Winter meines Herzens - Emylia Hall - E-Book
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Winter meines Herzens E-Book

Emylia Hall

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Beschreibung

Hadley Dunns Leben könnte nicht normaler verlaufen – Familie, Uni, Freunde. Bisher keine große Liebe, dafür aber auch kein großer Schmerz. Bis sie beschließt für ein Auslandssemester in die Schweiz zu gehen. Nach Lausanne am Genfer See. Ein Ort, der voller Magie ist, der erfüllt von Versprechungen scheint. Hier beginnt Hadley eine leidenschaftliche Beziehung zu einem Mann. Hier lernt sie Kristina kennen und findet in ihr die beste Freundin, die sie jemals hatte. Doch dann ereignet sich in einer dunklen Winternacht – der erste Schnee ist gerade gefallen – eine Tragödie. Und was als sorgenfreies Abenteuer begann, entwickelt sich zu einem Alptraum …

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Zum Buch

Hadley Dunns Leben könnte nicht normaler verlaufen – Familie, Uni, Freunde. Bisher keine große Liebe, dafür aber auch kein großer Schmerz. Bis sie beschließt, für ein Auslandssemester in die Schweiz zu gehen. Nach Lausanne am Genfer See. Ein Ort, der voller Magie ist, der erfüllt von Versprechungen scheint. Hier beginnt Hadley eine leidenschaftliche Beziehung zu einem Mann. Hier lernt sie Kristina kennen und findet in ihr die beste Freundin, die sie jemals hatte. Doch dann ereignet sich in einer dunklen Winternacht – der erste Schnee ist gerade gefallen – eine Tragödie. Und was als sorgenfreies Abenteuer begann, entwickelt sich zu einem Alptraum …

Zur Autorin

EMYLIA HALL, geboren 1978, arbeitete nach ihrem Studium in York und Lausanne für eine Werbeagentur in London, bevor es sie in die französischen Alpen verschlug. Dort entschloss sie sich, ihren lang gehegten Traum vom eigenen Roman Wirklichkeit werden zu lassen. Ihr Debütroman »Mein Sommer am See« war auf Anhieb ein großer Erfolg, wurde in zahlreiche Länder verkauft und in Großbritannien als das Sommerbuch 2012 gefeiert.

EMYLIA HALL BEI BTBMein Sommer am See. RomanIn unendlicher Ferne. Ein Cornwall-Roman

EMYLIA HALL

Winter meines Herzens

Roman

Aus dem Englischenvon Astrid Finke

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »A heart bent out of shape« bei Headline Review, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2018, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Emylia Hall

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Andrew Bret Wallis/Getty Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-19706-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Bobby

Prolog

Lausanne gab es vor Hadley. Lausanne gab es auch vor Kristina und Jacques und Joel. Ihre Anwesenheit in der Stadt war nur flüchtig. Der See sprengte nicht seine Ufer, kein Berghang zerbröckelte, und nicht ein Fensterladen stürzte von einem der adretten Gebäude scheppernd zu Boden. Doch zwischen den ausgreifenden Brücken und den türmchenbewehrten Wohnhäusern, den baumgesäumten Straßen und den verschlungenen Parks spielten sich ihre Begegnungen und ihre Tragödien ab. Lausanne blieb von all dem unverändert, doch auf das Leben der Menschen, die dort wohnten, traf das nicht zu.

Es war Hadleys zweites Studienjahr, und sie verbrachte es im Ausland, in der Schweiz. La Suisse. Ihre Vorstellungen von diesem Land waren bis dahin Klischees gewesen – Kuckucksuhren und Käse, dreieckige Schokolade und kühle Neutralität –, doch dann hatte sie in einem Reiseführer den Begriff »Schweizer Riviera« entdeckt. Sie hatte über die Stadt gelesen, über ihre steilen Straßen, hoch aufragenden Türme und spitzen Dächer. Vom Lac Léman, dem Genfer See, fand sie ein Foto, auf dem er glänzte wie ein polierter Spiegel. Dahinter erhoben sich die Zacken der Dents du Midi und des Mont Blanc. Es gab Palmen und Weinberge und prunkvolle Hotels mit gestreiften Markisen, die im Wind flatterten. Lausanne verfügte über einen stillen Glamour, diskret, doch mit einem unterschwelligen Erschauern, un frisson.

Hadley hatte mit Freuden ihre Universität zu Hause verlassen, die gedrungenen, dicht zusammengekauerten Gebäude so grau wie Elefantenhaut, Jungs, die nach dem Bier von gestern rochen, und Mädchen, die wie Vögel auf einer Stromleitung zwitscherten. Vor ihrem geistigen Auge hatte sie sich in dieser neuen schweizerischen Landschaft gesehen und von Anfang an in ihrem Bann gestanden. Bis zum Ende ihrer Tage wäre sie wahrscheinlich in der Lage, sich das in der Septembersonne leuchtende Seeufer vorzustellen, die ausländischen Studenten auf den Stufen am Jachthafen, die lachend im Sprühnebel der Fontänen saßen und die Augen vor dem Licht abschirmten. Zu Beginn des akademischen Jahres war Lausanne immer voll von ihnen, locker zusammengewürfelte Grüppchen, die noch ihren Weg finden mussten, vereint von wenig mehr als ihrer Fremdheit, zur selben Zeit am selben Ort. Hätte sie doch damals nur jemand bei der Hand genommen und gesagt, Ihr seid an einem traumhaften Ort, aber seid vorsichtig. Passt aufeinander auf.

Sie würde sich wahrscheinlich auf ewig an das Hôtel Le Nouveau Monde erinnern, an seine elegante und gleichzeitig massige Form, wie eine mondäne, aber korpulente ältere Dame. Ihr Herz würde pochen, denn irgendetwas daran zöge sie immer noch magisch an. Sie würde an den Speisesaal in Gold und Zartgelb denken, die zierlichen Schokoladenstücke auf den Untertassen, und an Hugo Bézier, der eine Zigarre zwischen den schlanken Fingern rollte, dessen gefurchtes Lächeln durch sein Kognakglas glitzerte. Er hatte Hadley einmal erzählt, es sei gerade ihre Unerfahrenheit gewesen, die ihn zu Anfang faszinierte. Dass sie so sehr aufrecht gestanden habe, als wollte sie jeden Moment fliehen. Und es stimmte ja auch, sie war leicht wie ein Schmetterling in ihr neues Leben getanzt und hatte das alte so mühelos abgestreift wie einen Kokon. Wie behütet, wie grau, wie öde war es ihr im Vergleich erschienen. Damals war sie ziemlich sicher gewesen, dass ihre Zukunft in Lausanne lag, und trotz allem, was geschehen war, stimmte das vermutlich immer noch. Denn es war genau wie Joel Wilson in seiner allerersten Vorlesung gesagt hatte, als er sich die Worte Ernest Hemingways mit gedehntem kalifornischen Akzent zu eigen machte: Lausanne hat kein Ende. Die Erinnerungen eines jeden von ihnen, erklärte er seinen Studenten, seien völlig unterschiedlich, das gelte für Lausanne, genau wie es für Paris gelte. Im Rückblick fragte Hadley sich, ob er vielleicht damals versucht hatte, sie alle vorzubereiten, sie zu warnen, dass Lausanne keine Stadt war, die ihren Platz in den Erinnerungen eines Menschen gehorsam und höflich einnahm. Vielmehr durchdrang sie alles, was danach kam, und sie alle – er, Joel, eingeschlossen – sollten im Geiste immer wieder zurückkehren. Sie konnten einfach nicht anders. Zu dem Zeitpunkt konnte Joel nicht gewusst haben, was vor ihnen lag, aber es war fast, als wenn doch. Seine hellen Augen hatten sich getrübt, als er den Studenten den Rücken zuwandte und aus dem Fenster auf den Streifen See in der Ferne blickte.

Hadleys Jahr im Ausland sollte von Anfang an eine Liebesgeschichte sein. Wenn man sich danach sehnt, das Herz eines anderen dicht neben seinem eigenen schlagen zu fühlen, denkt man nicht daran, dass ebendiese Herzen eines Tages brechen, man denkt nicht an die Splitter, die sich durch die Haut bohren, die noch lange schmerzen und brennen werden. Aber dies ist eine Geschichte über mehr als gebrochene Herzen. Sie erzählt von einem alten Mann an einer Schreibmaschine, dessen Finger über die Tasten sausen, schweigend beobachtet von einer jungen Frau. Sie erzählt von einer Stadt, die märchenhaft und realitätsdurchwirkt zugleich ist, prächtig und unvollkommen, sonnensatt und wintergepeitscht. Vor allem aber erzählt sie vom Ende eines alten Lebens und dem Anfang eines neuen, und sie wendet sich dem schönsten Moment zu: Wenn zwei Wildfremde einander zufällig begegnen und, statt sich vom Tag weiterwehen zu lassen, innehalten. Sie drehen sich um. Sie sprechen. Die Geschichte beginnt.

Eins

Eigentlich war Hadley Dunn aus Versehen in der Schweiz. Sie hätte vorher nie geglaubt, dass sie im Ausland studieren konnte, weil sie dachte, das wäre nur etwas für schnellzüngige Linguisten oder kleine, mandeläugige Französinnen, Mädchen, die ihre Zigarette mit Schmollmund rauchten und ihren Kaffee schwarz tranken. Doch eines ansonsten wenig bemerkenswerten Februartags war der Gedanke plötzlich aufgetaucht. Sie hätte ihn ja einfach als Tagtraum abgetan, doch mit unerklärlicher Hartnäckigkeit hatte er Wurzeln geschlagen und war weiter gewachsen.

Sie war zu früh zu einem Seminar gekommen und hatte vor dem Raum jemanden durch eine Broschüre des Institut Vaudois blättern sehen. Es war Carla, ein Mädchen mit strengem Bob und intellektueller, rechteckiger Brille. In der letzten Sitzung war sie Hadley ins Wort gefallen, als sie gerade die stumpfsinnige Lektüreliste des Professors auszuloten versuchte.

»Ist Lausanne unsere Partner-Uni?«, fragte Hadley, während sie sich neben Carla setzte.

»Partner-Uni? Das ist doch kein Schüleraustausch. Es gibt eine Vereinbarung zwischen den beiden Universitäten und den Anglistik-Fachbereichen. Ein Student wird ausgetauscht, nur einer pro Jahr. Und man spricht es ›Loh-sann‹ aus, nicht ›Lau-sann‹.«

»Loh-sann. Warum nur einer?«

Carla zuckte die Achseln und schob die Lippen vor.

»Keine Ahnung, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich viele bewerben. Die Schweiz ist echt teuer.«

»Ach, das liegt in der Schweiz? Cool. Darf ich mal?« Hadley beugte sich vor, um besser sehen zu können. Das Foto zeigte ein wichtig aussehendes Gebäude aus Glas und Chrom vor einer Wiese, die so ordentlich wie ein englischer Rasen war und sich sanft bis zum Ufer eines großen Sees absenkte.

»Wohnst du nicht noch zu Hause?«, fragte Carla.

»Doch, schon.«

Hinter dem Gebäude verlief eine gezackte Bergkette. Sie hob sich eisweiß vom Blau des Himmels ab und wirkte, als hätte jemand sie nachträglich gemalt, der Inspirationsblitz eines Bühnenbildners. Hadley lehnte sich noch weiter vor. Keine Universität der Welt konnte doch wohl vor einem solchen Panorama liegen.

»Dann ist das hier also einfach die nächstgelegene Uni für dich? Du hast sie dir nicht im engeren Sinne ausgesucht?«

Endlich riss Hadley sich von dem Foto los und sah auf.

»Natürlich hab ich sie mir ausgesucht«, sagte sie. »Außerdem, was hat das denn damit zu tun?«

Während ihre Schulfreunde sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut hatten, war Hadley geblieben, wo sie war. Sie hatte sich an ihrer örtlichen Uni eingeschrieben, nur eine kurze Busfahrt von dem Haus in Tonridge entfernt, in dem sie mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder wohnte. Sam hatte völlig unerwartet vor vier Jahren ihre Familie erweitert, ein niedliches, ausgelassenes und endlos forderndes Bündel. Die Lachfalten ihrer Mutter waren dieser Tage tiefer als je zuvor, und die Haare ihres Vaters waren deutlich von Grau durchzogen. Wäre Hadley zu Hause ausgezogen, hätte man sie schmerzlich vermisst. Wer sonst hätte die Erbsen auf Sams Teller so herumgeschoben, dass sie ein lachendes Smiley ergaben, oder dabei geholfen, eine Schneckenzucht auf dem Boden eines Eimers zu beginnen? Mal ganz abgesehen von dem ganzen Babysitten. In den Briefen ihrer Freunde las Hadley zwischen den Zeilen; neben all den Geschichten über durchfeierte Nächte, geschwänzte Vorlesungen, leicht zu findende Liebe und noch leichter zu findende Lust gab es Stapel ungespülten Geschirrs in Wohnheimküchen, geistlose Unterhaltungen bei trockenem Toast und ein Leben im Goldfischglas. Hadley redete sich ein, dass all diese Dinge sie nicht im Namen einer vermeintlichen Freiheit von zu Hause fortlocken konnten, und meistens war sie auch davon überzeugt.

»Ich sage ja nur«, meinte Carla jetzt, »man muss abenteuerlustig sein, um im Ausland zu studieren.«

»Es wäre allerdings ein tolles Abenteuer.«

»Und das ist nicht für jeden was.«

Hadley verkniff sich ein Lächeln. »Du meinst also, für mich wäre es nichts?«

Vielleicht hatte sie sich bisher nicht nach einer größeren Welt gesehnt, aber das hieß nicht, dass sie nicht darüber nachdachte. Sie beobachtete die anderen Studenten, diejenigen, die zu Semesterbeginn mit dem eigenen Auto zum Campus fuhren, den Rücksitz mit Schreibtischlampen und Topfpflanzen beladen, oder die vom Bahnhof aus zu Fuß liefen, mit schweren Rucksäcken und von irgendeiner aufregenden Reise gebräunten Armen. Diese Leute schienen einer völlig anderen Welt zu entstammen, und Hadley fand sie eigenartig. Sie machten den Eindruck, bereits fertig entwickelt zu sein, mühelos von der Schule über die Universität in den Rest ihres zwanglosen Lebens zu gleiten. Neben ihnen fühlte Hadley sich wie ein Neuling, ihr Mangel an Erfahrung so grell wie ein weißes Laken. Dennoch glaubte sie fest daran, dass auch sie eines Tages Aufregendes erleben würde. Und wenn dieser Tag käme, wäre sie bereit.

Carlas Augen hinter der Brille waren schlammig braun und blinzelten nicht. Statt Hadleys Frage zu beantworten, verzog sie den Mund zu einem verkniffenen Lächeln und schnippte mit den Fingern nach der Broschüre. Hadley starrte sie an. Sie machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Widerstrebend gab sie Carla das Heftchen zurück, die es in ihre Tasche steckte. Der Professor, ein krähenartiger Mann, der immer nach Eiersandwichs und schalem Kaffee roch, schlurfte in den Raum und nestelte vorne am Pult an seiner Aktentasche. Hadley öffnete eine Coladose und lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. Er begann, über die viktorianische Zeit und die industrielle Revolution zu reden, aber sie hörte kaum zu. Sie dachte an die Berge und wie es wohl wäre, in ihrer unmittelbaren Nähe zu leben, und ob sie irgendwelche Geräusche machten, denn wie konnte etwas so Riesiges schweigend dastehen? Wäre da ein Knistern und Wispern, ein pfeifender Wind? Würde man sich daran gewöhnen, an ihre beharrliche, ewige Gegenwart, und sein Leben weiterführen, als wäre es ganz normal? Eine andere Art von normal, aber dennoch normal? Eher doch würde man den ganzen Tag in den Himmel starren, glücklich wie eine Eintagsfliege.

Eine Woche später, als die Institutssekretärin gerade die letzten Bewerbungen für das Auslandsjahr durchzählte, warf Hadley ihre auf den Stapel.

»Abgabe war leider bis siebzehn Uhr«, sagte die Frau mit einem kurzen Blick nach oben. Ihre Miene war nicht zu deuten. Sie hatte die Jalousien vor ihren Augen heruntergezogen.

»Im Ernst?«, fragte Hadley. »Aber es ist erst halb sechs.«

»Vorschrift ist Vorschrift.«

Hadley ließ den Kopf auf den Tresen sinken. Die Sekretärin schob ihre Teetasse aus dem Weg und blätterte weiter durch die Unterlagen, zuerst aber zog sie Hadleys Formular heraus, als wäre es ein Unkraut.

»Ich brauchte die ganze letzte Woche, um mich zu entscheiden, ob ich mich bewerben möchte«, sagte Hadley. »Ich wusste bisher nicht, dass irgendetwas so aufregend und beängstigend zugleich sein kann.«

Immer noch wurden vor ihrer Nase die Papiere sortiert, ordentlich beschriebene Stapel, ohne Zweifel voller Beteuerungen persönlicher Eignung und Versprechungen von außergewöhnlichen akademischen Leistungen. Carla hatte falsch gelegen, dass sich niemand bewerben würde.

»Ich dachte, ich könnte mir das auf keinen Fall leisten«, sagte Hadley jetzt. »Aber dann habe ich herausgefunden, dass es Stipendien gibt, deshalb habe ich noch mal neu überlegt.« Sie legte der Sekretärin die Hand auf den Arm und spürte sie unter der leichten Berührung zucken. »Bitte. Ich meine, mir ist plötzlich bewusst geworden, dass ich wirklich gern fahren möchte. Wahrscheinlich werde ich ja gar nicht ausgesucht, aber ich will es zumindest probieren. Ich hab das Formular so schnell ausgefüllt, wie es nur ging. Sehen Sie, das Tipp-Ex ist noch gar nicht trocken.«

Es blieb einen Moment lang still. Draußen im Flur knallten Türen, der Tag ging zu Ende.

»Was, wenn ich sie einfach in den Stapel stecke?«, fragte Hadley. »Wir könnten so tun, als wäre sie schon drin gewesen.«

»Von mir aus, aber schnell«, sagte die Sekretärin, ohne aufzublicken.

Hadley warf die Arme hoch und beugte sich über den Tresen, um sie etwas schief zu umarmen.

Die ältere Frau blieb steif wie ein Spazierstock. »Passen Sie auf, dass ich es mir nicht wieder anders überlege.«

Drei Wochen später erhielt Hadley einen Brief von nicht mehr als vier oder fünf getippten Zeilen, der sie darüber informierte, dass ihre Bewerbung erfolgreich gewesen war. Es dauerte einen Moment, bis sie wirklich begriff. Einfach so hatte sie ein Jahr zu Hause gegen ein Jahr im Ausland getauscht. Ein Pfad war für sie vorgegeben gewesen, und sie hatte bisher nichts dagegen gehabt, darauf weiterzugehen. Würde ein so plötzlicher und dramatischer Schwenk den Verlauf des Schicksals verändern? Sie zögerte, ihren Platz anzunehmen. Sie war unsicher, ob es richtig gewesen war, ihn überhaupt zu wollen.

Es war ihre Mutter, die sie schließlich überredete. Eines Abends nach dem Essen spülten sie gerade zusammen ab, als Hadley innehielt und aus dem Küchenfenster starrte. Man sah das Nebenhaus, Reihe um Reihe ordentliches Mauerwerk. In gleichmäßigen Abständen unterbrachen die Spitzen eines Holzzauns den Rhythmus. Ihre Mutter drückte ihr die Hand.

»Sorry, ich war in Gedanken ganz weit weg«, sagte Hadley lächelnd. Sie wandte sich wieder dem schmutzigen Geschirr zu.

»Wir wollen dich auf keinen Fall zurückhalten«, sagte ihre Mutter.

»Aber ihr …«, setzte sie an.

»Hadley, sieh mich an. Manchmal weiß ich nicht, was dein Vater und ich in den letzten Jahren ohne dich gemacht hätten. Aber Sam kommt im September in die Schule. Alles verändert sich.«

»Ich weiß. Darüber habe ich schon nachgedacht.«

»Da draußen liegt eine ganze Welt«, sagte ihre Mutter und sah ihr eindringlich in die Augen. »Vielleicht wird es Zeit, danach zu greifen. Greif mit beiden Händen zu und bereue nichts auch nur eine Sekunde lang.«

Manchmal kam es vor, dass Menschen ihre wichtigsten Worte sprachen, wenn sie verspritzte Schürzen trugen und ihre Hände voller Seifenschaum waren.

Am Flughafen umarmte ihre Mutter sie fest, ihre Haare verhedderten sich in Hadleys Ohrringen, Tränen wechselten von Wange zu Wange. Sam überreichte ihr ein krakeliges Bild von einem Strichmädchen und einem kugeligen Schneemann mit einer Kette von runden Bergen im Hintergrund. Hadley drückte einen Kuss darauf, bevor sie es sorgfältig zusammenfaltete. Ihr Vater bestand darauf, ihr den Koffer zu tragen, wollte sich bis zum letzten Moment nützlich machen. Er versprach, auf einen Besuch im Sommer zu sparen, woraufhin ihre Mutter ein Lied aus The Sound of Music anstimmte. Dem folgte ein betont munterer Streit, ob der Film nun in Österreich oder in der Schweiz spielte, und Hadleys Vater gestand, früher in Julie Andrews verliebt gewesen zu sein. Schließlich schepperte der letzte Aufruf für den Flug nach Genf durch die Lautsprecher, und Hadley wusste, sie musste gehen. Ein letztes Mal drehte sie sich zu ihrer wild winkenden Familie um. Es fühlte sich an, als würde etwas Zartes zerreißen, ein verbindender Faden, der straffer und straffer gespannt wurde, bis er nachgab, einfach weil er musste. Sie winkte und winkte, dann rannte sie zum Flugzeug.

Auf ihrem Platz atmete Hadley tief durch und ließ sich in die Stille des Himmels tragen. Sie drehte den Namen Lausanne hin und her, und er rollte ihr über die Zunge wie ein frischer Kuss. Es war ihre geheime Stadt, denn kaum jemand hatte schon davon gehört. Selbst Carla hatte das am Ende des Semesters zugegeben, als sie Hadley erstaunlich nett bon voyage wünschte. Allerdings hatte sie es sofort wieder kaputt gemacht. »Ich denke nur die ganze Zeit«, hatte sie gesagt, »vielleicht ist es nicht so schön, wie es aussieht.«

Es war später Nachmittag, und die Septembersonne brannte noch hell und erfüllte das Zugabteil mit dem letzten Licht des Sommers. Von Genf nach Lausanne führten die Gleise am Lac Léman entlang. Immer wieder blitzte funkelndes Wasser auf, und dahinter waren die purpurnen Umrisse hoch aufragender Berge zu erkennen. Auf der anderen Seite breiteten sich Weinberge und Felder mit prallen Kürbissen aus. Hin und wieder sah Hadley eine stattliche Villa mit geschlossenen Fensterläden und hohem Tor, dazwischen einzelne Chalets an den Hängen, die mit ihren spitzen Dächern und Holzveranden aussahen wie Kinderspielzeug.

Interessiert musterte sie ihre Mitreisenden. Ein junger Backpacker mit zottigem Bart schälte mit einem Taschenmesser einen Apfel, eine ältere Dame mit leicht eingedrückter Hochfrisur hielt eine fledermausohrige Bulldogge auf dem Schoß, zwei Geschäftsmänner in Anzügen, denselben dunklen Glanz auf Haaren und Schuhen, versteckten sich hinter ihren Zeitungen. Wie flüchtig auch immer, das waren die Menschen ihres neuen Lebens, und sie war von jedem einzelnen fasziniert. Jetzt schon trug sie alles zusammen, was sie sah, wie ein Kuriositätensammler, der selbst das Gewöhnlichste beachtenswert fand.

Nach einer knappen Stunde rollte der Zug im Bahnhof von Lausanne ein. Hadley starrte die weißen Buchstaben auf dem blauen Schild an. Lausanne. So oft schon war sie hier gewesen, wenn auch nur in ihrer Fantasie, dass sie, als der Moment gekommen war, fast auszusteigen vergaß. Sie schrak auf, holte hastig ihren Koffer und sprang auf den Bahnsteig. Mit tadelloser Pünktlichkeit pfiff der Schaffner, und Hadley sah dem abfahrenden Zug nach. Sie malte sich aus, wie er seine Reise am Ufer des Sees fortsetzte, in die Berge brauste, sich immer weiter der italienischen Grenze näherte, denn die Endstation lautete Milano Centrale. Andere Orte, die sie vielleicht eines Tages auch besuchen würde. Erneut schielte sie nach dem Schild neben sich. Lausanne. Der Name war bereits mehr als nur eine Buchstabenfolge. Sie empfand ein erwartungsvolles Kribbeln, rasch gefolgt von einem diffuseren, unbestimmteren Gefühl. Es war eine Ahnung, dass, solange sie blieb, wo sie war, an der Schwelle einer neuen Erfahrung, alles wundervoll bliebe. Nichts würde je zerstört.

Die Stadt knisterte in der nachklingenden Sommerhitze. Brav trug Hadley die Steppjacke, die ihre Eltern ihr zum Abschied geschenkt hatten, doch sie engte sie ein, Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie nahm sich vor, sich für den Herbst einen schickeren Mantel zu kaufen, so einen Trenchcoat mit Gürtel, wie ihn die beiden Frauen trugen, die auf dem Bahnhofsvorplatz an ihr vorbeiliefen. Die zwei klapperten über das Pflaster, und ihre Lippen bewegten sich hübsch, als sie Worte wie vraiment, absolument aussprachen, mit Verve ausriefen und beteuerten. Die französische Sprache hatte so etwas an sich: Worte waren nie einfach nur Worte, sie schienen die Atmosphäre um sich herum zu verändern.

Auf dem Kopf trug Hadley eine gestrickte Baskenmütze. Noch ein Geschenk ihrer Eltern, aber dieses traf schon eher ins Schwarze. Wie ein Filmstar!, hatte ihre Mutter gerufen, als Hadley sie anprobierte. Hadley hatte ein paar kürzere Haarsträhnen gezwirbelt, sodass sie in einer Welle auf ihrer Wange klebten. Vielleicht sollte ich sie mir schneiden lassen, hatte sie überlegt, c’est plus chic comme ça. Mit einem aus einer Zeitschrift gerissenen Foto hatte sie sich zu dem Friseur in der Fußgängerzone gewagt. Das Bild hatte die Frau aus dem Film Außer Atem, À bout de souffle gezeigt. Als Hadley nach Hause kam, hatte Sam sich vor Lachen auf den Boden geworfen und gesagt, sie sehe aus wie ein Junge. Doch sie hatte sich leicht und verwegen gefühlt. Es war eine Frisur, mit der man etwas anstellte und hinterher darüber lächelte.

Vor dem Ausgang des Bahnhofs gab es einen Kiosk der Touristeninformation, und Hadley bediente sich unter den Augen einer Frau mit elegant geknotetem Seidenschal an den Prospekten und Stadtplänen. Ihr Koffer war schwer und die Jacke selbst unter den Arm geklemmt zu heiß, aber es schien ihr wichtig, an jenem ersten Tag zu Fuß durch die Stadt zu laufen. Trotz ihres Stapels Broschüren und kostenloser Informationsblättchen war sie keine Touristin. Eine Touristin würde in den falschen Bus steigen oder in ein überteuertes Taxi stolpern. Hadley aber hatte die Adresse ihres neuen Zuhauses auf einem Zettel notiert: Les Ormes. Das hieß Die Ulmen, ein Name, der in anderem Zusammenhang vielleicht Bilder von Altersheimen und Ferienlagern heraufbeschworen hätte, doch in Lausanne barg er einen Hauch von Glamour.

Rasch setzte Hadley sich an einen der Cafétische vor dem Bahnhof, schob halbleere Kaffeetassen und zerknüllte Papierservietten beiseite und breitete ihren Plan aus. Sie suchte sich sorgfältig eine Route durch die Stadt. Dann blickte sie auf, um den Straßennamen auf dem gegenüberliegenden Gebäude zu lesen, vorbei an den flatternden Fahnen und dem satten Grün ordentlich gestutzter Bäume. Eine verlorene Seele mit einer zerknautschten Bierdose in der Hand schaukelte auf den Fersen vor und zurück und beobachtete sie. Hadley stand auf und marschierte an der Taxischlange und den an die Autos gelehnten, zigarettenschnippenden Fahrern vorbei. Sie knotete ihre unförmige Jacke an den Schlaufen des Rucksacks fest, griff nach dem Koffer und machte sich auf den Weg.

Hadley besaß keinerlei Bezugspunkt für eine Stadt wie Lausanne. Sie hatte mit ihrer Familie Urlaub in den Dünen eines windigen französischen Campingplatzes gemacht und eine Woche in der weißen Hitze einer spanischen Ferienwohnanlage verbracht, aber nie zuvor war sie in die Tiefen einer europäischen Stadt auf dem Festland eingetaucht. Auch in London war sie nur zwei Mal gewesen, von irgendwelchen anderen Orten ganz zu schweigen. Ihre zweite Fahrt nach London hatte sie mit Freunden gemacht, um ihren Schulabschluss zu feiern. Unter den Bahnbögen in Bermondsey hatte sie einen Jungen geküsst und später eine Sandale verloren, als sie in die letzte U-Bahn sprang. Lausanne aber war noch gänzlich unentdeckt, so kostbar und berauschend wie eine neue Liebe.

Vom Bahnhof aus führte eine schmale Fußgängerstraße steil bergauf. Hadley steuerte darauf zu, den Koffer hinter sich herschleifend. Die Gegend hatte die leicht heruntergekommene Ausstrahlung so vieler Bahnhofsviertel, überall Imbisse und Billigläden, aber ab und an zweigten Seitenstraßen ab, die von Bäumen und eleganten Villen gesäumt waren. Nach einem keuchenden Anstieg kam sie an einen großen Platz. Sie nahm das gediegene, geschäftige Treiben in sich auf und stand unwillkürlich etwas gerader. Alles war voller Menschen, sie liefen mit forschem, zielstrebigem Schritt herum und waren trotz der sommerlichen Temperatur dezent gekleidet, in Creme und Grau und Beige und Dunkelbraun und Schwarz. Hadley mischte sich unter den Strom und erreichte schon bald die verwinkelten Straßen der Vieille Ville, der Altstadt, mit ihren luxuriösen Boutiquen und extravaganten Patisserien mit verlockender Auslage. Die Versuchung war groß, stehen zu bleiben, zu betrachten und einzutreten, in ein Eclair zu beißen und den Finger in einen Topf gerade abgekühlter Schokolade zu tauchen, aber sie lief weiter, hielt ihre Sehnsüchte im Zaum. Als sie einen weiteren Hügel vor sich sah, sagte ihr ein Blick auf den Stadtplan, dass sie sich am Fuße der langen, gewundenen Straße befand, die hinauf zu Les Ormes führte. Sie war jetzt eine halbe Stunde unterwegs, und an ihrer Ferse bildete sich eine Blase. Ihr Oberteil klebte am Rücken, und zwischen ihren Brüsten rannen Schweißtropfen hinab. Jetzt schon war ihr bewusst, dass Lausanne zu elegant war, um darin unordentlich auszusehen. Die Einheimischen waren sämtlich kühl und würdevoll, also machte Hadley eine Pause, sammelte sich und gab ihr Bestes, ebenso zu wirken.

Endlich erreichte sie die Zufahrtsstraße zum Wohnheim. Die Zimmervermittlung hatte geschrieben, es sei in den Hang gebaut und jedes Zimmer habe einen Balkon. Das hatte malerisch geklungen. Vor Hadley allerdings stand nun ein flacher, grauer Bau, der nichts von der Schönheit der Altstadt besaß und auch nicht die Eleganz der Innenstadt. Seine Fassade war ungefähr so einladend wie ein Gefängnis. Der Name Les Ormes prangte in schwarzer Schrift auf der Mauer, und sie starrte ihn an. Da der Haupteingang nicht direkt zu erkennen war, ging sie zuerst in die falsche Richtung und landete bei einer Ansammlung von Mülltonnen auf einem struppigen Rasenfleck. Sie kehrte um. Eine Seitentür knallte auf, und zwei dunkelhaarige Mädchen schlenderten heraus. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die wie Spanisch klang. Die Tür schlug wieder zu, ehe Hadley sie mit dem Fuß aufhalten konnte.

»Excusez-moi?«, rief sie den beiden nach.

»Si?« Sie drehten sich zu ihr um.

»Das ist doch Les Ormes, oder? Wo geht es rein?«

Die beiden grinsten und deuteten auf die andere Seite des Gebäudes. Hadley lief neben ihnen her.

»Wisst ihr, auf den ersten Blick hatte ich gehofft, das wäre es nicht«, sagte sie.

Hadley wusste, dass sie wahrscheinlich versuchen sollte, Französisch zu sprechen, denn es wäre ihre gemeinsame Sprache im kommenden Jahr, doch in dem Moment ließen ihre dürftigen Kenntnisse sie im Stich. Sie wollte erklären, dass sie sich etwas anderes vorgestellt hatte, was genau, wusste sie auch nicht, einfach etwas Schweizerischeres. Doch ehe sie sich überlegt hatte, wie sie das formulieren könnte, deuteten die beiden Dunkelhaarigen mit dem Kopf auf einen Seitenweg und ließen Hadley stehen, ohne ihren Redeschwall groß zu unterbrechen.

Gegen das Gefühl der Ernüchterung ankämpfend, lief sie um die Ecke und erreichte schließlich den Haupteingang. Vor ihr lagen ein unauffälliger Waschbetonstreifen, ein Fahrradständer und – der zweifellos schönste Ausblick, den sie je gesehen hatte. Sie ließ den Koffer los, rannte zur Mauer, stützte sich mit den flachen Händen auf und starrte auf die Stadt hinunter. Die Kathedrale reckte ihre fünf Spitzen nach dem Himmel, und mitten in den sich schlängelnden Straßen thronte ein Schloss, so vollkommen wie eine Schachfigur. Jugendstil-Wohnhäuser, majestätisch und anmutig, mit Balkonen wie Schmollmündern, standen neben pastellfarben gestrichenen niedrigen Gebäuden. Hinter den steilen Dächern lag das funkelnde Wasser des Lac Léman vor den wie eine Ziehharmonika zusammengefalteten französischen Alpen, Spitze neben Spitze, fast nah genug zum Anfassen. Während ihre Lippen sich zu einem ungläubigen Lächeln verzogen, erlebte Hadley eine Empfindung, die mächtiger als Staunen oder Bewunderung oder die bereits vergessene Sorge war, dass die Realität den Traum beschädigen könnte. Sie hatte es im Zug gespürt, dann wieder auf ihrem Weg durch die Stadt, und nun, mit ganz Lausanne zu Füßen und der Gebirgsluft im Haar, spürte sie es deutlicher als je zuvor. Ein überwältigendes Gefühl von Verheißung, das alles durchdrang.

Zwei

Es heißt manchmal, der erste Abend an einem neuen Ort stelle die Weichen für alles Kommende. Für den Beginn des Abends mochte Hadley daran nicht so gern glauben, aber je später es wurde, desto freundlicher und hoffnungsvoller wurde diese Aussicht. Sie saß in einem Irish Pub, zwei Straßen vor dem Seeufer, in Gesellschaft eines Amerikaners, eines Italieners und einer weiteren Engländerin. Das Mulligan’s war die Art von Kneipe, die voll von Zufallsbekanntschaften schien, verknüpft nur durch sehr lockere Bande, Konferenzteilnehmer und Arbeitskollegen bei internationalen Firmen, deren Kameradschaft sich in schnellen Runden Bier erschöpfte. Hadley und ihre Begleiter saßen ganz hinten um einen Tisch gequetscht, der eigentlich für zwei gedacht war. Sie tranken Flaschenbier und mussten immer alles Gesagte wiederholen, weil die Musik so laut dröhnte. Hadley glaubte nicht, dass sich einer von ihnen besonders gut amüsierte, aber jetzt waren sie einander verpflichtet. Als Bruno in der Wohnheimküche vorgeschlagen hatte, etwas trinken zu gehen, waren sie alle einverstanden gewesen, hatten den typischen Eifer von Menschen an den Tag gelegt, die sich gerade begegnet waren und die Fehler der anderen erst noch kennenlernen mussten.

Chase, Bruno und Jenny wohnten alle auf ihrem Gang in Les Ormes. Hadley hatte sie kurz nach ihrer Ankunft in der Gemeinschaftsküche getroffen.

Sie hatte ihre Sachen ausgepackt und ihre wenigen Habseligkeiten eingeräumt, die Zahnbürste in einen trüben Glasbecher gestellt, die Kleidung in einen braunen Schrank gehängt, der nach Vergessenem roch, die Bücher auf dem Klapptisch unter dem Fenster gestapelt. Dann hatte sie einen raschen Blick in den Spiegel geworfen, sich mit den Händen durch die Haare gestrichen und sich tapfer auf den Weg in die Küche gemacht.

»Hallo«, sagte Hadley, als sie durch die Tür trat. Ein Mädchen saß am Tisch, die Ellbogen aufgestützt, die blonden Haare zu einem weichen Pferdeschwanz gebunden. Sie sah englisch aus, Hadley glaubte es an der vertrauten Wangenpartie zu erkennen. Sie rieb sich mit dem Handrücken die Nase. Hallo, sagte sie, ich bin Jenny, und dann nieste sie, ein kurzes, unterdrücktes Geräusch, das wie ein Korken klang, der aus einer Flasche gezogen wurde. Jenny gegenüber schaukelte ein stämmiger junger Mann in gestreiftem T-Shirt und beiger Hose auf einem klapprigen Stuhl. Seine Haare waren schwarz und lockig und seine Wangen von Bartstoppeln dunkel getönt. Er wippte, wie er vielleicht hoffte, lässig vor und zurück. Und ich bin Bruno, sagte er. Hadley lächelte ihn an und sah dann an ihm vorbei auf den Balkon, wo ein zweiter Junge im Türrahmen lehnte. Er war dünn, hatte helles Haar, das ihm in die Stirn fiel, und einen kleinen, empört wirkenden Mund. In einer Hand hielt er eine Kaffeetasse, in der anderen eine Zigarette. Er nickte Hadley knapp zu, drehte ihr den Rücken zu und blies eine Abfolge von perfekten Rauchringen über das Geländer.

»Ich bin gerade angekommen«, sagte Hadley an niemanden im Speziellen gerichtet, aber letztlich zu Jenny.

»Ach, super, du kommst auch aus England, das ist eine Erleichterung«, sagte Jenny und grinste freundlich.

»Und du?« Hadley sah Bruno an, der immer noch schaukelte. Er passte kaum auf den Stuhl.

»Rate mal!«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie. »Spanien vielleicht?«

Er verzog in gespieltem Abscheu das Gesicht. »Italien!«, brüllte er und betonte jede Silbe mit großer Genugtuung. »Aber du wirst es kaum glauben, meine Mutter ist Engländerin, sie kommt aus London. Ich bin drei Jahre dort zur Schule gegangen, mein Englisch ist also im Prinzip perfekt. Du kennst vermutlich die St. Alexander? Jeder kennt die.«

»Ich nicht.« Hadley unterdrückte den Wunsch zu lachen. Sie überlegte, ob sie sich zu ihnen an den Tisch setzen oder auf den Balkon gehen sollte, vorgeblich, um den Ausblick zu bewundern, aber eigentlich, um ein Gespräch mit dem eine Spur interessanter wirkenden Jungen mit den Rauchringen anzufangen. Jenny kaute an ihren Nägeln, Bruno wippte mit seinem Stuhl.

»Wow, was für ein Blick!«, rief Hadley und ging nach draußen.

»Noch eine Engländerin?« Der Junge warf ihr einen Seitenblick zu.

»Woran merkst du das?«

»Ich hab euch reden hören. Es gibt hier so viele von euch, ich hätte genauso gut nach Oxford gehen können.«

»Ach, echt? Ich hatte selbst gehofft, ihnen zu entkommen. Und du bist Amerikaner?« Sie widerstand der Versuchung hinzuzufügen: Warum bist du denn so genervt?

»New Jersey, durch und durch.«

Er zündete sich eine weitere Zigarette an und lehnte sich aufs Balkongeländer. Seine Schultern standen unter dem T-Shirt hervor wie Flügel. Seine Arme waren lang und sommersprossig.

»Gefällt es dir bisher hier?«

»Ich bin noch unentschlossen.«

Jetzt gesellte Bruno sich zu ihnen, gefolgt von Jenny, die ihre Hände um einen Teebecher legte.

»Man kann ungefähr eine Stunde von hier Skifahren«, sagte Jenny ohne sonderliche Begeisterung in der Stimme.

»Fährst du Ski?« Hadley fragte sich, ob sie ihr sich rasch formendes Bild von Jenny ändern musste.

»Nein«, gab sie zurück. »Aber andere.«

»Das stimmt«, meinte der Amerikaner.

»Wie heißt du noch mal?«, fragte Hadley ihn.

»Chase.«

»Ich schätze mal, das ganze Haus ist voll von Studenten?« Sie bemühte sich, die Dringlichkeit ihrer Frage zu verbergen. Bisher fand sie das Wohnheimleben noch nicht gerade aufregend.

»Es fehlen noch einige«, sagte Bruno. »Die im Zimmer neben dir, Kristina Hartmann, ist zum Beispiel noch nicht da.«

»Woher weißt du, wie sie heißt?«, fragte Hadley.

»Ist dir das noch nicht aufgefallen? Unsere Namen stehen an der Tür«, sagte Jenny. »Ich finde es unheimlich. Jemand könnte von der Straße reinkommen und sofort die Zimmer der Mädchen finden.«

»Wir beschützen dich, Bella«, sagte Bruno. »Stimmt’s, Chase?«

»Klar, wenn du willst«, meinte Chase.

»Ich finde, wir sollten heute Abend alle ins Mulligan’s gehen«, sagte Bruno. »Hadley, kommst du mit?«

»Woher weißt du meinen Namen?«

»Deine Tür«, sagte Jenny.

»Aber woher wusste er, welche meine ist?«

»Gut geraten.« Bruno zwinkerte.

»Du siehst aus wie eine Hadley«, sagte Chase.

»Findest du?«, fragte Jenny. »Ich hätte keinen blassen Schimmer, wie eine Hadley aussehen soll.«

»Und was ist das Mulligan’s?«, wollte Hadley wissen. »Klingt nicht sehr schweizerisch.«

»Ist es auch nicht«, sagte Jenny. »Es ist super.«

An jenem Abend gaben die vier Hadleys Ansicht nach ein eigenartiges Quartett ab. Sie erfuhr, dass Jenny ihren Freund in England zurückgelassen hatte und nicht wusste, ob sie die Sache mit ihm beenden sollte. Ich muss wegen meinem Kurs hier sein, sagte sie mit weinerlicher Stimme. Ich bin ja nicht freiwillig gefahren, also was soll mit Dave und mir schon sein? Gar nichts. Chase hingegen betrachtete Lausanne nur als Stecknadel auf einer Landkarte mit Linien, die in alle Richtungen führten. Er sehnte sich nach den schwindelerregend hohen Pässen in den italienischen Alpen, nach den Sardinenhäfen von Südfrankreich, den Zwiebeldächern Osteuropas. Brunos Ziel wiederum schien schlichter. Er war damit zufrieden, einfach da zu sein. Es ist das gute Leben hier, sagte er, la vie est belle, n’est-ce pas? Und breitete dabei die Arme aus. An jenem Abend arbeitete Bruno sich immer wieder zur Theke durch und tat ihre Versuche, ihm Geld zu geben, mit schroffer Großzügigkeit ab. Er hatte die gedrungenen Wangen eines jungen Aristokraten, und am kleinen Finger trug er einen Siegelring wie einen blank geriebenen Penny. Hadley hatte den Eindruck, dass er keinen von ihnen speziell bewertete. Er stellte weder Fragen, noch zeigte er auch nur schwache Neugier, als reichte es, dass sie einfach da waren, an seinem Tisch.

Während die anderen vor sich hin plauderten, blieb Hadley an jenem ersten Abend still. Dies zum größten Abenteuer ihres Lebens zu erklären, kam ihr unangebracht vor, denn offen gestanden fühlte es sich dort, in der hintersten Ecke der Kneipe, mit Brunos Bein etwas zu dicht an ihrem eigenen, Chases genervter Miene und Jennys trostlos hängenden Schultern, nicht unbedingt so an. Kurz vor Mitternacht stimmten die anderen für ein Taxi zurück zu Les Ormes. Hadley zögerte. Sie hatte sich geschworen, in ihrem Jahr in der Schweiz die Dinge einmal anders anzugehen. Sie spürte die nächtliche Brise über den See wehen, und hinter ihr lagen die steilen schwarzen Straßen der Stadt, warteten nur darauf, entdeckt zu werden. Sie erklärte, sie gehe lieber zu Fuß, und ließ Jenny, Chase und Bruno, deren Einspruch nur sehr schwach ausfiel, ins Taxi steigen. Der Wagen rauschte davon, und Hadley atmete die Lausanner Nachtluft in tiefen Zügen ein. Sie war weit weg von zu Hause, und niemand kannte sie richtig; darin lag eine unermessliche Freiheit.

Sie lief Richtung Wasser. Über dem See, en France, flimmerten die fernen Lichter von Evian. Näher am Ufer schwappten die Wellen unordentlich herum, und unsichtbare Masten klirrten und klapperten. Hadley trat aus sich heraus, sie wollte den Moment mit all seiner Schönheit genießen, empfand aber eine leichte Beklommenheit. Es lag an der ausgedehnten Dunkelheit, dem Fehlen von Menschen, der Eigenartigkeit des Ganzen. Sie beschloss, bei Tageslicht zurückzukehren und es dann zu erforschen. Also drehte sie um und lief zurück zum Mulligan’s, etwas kleinlaut wegen ihres gescheiterten Versuchs als Abenteurerin. Durch die verschmierten Scheiben sah sie auf Tische gestellte Stühle und ein Häufchen letzter Gäste an der Theke.

»Entschuldigung.«

Beim Klang der Stimme erschrak sie und drehte sich um.

»Ich habe dich vorhin mit deinen Freunden in der Kneipe gesehen. Willst du wirklich allein nach Hause laufen? Es ist spät.«

Er war Amerikaner, und er war ein Mann. Wahrscheinlich Ende dreißig, aber er wirkte wie der Typ, der schon sein ganzes Leben wie ein Mann aussah. Er hatte einen kräftigen Brustkorb, breite Schultern und ein kantiges, muskulöses Erscheinungsbild. Lederjacke. Etwas abgebrüht. Eine schwarze Haarsträhne in der Stirn. All das nahm Hadley mit einem scheinbar flüchtigen Blick auf.

»Ja, kein Problem«, sagte sie. »Aber danke.«

Sie wandte sich nicht zum Gehen, noch nicht.

»Lausanne macht einen ziemlich sicheren Eindruck, aber man weiß ja nie«, sagte er.

Er rieb sich das Kinn, als hätte er einmal einen Bart gehabt. Auf Hadley wirkte es wie eine einstudierte, irgendwie nackte Geste.

»Ist schon gut«, sagte sie. »Ich schau nach links und nach rechts, bevor ich die Straße überquere. Und ich spreche nicht mit Fremden.« Sie lächelte, und es fiel nicht schwer. »Insofern sollte ich wohl besser gehen.«

Er zündete sich eine Zigarette an und nickte durch den Qualm. Da erst fielen ihr seine Augen auf, sie waren sanfter, als sie erwartet hatte. Ein flüssiges Blau.

»Wo kommst du her?«

»England.«

»Das höre ich. Wo genau?«

»Irgendwo in der Mitte.«

»Ich war mal einen Sommer da, ist inzwischen Jahre her. In Cambridge.«

»Cambridge ist schön«, sagte Hadley.

»Ja, sehr.« Er sah sie direkt an, aber seine Miene war nicht ganz zu deuten. »Jetzt sag mal, was machst du denn an deinem ersten Abend in einer irischen Kneipe? Nicht sehr schweizerisch von dir.«

»Woher weißt du, dass es mein erster Abend ist?«

»Dann eben der zweite. Allerhöchstens dritte. Aber ich würde Geld darauf setzen, dass es der erste ist. Du hast diesen Blick.«

»Das war nicht meine Idee«, erwiderte sie, ohne seine letzte Bemerkung zu beachten. »Die anderen, mit denen ich unterwegs war, wollten hierher.«

»Du musst dir bessere Leute suchen.«

»Oder«, sagte sie, »ich gehe einfach allein auf Entdeckungstour. Aber überhaupt, wieso warst du dann da drin? Wenn es so schlimm ist? Vielleicht ist es bei dir ja auch der erste Abend?«

»Vielleicht.« Er lächelte.

»Ich sollte lieber gehen«, sagte sie. »Tschüss.«

Sie machte einen Schritt.

»Bleib locker.«

»Wie bitte?« Sie drehte sich noch einmal um.

»Ich sagte ›bleib locker‹.«

»Mach ich, danke. Du auch.«

»Das ist aber sehr höflich.«

»Na ja, was antwortet man denn normalerweise darauf? Mir hat noch nie jemand gesagt, ich soll ›locker bleiben‹.«

»Was, noch nie?«

Hadley zuckte die Achseln. »Nicht dass ich wüsste. Das ist nicht sehr englisch.«

»Tja, es ist mir eine Ehre, dich einzuweihen.«

»Eigentlich sollten wir Französisch sprechen.«

»Au revoir, Mademoiselle«, sagte er mit breitem Grinsen.

»Au revoir, Monsieur«, erwiderte sie.

Dann ging sie wirklich, weil es der nächste Schritt zu sein schien. Als sie sich umblickte, war er weg. Zurück im dunklen Mantel der Stadt.

In den frühen Morgenstunden wurde Hadley aus dem Schlaf gerissen. Einen Moment lang blieb sie in ihr Bettzeug verdreht liegen und lauschte. Ihr Zimmer war fast vollkommen dunkel, nur ein dünner Lichtstrahl fiel durch den Schlitz zwischen den Jalousien. Erneut ertönte das Geräusch. Das Rütteln einer Türklinke, das Klappern eines Schlüssels im Schloss und eine leise, aber hörbare Abfolge von Flüchen in einer Sprache, die sie nicht erkannte. Hadley stützte sich auf dem Kissen auf und horchte. Vielleicht war es Kristina Hartmann, die das letzte freie Zimmer auf dem Flur bezog. Hadley stand auf und tapste zur Tür.

Sie drückte die Klinke herunter und streckte den Kopf hinaus. Ihre Haare waren vom Schlaf völlig zerzaust, und sie trug einen gestreiften Schlafanzug, in dem sie etwas kindlich wirkte. Das Mädchen auf dem Flur hörte nicht, dass die Nebentür aufging, und fummelte weiter an ihrer eigenen herum. Hadley sah vier dunkle Lederkoffer über den Gang verstreut und einen auf den Fußboden geworfenen Mantel, einen Trenchcoat wie diejenigen, die sie in der Stadt bewundert hatte. Die junge Frau hatte goldenes Haar, das ihr bis zur Rückenmitte reichte. Ein ausgefallen gemusterter Schal rutschte ihr von den Schultern. Entnervt strich sie sich durch die Haare, warf eine Strähne zurück, und Hadley bemerkte ihre in einem tiefen Dunkelrot lackierten Nägel und den Schatten eines verblassenden Knutschflecks auf ihrem Hals. Plötzlich drehte sie sich um und entdeckte Hadley.

»Oh, hab ich dich geweckt?«

Hadley fragte sich, woher sie wusste, dass sie Englisch sprechen musste. Sie sprach mit einem andeutungsweise amerikanischen Tonfall, und so sah sie auch aus mit ihrer großen, sportlichen Statur und fröhlichen Miene, aber es schwang noch etwas anderes mit, was Hadley nicht genau zuordnen konnte.

»Schon okay. Kommst du nicht rein?«

»Der blöde Schlüssel, den die mir gegeben haben, schließt einfach nicht.« Erneut rüttelte die junge Frau an der Klinke. »Nicht zu gebrauchen. Ich muss wohl den Hausmeister wecken gehen. Aber wahrscheinlich ist er sowieso schon wach und will wissen, wer diesen absurden Lärm veranstaltet. So wie du.«

Hadley verschränkte die Arme vor der Brust, plötzlich war sie sich ihrer ausgebeulten Hose und des schlecht sitzenden Oberteils bewusst.

»Entschuldige«, sagte die Neue. »Das ist mir wahnsinnig unangenehm. Ich will einfach nur in mein blödes Zimmer, ich war die halbe Nacht unterwegs.«

Als sie »blödes Zimmer« sagte, klang sie plötzlich ein bisschen nach Südengland, stellte Hadley erfreut fest. Doch trotz ihrer perfekten Aussprache hatte sie nichts Englisches an sich. Ihre Wangenknochen waren hoch und schräg, was ihr etwas Kraftvolles, Katzenartiges verlieh, während die vielen blassen Sommersprossen das wieder abmilderten und sie freundlich aussehen ließen. Alles an ihr wirkte kultiviert: die goldene Gliederkette um den Hals, der Glanz ihres Lächelns, das Parfüm, dessen Duft Hadley aufschnappte, obwohl sie einen Meter entfernt stand. Etwas Rauchiges, Gewagtes.

»Lass mich mal probieren«, sagte sie. »Meiner klemmt auch ein bisschen.«

Es klappte beim zweiten Versuch.

»Wie hast du das denn geschafft?«, rief die Blonde. »Toll!«

Hadley half ihr, die Koffer ins Zimmer zu tragen. Sie schleppte den größten und stieß sich den nackten Zeh daran.

»Ich bin hoffnungslos«, sagte die Neue munter und warf sich aufs Bett. »Was hätte ich nur ohne dich gemacht? Wie heißt du?«

»Hadley Dunn. Ich wohne nebenan.«

»Und ich bin Kristina.« Sie streckte die Hand aus, und Hadley ergriff sie, nicht sicher, ob sie schon jemals einem anderen Mädchen zur Begrüßung die Hand geschüttelt hatte. Es wirkte förmlich und unbeschwert zugleich, und sie lächelten einander an. »Dann sind wir also Nachbarinnen«, sagte Kristina. »Das ist super.«

»Ich erkenne deinen Akzent nicht.«

»Dänemark.«

»Wow, echt? Ich bin noch nie jemandem aus Dänemark begegnet. Und wieso kommst du so spät? Ist dein Flieger gerade erst gelandet?«

Kristina zog den Ärmel hoch, um auf ihre schmale goldene Uhr zu sehen. Sie hing locker wie ein Armband am Handgelenk. »Fast vier«, sagte sie. »Ich war in Genf und habe völlig das Zeitgefühl verloren. Also, wie ist es hier so?«

Hadley hatte nicht damit gerechnet, dass das Erste, was ihr einfiel, die wasserblauen Augen des fremden Amerikaners und sein schiefes Lächeln waren, und dass die Gedanken an ebendiese Dinge sie auf dem Heimweg durch die Stadt beflügelt hatten. Sie setzte zum Sprechen an, wurde aber von Kristina unterbrochen.

»Ach, lass mal, Hadley, du musst zurück ins Bett. Du kannst mir morgen erzählen, was ich verpasst habe. Tut mir echt leid, dass ich dich gestört habe.«

»Du hast mich nicht gestört.« Hadley zitterte, denn es war kalt in Kristinas Zimmer. Sie zog die Arme in die Schlafanzugärmel und wippte auf den Fußballen. Es blieb immer noch Zeit, Freundschaften zu knüpfen, wenn flüchtige erste Eindrücke durch fundiertere Urteile ersetzt werden konnten, doch während ihrer kurzen Begegnung hatte Kristina sich Hadley bereits eingeprägt. Sie kam sich vor, als wäre sie wieder sechs Jahre alt und im Garten ihrer Eltern und hätte durch die Zaunlatten eine neue Freundin entdeckt, eine Beziehung, die mit dem Abbeißen vom gleichen Schokoriegel oder einer Fahrt auf dem Gepäckträger eines Fahrrads besiegelt werden konnte.

»Wir könnten ja zusammen frühstücken«, schlug sie vor.

»Total gern.«

»Wenn du ausgeschlafen hast natürlich.«

»Ich schlafe sowieso kaum. Ich stehe auf, sobald es hell wird.«

Hadley unterdrückte ein Gähnen. »Ich auch. Dann gute Nacht.«

»Hat mich wirklich sehr gefreut, Hadley. Noch mal danke, dass du mich gerettet hast.«

Zurück in ihrem eigenen Zimmer stellte Hadley sich ans Fenster. Sie hob die Jalousie ein Stückchen hoch und spähte hinaus in die schlafende Stadt. »J’habite à Lausanne«, sagte sie. Dann legte sie sich wieder ins Bett und schlief beinahe sofort mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

In jener ersten Nacht waren Hadleys Träume verdrehte Versionen der Ereignisse des Abends, unwichtige Details wurden vertauscht und erhielten eine Bedeutung. Es war Kristina, die kindlich und verschlafen in ausgebeultem Schlafanzug auftauchte. Es war der fremde Amerikaner, der den klemmenden Schlüssel herumdrehte. Und es war Hadleys Hals, auf dem ein Knutschfleck zu erkennen war; ein Ehrenmal, das bereits verblasste, so zart wie ein Schmetterlingsflügel.

Drei

Trotz nur weniger Stunden Schlaf stand Kristina früh auf, genau wie sie angekündigt hatte. Mit noch von der Dusche nassen Haaren kam sie in einer Wolke von Kokosnussduft in die Küche. Bei Tageslicht sah Hadley, dass ihre Haut sonnengebräunt war, und ihre Hüftknochen standen durch den Stoff ihrer Jeans vor. Sie hätte ebenso gut den Seiten einer Zeitschrift entstiegen sein können. Sie kochten sich zusammen eine Kanne Kaffee und schmierten rosenfarbene Marmelade auf ordentliche runde Baguettescheiben. Kristina legte sich eine Papierserviette auf die Knie und drückte den Zeigefinger auf jeden Krümel auf der Tischplatte. Sie wirkte zart und draufgängerisch zugleich.

»Auf unseren ersten Morgen«, sagte Hadley und hielt ihren Kaffeebecher hoch. Kristina lachte und stieß mit ihr an, und es schien mehr ein Pakt als ein Toast.

»Und jeden weiteren Morgen«, fügte Hadley hinzu. »Weißt du, ich kann es nicht fassen, dass die anderen an einem solchen Tag im Bett liegen.« Sie und Kristina saßen nebeneinander, mit Blick auf die Stadt. In der Nacht hatte es auf den am weitesten entfernten Gipfeln geschneit, und ein sehr, sehr schmaler Wolkenfetzen hing am Himmel. »Ich kann es gar nicht erwarten rauszugehen. Spürst du die Stadt nicht rufen?«

»Vielleicht sind sie verkatert.«

»Aber verkatert kann man doch überall sein, es ist doch schade um den Tag.«

»Vielleicht wissen sie einfach, dass sie ein ganzes Jahr lang hier sind. Die Stadt läuft nicht weg, Hadley.«

»Ich will jeden Moment auskosten. Ich werde nie wieder einen ersten Morgen in Lausanne erleben. Nie wieder.«

Kristina stand auf, ging zum Fenster und riss es auf, und die kühle Luft tanzte herein.

»Es gibt eine Redewendung im Französischen, weißt du.« Sie drehte sich wieder zu Hadley um. »Il faut profiter. Das bedeutet so was wie »ausnutzen« oder »auskosten«, so in der Art. Aber es ist mehr als das. Es geht darum, Dinge wirklich wertzuschätzen, einen Moment zu genießen. Ich kenne dich kaum, Hadley, aber ich merke jetzt schon, dass du die ganze Zeit hier profitieren wirst, weil du das möchtest.«

Kristinas fröhliche Überzeugung war ansteckend.

»Das wäre großartig«, sagte Hadley. »Ich hoffe, es stimmt.«

»Ganz sicher. Also, voilà. Französischstunde Nummer eins. Und jetzt, ziehen wir los?«

»Oui. Lass uns profitieren.«

Sie nahmen den Bus zum Institut Vaudois, um sich einzuschreiben, und sahen es gemeinsam zum ersten Mal. Die Universität bestand aus einem Park und zweckmäßiger Architektur, auf einen Hügel außerhalb der Stadt gebaut. Der See war in der Ferne gerade noch erkennbar, umrandet von den allgegenwärtigen Bergen.

»Das hier ist einfach Wahnsinn«, sagte Hadley und breitete die Arme aus. Sie erzählte Kristina davon, im letzten Frühjahr die Broschüre in den Händen der arroganten Carla entdeckt zu haben. Und dass die Wirklichkeit ganz genau so aussah, besser sogar.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich hierherkommen würde«, sagte sie. »Es fühlt sich an wie ein Traum.«

»Dann sorgen wir besser dafür, dass es ein guter ist.« Kristina schob ihren Arm unter den von Hadley. Sie liefen weiter, Kristina groß und schlank wie eine Lilie, das Haar hinter ihr im Wind wehend wie eine Brautschleppe. Neben ihr kam Hadley sich mit ihren kurzen Haaren so jungenhaft vor.

Ohne jemals vorher dort gewesen zu sein, schien Kristina sich auf dem Unigelände auszukennen. Im Gehen knabberte sie an einem Apfel und warf das Gehäuse lässig in einen Rhododendronstrauch, ohne ihren schnellen Redestrom zu unterbrechen. Sie studierte Kunstgeschichte und kannte bereits die Namen all ihrer Dozenten. Sie sprach über ihre Vorliebe für die Romantiker, geckenhafte junge Männer in bauschigen Blusen, die Bilder von unübertroffener Schönheit malten, und es klang bei ihr, als würde sie das Leben der Künstler kennen, als hätte sie selbst in Seide gehüllt auf einem Bett gelegen und wäre wunderschön und aus jedem Winkel gezeichnet worden. Einen Moment lang stellte Hadley sich vor, selbst Dozentin zu sein und sie im Kurs zu haben. Sie wäre diejenige, deren Blick man suchen, auf deren Seminararbeiten man sich schon freuen würde, deren Sprechstunden länger dauern würden als die aller anderen.

»Was ist dein Lieblingsbuch von allen Büchern der Welt, Hadley?«, wechselte sie ganz ungezwungen das Thema.

Sie befanden sich auf einem erhöhten Abschnitt des Fußwegs, von dem aus ein breiterer Streifen See sichtbar war. Er sah flach wie ein Spiegel aus und lud zur Reflexion ein. Hadley dachte über die Frage nach. Im Sommer hatte sie In einem andern Land von Hemingway gelesen, als Vorbereitung auf einen Kurs in amerikanischer Geschichte, den sie belegen wollte. Sie hatte es eines Tages im Bus beendet und war so in den Roman vertieft gewesen, dass sie ihre Haltestellte verpasste. Draußen hatte es geregnet, genau wie im Buch, und als sie auf den letzten Seiten geweint hatte, waren die Tränen auf ihren Wangen ein exaktes Abbild der Tropfen gewesen, die an der Scheibe hinabrannen. Das erzählte sie Kristina.

»Der gute alte Hemingway! Wer hätte das gedacht?«

»Und es endet hier in Lausanne. Das wusste ich gar nicht, als ich angefangen habe, ich konnte es kaum fassen.«

»Ehrlich? Das ist romantisch.«

»Es ist nicht romantisch, einfach nur sehr, sehr traurig«, sagte Hadley, aber Kristina war schon wieder weiter. Die Cafeteria lag vor ihnen, und bald saßen sie zwischen den leeren Tischen, aßen schokoladengefüllte Croissants und stießen mit Kaffee auf ihren Status als offizielle Studentinnen an.

»Wir müssen heute Abend ausgehen und feiern«, sagte Kristina und stellte klappernd ihre Tasse ab. »Daran führt kein Weg vorbei. Faire la fête, wie man auf Französisch sagt.«

»Faire la fête«, wiederholte Hadley. »Das klingt nett. Aber die Kneipe, in der wir gestern waren, war furchtbar. Weniger schweizerisch ging es gar nicht.«

»Ich weiß, wohin wir gehen können«, sagte Kristina. »Wir müssen nur Leute finden, die uns die Getränke spendieren.«

»Teuer?«

»Aber wunderschön.«

Später am Tag hatten sie in der Küche in Les Ormes besprochen, wie der weitere Abend gestaltet werden sollte. Bei der Gelegenheit hatten die anderen auch zum ersten Mal Kristina gesehen. Brunos Augen hatten lüstern geflackert, Chase hatte genauso interessiert oder desinteressiert gewirkt wie bei jedem anderen, und Jenny war unwillkürlich beinahe zurückgewichen, als machte Kristinas gutes Aussehen sie verdächtig. Kristina hatte das Hôtel Le Nouveau Monde vorgeschlagen, befürwortet von Hadley, aber Jenny und Bruno stimmten erneut für das Mulligan’s. Sie klammerten sich daran, wie Menschen das manchmal in einer fremden Stadt taten, mit übertriebener Vertrautheit und Freude am raschen Einführen einer Routine. Chase schwankte zwischen den beiden Gruppen, aber letzten Endes nahm Jenny ihn am Arm und zog ihn auf ihre Seite, eine Geste, die den Ansatz eines Lächelns in seine Mundwinkel zauberte. Niemand legte Einspruch gegen die Aufspaltung ein.

Es war zwar ein warmer Abend, einer der letzten Sommertage, doch die fernen Berge wirkten zusammengekauert und finster, ein Gewitter kündigte sich an. In der Luft wimmelte es von kleinen Fliegen. Auf dem Weg zum See fanden Hadley und Kristina eine Bar bei der Kathedrale, deren Tische auf Stufen aufgestellt waren, mit Blick auf einen Flickenteppich von Dächern. Sie tranken Cocktails, die hohen Gläser randvoll mit Eiswürfeln und Zitronenvierteln, und kicherten über den Kellner, der jedes Mal zwinkerte, wenn er ihre Getränke vor ihnen abstellte.

»Ich kann nicht das ganze Jahr so weitermachen«, sagte Hadley. »Sonst bin ich ständig betrunken und pleite.«

»Das ist mein erster Abend und erst dein zweiter. Wir feiern. Was ist, warum grinst du so?«

Hadley schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ich komme mir halb wahnsinnig vor. Ich bin glücklich, sonst nichts. Ich bin wirklich, wirklich glücklich.«

»Gut. Glücklich mögen wir«, meinte Kristina. »Glücklich ist gut.« Ihre Augen glitzerten, und um ihre Lippen spielte ein cocktailsüßes Lächeln. »Komm schon, auf zum See. Das Hôtel Le Nouveau Monde wartet.« Das sagte sie mit einem überschwänglichen französischen Akzent, und Hadley wiederholte die Worte wie einen Zauberspruch.

Unter lautem Gehupe rannten sie über die Straße, wichen knapp einem Sportwagen-Cabrio mit dröhnendem französischen Techno aus. Als sie schließlich den See erreichten, ging die Sonne gerade in einem weichen rosa-silbernen Schein unter, und das Wasser war gesprenkelt wie der Bauch einer Forelle. Einen Moment lang standen sie nur da und staunten.

»Gott, ist das schön«, sagte Hadley.

»Nein.« Kristina zog an ihrem Arm. »Das ist schön.«

Das Hôtel Le Nouveau Monde war hochzeitstortenweiß, geziert von schmiedeeisernen Balkonen und abgerundet mit orangefarbenen Markisen. Auf dem Dach stand in einen Meter hohen Buchstaben der Name, wie die altmodische Neonschrift auf Pariser Dächern, ein Hauch von Prahlerei in einer ansonsten dezenten Fassade. Hadley konnte sich ungefähr vorstellen, was für Leute in einem solchen Hotel wohnten: Filmstars, leichtlebige Liebespaare, wunderbar kratzbürstige alte Damen, die das Erbe ihrer Kinder verprassten. Das Gebäude wirkte so zurückhaltend, so solide, wo es doch eigentlich von der Energie all der darin enthaltenen Leben hätte pulsieren müssen. Die Flaggen hätten um ihre Masten kreiseln, die Fensterläden flattern müssen.

»Ein gutes Hotel ist das Vollkommenste auf der Welt«, sagte Kristina träumerisch.

»Ich glaube nicht, dass ich schon jemals so richtig in einem war«, sagte Hadley.

»Dann müssen wir das dringend ändern.«

»Aber es ist so vornehm, da können wir doch nicht einfach reinspazieren, oder?«

»Doch, natürlich. Es gibt immer eine Bar.«

»Aber wie ich angezogen bin«, sagte Hadley. Sie trug einen ihrer Secondhandladen-Funde, ein dünnes kornblumenblaues Kleidchen und dazu eine übergroße Männerstrickjacke, die ihr bis auf die Oberschenkel reichte. An den Füßen trug sie abgewetzte weiße Stoffturnschuhe. »So lassen die mich nie rein.«

»Und wie sie dich reinlassen werden«, sagte Kristina. »Wir müssen nur lächeln. Und so aussehen, als gehörten wir dazu.«

»Tja, der erste Teil ist einfach.«

Die Gäste des Hôtel Le Nouveau Monde hatten die Art von Selbstvertrauen, die, wie Hadley annahm, nur mit großem Wohlstand einherging, diese nie angezweifelte Überzeugung, dass die Welt und alles darin einem gehörte. Eine Minute lang standen Hadley und Kristina in der Bar und sahen sich um. Neben dem zugeklappten Flügel saß eine Frau in einem pechschwarzen Cocktailkleid, kühl wie eine ägyptische Katze. Auf einem Sofa umarmte sich ein Paar, das warme Licht einer Tischlampe brachte die zusammenpassenden Rotgold-Töne in ihrem Haar zur Geltung. Kristina nahm Hadley an der Hand und führte sie in den Nebenraum, wo eine Jazzband spielte, leise, aber vernehmbar. Riesige Spiegel mit Goldrahmen ließen den Raum endlos erscheinen. Die Barhocker waren von einer Gruppe von Männern besetzt, deren Rasierwasser wie eine Wolke in der Luft hing. Aus ihren Ärmeln blitzten die dicken Zifferblätter teurer Uhren, und wenn sie die Beine übereinanderschlugen, zeigten die Spitzen ihrer lederbesohlten Schuhe nach außen. Hadley bemerkte, dass die Männer sich mit unverhohlener Bewunderung zu Kristina umdrehten.

»Ich bin nicht sicher, ob ich hier richtig bin«, flüsterte sie, aber Kristina war schon auf dem Weg zur Theke, wo sie sofort von den anwesenden männlichen Gästen umringt wurde.

»Hadley, was willst du trinken?«, rief sie über die Schulter, ihr selbst war bereits ein Martiniglas in die Hand gedrückt worden, und einer der Männer steckte ihr ein Cocktailschirmchen ins Haar. Sie warf den Kopf zurück und lachte. Hadley lächelte und drehte sich um, dabei begegnete sie dem Blick eines älteren Mannes, der allein an einem Tisch in der Ecke saß. Sie behielt ihr Lächeln, und er erwiderte es.

»Bis vor etwa einer Stunde waren das noch typische Schweizer Männer«, sagte er. »Es ist recht unglaublich, eine solche Verwandlung mit eigenen Augen zu sehen. Ihre Freundin ist die Erste, die ihrem angeheiterten und etwas unverfrorenen Charme erliegt. Ob Sie wohl die Zweite sein werden?«

Seine Stimme war leise und klangvoll, sein Englisch sehr exakt, mit französischem Akzent, und er sprach übertrieben langsam, als hätte er alle Zeit der Welt.

Hadley schüttelte den Kopf. »Nicht mein Typ«, sagte sie immer noch lächelnd.

»Und das ist auch gut so«, entgegnete er. »Ich fürchte, die Herren werden weniger lustig sein, wenn sie morgen wieder in ihren Sitzungssaal zurückkehren. Ihre Fröhlichkeit ist so beständig wie die Eiswürfel in ihren Gläsern.«

Seine gebräunte Haut war an den Wangenknochen glatt, die Augen braun und rund wie Kastanien, und sein silbriges Haar war akkurat gekämmt, wodurch er sehr gepflegt wirkte.

»Wie lange beobachten Sie die schon?«, fragte Hadley.

Der alte Mann wiegte den Kopf hin und her, als hätte sie eine scharfsinnige Bemerkung gemacht.

»Mein ganzes Leben, würden manche sagen. Mein ganzes Leben.«

Er machte den Eindruck eines Voyeurs, denn obwohl er in der Hotelbar ganz und gar zu Hause wirkte, strahlte er eine Distanziertheit aus. Seine Augen funkelten amüsiert, ein Blick, den Hadley sofort erkannte.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte er.

»Oh, nein. Danke, aber ich besorge mir selbst etwas.«

»Hier.« Er hielt ihr sein Glas hin. »Riechen Sie mal. Und dann sagen Sie mir, dass ich Sie nicht in Versuchung führen kann.«

Hadley nahm das Glas und schnupperte daran. »Riecht stark«, sagte sie. »Was ist das?«

»Einer der besseren Kognaks, die ich bisher gekostet habe. Und wenn Sie mich kennen würden, wüssten Sie, dass das ganz schön etwas heißt.«

»Ich bin eigentlich keine Kognaktrinkerin.«

»Sie sehen zu jung aus, um irgendeine Art von Trinkerin zu sein. Wie alt seid ihr Mädchen heutzutage? Ich bin außer Übung.«

»Also, ich kann natürlich nur für mich sprechen …«

»Mais oui …«

»Ich bin neunzehn.«

»Aber selbstverständlich. Ein perfektes Alter.«

Hadley warf einen Blick nach hinten zu Kristina und sah sie inmitten der Männer an der Theke. Es war, als wäre sie eine seltene Blume, über die eine Horde Botaniker in der Wüste gestolpert war. Sie drängten sich um sie, konnten ihre Entdeckung kaum fassen.

»Gehen Sie nur«, sagte der alte Mann. »Gesellen Sie sich dazu.«

»Offen gestanden habe ich gar keine Lust«, sagte Hadley.

»Das fällt mir schwer zu glauben.«

»Die interessieren sich sowieso nicht für mich.«

»Auch das mag ich nicht glauben. Wie heißen Sie?«

»Hadley.«

»Hadley, ich bin Hugo Bézier. Und ich bin entzückt. So sagen wir das auf Französisch. Enchanté. Viel romantischer als ›freut mich‹ oder ›angenehm‹, finden Sie nicht?«

Hadley streckte ihm die Hand entgegen, und er schüttelte sie mit einem unterdrückten Lächeln.

»In der Schweiz ist es üblich, sich drei Mal auf die Wange zu küssen«, sagte er.

»Was, sogar, wenn man sich nicht kennt?«

»Ich würde sagen, ganz besonders dann.«

Er schien ein echter Lausannois