine eigene, auskömmliche Praxis …«

Er warf mir einen raschen Blick zu, als erwartete er einen Einwand. Aber da ich schwieg, fuhr er fort: »Das war natürlich Unsinn – es gab damals, 1932/33, etwa 50.000 zugelassene Ärzte im ganzen Deutschen Reich. Das waren weniger als die Hälfte dessen, was es heute allein in der Bundesrepublik an Ärzten gibt. Aber viele sahen damals in den knapp zehntausend jüdischen Ärzten eine ernste Gefahr für unseren Berufsstand. Man beneidete die jüdischen Kollegen, weil sie den stärksten Zulauf an Patienten hatten und so viele der berühmtesten Mediziner Juden waren. Dagegen waren die Aussichten für Leute wie mich, einen Beamtensohn ohne Vermögen, bald eine eigene Praxis eröffnen zu können, nicht gerade rosig …«

Er brach ab, aber ehe ich etwas dazu sagen konnte, setzte er eilig hinzu: »Sie dürfen mich, bitte, nicht missverstehen! Ich war durchaus kein wilder Antisemit. Wir hatten zu Hause jüdische Nachbarn, mit denen wir uns ganz gut verstanden, und meine Eltern riefen, wenn es nötig war, immer unseren jüdischen Hausarzt, den alten Dr. Marcuse. Nein, ich hatte wirklich keine Vorurteile! Außerdem stellte ich mir unter der von den Nazis versprochenen ›Ausschaltung‹ der jüdischen Konkurrenz nichts Schlimmes vor – vielleicht eine zeitweise Beschränkung der Zulassung oder etwas Ähnliches … Möglicherweise habe ich mir da auch nur etwas vorgemacht, denn im Grunde konnte man ja ahnen, was von den Nazis zu erwarten war.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, mir haben die Nazis jedenfalls immer Angst eingeflößt – mit ihrem brutalen Auftreten, ihrem Hang zur Gewalttätigkeit und ihrer blutrünstigen Sprache … Am Abend des 30. Januar 1933, als ich in der Ambulanz Dienst hatte, bekam ich auch gleich einen Vorgeschmack von dem, was ihren Gegnern bevorstand. Ich hatte alle Hände voll zu tun mit den vielen Verletzten, die eingeliefert wurden – Kommunisten, Reichsbannerleute, mehrere jüdische Geschäftsinhaber, der Verwalter vom Konsumverein … Sie waren von der siegestrunkenen SA zusammengeschlagen worden. Und dann die Hetze in den Zeitungen! Am ärgsten ging es damals gegen Fechenbach, den Redakteur des sozialdemokratischen ›Volksblatts‹ – sagt Ihnen sein Name etwas?«

Felix Fechenbach war der engste Mitarbeiter Kurt Eisners gewesen, des ersten bayerischen Ministerpräsidenten nach der Revolution von 1918. Der den Rechtsextremisten besonders verhasste, bei der Münchner Arbeiterschaft sehr populäre Sozialist Eisner war im Februar 1919 ermordet worden, und danach hatte die politische Rechte ein Kesseltreiben gegen Fechenbach begonnen. 1922 war Fechenbach wegen angeblichen Landesverrats zu einer elfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Es hatte sich um Rachejustiz an einem ohne Zweifel Unschuldigen gehandelt. 1924 war Fechenbach dann unter dem Druck der empörten Öffentlichkeit ›begnadigt‹ und aus dem Zuchthaus entlassen worden.

»Ich wusste nicht, dass Fechenbach dann in Detmold gewesen ist«, sagte ich. »Kannten Sie ihn persönlich?«

»Ja, ich habe ihn einmal behandelt. Sie müssen wissen, dass Fechenbach wegen seines mutigen Auftretens gegen die Nazis von diesen als ihr ›Todfeind‹ angesehen wurde. Der ›Lippische Kurier‹ hatte wochenlang eine regelrechte Mordhetze gegen den Juden und ›Volksverräter‹ Fechenbach betrieben. Dann, etwa vier, fünf Wochen nach der Machtübernahme durch die Nazis, an einem Sonntag im März ’33 – es war wohl am Tage der Reichstagswahl, wenn ich mich recht erinnere – wurde Herr Fechenbach von vier SA-Männern auf offener Straße überfallen und zusammengeschlagen. Ich habe es noch deutlich vor Augen, wie er da vor mir auf der Trage lag, kaum sprechen konnte, aber die geschwollenen, blutigen Lippen zu einem mühsamen Lächeln verzog und zu mir sagte: ›Ich hatte eine kleine Karambolage mit den Nazis, Herr Doktor. Sie mögen mich nicht, und das beruht auf Gegenseitigkeit …‹ Ein sehr tapferer Mann war er …«

»Und was ist aus ihm geworden?«

»Nachdem ich ihn versorgt hatte, erkundigte ich mich, ob ich seine Familie verständigen sollte. Da sagte er, er hätte seine Frau und seine beiden Kinder schon gleich nach dem 30. Januar von Detmold weg in Sicherheit gebracht. Ich fragte ihn, warum er nicht auch sofort abgereist sei, und er antwortete: ›Sie können mich dumm nennen, Herr Doktor, aber ich kann doch nicht einfach davonlaufen! Die Arbeiter hier vertrauen mir doch, und ich will nicht, dass sie mich für feige und treulos halten …!‹ Ein paar Tage später – er war gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen – wurde Herr Fechenbach von den Nazis in ›Schutzhaft‹ genommen – um ihn ›vor dem Volkszorn zu schützen‹, wie es in der Zeitung damals hieß. Ich erinnere mich noch genau an das Foto in der ›Lippischen Landeszeitung‹, das ihn zwischen grinsenden Hilfspolizisten in SA- und SS-Uniform zeigte. Daneben waren Bilder vom besetzten Volkshaus, von SA-Posten vor dem Laden der Konsumgenossenschaft und vor einem jüdischen Schuhgeschäft. Die Überschrift lautete: ›Bewegtes Straßenbild in Detmold‹ oder so ähnlich.«

»Das war ja fast noch objektive Berichterstattung …«

»Ja, die ›Landeszeitung‹ als bürgerliches Blatt war sehr zurückhaltend, und zwischen den Zeilen spürte man sogar manchmal Kritik. Die Nazi-Zeitung hingegen schrieb ganz offen von ›Abrechnung‹, und dass dies erst der Anfang sei.«

»Und Fechenbach kam ins KZ?«

»Sie hatten ihn zunächst ins Detmolder Gefängnis eingeliefert, aber einige Zeit später stand eine Meldung in den Lokalblättern, die lediglich besagte, er sei bei seiner Überführung in ein Konzentrationslager ›auf der Flucht erschossen‹ worden. Aber niemand in Detmold bezweifelte, dass der den neuen Machthabern als Sozialdemokrat und Jude besonders verhasste Fechenbach ermordet worden war.1 Das sprach zwar niemand offen aus, aber hinter vorgehaltener Hand flüsterte man sich zu, dass ›das‹ doch unerhört sei.« Im Sommer 1933 hatten sich tatsächlich die meisten Deutschen den neuen Verhältnissen schon anzupassen versucht, zumindest äußerlich. Es gab kaum noch offen geäußerte Kritik an den zahlreichen Rechtsverletzungen, die sich die Nazis zuschulden kommen ließen. Viele ehemalige Anhänger der demokratischen Parteien waren – oft nur aus Angst – der NSDAP beigetreten.

Vor allem die Geschäftsleute und die Beamten hatten sehr schnell ihr Mäntelchen nach dem Wind gehängt.

»Auch ich bin damals, wie die meisten, den Weg des geringsten Widerstands gegangen«, gab der alte Herr offen zu. »Ich habe brav ›Heil Hitler‹ gesagt, wo es nötig schien, und bin der NS-Ärzteschaft beigetreten, außerdem noch einigen anderen der vielen Nazi-Organisationen, zum Beispiel der NS-Volkswohlfahrt, dem Reichsluftschutzbund und was es noch so alles gab – natürlich als reiner Beitragszahler! Beinahe hätte mich unser Oberarzt, der ein strammer Nazi war, dazu gebracht, mich als Sturmbannarzt bei der SS aufnehmen zu lassen. Zum Glück war ich ein paar Zentimeter zu kurz geraten für die SS, und auch nicht blond genug … Ich habe dann so getan, als ob mir das sehr leid täte …«

»Sie lehnten also das Regime innerlich ab?«

»Ach, wissen Sie, ganz ehrlich gesagt: Ein entschiedener Gegner der Nazi war ich damals noch nicht. Ich fand ihr Vorgehen häufig empörend – die Missachtung aller rechtsstaatlichen Normen und die Brutalität, mit der sie Wehrlose terrorisierten –, ja, und ich hatte auch Angst, selber politisch anzuecken. Ich bin jedem Gespräch darüber aus dem Wege gegangen und habe den Mund gehalten.«

Er gab dann auch zu, dass ihm einiges, was damals geschah, durchaus imponiert hätte.

»Das mit der ›Volksgemeinschaft‹ und der nationalen Wiedergeburt«, die ganze Aufbruchsstimmung des Jahres 1933 – das hat mich nicht kalt gelassen. Ich fand auch richtig, dass endlich etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit getan wurde. Die Winterhilfe war eine großartige Sache. Für die Beseitigung des Elends und für stabile Verhältnisse konnte, so meinte ich, gar nicht genug getan werden. Dass das meiste nur Propaganda war, merkte ich damals noch nicht, und was die zahlreichen unliebsamen Begleiterscheinungen betraf, so habe ich mir eingeredet, dass mich das nichts anginge. Ich war schließlich kein Jude und auch kein Sozialdemokrat oder gar ein Kommunist … Also habe ich zu allem geschwiegen und mich damit getröstet, dass es sich dabei nur um Übergangserscheinungen handeln könnte. So wie mir ist es wohl den meisten damals ergangen.«

Er trank seinen Kaffee aus, und ebenso unvermittelt, wie er das Gespräch mit mir begonnen hatte, beendete er es nun. Er zahlte, ließ sich vom Kellner in den Mantel helfen, wünschte mir noch einen angenehmen Aufenthalt in Detmold und verließ das Restaurant.

»Haben Sie noch einen Wunsch, mein Herr?«, erkundigte sich der Kellner, während er den Nebentisch bereits abräumte. Außer ihm und mir war niemand mehr im Lokal.

Ich zögerte, mir noch einen Kaffee zu bestellen. Ich sah auf die Uhr: Es war zwanzig Minuten vor drei … – ich hatte noch sehr viel Zeit bis zu meiner Verabredung, und das unfreundliche Herbstwetter lud nicht zum Spazierengehen ein.

Der Kellner schien meine Gedanken zu erraten.

»Bis drei Uhr ist geöffnet«, sagte er. »Ich bringe Ihnen gern noch einen Kaffee …«

Nachdem er ihn serviert hatte, blieb er am Ende des Tisches stehen.

»Im Januar ’33«, teilte er mir mit, »war ich hier Pikkolo, im dritten Lehrjahr. Ich bin Jahrgang 1916 – bis 1934 habe ich es in Detmold ausgehalten. Ich war dann mal hier, mal da. Jetzt, wo ich bald in Rente gehe, arbeite ich wieder, wo ich einmal angefangen habe. Es hat sich nicht viel verändert seit damals, bis auf einige Gäste …«

Er wandte sich zur Seite und deutete mit dem Kinn auf einen Tisch, der mit einer Holzwand vom übrigen Lokal zur Hälfte abgetrennt war.

»Da in der Nische«, sagte er, »da saßen immer die Herren im Braunhemd: der Herr Redakteur Pommerenke vom ›Lippischen Kurier«, Herr Dr. Schröder von der Gauleitung, Herr Sturmführer Segler …«

Er nannte noch einige Namen.

Offenbar hatte er einiges mit angehört, was mir der alte Arzt über die Nazizeit in Detmold erzählt hatte, und wollte mich wissen lassen, dass er auch etwas darüber berichten könnte, sofern ich Wert darauf legte.

Ich nickte ihm aufmunternd zu.

»Manchmal kam auch Herr Dr. Meyer. Das war der Gauleiter und später sogar der Reichsstatthalter. Wenn der da war, wurde es immer sehr spät …«

Einmal, so erzählte er dann, habe es einen Zwischenfall gegeben, an den er sich noch genau erinnere.

Etwa drei Wochen nach der Machtergreifung, im Februar 1933, hätten die Herren Pommerenke und Segler in angeheitertem Zustand ihn, den Pikkolo, damit beauftragt, einem der im gutbesuchten Lokal sitzenden Gäste, dem Rechtsanwalt Dr. Rosenbaum, einen Zettel zu überbringen. ›Saujud verschwinde!‹, lauteten die ersten Worte, die darauf standen.

Es sei ihm sehr peinlich gewesen, erzählte der Kellner, aber er habe nicht gewagt, die Ausführung des Auftrags zu verweigern. Dr. Rosenbaum war dann aufgesprungen, ganz rot im Gesicht. Er hatte geschrien: »Ich bin Frontkämpfer! Zweimal verwundet vor Ypern und Verdun! Ich bin Vizefeldwebel der Reserve und habe das Eiserne Kreuz Erster und Zweiter Klasse! Muss ich mir das bieten lassen?!«

Dr. Rosenbaum hatte dann den Zettel bei den anderen Gästen im Lokal herumgezeigt, aber alle hatten verlegen weggesehen und geschwiegen. Es war plötzlich ganz still gewesen, so still, dass man das Klappern der Töpfe aus der Küche hatte hören können. »Dann hat der Sturmführer Segler plötzlich in die Stille hineingerufen: ›Nun hau schon ab, du Saujud! Oder sollen wir dir Beine machen?!‹, und der Herr Redakteur Pommerenke hat laut gelacht. Herr Dr. Rosenbaum ballte die Fäuste und fing am ganzen Körper zu zittern an. Ich dachte schon, jetzt passiert etwas Schlimmes, aber der Herr Dr. Rosenbaum hat sich dann nur umgedreht, Geld auf den Tisch gelegt und ist rasch gegangen, ohne noch ein Wort zu sagen. Er war ein guter Gast, der Herr Dr. Rosenbaum. Er gab immer ein sehr nobles Trinkgeld …«

An dem letzten Abend, so erfuhr ich dann, hatte der jüdische Rechtsanwalt einen Zwanzigmarkschein liegen lassen. Das war natürlich viel zu viel gewesen, denn seine Zeche hatte nur 3,80 RM betragen.

»Als ich dem Oberkellner dann den Schein gab, sagte er zu mir: ›Lauf hinterher und bring dem Herrn Doktor das Wechselgeld …‹ Aber ich habe ihn auf der Straße dann nicht mehr gesehen … Wissen Sie, mein Herr, 16,20 Mark – das war damals sehr viel Geld – das war fast auf den Pfennig soviel, wie mein Vater damals an wöchentlicher Arbeitslosenunterstützung für eine vierköpfige Familie bekam …«

Er hatte deshalb das Geld, das von Dr. Rosenbaums Zeche übriggeblieben war und das er nicht mehr hatte loswerden können, seiner Mutter geben wollen. Aber sie hatte ihm aufgetragen, es am nächsten Morgen vor Beginn seines Dienstes dem Herrn Dr. Rosenbaum in die Wohnung zu bringen. Der brauchte, so hatte sie ihrem Sohn erklärt, das Geld jetzt vielleicht noch dringender als sie.

Als er dann kurz nach sechs Uhr in der Frühe an der Wohnungstür des Rechtsanwalts klingelte, da dauerte es eine ganze Weile, ehe sich etwas rührte. Er wollte schon wieder gehen, als die Tür geöffnet wurde. Herr Dr. Rosenbaum stand da, in Hut und Mantel. Er war ganz blass, und am Mantel trug er eine breite Spange mit Kriegsauszeichnungen.

»Er starrte mich an, und ich musste ihm erst erklären, wer ich sei und was ich wollte. Dann erkannte er mich, stellte die Tasche ab, die er in der Hand hielt, und lehnte sich an den Türpfosten. Er hatte wohl erwartet, von der Hilfspolizei abgeholt zu werden. Die kamen nämlich immer ganz früh am Morgen, damit die Nachbarschaft nichts merkte. Ich gab ihm dann das Geld. Er wollte mir eine Mark schenken, aber ich habe sie nicht genommen. Der Oberkellner, dem ich alles erzählt habe, sagte nur: ›Man schämt sich, ein Deutscher zu sein …‹ Ich habe das nie vergessen.«

Ein paar Tage später, gleich nach dem Reichstagsbrand in Berlin, den die Nazis den Kommunisten in die Schuhe geschoben hatten, war, so erzählte der Kellner weiter, sein Vater verhaftet worden. Er war Gewerkschaftssekretär und Sozialdemokrat, hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen und konnte es gar nicht begreifen, was man von ihm, einem Kriegsteilnehmer und rechtschaffenen Mann, eigentlich wollte.

Erst sechs Wochen später hatte die Familie eine Nachricht von ihm bekommen: ›Bin in Schutzhaft. Es geht mir gut.‹ Bald danach hatte man ihn freigelassen.

»Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter«, erzählte der Kellner, »war nämlich der SA-Sturmführer Segler. Der hat sich schließlich von meiner Mutter dazu bewegen lassen, etwas für meinen Vater zu tun. Es muss ihr sehr schwergefallen sein, ihren Bruder um Hilfe zu bitten. ›Segler, der größte Faulpelz von Lippe-Detmold‹, wie die Leute von ihm sagten, hatte sich 1920 einem dieser Freikorps angeschlossen, die im Ruhrgebiet und in Thüringen gegen die Arbeiterschaft eingesetzt wurden. Als es Anfang 1924 damit endgültig vorbei war, wurde er Wachmann bei Oetker in Bielefeld, bis ihn die Firma hinauswarf – wegen einiger Diebstähle … Von da an lag er seiner Mutter und seinen Geschwistern auf der Tasche, bis ihn eines Tages ein ehemaliger Freikorpsleutnant damit beauftragte, in Lippe einen neuen SA-Sturm aufzubauen … Diesem Kerl verdankte mein Vater seine Freilassung, und das hat ihn mehr geschmerzt als alles andere. Er ist überhaupt sehr verbittert gewesen nach dieser sogenannten Schutzhaft. Er hat kaum noch mit uns gesprochen, und von Politik wollte er nichts mehr wissen.« Der Kellner, so berichtete er noch, war Anfang 1934 von Detmold fort und ins Ausland gegangen. 1938 hatte ihn das ›Dritte Reich‹ wieder eingeholt, als das Sudetenland ›heimgeholt‹ worden war. Da hatte er in Karlsbad gearbeitet und war dann zur deutschen Wehrmacht eingezogen worden.Ich hatte meinen Kaffee längst ausgetrunken. Es war kurz vor drei Uhr, und ich wollte nun gehen.

»Übrigens«, ließ sich der alte Kellner noch einmal vernehmen, nachdem er bei mir kassiert hatte, »in einem Punkt hatte der Herr durchaus recht, der hier vorhin am Nebentisch saß und so laut sprach …«

Er nannte einen Namen und eine Firma, und ich begriff, dass er den energischen Grauhaarigen meinte, der von seinen Kriegserlebnissen bei der ›Leibstandarte‹ geschwärmt hatte.

»Er sagte doch, wir seien inzwischen alle klüger geworden«, sagte er. »Sehen Sie, er hat nämlich damals, im März ’33, dafür gesorgt, dass mein Vater in ›Schutzhaft‹ kam. Er war gerade erst 21 Jahre alt und spielte sich als Juniorchef auf. Dabei hatte er im Jahr zuvor mit Ach und Krach das Abitur geschafft … Kurz vor Weihnachten ’32, da stiefelte er schon in SS-Uniform durch den Betrieb und setzte meinen Vater, der zwölf Jahre dort gearbeitet hatte, einfach auf die Straße – wegen ›Störung des Betriebsfriedens und Ungehorsams‹. Mein Vater hatte sich geweigert, dem jungen Herrn den Sportwagen zu waschen, noch dazu nach Feierabend … ›Na, warte, du Marxistenschwein, das wirst du mir büßen‹, waren seine Worte – mein Vater hat es uns oft erzählt, als er dann arbeitslos war … Na ja, inzwischen ist er ja, wie er selbst sagt, klüger geworden, und morgen erwartet er gute Kunden aus Israel. Er hat bereits den besten Tisch reservieren lassen und ein großes Menü bestellt …«

»So ist das eben. Aber von der Machtergreifung, da schwärmt er noch heute«, sagte ich und ging zur Tür, um mir Detmolds ›stille Vornehmheit‹ anzusehen.

1 Der ›Fall Fechenbach«, von den Anfängen der Auseinandersetzung mit den deutschen Rechten bis zu Fechenbachs Ermordung, ist ausführlich geschildert in einer Biografie von Hermann Schueler, Auf der Flucht erschossen. Felix Fechenbach 1894–1933. Köln 1981.

2Wie das ›Dritte Reich‹ begann

Ich sah mir Detmolds schöne Altstadt an, auch das ehemals fürstliche Schloss, das Neue Palais und den Lustgarten, die Straße mit dem hübschen Namen ›Rosental‹ und die winkligen Gassen nebenan mit den zahlreichen, sorgsam restaurierten Fachwerkhäusern.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie es hier wohl damals, im späten Januar 1933, ausgesehen haben mochte: das Rosental ein Meer von Hakenkreuzfahnen? Passanten in braunen und schwarzen Uniformen oder mit Partei- und ›Hoheits‹abzeichen am Mantelkragen? Marschkolonnen der Hitlerjugend mit Fanfaren und Trommeln, feixende SA-Posten vor den jüdischen Geschäften und ›Führer‹bilder in den Schaufenstern der ›arischen‹ Läden, zwischen Torten oder Würsten? Überall jener ›nationale Kitsch‹, der dann auch der Nazi-Führung zu viel wurde, und immer irgendwo Marschmusik …?

›Es wird in Detmold ähnlich gewesen sein wie überall sonst im Deutschen Reich‹, sagte ich mir, ›nicht anders als bei uns damals …‹

Ich bemühte mich, es mir genau in Erinnerung zu rufen. Ich war damals gerade zwölf Jahre alt. Meine Eltern waren ein Jahr zuvor, im Juni 1932, von Berlin, wo ich geboren und aufgewachsen war, nach Düsseldorf gezogen. Ich hatte mich schon ganz gut an die neue Umgebung gewöhnt und besuchte die Quarta eines Gymnasiums, dessen Lehrerkollegium meist dem katholischen Zentrum nahestand, aber in seiner Behandlung des Lehrstoffs und der Schüler eher rheinisch-liberal war. Über die Tagespolitik wurde in der Schule grundsätzlich nicht gesprochen, auch nicht in der Oberstufe. Von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler nahm unser Gymnasium zunächst keine Notiz.

Das ›Dritte Reich‹ begann für mich erst mittags, nach der Schule, als ich mit meinen Eltern und meiner dreizehn Jahre älteren Kusine Lilly, die aus Berlin zu Besuch gekommen war, bei Tisch saß. Mein Vater war während des Essens plötzlich aufgestanden und hatte sich, trotz eines vorwurfsvollen Blicks meiner Mutter, im Nebenzimmer die Mittagsnachrichten des Westdeutschen Rundfunks angehört. Als er zurück an den Mittagstisch kam, wirkte er, der eben noch ganz heiter war, wie versteinert.

Wir fragten ihn besorgt, was er denn habe, ob ein Unglück geschehen sei. Er sagte nur: »Ja …« Und nach einer Pause setzte er leise hinzu: »Hitler ist zum Reichskanzler ernannt worden …«

Ich weiß nicht mehr, was dann gesprochen wurde oder ob überhaupt noch jemand etwas sagte. Aber ich kann mich noch deutlich an das entsetzte Gesicht meiner Kusine erinnern. Sie war mit einem jüdischen Arzt verheiratet, der in Berlin-Neukölln, einer Arbeitergegend, seine Praxis hatte.

»Ich muss sofort zurück nach Berlin«, flüsterte sie.

Obwohl ich eigentlich noch zu jung war, die Zusammenhänge zu verstehen, wusste ich sofort, was meine Kusine fürchtete. Dafür hatten die Erlebnisse gesorgt, die ich kurz vor unserem Wegzug aus Berlin an meiner dortigen Schule gehabt und nicht vergessen hatte.

Ich verstand deshalb sehr gut, dass mein Vater Hitlers Ernennung zum Reichskanzler als den Beginn einer entsetzlichen, nunmehr unabwendbaren Katastrophe ansah. Er hatte schon mehrfach und erst ein paar Tage zuvor mit uns darüber gesprochen, was kommen würde, falls die Nazis die Macht übernehmen sollten.

»Sie werden alles zerstören«, hatte er gesagt, »das Recht, die Ordnung, die Kultur – alles, was uns etwas wert ist. Sie werden schlimmer hausen, als wir es uns heute vorstellen können. Hitler wird, sobald er an die Regierung kommt – was Gott verhüten möge! –, sofort mit der Aufrüstung beginnen und einen neuen Krieg vorbereiten. Vier, fünf Jahre wird er dafür brauchen, und noch einmal so lange wird es dauern, bis unser armes Land wieder vollständig geschlagen sein wird. Aber eher werden wir diese Pest bestimmt nicht wieder los …«

Ich hatte daraufhin viele Fragen: Ob es denn wirklich so schlimm werden könnte – schließlich gebe es doch die Polizei, die Gerichte und die Reichswehr … Ob es nicht möglich und vielleicht auch besser für uns wäre, Deutschland würde den Krieg nicht wieder verlieren? Gegen wen Hitler denn Krieg führen wollte? Gegen Frankreich oder Russland? Oder ›nur‹ gegen Polen oder die Tschechoslowakei? Etwa auch gegen England?

Er hatte mir dann geduldig erklärt, dass letztlich ganz Europa, auch England, in einen solchen Krieg mit Hitler-Deutschland verwickelt werden würde; dass am Ende auch die Amerikaner wieder eingreifen würden, und damit wäre dann die Chance eines deutschen Sieges endgültig dahin.

»Aber bis dahin, bis die Nazis abtreten müssen, weil sie den von ihnen angezettelten Krieg verloren haben, können zehn, vielleicht auch zwölf oder noch mehr Jahre vergehen«, hatte er abschließend gesagt. »Das wird eine sehr schlimme Zeit für alle sein, die gegen die Nazis sind, und erst recht für diejenigen, die Hitler zu seinen Sündenböcken machen wird – vor allem für die Juden …«

Ich hatte dann noch wissen wollen, ob sich die Übernahme der Regierung durch die Nazis nicht noch verhindern ließe, und mein Vater hatte dazu gemeint: »Vielleicht – wenn sich alle anderen ausnahmsweise nicht gegenseitig bekämpfen, sondern zur Verhinderung einer solchen Katastrophe zusammenschließen würden …« Es hatte nicht sehr hoffnungsvoll geklungen, aber es war für mich die nachträgliche Bestätigung dafür gewesen, dass ich mich instinktiv richtig verhalten hatte, als ich – wovon mein Vater nichts wusste und auch meine Mutter allenfalls etwas ahnte – schon Anfang 1932 in Berlin der Sozialistischen Arbeiterjugend ›Rote Falken‹ beigetreten war. Als Bürgersohn und Gymnasiast aus sogenanntem ›gutem‹, linksliberalem Elternhaus hatte ich dort eigentlich nichts zu suchen, und unter meinen Mitschülern war nur einer, der von meiner Mitgliedschaft etwas wusste, sie billigte und mich sogar darum beneidete. Aber er hatte inzwischen, weil sein Vater, ein Schriftsetzer und aktiver Gewerkschafter, arbeitslos geworden war, die Schule verlassen müssen, und wir hatten den Kontakt zueinander verloren.

Als ›Roter Falke‹ hatte ich auch schon in Düsseldorf Erfahrungen mit den Nazis gemacht. Ich war dabei gewesen, als am Hindenburgwall, in der Nähe des Arbeitsamts, wo immer viele Erwerbslose zu finden waren, antifaschistische Flugblätter verteilt wurden. Es muss kurz vor Weihnachten 1932 gewesen sein, denn ich erinnere mich deutlich, dass die Arbeitslosen zwischen vielen kleinen und größeren Christbäumen herumstanden und sich an den Kanonenöfen der Baumverkäufer aufwärmten. Unter der Hand wurden aus Holland eingeschmuggelter Tabak, Zigarettenpapier, Schokolade und manchmal auch spottbillige japanische Fahrräder gehandelt. Hie und da versuchten braununiformierte SA-Männer mit verlockenden Angeboten von warmen Mahlzeiten aus ihrer Feldküche und Gutscheinen für nagelneue braune Schaftstiefel aus echtem Leder jüngere Erwerbslose zum Eintritt in ihre Organisation zu bewegen.

Gegen diese SA-Werber richtete sich unsere Flugblattaktion. Die Handzettel, auf denen vor den ›braunen Rattenfängern‹ gewarnt und zum gemeinsamen Kampf aller Antifaschisten gegen die Nazis aufgerufen wurde, fanden bei den Arbeitslosen meist Zustimmung. Viele ermunterten uns, weiterzumachen, und als uns die SA-Leute entdeckten und uns Prügel androhten, gab es immer ein paar Männer, die sich schützend vor uns stellten und die Braunen zum Rückzug zwangen.

Aber einmal sahen wir uns auf dem Heimweg durch den Hofgarten der Rache der Nazis schutzlos ausgeliefert: Da tauchten plötzlich in höchstens noch zwanzig Schritt Entfernung SA-Männer und Hitlerjungen auf, alle weit größer und stärker als wir, deren Anführer gerade fünfzehn Jahre alt war. Wir hatten trotzdem keine Angst vor der Schlägerei, die unausweichlich bevorstand, wenn wir weitergingen. Wir waren noch ganz fröhlich und durchaus bereit, uns kräftig zu wehren.

Aber dann sahen wir den Totschläger, den der größte der Hitlerjungen in der Hand hielt. Es war ein mit gelbem Leder überzogenes Ding mit biegsamem Griff und einer wippenden Stahlkugel daran, so groß wie ein Pingpongball. Wir erkannten auch, gerade noch rechtzeitig, die im matten Laternenlicht bläulich schimmernden Schlagringe an den Fäusten der anderen und sahen den Ochsenziemer in der Hand des einen der beiden SA-Männer.

Da zogen wir es vor, rasch in den Büschen zu verschwinden und dann so schnell wir konnten nach Hause zu rennen. Weil wir bessere Läufer waren als unsere gestiefelten Verfolger, konnten wir sie bald abschütteln. Aber es war ein deprimierendes Erlebnis für uns, vor dem nackten Terror geflohen zu sein. Auf dem nächsten Gruppenabend wurde die Frage diskutiert, ob wir uns ebenfalls bewaffnen sollten. Aber die meisten schlossen sich der Ansicht des Gruppenleiters an, dass es für uns überhaupt nicht infrage käme, uns nach Art von Strauchdieben mit Schlagringen oder Totschlägern auszurüsten. Unsere Waffen seien die besseren Argumente und die Solidarität aller Antifaschisten. Als einer der Jüngsten verfolgte ich die Diskussion, ohne selbst eine Meinung zu vertreten, aber ich hatte erhebliche Zweifel, ob es richtig war, sich nicht zu wehren. Jedenfalls wusste ich, was mein – von dem Vorfall im Hofgarten nicht unterrichteter – Vater und andere Erwachsene meinten, wenn sie von einer »Gewaltherrschaft« sprachen, der wir ausgeliefert sein würden, falls es Hitler mit seinen Nazis gelingen sollte, an die Macht zu kommen.

Nun, am Mittag des 30. Januar 1933, waren Hitler und seine SA bereits an der Macht, und der Sender Langenberg des Westdeutschen Rundfunks, aus dem im Jahr darauf der ›gleichgeschaltete‹ Reichssender Köln wurde, hatte die Nachricht bereits ausgestrahlt. Als wir am Abend des Tags der Machtergreifung noch einmal Radio hörten, vernahm ich zum ersten Mal die Stimme des neuen Reporters. Sie klang ganz anders – nicht mehr unbeteiligt und sachlich, sondern geradezu fanatisch engagiert, den Zuhörern ihre eigene Gläubigkeit und Begeisterung suggerierend.

Ich war damals stumm vor Staunen und zugleich von Grauen erfüllt. Ich fühlte mich an die schwülstigen Phrasen jenes HJ-Führers in Berlin-Wilmersdorf erinnert, der erst Philipp Löwenstein brutal zusammengeschlagen und dann allen Juden mit Aufhängen gedroht hatte, am nächsten Morgen aber vor die Klasse getreten war und erklärt hatte: »Was wir brauchen, ist eiserner Wille zur nationalen Selbstbehauptung, Vaterlandsliebe, Selbstzucht und Opferbereitschaft! Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen!«

Während der Rundfunksprecher sich in immer größere Begeisterung hineinsteigerte, dachte ich an mein Erlebnis im Düsseldorfer Hofgarten, an die stählernen Schlagringe und den gefährlich wippenden, mit gelbem Leder überzogenen Totschläger in der Hand des Hitlerjungen.

Viele Jahre später, als das »Dritte Reich« bereits untergegangen war, fand ich im Archiv des einstigen »Reichssenders Köln« den Sprechertext vom Abend des 30. Januar 1933. Während ich ihn las, erging es mir so wie damals, als ich ihn als Zwölfjähriger zum ersten Mal gehört hatte: Die Worte erfüllten mich mit Staunen und Ekel zugleich.

»Wie eine Flamme schlägt es über Deutschland auf: Adolf Hitler ist Reichskanzler! Millionen Herzen sind angezündet, Jubel und Dankbarkeit suchen nach einem Ausbruch …«

So stand es tatsächlich im Manuskript des Rundfunksprechers, und er sprach diesen Text, wie ich mich deutlich erinnere, so, als versuchte ein von Begeisterung überwältigter Augenzeuge seinen Zuhörern den grandiosen Sieg Caracciolas beim Autorennen um den Grand Prix von Monaco zu schildern: »Ein Zug von hunderttausend Fackeln brandet die Wilhelmstraße herauf … Durchs Brandenburger Tor sind sie marschiert, die braunen Kolonnen der SA – als Sieger eines langen, opferreichen Kampfes. Blutrot leuchten die Fahnen, auf weißem Grund das Hakenkreuz – Symbol der aufgehenden Sonne! Ein herrlicher, ein wunderbarer Anblick! Und jetzt – tatsächlich! In diesem Augenblick ertönt von Süden her der harte Marschtritt des ›Stahlhelm‹. Gebannt lauscht die Menge, die Fackeln wogen … Überall Fackeln, Fackeln und – jubelnde Menschen! Hunderttausend Kehlen jauchzen ihr Sieg Heil – Heil Hitler! in die Nacht!

Und dort, über der jubelnden Menschenmenge und dem Meer von lohenden Fackeln steht, aufrecht und bis ins Innerste ergriffen, der Reichspräsident von Hindenburg, der greise Feldmarschall und Sieger von Tannenberg, an seinem Fenster … Daneben in der Reichskanzlei der Führer – ja, es ist der Führer! Da steht er mit seinen Ministern: Adolf Hitler … Der unbekannte Soldat des Weltkrieges, der unbeugsame Kämpfer, der Fahnenträger der Freiheit …!

Seine Augen in die Ferne gerichtet. Gewiss sinnt er über die langen Jahre des Kampfes, denkt an die Blutopfer der Bewegung, den langen, entbehrungsreichen Marsch – Und nun – ja! Ja! Brausend klingt es zu dem jungen Reichskanzler herauf aus dem Chor der Hunderttausend – das Deutschlandlied! Von der Maas bis an die Memel … Deutschland, Deutschland, über alles, über alles in der Welt!

Wie ein Gebet steigt es zum Himmel, wie Dank und Jubel zugleich! Wie der Choral von Leuthen …! Und nun: Ja! Ja! Nun stimmt die Menge das Kampflied der nationalsozialistischen Bewegung an, das Horst-Wessel-Lied!

Wie ein Ruck geht es durch die unübersehbare, wogende Menge: Hunderttausend Arme recken sich gläubig und dankbar zum Deutschen Gruß … Sie grüßen den Führer und ehren damit zugleich die unvergessenen Opfer des Kampfes – Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen … Ja! Wirklich: Sie marschieren im Geist in diesen Reihen mit!

So mancher dort in der Menge wischt sich verstohlen die Tränen ab, Tränen der Dankbarkeit und der Freude! Heil dir, unser Führer, Heil dem deutschen Vaterland!, singen die Herzen, und das alte Mütterchen dort in der Menge am Straßenrand spricht es aus, was alle empfinden, alle die Männer und Frauen dort unten und auch die wackeren SA- und SS-Männer, die in langen Kolonnen vorbeimarschieren hinter der Hakenkreuzfahne: Dank dir, Allmächtiger, dass wir diesen Tag erleben durften!«

Während ich durch Detmolds Rosengarten ging und mich an den 30. Januar 1933 erinnerte, fiel mir wieder ein, was sich bei uns zu Hause am Abend jenes Tages noch ereignet hatte:

Ich wollte gerade zu Bett gehen, als das Telefon klingelte. Es war Fräulein Bonse, eine Dame, die wir damals erst seit kurzer Zeit kannten, eine Frau um die vierzig mit silbergrauem Haar, das sie streng frisiert trug, was den Kontrast zu ihrem jugendlichen Gesicht noch erhöhte. Sie war für eine Institution tätig, die für Oberschüler und Studenten Ferienkurse, Studienreisen ins Ausland und akademische Austauschprogramme organisierte. Meine Eltern hatten sie durch gemeinsame Bekannte kennengelernt, und sie hatte uns auch schon ein paarmal besucht, wobei es darum gegangen war, dass ich an einem deutsch-englischen Schüleraustausch teilnehmen sollte. Aber am Abend des 30. Januar 1933 rief Fräulein Bonse aus einem ganz anderen Grund bei uns an.

Ich sollte jemandem, der in unserer Nachbarschaft wohnte, aber kein Telefon hatte, rasch etwas ausrichten: In einer Stunde würde er mit dem Auto abgeholt, er möge sich schnellstens reisefertig machen.

»Und der Herr weiß Bescheid?«, erkundigte ich mich.

Fräulein Bonse hatte mit der Antwort etwas gezögert. Schließlich trug sie mir auf: »Sag ihm, bitte, es sei sehr dringend, er müsste noch vor Mitternacht in Roermond sein.«

Der Mann, dem ich diese Nachricht dann überbrachte, war ein Bildhauer. Er arbeitete noch in seinem Atelier, als ich bei ihm eintraf. Ich erinnerte mich, ihn ein paarmal auf der Straße gesehen zu haben, auch dass aus seinem Fenster noch vor einigen Wochen, kurz vor den letzten Reichstagswahlen, eine rote Fahne gehangen hatte.

Er hörte sich ruhig an, was ich ihm auszurichten hatte, und er schien mir nicht einmal überrascht. Er fragte nur: »Ist es tatsächlich so eilig?«

»Bestimmt«, gab ich zur Antwort, »sonst hätte sie nicht ausdrücklich gesagt, es sei sehr dringend.«

Er nickte dazu nur. Als er mich dann zur Tür gebracht hatte, drückte er mir fest die Hand und sagte: »Danke! Und richte auch dem Fräulein meinen Dank aus. Sag ihr, ich hoffe, sie hat meinetwegen keine Schwierigkeiten mit dem lieben Gott …«

Beim Nachhausegehen fiel mir ein, dass Roermond gar nicht in Deutschland liegt, sondern schon jenseits der nahen holländischen Grenze. Es wurde mir auch klar, dass Fräulein Bonse, eine gute Katholikin, von der mein Vater gesagt hatte, dass sie mit Ministerialdirektor Dr. Klausener, dem Führer der ›Katholischen Aktion‹, eng zusammenarbeitete, dafür gesorgt hatte, dass der Bildhauer ins Ausland flüchten konnte, wo ihm die Nazis nichts anzuhaben vermochten.

Am nächsten Morgen sprach ich mit meinen Eltern darüber. »Das also steckt dahinter«, sagte meine Mutter, die schon beim Bäcker an der Ecke gewesen war und gehört hatte, was die Leute aus der Nachbarschaft erzählten: In aller Frühe hatten SS-Leute die Haustür des Bildhauers aufgebrochen, wohl um ihn zu verhaften, aber er sei verschwunden gewesen. Wahrscheinlich war er noch rechtzeitig gewarnt worden. »Hoffentlich hat dich keiner gesehen«, fügte meine Mutter noch hinzu. Und mein Vater meinte: »Das Fräulein Bonse muss über sehr gute Informationen verfügen – wir sollten sie bald wieder einmal einladen …« Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Das ist eine wirklich sehr interessante Zeit, in der wir jetzt leben. Ich wünschte allerdings, sie wäre etwas weniger interessant …«

Als ich spät am Abend zurückkam in mein Detmolder Hotel, war dessen Restaurant noch erleuchtet. Ich wollte noch ein Bier trinken, wäre auch nicht abgeneigt gewesen, das Gespräch mit dem alten Kellner fortzusetzen. Doch er hatte seinen Dienst bereits beendet, und so ging ich bald zu Bett.

Vor dem Einschlafen ließ ich den Nachmittag noch einmal Revue passieren. ›Seltsam‹, dachte ich, ›wie gut man sich doch, selbst an lange zurückliegende Ereignisse, erinnern kann – sofern man sich erinnern will …‹