Willkommen in der Bürohölle! - Heike Abidi - E-Book

Willkommen in der Bürohölle! E-Book

Heike Abidi

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Beschreibung

Chefs nerven. Kollegen leider auch. Und weil die Rente noch so endlos weit weg ist, hilft nur schwärzester Galgenhumor, um die bevorstehenden Dekaden in der Bürohölle zu überstehen. Oder dieses Buch, in dem ein Autorenteam seine lustigsten Kurzgeschichten zu genau diesem Thema gesammelt hat! Von den absurdesten Erlebnisse in deutschen Großraumbüros über die durchgeknalltesten Vorstellungsgespräche bis hin zu den härtesten Revierstreitigkeiten lässt das Buch kein Thema aus und zeigt schonungslos offen und mit einem dicken Augenzwinkern, mit welch harten Bandagen wir wirklich kämpfen, wenn es darum geht, im Büro den eigenen Vorteil zu sichern – und sei es nur bei der Platzierung des Joghurts im Firmenkühlschrank.

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Herausgegeben von Heike Abidi und Anja Koeseling

Willkommen in der Bürohölle!

Von schrecklichen Chefs, fiesen Kollegen und unfähigen Untergebenen

VORWORT

Willkommen in der Bürohölle

Blank gebohnerte Böden. Robuste Topfpflanzen. Hübsch gerahmte Familienfotos auf tadellos aufgeräumten Schreib­tischen …

Das mitteleuropäische Durchschnittsbüro hat eher etwas abgrundtief Piefiges als etwas Bedrohliches.

Doch der Schein trügt: Zwischen Kopierer und Teeküche, Vorzimmer und Abstellkammer, Großraumbüro und Aktenarchiv tobt ein nie enden wollender Kampf. Da wird gemobbt, gelästert, intrigiert, verleumdet und bloßgestellt, was das Zeug hält.

Flache Hierarchien? Transparente Kommunikationswege? Harmonische Unternehmenskultur?

Das sind doch bloß wohlklingende Worte in sorgfältig formulierten Leitbildern. Doch mit der Realität haben die nur selten etwas gemein. In Wahrheit geht es nur darum, mehr zu wissen als die anderen – und daraus Vorteile zu ziehen. Und natürlich darum, gratis Kopien machen zu können. Ganz davon abgesehen, dass ein Büro eine als Arbeitsplatz getarnte, gigantische Partnerbörse ist …

Schreckliche Chefs. Fiese Kollegen. Unfähige Mitarbeiter. Und man selbst als einziger klar denkender Mensch mittendrin!

Der tägliche Gang ins Büro gleicht vor diesem Hintergrund fast einer Mutprobe. Wären da nicht die schönen Seiten des Arbeitsalltags: die Freundschaften, die Firmenfeste, die Betriebs­ausflüge und die Liebesgeschichten, die erstaunlicherweise auf dem erwähnten frisch gebohnerten Boden (oder dem Kopierer, dem Schreibtisch, in der Abstellkammer …) höllisch gut ­gedeihen.

TEIL 1

»Der Fisch stinkt vom Kopf her«

Mitarbeiter über die da oben

Wer träumt nicht davon, im Lotto zu gewinnen, um dann nie wieder arbeiten gehen zu müssen?

Doch halt – hier fehlt ein kleiner, aber entscheidender Zwischenschritt, der in dieser Fantasie eine Rolle spielt: Denn anstatt dem Arbeitsplatz sang- und klanglos fernzubleiben, wünscht sich jeder, dem Chef einmal so richtig die Meinung zu geigen, sodass dem Hören und Sehen vergeht – und ihm dann den ganzen Kram vor die Füße zu werfen.

Fast erscheint diese Szene verlockender als das anschließende Leben in Saus und Braus!

Die Chefs dieser Welt wissen ja gar nicht, welch spektakuläre Show sie verpassen, solange keiner ihrer Mitarbeiter den Jackpot knackt.

Ja, sie ahnen oft nicht einmal, dass man sie für unfähig, ausbeuterisch, cholerisch, unfair, humorlos und schlichtweg fehl am Platz hält. Woher sollten sie es auch wissen? Niemand wagt es, sie darauf hinzuweisen. Stattdessen lacht man über ihre schalen Witze, lobt ihre klischeehaften Visionen, bewundert zähneknirschend ihre neue Villa mit Pool und vergibt in der jährlichen Mitarbeiterbefragung Bestnoten für den Boss.

Logischerweise, denn man will ja schließlich seinen Job behalten!

Aber hier, in diesem Kapitel, muss niemand katzbuckeln. Hier kommt die Wahrheit ans Licht – ganz ohne Lottogewinn. Und natürlich ohne Gewähr …

KEINE ANGST VOR HOHEN TIEREN

Chef-Typen und wie man sie zähmt

Ganz egal, ob ein Unternehmen drei Mitarbeiter hat oder dreihundert: Wie sie sich fühlen, miteinander umgehen und zusammenarbeiten, bestimmt am Ende eine einzige Person. Chef bzw. Chefin definieren das Betriebsklima und das, was man heutzutage Unternehmenskultur nennt. Beispielsweise ob man sachlich miteinander diskutiert oder cholerisch herumbrüllt. Deshalb kann selbst der interessanteste, bestbezahlte Job zur Hölle auf Erden werden – wenn man mit dem Boss nicht klarkommt.

Doch das kann man lernen. Ganz einfach, indem man erkennt, mit welchem Typ Chef man es zu tun hat, und ihn (oder sie) dann entsprechend behandelt.

Lesen Sie hier, wie man die hohen Tiere erfolgreich zähmt!

Gorilla

Friedfertiger Familientyp mit moralischen Ansprüchen

Als Chef tritt er meist in der Variante Silberrücken in Erscheinung. Loyalität ist das Maß aller Dinge für diese Spezies. Seinem Team gegenüber ist er sanfter Beschützer, kluger Entscheider und fairer Schiedsrichter zugleich. Was der Silberrücken allerdings nicht ertragen kann, ist Verrat. Dann kennt er keine Gnade und schreckt auch vor fristlosen Kündigungen nicht zurück. Wer den Chef vom Typ Gorilla reizt, ist selbst schuld. Sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt!

Tiger

Power-Paket mit eingeschränkten Führungsqualitäten

Tiger sind Einzelgänger. Für Teamwork sind sie nicht geboren. Daher eigentlich auch nicht als Führungspersönlichkeit. Chefs dieses Typs wissen meist gar nicht, was ihre Mitarbeiter den ganzen Tag lang tun und wie gut sie darin sind. Auf die Idee, sie zu loben, kommen Tiger nicht von selbst. Wer darauf wartet, wird enttäuscht bleiben – wer es dagegen einfordert, kann sich den Respekt des Chefs verdienen.

Giraffe

Antiautoritärer Teamplayer mit Überblick

Praktikant oder Boss? Auf den ersten Blick kann man das nicht so eindeutig erkennen. Der Chef dieses Typs sieht sich selbst nicht gern als Vorgesetzter, was ihm oft als mangelndes Selbstbewusstsein ausgelegt wird. Und manchmal tut er sich bei Entscheidungen auch schwer. Denn Harmonie ist ihm einfach wichtiger als Machtkämpfchen. Aber letztendlich hat die Giraffe doch wieder den besten Überblick – wozu also der Stress?

Pfau

Selbstverliebter Möchtegern-Star mit Hang zur Drama Queen

Hauptsache auffallen – das ist das Motto dieser Spezies. Unauffällige Businessoutfits sind nicht sein Ding und billige schon gar nicht. Chefs dieses Typs sind zu selbstverliebt, um Konkurrenten neben sich zu ertragen, und auf Kritik reagieren sie geradezu allergisch. Doch wer sich als begeistertes Publikum erweist und davon absieht, mit lästigen Verbesserungsvorschlägen selbst Applaus einzufordern, kann mit dem Pfau ganz gut klarkommen.

Kamel

Ausdauernder Leistungsträger mit extrem gutem Gedächtnis

Chefs vom Typ Kamel sind schwer zu beeindrucken, denn das beste Vorbild für das Team sind sie selbst. Humorlos erledigen sie ihr Tagwerk und erwarten von allen anderen, dass sie genauso zäh sind – ganz egal, wie schwierig die Arbeitsbedingungen auch sind. Man mag sie auf den ersten Blick unterschätzen, aber ihr Gedächtnis ist phänomenal. Gut möglich, dass Sie in einem Mitarbeiterführungsgespräch auf einen Fauxpas von vor fünf Jahren angesprochen werden … Kamele sind eben nicht nur diszipliniert, sondern auch nachtragend.

Buckelwal

Geselliger Spaßmacher mit Vorliebe für Kommunikation

Allein im Homeoffice zu arbeiten, käme für einen Menschen vom Typ Buckelwal niemals infrage. Er ist ein soziales Wesen und fest davon überzeugt, dass gemeinsame Aktivitäten gut für die Leistungsfähigkeit sind. Betriebsausflüge sind diesem Chef noch wichtiger als seinen Mitarbeitern, und wer hat bei der Firmenweihnachtsfeier am Ende das Karaoke-Mikro in der Hand? Richtig geraten …

Nashorn

Schwergewichtiger Vegetarier mit niedriger Toleranzschwelle

Der größte Fehler, den man begehen kann, ist, einen Chef vom Typ Nashorn zu unterschätzen. Diese Spezies sieht nicht gerade majestätisch aus, auch nicht durchtrainiert oder elegant, sondern bodenständig, etwas träge und harmlos. Doch wehe, sie werden gereizt! Dann ist von Trägheit und Gemütlichkeit nicht mehr viel zu sehen. Lernen Sie, mit diesem Risiko zu leben und einer akuten Bedrohung auszuweichen. Brüllen Sie keinesfalls zurück, sondern gehen Sie in Deckung, bis die Gefahr vorüber ist.

Doch was, wenn Sie trotz aller Tipps nicht mit dem Wesen Ihres Chefs klarkommen? Ganz einfach: Was Sie weder ertragen noch ändern können, tut Ihnen nicht gut. Suchen Sie sich einen neuen Job – und damit einen neuen Chef oder eine neue ­Chefin!

EINSCANNEN, AUSDRUCKEN, ABHEFTEN

Als ich an meinem ersten Arbeitstag den Aufzug betrat, hatte ich vor Aufregung feuchte Hände und einen ganz trockenen Mund. Die Worte des Geschäftsführers, der das Einstellungsgespräch geführt hatte, klangen mir noch in den Ohren: »Frau Berger ist einzigartig. Sie gehört schon seit zwei Jahrzehnten zum Unternehmen und schuftet für drei. Als ihre neue Assistentin sollten Sie belastbar, motiviert und leistungswillig sein.«

Natürlich hatte ich überzeugend behauptet, dieser anspruchsvolle Job wäre wie für mich gemacht. Doch jetzt, auf dem Weg in den fünften Stock, war ich meilenweit entfernt von dieser Selbstsicherheit. Stattdessen kam ich mit jedem Meter, den der Lift an Höhe gewann, immer mehr zu der Gewissheit, eine dramatische Fehlbesetzung zu sein!

Immerhin war ich – Bettina Michels, Mittdreißigerin, gelernte Bürofachkraft und zweifache Mutter – dank Familien­pause locker sieben Jahre lang völlig raus aus dem Berufsleben gewesen. Zwar hatte ich mich über die Updates der einschlägigen PC-Programme informiert, aber nicht wirklich damit gearbeitet.

Ich fühlte mich auch deutlich älter, langsamer, ausgelaugter als zu der Zeit vor den Kindern. Damals war mir keine Überstunde zu viel, keine Deadline zu knapp, kein Projekt zu kompliziert gewesen. Aber jetzt … unzählige durchwachte Nächte, gewechselte Windeln und gebastelte Laternen später war mein Ehrgeiz von damals fast völlig erloschen.

Diese Frau Berger würde mich im Nullkommanix durchschauen und spätestens am dritten Tag in der Luft zerreißen, da war ich fast sicher! Entsprechend eingeschüchtert trat ich aus dem Fahrstuhl und klopfte an ihre Tür.

Frau Berger war weit davon entfernt, mich in der Luft zu zerreißen! Stattdessen begrüßte sie mich mit ganz unerwarteter Herzlichkeit.

»Und nennen Sie mich Reinhild!«, fügte sie hinzu.

»Bettina«, antwortete ich zaghaft.

Der erste Arbeitstag verlief völlig stressfrei. Reinhild stellte mir die Kolleginnen aus den Nachbarabteilungen Personal, Marketing und Vertrieb vor, gab mir die Unternehmensbroschüre zu lesen, deren Inhalt ich natürlich längst aus dem Internet kannte, und bat mich dann, die Abrechnungsbögen der Außendienstler einzuscannen. Eine stupide Arbeit, die sich bis zum Feierabend hinzog – aber ich war froh darüber. So konnte ich wenigstens durch Arbeitseifer für einen guten Eindruck sorgen. Meine Inkompetenz würde schon früh genug entlarvt werden und dann war es gut, wenn ich vorher ein paar Fleißpunkte gesammelt hatte.

Am nächsten Tag war ich schon deutlich entspannter. Meine Aufgabe bestand darin, allen Kunden eine Einladung zum Firmenjubiläum zu schicken. Der Text stand schon fest, eine Datei mit allen Kundenadressen war auch vorhanden.

»Kein Problem, ich mach das dann als Serienbrief.«

Reinhild stutzte. »Wie auch immer«, antwortete sie kurz angebunden und stöckelte davon in Richtung Kopierer. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss mir der Verdacht durch den Kopf, Reinhild Berger hätte noch nie zuvor das Wort Serienbrief gehört. Aber das konnte ja nicht sein. Schließlich war sie die Kompetenz in Person!

Während ich also meinen Arbeitstag damit verbrachte, die Einladungen versandfertig zu machen, eilte sie emsig zwischen Kopierer und Schreibtisch hin und her, heftete ab, schleppte Ordner durch die Gegend, prüfte mit ernster Miene Zahlenkolonnen und nahm Telefonate entgegen. Ich war irrsinnig beeindruckt von so viel Schaffenskraft – immerhin war Reinhild schon Mitte fünfzig und doch so viel tüchtiger als ich.

An einem Spätvormittag in meiner zweiten Arbeitswoche – ich durfte inzwischen auch Telefondienst schieben und einfache Korrespondenz erledigen – jagte mir Reinhild, kaum dass sie mein Büro betreten hatte, den Schreck meines Lebens ein: Erst stieß sie einen schrillen Schrei aus, dann warf sie sich wie eine Torfrau beim Elfmeter auf den Boden. Zuerst kapierte ich gar nicht, was sie da tat, glaubte sogar an eine Art Unfall oder ein medizinisches Problem, doch dann wurde urplötzlich mein Bildschirm schwarz. Reinhild hatte den Stecker meines Rechners gezogen.

»Das war Rettung in letzter Sekunde«, keuchte sie, während sie sich aufrappelte.

»Was in aller Welt sollte das?«, fragte ich leicht ungehalten. »Zum Glück hab ich gerade gespeichert, sonst wäre die Arbeit der letzten Viertelstunde futsch gewesen.«

»Schon, aber in diesem Fall war Gefahr im Verzug«, erklärte sie. »Du hattest doch auf die verbotene Taste gedrückt.« Seit einem gemeinsamen Mittagessen in der Kantine neulich duzten wir uns. Doch das half mir jetzt auch nicht dabei, die kryptische Botschaft meiner Chefin zu begreifen.

»Auf die verbotene Taste?«, wiederholte ich verständnislos. Seit wann gab es denn so was?

»Na, auf den Störungsknopf.« Reinhild deutete auf die Strg-Taste. »Den darf man niemals, wirklich niemals benutzen, sonst geht alles kaputt.«

»Alles?«, echote ich ungläubig. Reinhild wollte mich wohl verkohlen. Gleich kam bestimmt ein Kamerateam hinter dem Benjamini hervorgesprungen und rief: »Willkommen bei Versteckte Kamera!«

»Alles, was jemals auf diesem Computer gespeichert war, ist dann gelöscht. Auch sämtliche Programme«, bestätigte Reinhild mit heiligem Ernst. »Deshalb habe ich auch dieses Warnschild angefertigt.«

Strg-Taste drücken streng verboten.

Tatsächlich, schräg hinter der Tastatur entdeckte ich einen zweckentfremdeten Dessert-Aufsteller aus der Cafeteria, auf dem ursprünglich wohl Zitronen-Sorbet, Tiramisu oder Crème brulée angepriesen worden war. Jetzt war das Täfelchen mit einem Totenkopfsymbol beklebt. Darunter stand: »Strg-Taste drücken streng verboten.«

Wortlos schob ich den Stecker wieder in die Dose, schaltete den PC an, loggte mich im Internet ein und öffnete eine Seite, auf der nützliche Tastenkombinationen aufgelistet waren.

»Mit Störung hat das alles nichts zu tun«, versuchte ich Reinhild klarzumachen. »Die Steuerungstaste ist total praktisch, wenn man nicht wegen jeder Kleinigkeit zur Maus greifen will. Strg + C ist ein Kürzel für Kopieren, Strg + X für Ausschneiden, Strg + S für Speichern. Und genau das habe ich vorhin gemacht: gespeichert.«

Reinhild Berger starrte mich ungläubig an. Ich öffnete meine Word-Datei und führte ihr ein paar dieser Funktionen vor.

»Da haben mich die Jungs aus der Technikabteilung wohl auf den Arm genommen«, meinte sie schließlich, nahm das Totenkopfschild, warf es in den Abfall und zog mit klappernden Absätzen von dannen.

Reinhilds Ego schien unter diesem Vorfall nicht gelitten zu haben. Nach wie vor strahlte sie so viel Sachverstand aus, als wäre der Strg-Zwischenfall nie passiert. Sie eilte durch die Gänge, befüllte Hängeregistraturmappen, schrieb Telefonnotizen, legte neue Ordner an, machte sich an Drucker und Scanner zu schaffen und natürlich verging kein Tag, ohne dass sie Überstunden machte. Doch meine Zweifel an Reinhilds legendärer Kompetenz waren gesät. Und ich fragte mich, was sie da eigentlich tat mit all diesen Ordnern, Mappen und Kopien.

Einige Tage später erhielt ich einen ersten Hinweis darauf. Denn da bat mich Reinhild, einen Stapel Sitzungsprotokolle, die ich unlängst abgetippt hatte, einzuscannen.

»Wozu?«, fragte ich neugierig. Ich war ja immer noch in der Einarbeitungsphase und wollte signalisieren, wie begierig ich darauf war, die internen Arbeitsabläufe und Gepflo­genheiten kennenzulernen. Und natürlich hatte ich auch den leisen Verdacht, dass Reinhilds Antwort in etwa auf Totenkopfschild-­Niveau sein könnte. Doch selbst wenn mein Leben davon ­abgehangen hätte, wäre ich nie auf ihre Begründung ­gekommen.

»Die Dokumente sollen als PDF gespeichert werden«, informierte sie mich.

Ich stand auf dem Schlauch. Was hatte das mit dem Scan-Auftrag zu tun?

Nachsichtig schüttelte sie den wohlfrisierten Kopf. »Du musst wissen, Betty, was man einscannt, hat man dann als PDF-Datei.«

Ich biss die Zähne aufeinander – nicht nur, weil sie mich Betty genannt hatte, eine Verniedlichung, die ich schon immer gehasst habe. Sondern vor allem, weil ich nicht laut herausplatzen und sie mit einem unkontrollierten Kicheranfall beschämen wollte. Ich tat so, als müsste ich husten. Als ich meinen Lachreiz wieder im Griff hatte, zeigte ich ihr wortlos, wie man Word-Dokumente im PDF-Format abspeichert. Ohne sie erst auszudrucken und einzuscannen.

»Oh«, sagte sie beeindruckt und wurde blass. Und dann noch mal: »Oh. Ach, ehrlich? Na gut, dann mach es halt so, wenn dir das lieber ist. Und dann druckst du sie bitte noch mal aus, stempelst sie mit dem Datum von heute ab und heftest alles in diesen Ordner.«

Und weg war sie wieder mit ihren klappernden Absätzen.

Mit der Zeit blühte ich regelrecht auf. Von meinen anfänglichen Selbstzweifeln war nicht mehr viel übrig. Zumindest was die Technik betraf, war ich meiner Chefin weit überlegen. Und weil meine Arbeitsweise so viel zeitsparender war als ihre, konnte ich es ganz ruhig angehen lassen, ohne dass Arbeit liegen blieb oder ich auch nur eine einzige Überstunde machen musste.

Reinhild dagegen blieb weiterhin jeden Abend länger. Sie tat mir fast leid. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte ich eines Nachmittags. Ich hatte die Jacke schon übergezogen und schaute noch einmal kurz in Reinhilds Büro vorbei. Sie hatte gerade ihre Goldrandbrille abgesetzt und rieb sich die Augen.

»Ach, geh du nur nach Hause«, sagte sie, »ich krieg das schon hin.« Sie klang müde und ein bisschen frustriert.

»Aber zu zweit geht es vielleicht schneller. Was machst du da eigentlich?«

Ich trat näher und warf einen Blick auf die Papiere voller Zahlenkolonnen, mit denen ihr Schreibtisch übersät war. »Korrigierst du die Bilanzen?«

Sie nickte. »Die Quartalsabrechnungen sind fällig. Ich muss das alles noch prüfen.« Sie deutete auf einen gigantischen ­Stapel.

»Du Ärmste«, rief ich erschrocken, »das schaffst du ja niemals vor Mitternacht!« Spontan stellte ich meine Tasche ab und zog die Jacke wieder aus. »Gib her, ich lese vor und du vergleichst, dann geht es doch viel schneller. Wo ist die Vorlage?«

»Welche Vorlage?« Reinhild zog die Stirn kraus.

»Ich dachte, du prüfst diese Zahlen. Die kannst du doch sicher nicht alle auswendig. Also – womit vergleichst du die Ausdrucke?« Tatendurstig schnappte ich mir einen Stuhl und setzte mich neben meine Chefin.

»Na, damit«, erwiderte Reinhild und deutete auf den ­Monitor.

Ich fiel fast vom Hocker.

»Wie jetzt?«, japste ich fassungslos. »Du vergleichst die ­Ausdrucke mit der Datei?«

Reinhild nickte. »Das mache ich immer so. Seit Jahren. Ist immer eine Heidenarbeit, das kannst du mir glauben.« Selbstzufrieden faltete sie die Hände vor ihrem Wohlstandsbäuchlein.

»Und? Hast du dabei jemals eine Unstimmigkeit gefunden?«, fragte ich halb amüsiert, halb fassungslos.

»Noch nicht. Aber wenn ich es nicht kontrolliert hätte, könnten wir das so genau nicht wissen.«

Was war denn das für eine absurde Logik?

»Doch, das wüssten wir – weil Ausdruck und Bildschirmansicht immer identisch sind.«

»Ihr jungen Dinger meint immer, alles besser zu wissen«, seufzte Reinhild. »Ich mache nun mal keine halben Sachen.«

Ich glaubte nicht nur – ich wusste es tatsächlich besser. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich Reinhild davon überzeugen sollte.

»Mach dir nichts draus, Betty, eines Tages, wenn du lange genug hier angestellt bist, überblickst du bestimmt auch die Zusammenhänge.«

Ich schloss die Augen. Zählte stumm bis zehn. Und dann weiter bis zwanzig. Doch auch das half nicht. Genauso wenig wie tiefes Durchatmen. Sie hatte mich wieder Betty genannt. Und sie hatte wirklich, wirklich nicht die geringste Ahnung, wie unfassbar bescheuert sie war!

Wortlos stand ich auf, zog meine Jacke über und ging zur Tür. Dort drehte ich mich noch einmal kurz um und sagte: »Nur zu deiner Information, liebe Reinhild. Zwischen der Datei auf deinem Bildschirm und dem Ausdruck kann es keinen Unterschied geben. Er! Muss! Identisch! Sein! Jede Minute, die du damit verschwendest, beides zu vergleichen, ist verlorene Lebenszeit. Und übrigens: Mein Name ist ­Bettina.«

Am nächsten Morgen kam Reinhild nicht zur Arbeit. Auch am übernächsten nicht. Am dritten Tag war ihre Krankmeldung in der Post. Auf unbestimmte Zeit.

Man munkelte, sie hätte einen Nervenzusammenbruch erlitten. Andere sprachen gar von Burn-out.

Na, super. Das hatte ich nun davon. Warum nur hatte ich meine Chefin so vor den Kopf gestoßen? Nun musste ich sehen, wie ich all ihre Arbeit bewältigte. Zusätzlich zu meinen Aufgaben, wohlgemerkt.

Wobei – eine feste Tätigkeitsbeschreibung gab es für mich bislang nicht. Ich hatte einfach immer das erledigt, was Reinhild mir auftrug. Und das fiel ja nun weg.

Umso besser. Ich hatte also nur noch Reinhilds To-do-Liste abzuarbeiten. Doch wie genau sah die aus? Sollte ich etwa auch mit klappernden Absätzen zwischen Kopierer und Aktenschrank hin- und herstöckeln? Oder Dokumente einscannen, um eine PDF-Datei zu generieren? Ausdrucke mit der Bildschirmansicht vergleichen? Totenkopfwarnschilder basteln, die vor der Strg-Taste warnen?

Ich beschloss, herauszufinden, worin Reinhilds eigentliche Arbeit bestand. Also der Teil ihrer eifrigen Aktivitäten, der in irgendeiner Form sinnvoll war.

Der Geschäftsführer rief mich zum Krisengespräch. »Trauen Sie sich denn zu, Frau Berger in nächster Zeit zu vertreten?«, fragte er mit ernster Miene, ohne sich näher darüber auszulassen, was konkret damit gemeint war.

Ich versicherte, dass ich mein Bestes geben würde. Dann fragte ich nach einer Prioritätenliste. »Welche von Frau Bergers vielen Aufgaben sind die wichtigsten?«

Der Geschäftsführer hatte es plötzlich sehr eilig, brach das Gespräch nach einem hektischen Blick auf die Uhr ab und meinte nur, ich solle das selbst entscheiden.

Aha. Er hatte also auch keine Ahnung, was Reinhild seit zwanzig Jahren so eifrig getrieben hatte. Ich musste mich selbst daran machen, es herauszufinden – und bezog noch am gleichen Tag ihr Büro.

Als Erstes durchforstete ich die riesigen Aktenschränke. Dabei fiel mir ein Ordner mit der Aufschrift »Aktennotizen ­Bettina Michels« ins Auge. Was denn für Notizen? Ich hatte doch nichts verbrochen … Neugierig griff ich danach.

»Anruf von Firma Schwarz von Frau Michels angenommen und durchgestellt«, stand da beispielsweise in Reinhilds exakter Handschrift. Dazu Datum und Uhrzeit. Das Formular war eingescannt, ausgedruckt und abgeheftet – natürlich mit einem Stempel versehen und einem Vermerk, wo die PDF-Datei abgespeichert ist. Ich überprüfte das – tatsächlich, alles war so, wie es in der Aktennotiz stand.

Und obwohl ich erst seit wenigen Wochen im Unternehmen arbeitete, gab es unzählige ähnliche Vermerke über meine Tätigkeiten. Alles, was ich je erledigt hatte, war dokumentiert. Notiert, eingescannt, ausgedruckt, abgeheftet. Und nicht nur über mich existierte so ein Ordner – sondern über alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Büro. Auch über solche, die schon seit Jahren nicht mehr hier arbeiteten.

Grundgütiger!

Ich wühlte mich weiter durch die Schränke und fand die abenteuerlichsten Spuren von Reinhilds zwanzig Jahre währenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Nicht nur Aktennotizen. Sondern auch Protokolle. Tabellen. Bilanzen. Alles mehrfach kopiert und mit dem Stempel »geprüft« versehen. Vermutlich Zeile für Zeile mit der Bildschirmansicht verglichen.

Ich überschlug, wie viele Stunden auf diese Weise vergeudet worden waren, und kam auf eine Zahl, die mir die Haare zu Berge stehen ließ.

Was am Ende an echter Arbeit übrig blieb, war überschaubar. Telefondienst, Korrespondenz, Rechnungen, Buchhaltung. Für Letzteres gab es ein hervorragendes Programm, das die Bilanzen quasi von selbst erstellte. Auf Knopfdruck. Alles war auf dem Server gespeichert, mit Sicherheits-Back-up. Ich musste nichts ausdrucken, schon gar nicht sechsfach. Und auch nichts einscannen oder abheften.

Nach einigen Tagen überschaute ich die Lage so weit, dass ich dem besorgten Geschäftsführer, der immer mal wieder hereinschneite, versichern konnte, alles laufe bestens. Es lief sogar so gut, dass ich spätestens gegen Mittag fertig war mit meinem Tagwerk. Was natürlich ungünstig war, denn immer, wenn jemand hereinschaute, musste ich schwer beschäftigt wirken, sonst wäre ich meinen Job sofort los, sobald Reinhild wieder gesund war.

Und so begann ich, Italienisch zu pauken. Ich fand ein großartiges Online-Selbstlernerprogramm, das super funktionierte. Außerdem vertickte ich nach und nach den kompletten Inhalt meiner Abstellkammer auf eBay. Ursprünglich hatte ich den Kram auf dem Flohmarkt verkaufen wollen, wozu ich allerdings nie gekommen war. Jetzt hatte ich endlich mal Zeit für dieses Projekt.

Als die Abstellkammer leer und mein Italienisch auf Touristen-­Small-Talk-Niveau war, rief mich der Geschäftsführer mal wieder zum Gespräch.

»Frau Berger kommt nicht mehr zurück«, teilte er mir mit. »Sie geht in den Vorruhestand.«

Ich nickte und schwieg. Damit hatte ich schon fast gerechnet. Aber was bedeutete das für mich? Wenn er mir jetzt eine andere Chefin vor die Nase setzte, war es vorbei mit der schönen Zeit. Dann würde unweigerlich herauskommen, dass ich eigentlich gar nichts zu tun hatte, und ich müsste mir über kurz oder lang einen neuen Job suchen …

»Können Sie sich vorstellen, die Abteilung auf Dauer eigenverantwortlich zu leiten?«, unterbrach der Geschäftsführer meine düsteren Gedanken. »Natürlich stellen wir eine persön­liche Assistentin für Sie ein.«

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen. Dann wurde mir klar, dass er mir gerade den Himmel auf Erden anbot!

Die Vorstellungsgespräche führte ich selbst. So konnte ich sicherstellen, dass meine neue Mitarbeiterin nicht gerade die hellste Leuchte am Bewerberhimmel war. Ich brauchte eine Assistentin, die mit meinen bisherigen Tätigkeiten voll ausgelastet war und nicht auf die Idee kam zu fragen, was ich eigentlich den ganzen Tag lang so trieb.

Melanie Parker war die perfekte Wahl. An ihrem ersten Arbeitstag wirkte sie zwar etwas eingeschüchtert von meiner souveränen Chefinnen-Ausstrahlung, aber das legte sich bald, als ich sie herzlich begrüßte und ihr anbot, mich Bettina zu ­nennen.

Nachdem ich ihr alles erklärt hatte, zog ich mich in mein Büro zurück und setzte mich an den PC. Jetzt konnte ich mich endlich ganz meiner neuen Leidenschaft widmen: Kurzgeschichten schreiben. Ich wusste auch schon, wie die Überschrift meiner ersten Story lauten sollte. »Einscannen, ausdrucken, abheften«, schrieb ich in großen, fetten Buchstaben und lehnte mich dann mit einem zufriedenen Lächeln zurück.

NENNT MICH JOKER

Oder: Highlights aus zwanzig Jahren Zeitarbeit

Kennen wir uns?

Ich sehe die Frage in deinem Gesicht und grinse zur Antwort. Irgendwas von mir wird dir bestimmt schon begegnet sein. Meine Stimme, mein Gesicht oder beides. Denk mal scharf nach, Süßer!

Mir in dieser Region komplett aus dem Weg zu gehen, ist nämlich so gut wie unmöglich. Es reicht schon, die große Tageszeitung im Abo zu haben. Wenn einer einen Urlaub plant und vorher bei der Servicehotline anruft, um das Käseblatt für zwei Wochen abzubestellen, hat er eine nicht unerhebliche Chance, mich in die Leitung zu bekommen.

Du bist Nicht-Leser? Und fährst lieber mit deinem Flitzer in die Berge?

Dann bist du vielleicht schon mal im Straßengraben liegen geblieben. Sagen wir, an Neujahr. Du riefst bei deiner Reiseversicherung an, damit die dir den Abschleppdienst schicken und die Reparatur organisieren. Und wer nahm deinen Anruf entgegen? Vielleicht ich – Feiertagsdienste mache ich öfter.

Du hast seit Ewigkeiten gar kein Auto mehr?

Hast früher heiße Schlitten aufgebrochen und musstest dafür in den Knast? Na dann – vielleicht trafen wir uns ja in der Zeit danach, irgendwann zwischen Januar und Juli 2013. Ich war das Mädel, das dir half, die ersten Bewerbungsschreiben nach deiner Entlassung auf die Reihe zu kriegen.

»Bewährungshilfe hinterm Turm« – bringt dieser Name bei dir was zum Klingeln?

Nicht? Dann hast du mich vielleicht im Fernsehen gesehen. An einem Montag im Dezember, um 18.50 Uhr im Dritten. Ich war die Leiche auf den Stufen der Stadtpfarrkirche, ganz zu Anfang der Sendung.

Du starrst mich mit offenem Munde an. Ich höre dein Gehirn förmlich rattern.

Wo, zum Teufel, arbeitet die denn?

Ich überlege kurz, dir noch ein Liedchen von Hannes Wader vorzusingen, Heute hier, morgen dort. Oder dir zu erzählen, wie meine Freunde mich nennen: »Der Joker«. Endlich verrate ich dir meine offizielle Berufsbezeichnung: kaufmän­nische Angestellte für eine Zeitarbeitsfirma.

Zeitarbeit! Da kratzt du dich am Kopf, scharrst mit den Füßen und machst dich schnell vom Acker. Ich weiß schon, was dir jetzt durch den Kopf geht:

Moderne Sklaverei, Opfer, ausgebeutet.

Doch so pauschal sagen konnte man das noch nie – bei mir zweimal nicht.

Als ich aus der Ausbildung kam, steckten wir mitten in den 1990er-Jahren. Zeitarbeit, das roch nach einem Gegenprogramm zur Spießigkeit. Nach Abenteuer, Ausprobieren, Was-von-der-Welt-Sehen. Genau mein Ding: Ich war 19 und ziemlich planlos, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen sollte. Großes Unternehmen oder kleine Klitsche? Was Soziales oder eher Kulturelles? Lieber im hektischen Großraumbüro oder ruhig im Archiv?

»Bei uns können Sie unterschiedlichste Aufgaben und Branchen kennenlernen«, lockte die Personalchefin beim Vorstellungsgespräch. Und was das Geld anging: Ich brauchte sowieso nicht viel in meiner WG und ohne Auto.

Also unterzeichnete ich meinen ersten Vertrag.

»Sie arbeiten jetzt erst mal vier Wochen lang als Schwangerschaftsvertretung in dieser Versicherung«, teilte meine Disponentin mir zwei Tage später mit. »Danach sehen wir ­weiter – bleiben oder wechseln. Wirtschaftlich läuft es bei uns in der Region gerade gut, wir werden für Sie sicher gleich einen neuen Einsatz finden.«

So tauchte ich ein in die Welt der Versicherungen. Im freundlichen, hellen Viererbüro tippte ich von neun bis fünf Uhr Briefe, telefonierte mit Kunden und denen, die es werden sollten, machte die Ablage, kochte Kaffee, lauschte dem Geplänkel der anderen Mädels und langweilte mich. Diese Art von Jobs gab es von nun an öfter, auch in der Kosmetikbranche oder bei den Kirchen. Meine Mutter war entzückt und sagte, ich solle mich bemühen, bald eine Festanstellung zu kriegen. »Nur über meine Leiche«, antwortete ich.

Zum Glück brauchten sie kurz danach jemanden im Vertrieb eines Autoteileherstellers. Eine schmutzige Fabrikhalle am Stadtrand, Schichtdienst. Als die Disponentin vier Kollegen und mich fragte, wer das übernehmen wolle, hob nur ich die Hand.

»Aber Sie sind doch eine Frau«, staunte die Disponentin.

»Ja, leider, ich hab es mir nicht raussuchen können«, antwortete ich. »Im nächsten Leben kreuze ich ›Mit Glied‹ an.«

Die Jungs lachten.

Autos find ich viel spannender als Bibeln, Wimperntusche und Haftpflichtversicherungen zusammen.

»Mal ernsthaft«, schob ich hinterher, »Autos find ich viel spannender als Bibeln, Wimperntusche und Haftpflichtversicherungen zusammen. Schon der Duft nach Öl und Benzin …«

»Sie werden Sicherheitsschuhe tragen müssen«, warnte die Disponentin, »und Gehörschutz. Und es wird Frühschichten geben.«

»Geh ich halt direkt von der Disco aus hin. Und?«

So bekam ich den Job. Und Stahlkappenschuhe. Und jede Menge Insiderwissen in Sachen Motoren und Karosserien.

Jeden Morgen freute ich mich auf die Arbeit – als das Unternehmen weit weg zog, trauerte ich ihm lange hinterher.

Lager und Fabrikhallen, Hochglanzbüros und Container. Mal eine Woche, mal ein Jahr am selben Ort. Viel zu schnell war ich 24 und fünf Jahre dabei. Viele Kollegen waren inzwischen in einem Betrieb kleben geblieben, hatten sich fest übernehmen lassen und planten ihren Aufstieg. Kolleginnen in meinem Alter verlobten sich, kriegten dicke Bäuche, hörten auf zu arbeiten. Der einzige Typ, bei dem ich mir so was vorstellen konnte, wollte allerdings nichts Festes – und eine Firma, die ich so liebte wie die mit den Autoteilen, buchte mich nicht wieder. Stattdessen hatte ich viele langweilige Einsätze als Büromieze.

»Ich will eine Veränderung«, heulte ich meinem neuen Disponenten vor. »Was mit Menschen. Weniger tippen, mehr Verantwortung. Weniger Schickimicki, mehr Schicksal.«

»Schicksal? Können Sie haben. Die Verwaltung im größten Asylbewerberheim der Stadt sucht jemanden. Ihr Profil könnte passen.«

Ich nickte wild. Arbeit mit Kriegsflüchtlingen – das war mal was Sinnvolles!

Drei Tage später lernte ich René kennen.

»Wir sind hier übrigens per Du«, stellte der Sozialarbeiter klar, der den Laden am Laufen hielt. »Und du brauchst a) gute Nerven, b) Impfungen gegen Hepatitis B, Diphtherie, Tetanus und Polio, c) gute Nerven und d) gute Nerven.«

»Wieso das denn?«

»Hier leben sechshundert Leute auf engstem Raum zusammen. Unbegleitete Teenies und Großfamilien, Chaoten und Ordnungsfanatiker, Leute von drei Kontinenten und allen Glaubensrichtungen. Manchmal scheppert’s. Und wir müssen durchgreifen.«

»Wir? Ich dachte, ich sitz hier dekorativ am Schreibtisch rum und kümmere mich um den Schriftkram.« Ich sah ihn mit Unschuldsblick an und plinkerte mit den Wimpern, wie ich es mir bei den Versicherungskolleginnen abgeschaut hatte.

René schnaubte: »Dann verpiss dich! Ich hab dem Dispo doch gesagt, ich brauch ’n Back-up mit Rückgrat!«

Ich drückte das meine durch, freute mich über diesen ­Ritterschlag durch meinen Disponenten und sah René lange in die Augen.

»Vera-harscht!«, jubelte ich. »Rumsitzen? Hatte ich lange genug! Bei uns in der WG scheppert’s auch und wir sind nur fünf. Also: Wo fangen wir an?«

»Stell die Ohren auf – wir gehen immer in die Richtung, aus der der Lärm kommt.«

Bald wohnte ich nahezu bei René und allen seinen Schützlingen. Er brauchte mich immer wieder an Wochenenden und nachts und ich gab es bald auf, die Stunden zu zählen. Es war spannend, so dicht dran zu sein an dem, was ich sonst nur aus den Nachrichten kannte.

An guten Tagen zeigte ich sympathischen Neuankömmlingen ihre Zimmer, ging mit Gruppen von Teenagern oder Familien zum Essenkaufen, erklärte mit Händen und Füßen, wofür mein Englisch und das Deutsch der Flüchtlinge noch nicht reichten. Ich futterte mich durch die afrikanischen, ost­europäischen und arabischen Spezialitäten, die mir angeboten wurden, telefonierte mit Behörden, Ärzten, Schulen, Kindergärten, Sprachschulen und Vermietern, füllte Formulare aus. Es gab ein großes Hallo, wenn ein Schwung neuer Möbel, Bilder, Teppiche und Elektrogeräte ins Haus kam – an Sperrmüll-­Tagen: Der Wohlstandsmüll der Städter machte unsere Leute glücklich.

Immer wieder gab es auch eine Anerkennung zu feiern – und einen Auszug derjenigen, die dauerhaft in Deutschland wohnen und arbeiten durften, in ihre eigene Wohnung.

Leider waren die nicht so guten Tage in der Überzahl. Die, an denen Männer und Frauen abgeschoben wurden und schier durchdrehten vor Frust, Angst und Wut. Die, an denen jemand schreiend durchs Haus rannte – wenn die Albträume zu schwer wogen. Die, an denen René und ich verdächtigen Gerüchen nachgingen und Koch-, Rauch- und andere illegale Aktionen in Zimmern beenden mussten. Jene, an denen Jungs sich prügelten und mal schnell eine komplette Einrichtung zerlegten. Und die schwarzen Stunden, in denen Neonazis vorm Heim ­randalierten.

Trotzdem tat es mir leid, als ich von dort wieder wegmusste – René und einige Flüchtlinge waren mir ans Herz gewachsen.

»Diesmal hab ich ein Sahnehäubchen für Sie«, machte mir die nun zuständige Disponentin den Mund wässrig. »Sie dürfen zu den Reichen und Schönen. In eine internationale Unternehmensberatung. Schickimicki – dafür sehr abwechslungsreich. Könnte Sie weiterbringen für die Zukunft.«

Sie musterte mich mit kritischem Blick – ich trug ein Flanellhemd, Jeans und die Art von Schuhen, die jedem Glassplitter und zerborstenen Holztisch standhält.

»So müssen Sie nicht mehr herumlaufen«, meinte sie abschließend, »das ist ja auch nichts für eine junge Dame. Ab Montag dann in Bluse und mit Stoffhose. Oh, und bitte in eleganten Schuhen. Sie haben doch Pumps zu Hause?«

Ich kotzte fast, als ich nach Feierabend durch die Läden ging und die Preise von Stoffhosen, Blusen, Feinstrumpfhosen und eleganten Schuhen studierte. Die Miete in dieser Stadt war hoch, mir blieb etwa ein Hunni Taschengeld im Monat – und für diese ungeplante Shoppingrunde ging ich knietief in die Miesen. Aber mir blieb nichts anderes übrig. So verkleidete ich mich am Montag, trug sogar ein wenig Lipgloss auf und fuhr ins beste Viertel der Stadt zu meinem neuen Einsatz.

Von außen glitzerte und schimmerte das Hochhaus verheißungsvoll. Innen, direkt hinterm Eingang, saß ein überschminktes Püppchen und sah mich abschätzig an. Dass meine Tasche nicht von Chanel kam, die Schuhe nicht von Prada und die Stoffhose aus dem Schlussverkauf von C&A, schien ihr nicht zu passen. Oder störte sie mein Blumentattoo am Hals? Ich hätte sie gern geschüttelt, tat aber, was ein Profi in solchen Situationen tut: Ich lächelte sie an.

»Kann ich Ihnen helfen?«, piepste das Dämchen. »Wo darf ich Sie denn anmelden?«

»In der neunten Etage bitte, ich habe einen Termin mit Frau Feuerstein«, antwortete ich und hielt ihrem Blick stand. Wer eine Prügelei zwischen drei Zwei-Meter-Männern mit einem Brüller beenden kann, lässt sich doch von dieser halben Portion nicht abschrecken!

Sie griff zum Hörer und kündigte mein Kommen an – dann durfte ich endlich den Fahrstuhl benutzen. Die Feuerstein nahm mich gleich in Empfang. Auch sie wirkte skeptisch. Ich sog die Luft tief in meine Lungen – es roch nach Desinfektionsmitteln, teurem Parfüm und sehr viel Geld – und nahm mir vor, es diesen Posern so richtig zu zeigen. Ich, der Joker, würde mich bei den Reichen und Schönen unentbehrlich machen!

So einen riesigen Schreibtisch ganz für mich allein hatte ich noch nie besessen. Und was für eine Aussicht! Die ganze Stadt lag mir zu Füßen. Wenn ich abends länger bliebe, könnte ich die hinreißendsten Sonnenuntergänge bewundern.

Anfangs dachte ich tatsächlich, dass die anderen auch hier wären, weil sie sich hier so wohl fühlten. Meine Arbeit selbst war kein Hexenwerk, mit der EDV war ich vertraut und mit Kunden konnte ich auch. Die DIN-Normen der Geschäftsbriefe kannte ich aus dem Effeff, das Ablagesystem hatte keine Tücken.

Schwierig fand ich die Vorstellung, dass die Unternehmensberater von hier aus anderer Leute Jobs wegrationalisierten. Dass sie darüber entschieden, wo Mitarbeiter heimgeschickt werden – Eltern kleiner Kinder vielleicht oder Menschen ohne Ersparnisse, Menschen wie ich. Ich tröstete mich damit, dass die ja vielleicht dasselbe Glück haben würden, das mir widerfahren war: Sie konnten auch zur Zeitarbeit, die stellten gerade ein wie blöde. Die Guten würde eine neue Chance erhalten. Die Schlechten … so war eben das Leben. Jeden Tag wurde ich ein bisschen skrupelloser.

Auch das Schwindelgefühl, das ich spürte, wenn ich einen Geldbetrag mit sieben oder acht Nullen in einem Schreiben las, wurde von Woche zu Woche kleiner. Irgendwann machte es von den Gefühlen her keinen Unterschied mehr, ob für ein Projekt zehntausend oder eine Million D-Mark eingeplant wurden. Beides war mehr, als ich je in den Händen ­halten würde.

Frau Feuerstein bezahlte mir einen Business-English-Kurs samt Prüfung und ich bestand sehr gut. Alles flog mir zu.

Ich bekam einen Sonderbonus, später noch einen. Nach vier Monaten hatte ich unerwartet so viel auf der Seite, dass ich aus der WG in eine eigene Wohnung ziehen konnte. Klein, aber mein. Mama und Papa waren stolz. Und ich erst!

Dass etwas nicht stimmte, fiel mir erst auf, als ich meine ­Einweihungsparty feierte und nur mein alter Schulfreund ­Frieder kam.