Hör auf dein Herz, auch wenn es stolpert - Heike Abidi - E-Book

Hör auf dein Herz, auch wenn es stolpert E-Book

Heike Abidi

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Beschreibung

Über zweite Chancen und die Kraft des Zuhörens

Eine Agentur fürs Zuhören! Diese Idee hat Floriane, 50, nachdem sie innerhalb von 24 Stunden aus ihrem gemütlichen Leben gestoßen wurde. Zuerst hat ihr Ehemann sie wegen einer Dreißigjährigen verlassen, und dann wurde ihr auch noch der Job gekündigt. Erstmal hat Floriane keine Ahnung, was sie nun tun soll. Doch dann besinnt sie sich auf ihr größtes Talent, das Zuhören. Schon bald nach der Gründung ihrer Agentur bemerkt sie überrascht, wie viele Menschen dringend jemanden zum Reden brauchen. Als sie sich auf einmal zwischen zwei Männern entscheiden muss, stellt sie fest, dass das Zuhören auch ihr gutgetan hat. Können die Lebensgeschichten anderer Floriane helfen, ihren Weg zu finden?

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Seitenzahl: 338

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Kapitel 1: Fünfzig ist das neue Dreißig

Kapitel 2: Willkommen in meinem Albtraum

Kapitel 3: Gehe zurück auf Los …

Kapitel 4: Dann eben Eiche rustikal und Häkelspitze

Kapitel 5: Zum Abschied noch ein Floh ins Ohr

Kapitel 6: Seine Nachbarn kann man sich nicht aussuchen

Kapitel 7: Was heißt hier neue Wege?

Kapitel 8: Danke, wir melden uns

Kapitel 9: Schlimmer geht immer

Kapitel 10: Neupositionierung Seelenmülleimer

Kapitel 11: Ich höre Ihnen zu

Kapitel 12: Rendezvous mit einem Gentleman

Kapitel 13: Du weißt ja selbst nicht, was du willst

Kapitel 14: Not am Mann?

Kapitel 15: I Do Like Mondays

Kapitel 16: That‘s What Friends Are For …

Kapitel 17: Fast wie ein Wahrheitsserum

Kapitel 18: Alfred will’s wissen

Kapitel 19: So was wie ein Date?

Kapitel 20: Was machst du denn hier?

Kapitel 21: Bis in drei Monaten!

Kapitel 22: Beziehungen sind wie Spinat

Kapitel 23: Sternzeichen Vogel Strauß (Aszendent Feigling)

Kapitel 24: Kalte Dusche

Kapitel 25: Schluss mit dem Grübeln!

Kapitel 26: Nicht mehr zu halten

Kapitel 27: Geständnisse

Danke!

Über das Buch

Eine Agentur fürs Zuhören! Diese Idee hat Floriane, 50, nachdem sie innerhalb von 24 Stunden aus ihrem gemütlichen Leben gestoßen wurde. Zuerst hat ihr Ehemann sie wegen einer Dreißigjährigen verlassen, und dann wurde ihr auch noch der Job gekündigt. Erstmal hat Floriane keine Ahnung, was sie nun tun soll. Doch dann besinnt sie sich auf ihr größtes Talent, das Zuhören. Schon bald nach der Gründung ihrer Agentur bemerkt sie überrascht, wie viele Menschen dringend jemanden zum Reden brauchen. Als sie sich auf einmal zwischen zwei Männern entscheiden muss, stellt sie fest, dass das Zuhören auch ihr gutgetan hat. Können die Lebensgeschichten anderer Floriane helfen, ihren Weg zu finden?

Über die Autorin

Heike Abidi lebt mit ihrer Familie in der Pfalz bei Kaiserslautern. Sie arbeitet als Werbetexterin und Autorin von Unterhaltungsromanen, unterhaltenden Sachbüchern sowie Jugend- und Kinderbüchern.

HEIKE ABIDI

Hör auf dein Herz, auch wenn es stolpert

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Textredaktion: Antje Winkler, LeipzigUmschlaggestaltung: zero-media.net, München unter der Verwendung von Motiven von © FinePic®, MüncheneBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-4235-1

luebbe.delesejury.de

»Alter schützt vor Liebe nicht,aber die Liebe vor dem Altern.«

COCO CHANEL

Kapitel 1Fünfzig ist das neue Dreißig

In meinem Wohnzimmer sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen! Und das ist keine Übertreibung. (Das wäre höchstens der Fall, wenn Tante Ilse es behaupten würde, nur weil in ihrem perfekten Wohnzimmer ein paar Zeitschriften herumliegen.) Nein, dieser Raum ist definitiv eine Schande für jede ehrgeizige Hausfrau!

Nur gut, dass ich keine bin.

Entspannt lasse ich mich aufs Sofa sinken, lande auf einer halbleeren Chipstüte (was ich ignoriere) und betrachte das Chaos. Überall Gläser, angebrochene Wein- und Sektflaschen, Teller mit Speiseresten.

Aber eben auch Geschenkpapierfetzen, Grußkarten, riesige Luftballons in Form von Fünfen und Nullen, eine »Happy Birthday«-Girlande, nicht zu vergessen die Karaoke-Anlage, die Felix mir geborgt hat. Geniales Teil. Verdammt, hatten wir Spaß damit! Ich sag nur: »Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, bäääm bäääm bäääm, nanananananaaaa …«

Spricht eigentlich irgendwas dagegen, das Ding noch mal anzuwerfen? Jetzt gleich? Ich meine – irgendwie merkwürdig ist es wohl schon, wenn eine frischgebackene Fünfzigjährige am helllichten Tag Schlager schmettert, anstatt erst einmal gründlich aufzuräumen.

Von wegen: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Pah, aber wer bin ich, dass ich mir von irgendwelchen albernen Regeln die Laune verderben lasse! Nichts gegen die guten, alten preußischen Tugenden, aber das Leben genießen gehört leider nicht dazu. Müsste meiner Meinung nach dringend korrigiert werden.

Hach, ist sie nicht herrlich, die Gelassenheit der zweiten Lebenshälfte? Ich muss niemandem mehr etwas beweisen, nur mit mir selbst im Reinen sein.

Entschlossen stehe ich auf und schalte das Gerät ein. Die Titelauswahl hat mich gestern fast überfordert, aber heute weiß ich genau, worauf ich Lust habe: Girls Just Wanna Have Fun von Cyndi Lauper.

Nicht lachen – natürlich bin ich kein Girl mehr, zum Glück! Aber dieser Song macht einfach gute Laune und …

Die ersten Takte laufen, und ich will gerade loslegen, als das Telefon klingelt.

Es ist Rena, meine beste Freundin und allerliebste Arbeitskollegin.

»Hey, Flo, wie klingst du denn?«, begrüßt sie mich auf ihre unnachahmlich direkte Art. Neben Wenzel, meinem Angetrauten und Seelenpartner, ist Rena die Einzige, die mich so nennen darf. Bei allen anderen bestehe ich auf meinem vollen Namen: Floriane. »Du hörst dich ja an, als hättest du die ganze Nacht Zigarren geraucht und Whisky gesoffen«, fährt Rena ungerührt fort. »Ach nein, halt, es war ja bloß Schampus, und du hast gesungen.«

»Genau, und ich wollte gerade damit weitermachen«, pariere ich. Rena gluckst. Natürlich nimmt sie mir das nicht ab. Manchmal ist Ehrlichkeit einfach zu unglaublich.

»Na, hast du schon klar Schiff gemacht, oder soll ich dir ein Team von Tatortreinigern vorbeischicken?«

»Weder noch, aber danke.« Ich schalte die Karaokeanlage wieder aus. Rena hat recht: Ich krächze wirklich wie ein Reibeisen. Wenn überhaupt, käme höchstens ein Bonnie-Tyler-Song infrage. »Ich komm schon zurecht. Hab ja den ganzen Tag Zeit.«

Im Stillen beglückwünsche ich mich selbst noch einmal zu der weisen Entscheidung, mir den Tag nach meinem Geburtstag freigenommen zu haben. Die anderen tun mir echt leid, die mussten heute durch die Bank früh raus, inklusive Wenzel. Aber sie haben beim Feiern alle tapfer durchgehalten, mir zuliebe. Was hab ich doch für wunderbare Freunde! Einen Moment lang bin ich ganz gerührt und muss einen Kloß im Hals wegräuspern.

»Und wie geht es dir jetzt mit der bösen Null?«, will Rena wissen. »Mal ganz ehrlich – keine Krise? Immer noch keine Panik vor dem Alter? Ich muss wissen, was da auf mich zukommt!«

Renas fünfzigster Geburtstag steht in wenigen Monaten bevor, und ihr geht schon jetzt ganz schön die Düse.

Ich muss lachen. »Nein, da kannst du noch tausend Mal fragen – keine Krise. Im Gegenteil. Mein Leben ist perfekt! Ich bin rundum zufrieden mit meiner Beziehung, meinem Job, meinen wunderbaren Freundinnen und Freunden, meiner Wohnung – jedenfalls, wenn sie demnächst wieder halbwegs zivilisiert aussieht … Aber auch das Chaos lässt mich kalt. Ich bin gelassen. Nenn es Coolness oder Altersweisheit, das ist mir ganz egal.«

»Aha. Und mit Altersweisheit meinst du vermutlich die eiserne Regel, nach jedem Glas Alkohol erst mal ein Glas Wasser zu trinken und vorm Schlafengehen ein Alka-Seltzer einzunehmen?«

»Unter anderem«, gebe ich zu. »Keine Chance dem Kater. Aber ganz im Ernst: Es gibt wirklich nichts, wovor man sich fürchten müsste. Fünfzig ist das neue Dreißig, das kannst du mir glauben.«

Rena wirkt nicht überzeugt. »Ach, Flo, du klingst wie deine eigene Glückwunschkarte. Dabei sagt dein Horoskop, du sollst nicht so blauäugig durchs Leben gehen.«

Rena und ihre Horoskope! Ich fürchte, sie glaubt da wirklich dran. Ich ziehe sie gern damit auf, aber meist lasse ich ihr das Vergnügen, mich astrologischzu beraten.

»Ich bin keineswegs blauäugig«, widerspreche ich würdevoll, »sondern optimistisch. Und damit kommt man ganz geschmeidig durchs Leben!«

»Wie du meinst. Aber die Sterne lügen nie«, teilt Rena mir mit Grabesstimme mit. »Sei auf der Hut!«

Ich muss lachen. »Du schaffst es nicht, mich heute runterzuziehen! Bloß weil du Angst vor dem Älterwerden hast.«

»Na hör mal, das ist ja wohl auch eine total berechtigte Angst! Was kommt denn da noch? Krankheiten, Schmerzen in sämtlichen Gelenken, Haarausfall, Falten, Warzen, Einsamkeit, Tod. Also ich werde meinen Fünfzigsten auf keinen Fall feiern.«

»Selber schuld. Dann wird dir echt was entgehen. Meine Party hätte ich nicht missen wollen. Einer der schönsten Abende meines Lebens! Ich bin noch ganz überwältigt. So viele Glückwünsche, so viel positive Energie! Und ich verrate dir ein Geheimnis: Du wirst auch fünfzig, wenn du nicht feierst.«

Das ist zwischen uns ein Running Gag. Allerdings einer, den ich wesentlich lustiger finde als sie.

»Blöde Kuh«, sagt Rena.

»Doofe Ziege«, sage ich.

Dann prusten wir beide los.

Leider ist Renas Pause bald vorbei und sie muss sich wieder ihren Schnitzeln, Steaks, Lachsfilets, Aufläufen und Salaten widmen. Sie ist eine Wahnsinnsköchin, und ich bin froh, regelmäßig in den Genuss ihrer Kochkünste zu kommen. Jedenfalls wenn keine von uns ihren freien Tag im Hotel hat, so wie ich heute und sie morgen.

Später, wenn Wenzel aus dem Büro nach Hause kommt, werde ich wohl einfach die Reste von gestern auftischen. Aber dazu bräuchte ich erst mal saubere Teller. Und eine halbwegs ordentliche Küche …

Okay, dann starte eben auch ich durch. Radio an und los geht’s. Erst einmal sammele ich Geschirr und Gläser ein, kippe die angebrochenen Getränke in den Ausguss und die Speisereste in den Mülleimer. Während die erste Spülmaschinenladung läuft, nehme ich die Girlanden ab (eigentlich schade darum), kille die Luftballons mit meiner Bastelschere und entchipse das Sofa. Dann drehe ich das Radio lauter und beginne zu staubsaugen. Dabei komme ich gewaltig ins Schwitzen, und bald fliegt der Bademantel, den ich über meinem Nachthemd trage, in die Ecke.

In meinem Lieblingsoldiesender läuft gerade I Want to Break Free von Queen, und ich denke an das legendäre Video, in dem alle Bandmitglieder Frauenkleider tragen und Freddie Mercury den Staubsauger schwingt. Ich liefere eine Eins-a-Parodie darauf und schwinge dabei nicht nur den Staubsauger, sondern auch die Hüften. Freddie wäre stolz auf mich! Hausarbeit als Workout – ist das nicht sowieso voll angesagt? Falls nicht, betrachte ich mich einfach als Trendsetterin.

Zwischendurch räume ich die Spülmaschine aus und wieder ein, lasse die zweite Ladung laufen und verstaue den ersten Teil in den Schränken. Hey, hier sieht’s ja schon fast wieder richtig gut aus!

Es klingelt an der Wohnungstür. Ich öffne, und vor mir steht ein gewaltiger Rosenstrauß auf zwei Beinen.

»Oh, wer hat mir denn da Blumengrüße geschickt?«, freue ich mich und will bereits das Kärtchen öffnen.

»Ähm … oh, na ja, vielleicht … ähm, wenn Sie dann bitte noch unterschreiben würden?«, stammelt der Bote und starrt mich an, als hätte ich ein Geweih auf dem Kopf oder einen Rüssel im Gesicht. Der Knabe hat vielleicht gestern zu viel gefeiert? Tja, das sollte er eigentlich nicht an seinen Kunden auslassen, finde ich. Aber sei’s drum, ich bin einfach zu gut drauf, um ein Wort darüber zu verlieren. Stattdessen drücke ich ihm ein Zweieurostück in die Hand, das ich beim Staubsaugen gefunden habe, und wünsche ihm noch einen wunderschönen Tag.

»Da-danke, gleichfalls«, stottert er, dreht sich auf dem Absatz um und stürmt davon, als sei der Teufel hinter seiner armen Seele her. Tsss. Die jungen Männer sind heute auch nicht mehr das, was sie mal waren.

Ich kicke die Tür mit dem Fuß zu und mache mich auf die Suche nach einer Vase, während ich die angeheftete Karte entziffere: »Alles Gute zu deinem Geburtstag wünscht dir deine Tante Ilse«, steht da. Sie konnte sich das Datum noch nie merken. Einmal hat sie mir einen ganzen Monat zu früh gratuliert, einmal eine Woche zu spät. Mit einem Tag Abweichung ist sie in diesem Jahr so dicht dran wie selten. Die gute Tante Ilse – ich muss sie später unbedingt anrufen, um mich zu bedanken.

Mir fällt ein, dass neben dem Garderobenschrank eine schöne Keramikvase steht, die könnte passen. Gerade will ich nach ihr greifen, da fällt mein Blick in den Spiegel, und ich erstarre.

Also das hat der Blumenbote eben gesehen?

Kein Wunder, dass er mich so verstört angestarrt hat. Von meiner kunstvollen Flechtfrisur, die Rena mir gestern gezaubert hat, sind nur noch Fragmente übrig – der Rest der Haare steht wirr vom Kopf ab, und zwar in alle Richtungen. Dass ich mich zu fortgeschrittener Stunde nicht so gründlich abgeschminkt habe, wie ich sollte, rächt sich jetzt ebenfalls. Gekrönt wird mein Erscheinungsbild durch Plüschhausschuhe in Schildkrötenform und ein Nachthemd mit der Aufschrift »Ab ins Bett, sonst stirbt ein Einhorn«. Mit anderen Worten: Mein Spiegelbild glotzt mich an wie eine grenzdebile Gewitterhexe mit Geschmacksverirrung.

Aber immerhin ist die Wohnung inzwischen wieder blitzblank …

Die heiße Dusche tut gut. Dank meines Conditioners schaffe ich es auch, meine Haarpracht zu entwirren. Danach noch eine Gesichtsmaske drauf, und ich seh aus wie neu.

Jedenfalls nachdem die Maske wieder ab ist. Sie gab meinem Antlitz doch einen leicht … außerirdischen Touch. Aber hey, grün ist gesund!

So, jetzt aber mal Bestandsaufnahme, und zwar schonungslos. Ich stelle mich splitterfasernackt vor den Ganzkörperspiegel. Was ich sehe, ist um Klassen besser als mein Gewitterhexen-Ich von vorhin. Aber auch nicht mehr ganz so fabelhaft wie mein dreißigjähriges Ich am Tag meiner Hochzeit. Oder mein fünfundzwanzigjähriges Ich, in das sich Wenzel damals verliebt hat.

Andererseits hatte Wenzel damals noch Haare (und zwar keine grauen!), außerdem einen Waschbrett-, keinen Waschbärbauch. Wir reifen eben gemeinsam. Ist das nicht wundervoll?

Ich frage mich, ob er das wohl genauso empfindet. Und was genau Wenzel sieht, wenn er mich betrachtet. Fällt ihm auf, dass alles – und ich meine wirklich ALLES – ein bisschen mehr hängt als früher? Achtet er auf den Anflug von Orangenhaut an den Oberschenkeln? Wobei, okay, es ist mehr als nur ein Anflug. Es sind Dellen, für die man auf der Straße Warnschilder aufstellen würde. Und dann die Schwangerschaftsstreifen, obwohl ich nie ein Kind bekommen habe …

Aber ach, das ist doch alles nur oberflächlich. Ich wette, das nimmt er gar nicht wahr. Zumal wir im Schlafzimmer gedämpftes Licht haben und er in Situationen, in denen er mir und meinen Dellen und Streifen näherkommt, keine Brille trägt.

Gelobt und gepriesen sei die Altersweitsichtigkeit!

Überhaupt ist mein Mann kein Typ, der sich auf meine Problemzonen fixiert. Statt sie zu kritisieren, hat er sie schon immer ignoriert und stattdessen meine Stärken gerühmt. Zum Beispiel mein volles Haar, meine moosgrünen Augen, meine schmalen Füße, meine zarte Haut …

Ja, so ist er. Außerdem trägt er mich auf Händen, ist großzügig, macht mir andauernd Komplimente und meckert nie über mein Essen, auch wenn ich wirklich besser im Staubsaugen bin als im Kochen. (Sogar im Karaokesingen bin ich besser, und das sagt einiges aus über Wenzels Leidensfähigkeit, in jeglicher Hinsicht. Meistens kocht er allerdings das Essen. Er ist ja nicht bescheuert.)

Wer hat die Wohnung mit Girlanden geschmückt und im Schweiße seines Angesichts die Luftballons aufgeblasen? Wer hat mich mit einem irrwitzig überteuerten Geschenk überrascht? (Die Ohrringe sind ein Gedicht!) Wer hat die Gäste bedient, ihre Jacken aufgehängt, die Playlist zusammengestellt, die Cocktails gemixt? Alles Wenzel. Was wäre ich bloß ohne ihn?

Mir wird bewusst, dass ich ihm viel zu selten für all das danke. Das soll sich ändern. Und zwar heute Abend!

Kritisch betrachte ich das Arrangement. Auf dem Tisch thront Tante Ilses gigantischer Blumenstrauß gleich neben den silbernen Kerzenständern. Kerzenlicht ist immer romantisch, auch wenn es noch gar nicht richtig dunkel ist. Ich habe mit dem schönen Geschirr gedeckt, sogar Stoffservietten aufgelegt und das gute Silberbesteck (natürlich frisch poliert). Der Rotwein ist entkorkt und darf atmen. Auch ich atme, und zwar ein bisschen flach, weil das seegrasgrüne Kleid in der Wäsche eingegangen sein muss, aber es bringt nun mal meinen Teint so gut zur Geltung.

Dass ich bloß Reste von gestern auftische, macht fast gar nichts. Wäre ja auch eine schlimme Verschwendung, diese Köstlichkeiten wegzuwerfen. Ich kann Rena gar nicht genug dafür danken, dass sie das Buffet geliefert hat. Ein schöneres Geschenk hätte sie mir nicht machen können!

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Da fährt Wenzels Audi vor. Pünktlich wie immer. Es ist einfach wunderbar, einen Partner zu haben, auf den dermaßen Verlass ist, nach dem man sogar die Uhr stellen und für den man die Hand ins Feuer legen kann.

Gerade noch rechtzeitig fällt mir ein, dass es eine schöne Geste wäre, sein Geschenk anzulegen. Hektisch fummele ich die neuen Diamantstecker in die Ohrlöcher. Es gelingt mir gerade noch rechtzeitig, als sich Wenzels Schlüssel im Schloss dreht.

Ich streiche meine Haare hinter die Ohren, damit man das Funkeln der Diamanten besser sehen kann.

»Hallo, Schatz«, strahle ich ihm entgegen. »Du siehst müde aus. Möchtest du erst duschen oder vielleicht einen Aperitif? Ich hab auch einen guten Roten offen.«

Wenzels Blick irritiert mich. So verschlossen. Er lächelt nicht. Er scheint mir nicht einmal zuzuhören.

»Ist etwas passiert? Gab es Ärger bei der Arbeit?«, rate ich drauflos und spüre auf einmal, dass es schlimmer ist als das. Ist jemand gestorben? Oder – o nein! – war er etwa beim Arzt, ohne es mir zu sagen, und hat heute eine niederschmetternde Diagnose bekommen?

Das darf nicht sein, liebes Schicksal, ich werde auch nie wieder lästern, nicht mal über Clemens und Cleo, meine bescheuerten Yuppie-Chefs. Und ich werde regelmäßig spenden, für kranke Kinder, Erdbebenopfer, ausgesetzte Tiere, die Wiederaufforstung des Regenwaldes … Und fluchen werde ich auch nicht mehr, nicht mal, wenn ich mir den kleinen Zeh anstoße oder mir jemand den Parkplatz vor der Nase wegschnappt oder …

»Floriane, wir müssen reden«, sagt Wenzel fast tonlos, und da weiß ich, dass es wirklich eine niederschmetternde Diagnose gibt. Aber sie gilt nicht dem Gesundheitszustand meines Mannes, sondern – am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten, um nichts hören zu müssen.

Aber ich bin schließlich erwachsen. Habe ich nicht vorhin etwas von Altersweisheit und Coolness gefaselt?

Was für ein Bockmist. Selten war ich weniger gelassen als jetzt.

»Okay«, sage ich mit beinahe fester Stimme. »Schieß los.«

Kapitel 2Willkommen in meinem Albtraum

Ich wünschte, ich hätte mich verhört. Oder das Ganze wäre nur ein böser Traum. Oder meinetwegen auch ein dämlicher Scherz! Dann könnte ich wenigstens darüber lachen. So bleibt nur … Bitterkeit. Ernüchterung. Ach, seien wir doch ehrlich: Verzweiflung.

Ich stehe am Fenster und beobachte, wie der Audi davonbraust. Wenzel lässt mir eine Stunde zum Packen. Vorerst – für das Allernötigste. »Die endgültige Aufteilung unserer Güter regeln wir zu einem späteren Zeitpunkt«, hat er gesagt. Ich kann es nicht fassen. Eine Stunde! Ist er nicht großzügig? Ich sollte mich bei ihm bedanken. Ihm einen Strauß schicken. Oder einen Obstkorb. Einen voller Kotzfrüchte …

Als Erstes schäle ich mich aus diesem verflixten Kleid. Ich will schreien oder wenigstens tief stöhnen, aber das geht nicht, wenn man nur flach atmen kann.

Aber auch in Jeans und Hoodie habe ich das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Gleichzeitig rast mein Herz, als wollte es einen Rekord aufstellen. Mich wundert, dass es überhaupt noch schlägt. Offenbar sind gebrochene Herzen zumindest halbwegs funktionstüchtig. Ich lasse mich auf das Bett sinken und versuche mich zu sammeln.

Eigentlich wusste ich schon, dass etwas Unaussprechliches kommen würde, als er mich Floriane nannte. Nicht Flo. Nicht Liebling. Nicht meine Liebste. Sondern so, wie ich von allen anderen angeredet werden will. Als sei ich eine Fremde für ihn. Und er ein Fremder für mich.

Vielleicht ist er das ja? Hab ich meinen Mann überhaupt jemals gekannt? Er, für den ich die Hand ins Feuer gelegt hätte. Der mir gestern noch das schönste Fest meines Lebens bereitet hat. Der immer für mich da war! Und jetzt das …

Einatmen. Ausatmen. Geht doch.

Noch fünfzig Minuten. Jetzt sollte ich langsam in die Gänge kommen, wenn ich mir eine weitere Begegnung mit ihm ersparen will. Ich weiß nicht, ob ich das heute noch einmal überstehen würde. Jedenfalls nicht ohne Tränen, und diese Blöße will ich mir auf keinen Fall geben.

Ich wuchte die beiden großen Koffer vom Kleiderschrank und werfe alles hinein, was ich in nächster Zeit anziehen könnte. Also im Grunde all meine Klamotten außer diesem dämlichen meergrünen Kleid. Außerdem den Stapel ungelesener Bücher von meinem Nachttisch. Was noch?

Ach ja, meine Geschenke und Geburtstagskarten von gestern. Damit sind die beiden Koffer voll, und ich schleppe sie zum Auto.

Noch dreißig Minuten. Meine Gedanken spielen verrückt. Ist das gerade wirklich passiert? Warum hab ich nur dagestanden wie eine Statue und entsetzt geschwiegen, anstatt etwas zu sagen? Zu kämpfen! Ihm klarzumachen, dass er einen furchtbaren Fehler macht …

Jetzt konzentrieren, Floriane. Was darf ich auf keinen Fall vergessen? Ich schnappe mir eine Reisetasche und werfe meine Bankdokumente und Versicherungsunterlagen hinein. War’s das? Ups, nein, ich war ja noch gar nicht im Bad … Also: Zahnbürste, Zahncreme, Kosmetikprodukte, alles hinein in den Kulturbeutel.

Ach ja, mein Schmuck muss natürlich auch mit. Aber nicht die neuen Ohrringe. Die kann er behalten und ihr schenken. Vermutlich stehen sie ihren dreißigjährigen Ohrläppchen ohnehin besser. Und meine würden verbrennen, müsste ich sie auch nur eine Sekunde länger tragen …

Mir bleiben zwanzig Minuten. Die Karaokeanlage! Die wollte ich Felix diese Woche zurückgeben. Also muss die auch noch ins Auto, das jetzt allerdings knallvoll beladen ist. Vermutlich würde kaum mehr eine Zeitung dazwischen passen, sonst ginge der Kofferraumdeckel nicht zu.

Ein letztes Mal zurück in die Wohnung? Nur noch zehn Minuten, bis Wenzel wiederkommt. Und bei seiner sprichwörtlichen Pünktlichkeit kann ich davon ausgehen, dass er keine Sekunde später dran sein wird. Höchstens mit Ansage. Überstunden und so. Wobei – ob das wirklich alles Überstunden waren? Oder hat er sich da mit ihr getroffen? Ich glaube, ich will es gar nicht so genau wissen.

Okay, schnell eine letzte Runde durch die Räume, die ich bis vor Kurzem noch als meine Wohnung bezeichnet habe. Wobei – Wenzel hat die Immobilie von seinen Großeltern geerbt, und zwar vor unserer Heirat. Also gehört sie nur ihm allein. Ich wusste das. Aber ich dachte nie, dass das jemals eine Rolle spielen würde, bis er es vorhin völlig emotionslos erwähnt hat.

Und ich Idiotin hab sie auch noch geputzt, als hinge mein Leben davon ab! Ich wünschte, ich hätte stattdessen den ganzen Tag über Karaoke gesungen, bis die Nachbarn mit dem Besenstiel gegen die Decke geklopft oder meine Stimmbänder gestreikt hätten.

Wie lange das Ganze schon geht, wollte er nicht sagen. Das spiele keine Rolle. Für mich aber schon. Ab wann war mein Leben eine Lüge?

Ach, da liegt ja noch mein Handy. Ich sehe schnell nach, ob eine Nachricht von ihm eingegangen ist. Sorry, Flo, war alles nicht so gemeint, ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Vergiss, was ich gesagt habe, ich liebe dich wie am ersten Tag, dein Wenzel. – Aber nein, keine SMS, keine WhatsApp, kein Anrufversuch. Trotzdem gut, dass ich nicht auf diesen letzten Kontrollgang durch die Wohnung verzichtet habe. Ohne Handy käme ich nicht weit. Und das Ladekabel! Okay, das dürfte es jetzt aber gewesen sein.

Ohne mich noch ein weiteres Mal umzusehen, stürme ich aus der Wohnung.

In fünf Minuten läuft Wenzels Frist ab.

Gar nicht so leicht, ohne Rückspiegel auszuparken – aber das Auto ist einfach zu vollgestopft, sodass mir nichts anderes übrigbleibt. Ich gebe zu, ich bin kein Außenspiegel-Typ. Vor allem den rechten benutze ich sonst so gut wie nie. Aber jetzt muss ich das wohl tun, wenn ich niemanden über den Haufen fahren will.

Zum Glück ist die Rushhour schon vorbei. Nur blöd, dass es ausgerechnet jetzt so stark regnen muss. Wann hat das eigentlich angefangen? Ich schalte die Scheibenwischer auf höchste Stufe, aber die Sicht wird trotzdem nicht besser. Es dauert einen Moment, bis der Groschen fällt: kein Regen. Bloß Tränen.

Ich fahre rechts ran. In diesem Zustand bin ich wohl nicht verkehrstüchtig. Zum Glück bin ich immerhin drei Straßen weit gekommen, sodass Wenzel mich so nicht sieht. Wie ein Häufchen Elend kauere ich hinterm Steuer und lasse meinen Tränen freien Lauf.

Ich komme mir so dumm vor! Warum habe ich das Ganze nicht kommen sehen? Ich meine – eine Frau muss doch so was ahnen. Was ist mit mir nicht in Ordnung? Was ist überhaupt noch in Ordnung?

»It’s a Heartache«, krächzt Bonnie Tyler in meinem Oldiesender und liefert damit die perfekte Hintergrundmusik zu meinem Elend. Passend sowohl zu meiner Stimme als auch zu meiner Stimmung. Na, die hat vielleicht Humor!

Eine Viertelstunde später stelle ich den Wagen auf dem Parkplatz des Hotels ab, das seit einiger Zeit Golden Dreams Inn heißt statt, wie in all den Jahrzehnten zuvor, einfach nur Hotel zum Goldacker. Soll wohl internationaler und hipper klingen. Ich finde es affig, aber das ist jetzt gerade mein geringstes Problem.

Inzwischen wird es langsam dunkel, was mir sehr gelegen kommt. Ich kann nur hoffen, dass mir niemand über den Weg läuft. Wobei mich die Hotelgäste in diesem Aufzug ohnehin kaum erkennen dürften. Denen begegne ich sonst immer nur im Kostüm mit schicker Hochsteckfrisur und dezentem Make-up – nicht im Freizeitoutfit und schon gar nicht total verheult. Zur Sicherheit setze ich die Kapuze meines Hoodies auf, bevor ich aussteige.

Und nun? Alles mitnehmen kommt eher nicht infrage. Wäre außerdem viel zu auffällig. Mist. Also ist Umräumen angesagt! Im Schutz der geöffneten Kofferraumklappe durchwühle ich alle Gepäckstücke und ziehe heraus, was ich für heute Nacht und morgen bei der Arbeit brauche. Das hätte ich beim Packen bedenken sollen, wäre viel einfacher gewesen. Aber das logische Denken ist leider arg eingeschränkt, wenn einem gerade das ganze Leben um die Ohren fliegt und man nur eine Stunde Packzeit hat, um es zu verlassen.

»Flo – bist du das etwa?«

Ich fahre herum. Vor mir steht Rena. Was macht die denn um diese Uhrzeit auf dem Parkplatz? Sollte sie nicht in der Küche sein? Wobei – dass ich hier meinen Kofferraum durchwühle, wirft vermutlich weit mehr Fragen auf.

»Wenzel ist so ein Idiot!«, platze ich heraus, und schon strömen die Tränen wieder.

Na toll. Ich hatte mich doch gerade erst beruhigt!

Rena sagt erst einmal gar nichts, sondern nimmt mich in die Arme und presst mich an ihre Brust, sodass mir Hören und Sehen vergeht. Ich schluchze hemmungslos. Als ich mich endlich wieder gefasst habe, ist ihr Oberteil komplett durchnässt.

»Jetzt hast du mich im wahrsten Sinne des Wortes vollgeheult«, sagt sie. »Willst du mir sagen, was los ist?«

Nun ja, natürlich will ich. Außerdem tut es gut, mir den ganzen Mist von der Seele zu reden. Andererseits kostet es allerhand Überwindung, laut auszusprechen, was passiert ist. Irgendwie kommt es mir vor, als würde es dadurch erst richtig real. Aber das ist natürlich Humbug, es ist leider auch so wahr.

»Es ist aus. Er hat mir gesagt, seine Gefühle hätten sich verändert. Er liebt mich nicht mehr und hat eine Neue. Eine Dreißigjährige. Keine alte Schachtel, die etwas von Fünfzig ist das neue Dreißig faselt. Und er hat mir eine Stunde gegeben, um seine Wohnung zu verlassen. Seine Wohnung! Kannst du dir das vorstellen? So ein … Arsch!«

Man erlebt Rena nicht sehr oft sprachlos. Dies ist einer der seltenen Momente.

»Und das hat er dir ausgerechnet heute mitgeteilt?«, fragt sie schließlich fassungslos.

»Er wollte mir meine Party nicht verderben, deshalb hat er extra bis heute Abend gewartet. Ist er nicht großzügig? So rücksichtsvoll! Man sollte ihm den Friedensnobelpreis verleihen.«

»Pssst, Flo, nicht dass man uns hört!«

Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich immer lauter geworden bin. Aber ein gepflegter Wutanfall braucht nun mal ein paar Dezibel mehr als ein normales Gespräch.

»Eine Dreißigjährige, Rena. Ist das zu fassen?«, schreiflüstere ich jetzt. »Ich komm einfach nicht drüber weg. Wie konnte ich mich so in meinem Mann täuschen?«

»Na ja, er ist nun mal Skorpion. Du weißt schon – Skorpione gelten als sprunghaft, launisch und unberechenbar.«

»Skorpion? Dass ich nicht lache!«, erwidere ich und lache dabei kein bisschen. »Wenzel ist Sternzeichen Kotzbrocken, Aszendent Vollpfosten. Und ich bin Heulsuse, Aszendent Furie. Er hat mich verlassen, Rena. Sitzengelassen. Abgeschoben. Ersetzt!«

»Und nun?«

Wenn ich das nur wüsste …

»Ich beziehe erst mal das Dachzimmer, das ich immer für unvorhergesehene Notfälle freihalte, und das ist ja wohl einer! Dann werde ich versuchen zu schlafen. Und morgen zu arbeiten, als wäre nichts passiert. Und danach? Keine Ahnung.«

»Auf gar keinen Fall«, widerspricht Rena. »Du kommst natürlich zu mir. Wir killen eine Flasche Rotwein und du schüttest dein Herz aus. Ich mach dir Käsespätzle und Schokopudding und überziehe dir das Gästebett. Keine Widerrede!«

Ich schüttele traurig den Kopf. »Furchtbar lieb von dir, aber das hier muss ich erst einmal verdauen. Ich glaube, ich möchte jetzt wirklich allein sein.«

Rena drückt mich zum Abschied. »Na gut. Ganz wie du willst. Wir reden morgen weiter. Komm einfach bei mir vorbei, wenn du … hier fertig bist.«

»Du bist die Beste«, sage ich und greife dankbar nach dem Taschentuch, das sie mir reicht, denn schon wieder laufen mir die Augen über.

Ich schaffe es irgendwie, ungesehen vom Lieferanteneingang über die Fluchttreppe ins obere Stockwerk zu kommen. Mein Generalschlüssel passt natürlich auch für das Zimmer ganz am Ende des Ganges, das so gut wie nie belegt ist, weil ich es für Notfälle reserviere. Außerdem ist es für normale Gäste eigentlich eine Zumutung. Viel zu klein und zu eng, das Bad noch nicht renoviert, das Fenster winzig und ähnlich einer Schießscharte.

Aber für mich ist es die perfekte Zuflucht! Hier sucht mich kein Mensch, und keiner wird mich stören, wenn ich meine Wunden lecke.

Keine Ahnung, was ich jetzt tun würde, wenn ich keine Hotelmanagerin wäre und diesen Schlupfwinkel nicht hätte. Aber wozu sich Gedanken um Probleme machen, die es nicht gibt? Ich habe auch so schon genug echte.

Wenig später stehe ich zum zweiten Mal an diesem Tag unter der Dusche. Diesmal nicht, um Schweiß und Make-up-Reste abzuwaschen, sondern um das Gefühl loszuwerden, ich sei wertlos. Es gelingt nur so mittelgut.

Dass ich Shampoo ins Auge kriege, ist dagegen nicht so schlimm wie sonst. Sie werden sofort ausgeschwemmt. Schon irgendwie praktisch, wenn die Tränendrüsen auf Dauerbetrieb stehen.

In einem frischen Schlafanzug (der mit den Krümelmonstergesichtern) lege ich mich aufs Bett und versuche zu ergründen, welche Signale ich wohl verpasst habe. Aber da gab es wirklich nichts: keine Lippenstiftspuren am Hemdkragen, kein fremdes Parfum, keine Schlechtes-Gewissen-Blumensträuße außer der Reihe, keine unerwarteten Sportaktivitäten oder ähnliche Anwandlungen. Nur die Sache mit den Überstunden. Aber so was kam im Laufe der Jahre immer mal wieder vor. Oder steckte da jedes Mal eine Frauengeschichte dahinter? Ich will gar nicht darüber nachdenken …

Die Fernbedienung funktioniert nicht. Ich müsste also wieder aufstehen, um den Fernseher einzuschalten, entscheide mich aber dagegen. Kommt eh nur Mist.

Mein Magen beklagt sich knurrend darüber, dass er heute noch nichts zum Verdauen bekommen hat. Erst hatte ich keinen Appetit, dann anderes zu tun, und schließlich hab ich es schlicht vergessen. Jetzt habe ich zwar einen Bärenhunger, aber gleichzeitig keinen Appetit. Ein biologisches Wunder, vermutlich. Kommt wohl vor, wenn man einen emotionalen Tritt in die Eingeweide bekommen hat.

Um mich abzulenken, stehe ich doch auf und schalte die Flimmerkiste ein. Im Dritten läuft ein alter Film mit Lilo Pulver. Ihr herzhaftes Lachen wirkt heute zwar nicht ansteckend, aber es hebt meinen Launepegel von minus hundert auf ungefähr minus neunundneunzig. Immerhin.

Mir ist ein bisschen übel. Das kommt bestimmt vom Schock und vom vielen Heulen. Oder vom Hunger? Ich sollte mich vielleicht doch dazu durchringen, etwas zu essen. Ist wahrscheinlich vernünftiger.

Wenn Rena da wäre, würde ich jetzt kurz in der Küche durchklingeln und mir ein Omelett bestellen. Irgendwas Leichtes, aber Leckeres. Vielleicht mit Käse darin. Käse im Essen macht glücklich. Das ist eine ihrer Küchenweisheiten.

Aber Rena ist nicht mehr da. Warum eigentlich nicht? Ihre Schicht würde normalerweise noch zwei Stunden gehen. Was hatte sie also vorhin auf dem Parkplatz zu suchen? Dass sie nur kurz frische Luft schnappen wollte, glaube ich kaum. Dazu hätte sie sich bestimmt nicht umgezogen. Doch sie trug definitiv nicht mehr ihre Küchenkluft, als wir uns getroffen haben, sondern ihre neue rote Hose und darüber die weißgraue Tunika.

Warum fällt mir das jetzt erst auf? Irgendwas ist doch da faul … Ist sie etwa krank? Ich versuche mich zu erinnern, wie sie auf mich gewirkt hat. Nun ja, schockiert natürlich von meinen Neuigkeiten. Sie war auch ein bisschen blass. Ich hätte sie danach fragen sollen, wie es ihr geht. O Mann, was bin ich bloß für eine selbstsüchtige Freundin? Aber hey – ich bin im Ausnahmezustand. Das gilt ja wohl als Entschuldigung!

Die Nüsschen in der Minibar sind erst seit drei Monaten abgelaufen und schmecken … so na ja. Immerhin besser als die Maiswaffeln, die ich noch in der Handtasche hatte. Keine Ahnung, seit wann. Trotz des eigentümlichen Aromas und der Konsistenz von Styropor leere ich auch diese Packung. Von wegen biologisches Wunder – ich kann auch trotz allergrößten Widerwillens etwas essen.

Doch ich bereue es sofort: Mein Magen, der eben noch so nachdrücklich nach Futter gegiert hat, rebelliert dagegen, und ich schaffe es gerade noch rechtzeitig bis zur Toilette, um mich zu übergeben. Das hätte gerade noch gefehlt, dass ich zu nachtschlafender Zeit auf den Knien herumrutsche und mit Papiertaschentüchern mein Erbrochenes vom Boden aufwische.

Um den widerlichen Geschmack aus dem Mund zu kriegen, putze ich erneut die Zähne, dann krieche ich zähneklappernd unter die Decke. Hat eigentlich schon mal jemand erforscht, warum man so wahnsinnig friert, nachdem man sich übergeben hat?

Blöderweise muss ich noch einmal aufstehen, um mein Handyladekabel aus der Tasche zu holen. Die Weckfunktion stelle ich auf halb sieben. Dann schalte ich das Licht aus und starre in die Dunkelheit.

An Schlaf ist nicht zu denken, mir geht viel zu viel im Kopf herum. Vor allem Wenzel, der mir mit versteinertem Gesicht mitteilte, dass er unsere Ehe als gescheitert betrachtet. Das waren seine Worte: »Ich betrachte unsere Ehe als gescheitert.« Wer, bitte, spricht denn so gestelzt? Dachte er vielleicht, es tut weniger weh, wenn er sich geschraubt ausdrückt?

Vielleicht wollte er auch bloß keine Diskussion. Hat ja auch funktioniert: Ich hab ihn bloß ungläubig angestarrt. Dabei bin ich sonst nicht auf den Mund gefallen. (Und mit »sonst« meine ich: wenn mir nicht gerade jemand das Herz aus dem Leib reißt …)

Stopp, Floriane! Hör auf, zurückzuschauen. Richte deine Aufmerksamkeit auf die Zukunft!

Okay. Morgen nach der Arbeit will ich Rena besuchen. Dann kann ich sie fragen, was heute mit ihr los war.

Bestimmt hat sie schon eine Trillion guter Ratschläge für mich auf Lager, allerhand Wohnungsannoncen aus der Zeitung ausgeschnitten und mein Horoskop erstellt. Und so dämlich ich ihre Sterndeuterei finde, sosehr freue ich mich darauf, mich bei ihr einfach fallenlassen zu können. Warum wollte ich noch gleich heute Abend allein sein? Keine Ahnung. War jedenfalls eine blöde Idee.

Der Wasserhahn tropft. Ich seufze. Das ist ja mal eine tolle Einschlafgeräuschkulisse.

Ich benutze das Kopfkissen als Schallschutz, was eine Körperhaltung erfordert, die ich morgen früh mit fiesen Kreuzschmerzen bezahlen werden muss, aber das ist mir egal.

Ich will nichts sehen und nichts hören. So fühle ich mich geborgen.

Demnächst werde ich mir tatsächlich eine neue Bleibe suchen. Aber erst einmal muss ich den Schock verdauen.

Und bis dahin genieße ich die guten Seiten des Lebens: meine Freunde und meinen Job. Nachdem Mann und Wohnung weg sind, bleiben mir immerhin noch zwei von vier. Und da ich Optimistin bin, ist das Glas für mich damit halb voll.

Vielleicht ist das aber auch eine Milchmädchenrechnung.

Ach, was weiß denn ich?

Kapitel 3Gehe zurück auf Los …

Noch nie war ich so erleichtert, das Wecksignal meines Handys zu hören, wie jetzt, denn es reißt mich aus einem grauenhaften Albtraum. Wenzel hat mich verlassen, und ich war am Boden zerstört – ich meine, wie kommt mein Gehirn bloß auf so einen Schwachsinn?

Ich taste nach dem Handy, um es auszuschalten, doch ich finde es nicht. Überhaupt, wo ist mein Nachttisch? Und warum ist es hier so stockfinster? Normalerweise scheint doch die Straßenlaterne durch die Rollladenritzen.

Ich setze mich auf und schwinge die Beine aus dem Bett. Moment. Irgendwas ist falsch.

Wurde mein Bett über Nacht tiefergelegt, oder warum ist es so niedrig?

Merkwürdig. Und beunruhigend.

So langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Da liegt ja mein Handy! Offenbar wurde der Nachttisch verschoben. Außerdem ist er größer. Und fühlt sich anders an.

Mich beschleicht eine Ahnung, und als ich endlich den Lichtschalter finde, wird sie zur schrecklichen Gewissheit.

Ich bin gar nicht zu Hause. Sondern im Hotel. Weil …

Es gibt nur eine Erklärung dafür.

Das war kein Albtraum!

Auf einmal ist alles wieder präsent. Wenzels Worte. Die andere Frau. Keine Liebe mehr. Eine Stunde Zeit. Die Nacht im Notzimmer …

Was gäbe ich dafür, in der Zeit um zwei Minuten zurückreisen zu können und diesen herrlichen Moment nach dem Aufwachen noch einmal zu erleben, in dem ich das alles schlicht vergessen hatte. In dem meine Welt noch in Ordnung war und in meinem Kopf kein Chaos herrschte!

Am liebsten würde ich mich wieder hinlegen, das Kissen um den Kopf schlingen und so tun, als wäre ich unsichtbar.

Warum hab ich überhaupt diesen dämlichen Wecker gestellt? Wo schlafen doch so herrlich ist.

Ach ja. Die Arbeit.

Tief durchatmen. Ja, das ist allerdings ein guter Grund, aufzustehen. Einer der Eckpfeiler meines Lebens. Ich liebe meinen Job als Managerin des Golden Dreams Inn. Er ist herausfordernd, vielseitig, erfüllend. Ich bin gut darin. Sehr gut sogar. Ich bekomme Anerkennung dafür und – nicht zu vergessen – ein ordentliches Gehalt. Man schätzt mich und meine Erfahrung. Und meine größte Stärke, nämlich meine Fähigkeiten als gute Zuhörerin. Man schüttet mir das Herz aus! Und dabei spielt es nicht die geringste Rolle, welche Gefühle mein Mann oder überhaupt irgendein Kerl für mich hegt. Deshalb werde ich auch heute eine erstklassige Leistung abliefern.

Jetzt erst recht …

Mein Spiegelbild verblüfft mich. Ich sehe aus wie immer, als ich fertig geschminkt, gestylt und angezogen bin. Nicht wie eine Frau, die gerade verlassen wurde und die halbe Nacht durchgeheult hat. Es steht mir auch nicht auf der Stirn geschrieben. Ich müsste schon ein T-Shirt mit der Aufschrift »Frisch getrennt« tragen, damit man es mir ansieht. Aber natürlich würde ich niemals im T-Shirt zur Arbeit gehen, schon gar nicht in einem mit Textbotschaft. Stattdessen trage ich einen ecrufarbenen Hosenanzug und dazu eine himmelblaue Bluse. Die Frisur sitzt, das Lächeln funktioniert noch und wirkt verblüffend echt. Wenn ich nicht genau wüsste, wie es mir in Wahrheit geht, würde ich fast selbst drauf reinfallen.

Es gelingt mir, ungesehen zu den Fahrstühlen zu gelangen und damit in den Keller zu fahren. Von dort aus verlasse ich das Gebäude über die Tiefgarage, marschiere einmal drumherum und betrete es dann wieder durch den Haupteingang. Dabei beobachtet mich zwar auch niemand, denn die Rezeption ist – warum eigentlich? – gerade nicht besetzt, aber sicher ist sicher. Muss ja keiner mitkriegen, dass ich im Haus übernachtet habe.

Auf meinem Schreibtisch sieht alles noch so aus, wie ich es vor zwei Tagen verlassen habe. Übersichtlich und wohlsortiert. Für jedes Projekt gibt es eine eigene Ablage, und die sind farblich nach Dringlichkeit geordnet.

Ich werde wohl mit den Dienstplänen für nächste Woche beginnen – aber erst mal brauche ich einen Kaffee. Einen sehr starken, sehr großen Kaffee!

Der Vollautomat im Frühstücksraum ist zum Glück gerade frei. Die Geschäftsleute unter den Hotelgästen sind schon unterwegs, die Touristen schlafen um diese Zeit noch. Gut für mich! Ich zapfe mir einen dreifachen Espresso, gebe fünf Würfel Zucker hinein und schnappe mir noch ein Croissant. Damit sollte ich gut gerüstet sein für den Arbeitstag.

Auf dem Rückweg in mein Büro kontrolliere ich, ob die Rezeption noch immer unbemannt ist. Ist sie nicht. Doch anders als erwartet steht da nicht Felix, sondern einer der neuen Mitarbeiter, die Clemens und Cleo eingestellt haben. Noch grün hinter den Ohren und schon überfordert, wenn mehr als zwei Leute zugleich einchecken wollen. Aber das wird er schon noch lernen. Ich nicke ihm freundlich zu und frage mich, warum Felix wohl mit ihm die Schicht getauscht hat.

Nachdem ich mit den Dienstplänen durch bin, telefoniere ich mit der Wäscherei und dem Gemüselieferanten, erstelle ein neues Wellnesspaket für Freundinnen, leite es weiter an unsere Werbeagentur und checke dann die neuen Beiträge in unserem Online-Gästebuch. Keine Trolle dabei, ich kann also alles freischalten.

Bei alldem gelingt es mir, fast gar nicht an Wenzel zu denken. Wobei – daran zu denken, dass man fast nicht an ihn denkt, ist ja beinahe so, wie doch an ihn zu denken. Oder denke ich vielleicht zu viel?

Egal, ich konzentriere mich jetzt lieber wieder auf die Kundenkommentare. In einem davon werde sogar ich lobend erwähnt. Ich sei tough, superfreundlich und überhaupt ein Genie. Beim Lesen wachse ich glatt um drei Zentimeter.

Anschließend beantworte ich die E-Mails. Am dringendsten ist die Anfrage des Unternehmerverbandes, der in unserem Haus einen Kongress abhalten will. Bevor ich das Angebot kalkulieren kann, muss ich noch ein paar Details erfragen, also rufe ich kurzerhand zurück und habe sofort die Verantwortliche an der Strippe. Was für eine Wohltat, dass sie direkt erreichbar ist! Allzu oft muss ich mich mit Gesprächspartnern herumschlagen, die sich furchtbar wichtig fühlen, aber von Tuten und Blasen keine Ahnung haben.

Ihr scheint es umgekehrt genauso zu gehen. »Ich bin sicher, in Ihren kompetenten Händen sind wir goldrichtig«, sagt sie zum Abschied. Na, das geht doch runter wie Öl!