Wir klagen an! - Madlyn Sauer - E-Book

Wir klagen an! E-Book

Madlyn Sauer

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Beschreibung

Im Mai 2017 fand das erste NSU-Tribunal parallel zum offiziellen Gerichtsverfahren am Schauspiel Köln statt – als eine Art Gegen-Prozess. Über drei Jahre hatte das Aktionsbündnis »NSU-Komplex auflösen!« gemeinsam mit den Betroffenen der NSU-Mord- und Anschlagsserie die Idee eines Tribunals entwickelt, das die versprochene »lückenlose Aufklärung« selbst in die Hand nimmt. Weitere Tribunale zur Aufarbeitung rassistischer und neonazistischer Gewalt folgten 2018 in Mannheim sowie 2019 in Chemnitz und Zwickau, am Entstehungsort des NSU. Insgesamt wurden über 130 Täter*innen und Verantwortliche im NSU-Komplex öffentlich benannt und angeklagt. Die Geschichten der Betroffenen machten die Kontinuität des Rassismus sichtbar. Die NSU-Tribunale sind Ausdruck des antirassistischen Kampfes für eine solidarische »Gesellschaft der Vielen«. Wir klagen an! zeigt, dass die Einberufung alternativer Tribunale auf eine beachtliche Geschichte verweisen kann. Bezugnehmend auf die Russell-Tribunale, das Kongo-Tribunal von Milo Rau und das Frauen-Tribunal des japanischen ›Violence Against Women in War Network‹ werden die Besonderheiten und Innovationen der NSU-Tribunale herausgestellt. Es handelt sich um die erste zusammenfassende Dokumentation zu den NSU-Tribunalen, welche Madlyn Sauer detailliert vorstellt, analysiert und mit anderen Beispielen der internationalen Tribunalpraxis vergleicht.

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Madlyn Sauer (*1989 in Erfurt) erforscht in ihrer Promotion an der Universität Zürich die weltweite Einberufung nichtstaatlicher Peoples’ Tribunals als eigenständige und vielfältige Gerechtigkeitspraxis. Zuvor studierte sie Bühnen- und Kostümbild sowie Angewandte Theaterwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Neben ihrem Doktorat ist sie als freie Autorin und Künstlerin tätig. Ihre Praxisschwerpunkte liegen in Gerechtigkeitspraktiken, Antirassismus und Dekolonialisierung. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Zürich.

Madlyn Sauer

NSU-Tribunale als Praxis zwischen Kunst, Recht und Politikherausgegeben von Massimo Perinellieine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Madlyn Sauer:

Wir klagen an!

NSU-Tribunale als Praxis zwischen Kunst, Recht und Politik

herausgegeben von Massimo Perinelli

eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung

www.rosalux.de/migration

1. Auflage, Dezember 2022

Die Drucklegung wurde finanziell gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

eBook UNRAST Verlag, April 2023

ISBN 978-3-95405-145-8

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

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Dieses Buch wird unter den Bedingungen einer Creative Commons License veroffentlicht: Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License. Nach dieser Lizenz dürfen die Texte für nichtkommerzielle Zwecke vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zuganglich gemacht werden unter der Bedingung, dass die Namen der Autor_innen und der Buchtitel inkl. des Verlags genannt werden, der Inhalt nicht bearbeitet, abgewandelt oder in anderer Weise verändert wird und er unter vollständigem Abdruck dieses Lizenzhinweises weitergeben wird. Alle anderen Nutzungsformen, die nicht durch diese Creative Commons Lizenz oder das Urheberrecht gestattet sind, bleiben vorbehalten.

Umschlag: cuore, Berlin

Satz: Andreas Hollender, Köln

»Ich freue mich, gemeinsam mit euch an etwas teilzunehmen, das als eine der größten Demonstrationen und Widerstände für die Freiheit der Betroffenen in die Geschichte eingehen wird.«[1]

İbrahim Arslan,

Überlebender des rassistischen Brandanschlags in Mölln

»Es ein Meilenstein, unbeugsam zu sein und gemeinsam mit den Opfern an- und einzuklagen! […]

Denn auch das Tribunal ist jetzt ein Teil einer Rache an den Nazis!«[2]

Esther Béjarano,

Überlebende und Zeitzeugin des KZ Auschwitz

»Die Kanzlerin hatte mir viel Hoffnung gemacht, das Gericht auch. Das alles ist weg. Das Tribunal gibt mir wieder Hoffnung.«[3]

Abdulla Özkan,

Betroffener des NSU-Nagelbombenanschlags auf die Kölner Keupstraße

»Ich wünsche mir von dem Tribunal, wenn das Gericht irgendwann mal zu Ende gehen sollte, dass wir nicht in Vergessenheit geraten. Dass an uns weitergedacht wird und dass es mit den Arbeiten weitergeht. Dass man versucht, diese Sachen irgendwie aufzuklären.«[4]

Osman Taşköprü,

Bruder von Süleyman T.

In Erinnerung an:

Überlebender des Rohrbombenanschlagsauf die Pilsbar Sonnenschein in Nürnbergam 23. Juni 1999

des Sprengstoffanschlags in der KölnerProbsteigasse am 19. Januar 2001

des Nagelbombenanschlags in der KölnerKeupstraße am 9. Juni 2004

Überlebender des Nagelbombenanschlags auf dieKölner Keupstraße. Er verstarb am 24. September 2017an den Spätfolgen des Anschlags.

der Raub- und Banküberfälle des NSUim Zeitraum von 2000 bis 2011

der seine geplante Ermordung durch den NSUam 25. April 2007 schwerst verletzt überlebte.Er war der Polizei-Kollege von Michèle Kiesewetter.

Abb. 1: Gruppenfoto vom NSU-Tribunal in Köln

Inhalt

Vorwort

Dank

Einführung

Beklagen

Trauermarsch »Kein 10. Opfer«

»Der Anschlag nach dem Anschlag«

Betroffenenperspektiven & migrantisch situiertes Wissen

Analyse: Erinnern heißt Kämpfen

Anklagen

Der NSU-Prozess

Das Tribunal als Gegen-Prozess

Die Kontinuität strukturellen Rassismus

Analyse: Anklagen heißt Verändern

Einklagen

We are the Future in the Present

Analyse: Verändern heißt Erinnern

Kein Schlussstrich!

Nachwort von Timo Glatz und Massimo Perinelli

Anhang

Quellenverzeichnis

Vorwort

Ich habe dem Tribunalbündnis NSU-Komplex auflösen und den vielen partizipierenden Betroffenen, Redner*innen und Initiativen auf den NSU-Tribunalen viel von meinem heutigen antirassistischen Denken und Handeln zu verdanken. Auf gewisse Weise haben sie mein politisches Denken vom Kopf auf die Füße gestellt – es gilt, die Kämpfe gegen Rassismus, Faschismus und Antisemitismus immer von den Opfer- und Betroffenenperspektiven aus zu denken und zu entwickeln. Denn wie İbrahim Arslan stetig sagt: »Die Opfer sind die Hauptzeug*innen des Geschehens.«

Erst im Sommer 2019 lernte ich die NSU-Tribunale kennen. Aus meiner Teilnahme am Chemnitzer Tribunal im November 2019 erwuchs in den letzten drei Jahren eine begeisterte und intensive Beschäftigung mit denselben. Die andere Seite, die mein Interesse an den NSU-Tribunalen aus analytischer Perspektive speist, kommt aus meinen Arbeiten zur weltweiten Einberufung nichtstaatlicher Tribunale im Rahmen meiner Promotion.

Mit dem vorliegenden Buch Wir klagen an! möchte ich den Organisator*innen, Gestalter*innen und Redner*innen der NSU-Tribunale etwas zurückgeben und erstmals eine umfassende Analyse der NSU-Tribunale, insbesondere des Kölner Tribunals anbieten und damit – so erhoffe ich mir – den Leser*innen neue Zugänge eröffnen.

Dank

Ich danke Massimo Perinelli, der dieses Buch überhaupt erst möglich gemacht hat, mir mit seinem Wissen und Engagement zur Seite stand und zusammen mit Timo Glatz ein Nachwort verfasst hat. Mein Dank gilt dem Unrast-Verlag für seine große Geduld und im speziellen Martin Schüring, Marc Müller und meiner Lektorin Marie Bickmann.

Vor allem möchte ich Mia Neuhaus danken, die mit mir anderthalb Jahre lang intensiv an diesem Buch arbeitete und mich mit ihrer Kreativität, Klarheit und ihrem Empowerment durch alle Schwierigkeiten meines Schreibprozesses lotste. Sie trug entscheidend zu diesem Buch bei. Ich danke Markus Mohr für seine große fachliche Expertise. Chana Dischereit, Hannah Zimmermann und Timo Glatz für ihre Reflektionen in den Kurzinterviews, Jasper Kettner für das Zurverfügungstellen seines gesamten Fotoarchivs zum Kölner NSU-Tribunal, dem Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen und darin Laura Frey, Aurora Rodonò, Ayşe Güleç sowie allen Initiativen und Personen für ihre Unterstützung, die Gespräche und die Bereitstellung von Text-, Video- und Bildmaterial. Mein Dank gilt Dîlan Karacadağ und Osman Oğuz für ihre Übersetzungsarbeit, Felix Hille für seine digitalen Bildbearbeitungen. Friederike Sigler danke ich für zahlreiche politische Gespräche während meines Kunststudiums, in denen sie mich u.a. mit den NSU-Tribunalen bekannt machte.

Vor allem danke ich meinen Freund*innen und meinen Mitbewohner*innen für ihre große Unterstützung und ihr Empowerment über meinen gesamten Schreibprozess.

Einführung

Vom 17. bis 21. Mai 2017 berief das AktionsbündnisNSU-Komplex auflösen! sein erstes Tribunal über fünf Tage am Schauspiel Köln ein.[5] In seiner zeitlichen Parallelität zum offiziellen NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München sowie zu den zahlreichen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (PUA) positionierte sich das Tribunal zum einen als Gegen-Prozess, andererseits ging es über seine Gegen-Position hinaus und forderte mit seiner Vision der Gesellschaft der Vielen einen radikalen gesamtgesellschaftlichen Wandel.

Das Aktionsbündnis kämpfte mit seinem Tribunal im Namen der Opfer und solidarisch an der Seite der Betroffenen und der Nebenklage im NSU-Gerichtsverfahren für die Aufklärung des NSU-Komplexes.

Über 3.000 Menschen kamen zusammen, um der Mordopfer Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter und der vielen Verletzten der drei Bombenanschläge zu gedenken, die das rechtsterroristische Netzwerk Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zwischen 1999 und 2011 verübt hatte. Die Idee eines Tribunals entstand zwei Jahre zuvor Anfang 2015, als absehbar wurde, dass auch der Münchener Gerichtsprozess die den Opfern und Betroffenen versprochene Aufklärung und Gerechtigkeit nicht einlösen würde.

Das Kölner NSU-Tribunal ist Teil der weltweiten Geschichte nichtstaatlicher Peoples’ Tribunals,[6] die von NGOs und zivilgesellschaftlichen Initiativen im Namen der Menschen- und Völkerrechte einberufen werden. Sie kämpfen als Teil der globalen Gerechtigkeitsbewegungen mit juristischen Mitteln gegen die weltweit vorherrschende Straflosigkeit staatlicher und militärischer Gewalt und für die offizielle Anerkennung der Opfer und Betroffenen. Hierzu gehören u.a. das Vietnam-Tribunal von 1966-67,[7] das Tokioter Frauen-Kriegsverbrechertribunal 2000,[8] das Internationale Iran-Tribunal 2012,[9] das Kongo Tribunal 2015/2017,[10] das Welttribunal zum Irak 2005[11] sowie die insgesamt 49 Sitzungen des 1979 gegründeten und in Rom ansässigen Permanent Peoples’ Tribunal.[12]

Neben diesen großen internationalen Organisierungen gibt es zahlreiche weitere inländische, lokalere und community-basierte Tribunale. Bezogen auf Deutschland wären hier die vier Tribunale im Rahmen des Frankfurter Häuserkampfes zu erwähnen:[13] Das Spekulantentribunal 1971, das Tribunal gegen Spekulation und Profitgier an der Goethe-Universität 1972, das Tribunal an der Hauptwache 1973 und der Prozess Häuserrat gegen Magistrat 1974.[14] Weiterhin gehören dazu das Tribunal gegen Folter von Frankfurter Sponti-Gruppen im März 1974[15] und das Internationale Flüchtlingstribunal gegen die Bundesrepublik Deutschland im Juni 2013, organisiert vom Refugee-Netzwerk KARAWANE im Rahmen der Oranienplatzbesetzung.[16] Auch das Kölner NSU-Tribunal 2017 und die daraufhin entstandenen weiteren NSU-Tribunale in Mannheim 2018, in Chemnitz/Zwickau 2019 und in Nürnberg 2022 zählen zu den inländischen und lokaleren Interventionen.[17]

In den letzten 50 Jahren und insbesondere im 21. Jahrhundert hat sich die weltweite Einberufung von Peoples’ Tribunals als eine eigenständige politische Protest-, Rechts- und Gerechtigkeitspraxis etabliert. Sie dienen einander als Vorbilder und Modelle, sie verweisen aufeinander und setzen sich miteinander in Beziehung. Mit ihren kreativen, kritischen und emanzipatorischen Formaten, Rechtsentwürfen und Konzepten partizipieren nichtstaatliche Tribunale an der globalen Rechtskreation, re-politisieren, demokratisieren und dekolonialisieren internationales Recht.[18] So finden wir in der weltweiten Tribunalpraxis ein vielfältiges, heterogenes und alternatives Wissen vom Recht, von Gerechtigkeit und Anerkennung vor.

Zur Eröffnung des Kölner NSU-Tribunals kontextualisierte die Anthropologin Chowra Makaremi das Tribunal in der weltweiten Praxis und Geschichte zivilgesellschaftlichen Recht-Sprechens.[19] Anstatt jedoch ihre Einordnungen wiederzugeben, werde ich teilweise an ihre Analysen anknüpfend eigene Kontextualisierungen vornehmen.

Nach Chowra Makaremi konstituieren sich Peoples’ Tribunals a) wenn Gerichte und Gesetze fehlen, um Gerechtigkeit zu üben, oder b) wenn Gerechtigkeit und politischer Willen fehlen, die vorhandenen Gesetze entsprechend anzuwenden.[20] Tribunale kreisen, so Makaremi, um die große Frage: Wie können durch das Recht, aber außerhalb von offiziellen Rahmungen, verschiedene Gewalt- und Unrechtserfahrungen als Verbrechen qualifiziert und in öffentliches Wissen und Anerkennung umgewandelt werden?[21]

Die meisten NGO-Tribunale beantworten diese Frage mit der Idee der Strafgerechtigkeit (Retributive Justice) in der Tradition des prominenten Vietnam-Tribunals, einberufen vom Friedensaktivisten Lord Bertrand Russell, auf dem noch während des Vietnamkriegs die USA ihrer Kriegsverbrechen und des Genozids an der vietnamesischen Bevölkerung öffentlich angeklagt wurden.

Zur Eröffnung des Vietnam-Tribunals bestimmte Jean-Paul Sartre als damaliger Exekutivpräsident die Intervention darin, die Nürnberger Idee der Völkerrechte und den Nürnberger Militärgerichtshof als erste supranationale Gerichtsbarkeit als »[…] ›revolutionäres Tribunal‹ neu entstehen [zu lassen], das von den Massen eingesetzt und auf Antrag der Völker über die Staatsoberhäupter zu Gericht sitzen würde.«[22]

In einem Akt zivilen Ungehorsams klagte die prominente Geschworenenjury die USA mit denselben Rechtsinstrumenten an, die sie federführend zur Verurteilung der Verbrecher*innen Nazi-Deutschlands entwickelt hatten.[23]

Das Vietnam-Tribunal hatte zwei Ziele: 1) Die Notwendigkeit eines ständigen Gerichts aufzuzeigen, welches »überall und zu jeder Zeit« die Kriegsverbrechen aller Staaten zur Anklage bringt, und 2) durch die Skandalisierung im juristisch-diskursiven Rahmen eines Kriegsverbrecherprozesses den Vietnam-Krieg zu beenden.[24] Zu diesem Zweck entwickelten die Organisator*innen eine streng formelle Verfahrensprozedur, die der Öffentlichkeit beweisen sollte, dass »das Gesetz auf ihrer Seite« sei.[25] Das legalistische Modellverfahren umfasste: die Formulierung untersuchungsleitender Fragen, die Bildung nationaler und internationaler Komitees, das Tagen in mehreren und zeitlich versetzten öffentlichen Hearings in verschiedenen Städten. Vor einer Geschworenenjury wurden formell Zeug*innen angehört und Gutachten externer Sachverständiger präsentiert. Zusätzlich entsandte das Tribunal eine internationale Kommission ins vietnamesische Kriegsgebiet, um Beweisstücke zu sichern, den Krieg zu dokumentieren und weitere Zeug*innenaussagen vor Ort aufzunehmen. Am Ende der Sitzungen verkündete und publizierte die Jury ihre Urteile und Beschlüsse. Über 100 Simultandolmetscher*innen und Stenograf*innen übersetzten die Verhandlungen in fünf Sprachen.

In den Folgejahren hatte das Vietnam-Tribunal einen enormen Einfluss. Auf Initiative des italienischen Anwalts und Politikers Lelio Basso folgten zwei weitere Russell-Tribunale.[26] Ebenfalls auf seine Initiative gründete sich 1979 in Rom das Permanent Peoples’ Tribunal (PPT), in dem sich bereits 20 Jahre vor der Gründung des Den Haager Internationalen Strafgerichtshof im Jahr 2002 die Vision eines ständigen Gerichts für schwere Menschen-, Völkerrechts- und Kriegsverbrechen zivilgesellschaftlich materialisiert. Als im Jahr 1993 erstmals seit den Nürnberger Prozessen erneut ein supranationaler Adhoc-Gerichtshof, das UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY), gebildet wurde, hatten bereits 22 nichtstaatliche Prozesse des PPT und der Russell-Tribunale zu verschiedenen Menschen-, Völkerrechts- und Kriegsverbrechen weltweit getagt.[27]

Seither ahmen NGOs und politische Initiativen in Tradition der legalistischen Methodik der Russell-Tribunale trotz ihrer Unabhängigkeit von staatlichen Mandaten rechtsstaatliche Prinzipien und strafprozessuale Verfahren nach. Qua ihrer Existenz weisen Peoples’ Tribunals das allgemein sehr weit verbreitete Verständnis zurück, dass das Recht ausschließlich dem staatlichen Gewaltmonopol vorbehalten wäre.

In ihren gegenhegemonialen Inanspruchnahmen des internationalen Rechts knüpfen sie an die positive und befreiende Wirkung und Bedeutung des Rechts als »dem demokratisch legitimierte Mittel« par excellence zum Abbau von Unrecht an.[28] Hierin zeigt sich die Doppeldeutigkeit des englischen Begriffs »Justice« als Gerechtigkeit und Justiz am deutlichsten.

Der positive Effekt ist, dass sich in der korrekten Anwendung gültiger Rechtsstandards zeigt, welche realen Verwirklichungen der Grundrechte bereits heute möglich wären, wenn ein gemeinsamer politischer Wille vorhanden wäre. Genau hierin erkenne ich das transformative Potenzial, das allen nichtstaatlichen Tribunalen eigen ist.[29]

So klagen sie in ihrem politisch viel breiteren Verständnis von Menschen- und Völkerrechtsverbrechen auch andere Formen individueller, struktureller oder kollektiver Ausgrenzung, Ausbeutung und Marginalisierung als Unrecht an und benennen Verantwortliche, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht vor staatlichen Gerichten wie dem Internationalen Gerichtshof, dem Internationalen Strafgerichtshof oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verantworten müssen.[30]

Dabei nehmen sie eine relevante Rolle darin ein, »die Selektivität des internationalen Strafrechts zu beleuchten«,[31] und beteiligen sich am Kampf der Universalisierung der Menschen- und Völkerrechte.[32] So versteht Luís Moita Peoples’ Tribunals nicht im traditionellen Sinne strafender Instanzen, ohnehin können sie ihre Urteile nicht durchsetzen, für ihn sind sie »Wächterinnen der Menschenwürde«, die mit ihren legalistischen Interventionen das öffentliche Bewusstsein für die Verletzungen von Rechten schärfen.[33]

Politische Macht wird in Tribunalen nicht über offizielle Befugnisse, sondern über die Schaffung von Gegen-Öffentlichkeiten und über die Beeinflussung der öffentlichen Meinungsbildung erzeugt. Hieraus leitet sich auch ihre synonyme Bezeichnung als Meinungstribunale, im Englischen als Opinion Tribunals, ab. In ihrer klaren politischen Positionierung und ihrer Absicht, öffentlich Einfluss zu nehmen, sind nichtstaatliche Tribunale fast immer mit dem Vorwurf der politischen Einseitigkeit oder eines moralisierenden und pädagogischen Untertons konfrontiert.[34] Kritiker*innen leiten aus solchen Argumenten eine Unrechtmäßigkeit ab und versuchen diese politischen Interventionen zu diskreditieren. Interessanterweise beziehen Tribunale gerade aus diesen Polarisierungen zwischen rechtmäßig vs. unrechtmäßig, formell vs. informell, legal vs. illegal und objektiv vs. subjektiv ihre politische Stärke und können als gegenhegemoniale Räume einen großen Einfluss auf die Gesellschaft entfalten.

Sie verstärken die öffentliche Sichtbarkeit und Hörbarkeit marginalisierter Opfer und Betroffener des verhandelten Unrechts, indem sie ihre Stimmen lauter drehen. Somit geht es in Tribunalen, wie Chowra Makaremi in ihrer Eröffnungslecture herausstellte, nicht darum, den Betroffenen und Opfern »eine Stimme zu geben«, sondern das aktive Weghören und Nicht-Hören-Wollen – auch als Hegemoniales Hören bezeichnet – zu beenden.[35]

Das zentrale Anliegen der Tribunale, Anerkennung und Gerechtigkeit für die Opfer von Gewalt nach (Bürger-)Kriegen, Revolutionen, Völkermorden, Massakern, gewaltvollen Regimen und Diktaturen auf staatlicher Ebene herbeizuführen, ist Kernbestandteil der sogenannten Transitional Justice, der »Übergangsgerechtigkeit«.[36] Transitionelle Gerechtigkeits-Prozesse sind langwierige und nachhaltige Übergänge, die nach gewaltsamen Regimen, Kriegen etc. von der internationalen Staatengemeinschaft initiiert und gestaltet werden, an denen sich aber auch zivilgesellschaftliche Initiativen mit eigenen Verfahren beteiligen. Einerseits soll den Opfern und Betroffenen Anerkennung und Gerechtigkeit gezollt, andererseits die historische, politische, juristische, epistemische und symbolische Vergangenheitsaufarbeitung gestaltet werden, die als Grundlage für ein friedliches und demokratisches Zusammenleben verstanden wird. Als eine Art Konglomerat umfasst Transitional Justice mittlerweile über 800 verschiedene und standardisierte Maßnahmen,[37] die grob in drei große Gerechtigkeitsideen unterteilt werden können: Retributive Justice (Strafgerechtigkeit), Restorative Justice (Wiedergutmachungsgerechtigkeit) und Transformative Justice (Transformative Gerechtigkeit).

Die Einberufung zivilgesellschaftlicher und staatlicher Tribunale (internationale Adhoc-Gerichtshöfe) gehören im Rahmen der Übergangsgerechtigkeit zu den öffentlichkeitswirksamsten und auch traditionellsten Maßnahmen. Strafverfahren, ob staatlich oder zivilgesellschaftlich initiiert, sind das in der westlich-europäisch geprägten Rechtstradition traditionellste Instrument, Gerechtigkeit zu üben.[38] Straflosigkeit wird hierbei beendet, indem die Verantwortlichkeit für das Verbrechen oder das Unrecht justiziell bezüglich einzelner Personen auf Grundlage des Völkerstrafrechts festgestellt wird und dadurch ein abschreckender Effekt zur Prävention künftiger Gewalt und Verbrechen entstehen soll.[39]

Restorative Justice hingegen versteht Gerechtigkeit und Anerkennung als Wiedergutmachung, Transformation, Heilung, Versöhnung und Menschlichkeit und ist nach der Aktivistin und Restorative Justice-Praktikerin Rehzi Malzahn Teil eines indigenen, nicht-westlichen Erbes einer Gewalt- und Konfliktbewältigung, die ganzheitlich, inklusiv, bedürfnisorientiert und gemeinschaftsorientiert ist.[40] Hier wären beispielsweise die präkoloniale und afrikanische Lebensphilosophie ubuntu oder das hawai’ianische aloha zu nennen.

Diese traditionell-indigenen Praktiken und Verfahren werden seit den antikolonialen Befreiungskämpfen der 1960er Jahre von den First Nations und diasporischen Communitys als Praxen der (Selbst-)Dekolonialisierung vom westlichen Denken der Strafjustiz wiederentdeckt.[41]

Restorative Justice ist nicht nur eine Praxis, Lebensphilosophie und Tradition, sondern auch eine soziale und politische Bewegung. Sie entstand Anfang der 1970er Jahre einerseits aus den »Verwestlichungen« indigenen Wissens, andererseits aus den kritischen Überlegungen Michel Foucaults, Angela Davis’ und der abolitionistischen Schwarzen Bewegung in den USA.[42]

Fordert die westliche Restorative Justice-Bewegung in ihrer radikalsten und ursprünglichsten Form um den Pionier Howard Zehr die Transformation der westlich geprägten Idee von Schuld und Strafe, gibt es auch weniger radikale Positionen, die sich mit Fragen einer opferzentriert gestalteten Justiz befassen.[43] Wichtig ist, dass restaurative Praktiken vor allem nach interpersonellen Schaden wie sexualisierter Gewalt, Partner*innengewalt oder Eigentumsdelikten zur Anwendung kommen.

Bezüglich der Gestaltung einer opferzentrierten Justiz wurden Wiedergutmachungspraktiken auch im internationalen Rahmen der Übergangsgerechtigkeit angewandt, beispielsweise in Chile, Argentinien oder auch Südafrika. Dadurch wurden lokale und diasporische indigene Praktiken in internationales Recht eingespeist, genormt und darin »verwestlicht«, d.h. von »ursprünglichen Wissen und Weltzugängen« entkoppelt.[44]

Das öffentlichkeitswirksamste Restorative Justice-Verfahren im Rahmen transitioneller Gerechtigkeit ist die Einrichtung von Wahrheitskommissionen, eine der bekanntesten ist die südafrikanische Truth und Reconciliation Commission (TRC). Sie wurde 1994 nach dem Ende des Apartheid-Regimes vom Präsidenten Nelson Mandela einberufen und knüpfte mit ihrem Ausruf »The Truth heals« an das präkoloniale afrikanische Konzept ubuntu an.[45]

Weitere restaurative Praktiken im Rahmen von Übergangsgerechtigkeit wären verschiedene Dialogformate, Gedenken, Mahnmäler, die Schaffung von Archiven und Museen, Entschädigungen und öffentliche Rehabilitierungen.[46]

Die Jura-Professorin und Mitbegründerin des Dignity Rigths Projects Erin Daly legt in ihrem Artikel »Das Konzept der Würde« dar, dass transitionelle Gerechtigkeit davon ausgeht, dass die Aufarbeitung und damit verknüpft ein neues Verständnis der Vergangenheit der beste Wege sei, um die Wiederholung des Unrechts zu verhindern und den Grundstein für eine friedliche Zukunft zu legen.[47] Nach ihr können die Übergangsverfahren wie die Einrichtung von Wahrheitskommissionen, Tribunalen, Erinnerungsstätten, Archiven und Museen »helfen zu lernen, wie wir niemals vergessen werden«.[48] Sie können helfen zu verzeihen, zu erziehen, zu lehren – in erster Linie jedoch, »eine neue Seite aufzuschlagen, sprich einen Schlussstrich zu ziehen«.[49] Die Restorative Justice-Praktikerin Fanis E. Davis zeigt in ihrem Buch The little Book of Race and Restorative Justice auf, dass Anerkennungspraktiken, ob im Sinne der Straf- oder Wiedergutmachungsgerechtigkeit, die nicht transformativ, sondern paternalistisch praktiziert werden, selbst Teil gewaltvoller Strukturen und Institutionen sein oder in ihnen existieren können und darin den Betroffenen weiterhin Schaden zufügen.[50]

Transformative Gerechtigkeit (TJ) als die dritte große Gerechtigkeitsidee versteht Gerechtigkeit und Anerkennung systemisch und strukturell und fokussierte darin jene tieferliegenden Ebenen des Unrechts, die überhaupt erst zu dem Verbrechen oder dem Konflikt geführt haben. Transformative Gerechtigkeit zielt auf einen radikalen Wandel aller gesellschaftlichen Bereiche ab. Es geht nicht um einen Abschluss, sondern um einen Anfang: sich als Gesellschaft kreativ und radikal die Frage zu stellen, wie eine für alle Menschen (und alle Lebewesen) auf Würde basierende bestmögliche Zukunft aussieht, und diese Ideen in die Tat umzusetzen.[51] Transformative Gerechtigkeitsideen sind Zukunftsideen. Sie sind eine politische Haltung und eine radikal-demokratische und solidarische Praxis.

In ihrer Kölner Eröffnungslecture zur Weltgeschichte der Peoples’ Tribunals betonte Chowra Makaremi, dass das Kölner Tribunal aufgrund seiner besonderen Kreativität im Kontrast zur starken legalistischen Tradition neue Wege ging.[52] An ihr Resümee anknüpfend zeichnet dieses Buch eine Möglichkeit nach, diesen »neuen Weg« in der Verwobenheit der retributiven, restaurativen und transformativen Gerechtigkeitsideen nachzuzeichnen. Das Kölner NSU-Tribunal lotete wie kein anderes zivilgesellschaftliches Tribunal zuvor radikal und kreativ die Grenzen seines historischen Spielraums als Strafprozess neu aus. So begegnet uns mit dem NSU-Tribunal nicht nur ein völlig neues Format, sondern auch eine ganz neue Idee, was ein Tribunal außerhalb von Strafgerechtigkeit und der Logik der Vergeltung alles sein kann.

Auch ohne dass die Tribunalorganisator*innen selbst von den drei Gerechtigkeitskonzepten sprachen, können wir sie in der besonderen Methodik des Kölner Tribunalkonzepts finden: in dem Dreiklang aus Beklagen, Anklagen und Einklagen. Die Trias durchzog alle inhaltlichen, strukturellen und gestalterischen Ebenen, von den Tagesslogans bis hin zu neu konzipierten Sprechpositionen. Diese Verwebung ermöglichte gleichzeitig Haltungen, die eigentlich zueinander im Widerspruch stehen: Neben der für Tribunale klassischen Anklage der Täter*innen bot das Beklagen Ruhe, Trauer und ein Erinnern an jene Menschen, die von der rassistischen Gewalt getötet oder verletzt und traumatisiert wurden. In einer dazu fast schon gegensätzlichen Haltung bedeutete das Einklagen ein gegenseitiges Anerkennen und Empowern sowie ein – trotz aller Frustrationen, Schmerzen und Niederlagen – Würdigen und Zelebrieren des bereits Erreichten und Geschaffenen, der historisch gemeinsam erkämpften Migrationsgesellschaft.

Das NSU-Tribunal rief aus: »Zuhören ist eine politische Tat!« und war ein außergewöhnliches Beispiel dafür, wie dem politischen Schweigen im NSU-Komplex ermächtigend und empowernd begegnet werden kann. Den Betroffenen des NSU-Komplexes eine öffentliche Plattform zu bieten, auf der sie frei und selbstbestimmt über sich selbst sprechen können, war Ausgangspunkt und Motivation, ein eigenes Tribunal einzuberufen.[53]

Das Tribunalbündnis entwickelte ein transdisziplinäres Multi-Format ästhetischer Praktiken des Sprechens, Zuhörens und Zeigens und verwandelte darin das Schauspiel Köln in einen Ort der Zeugenschaft zum NSU-Terror und stellte neben der rechten und rassistischen Gewalt in Deutschland die Geschichte der Migration und die Gegenwart (post-)migrantischen und diasporischen Lebens heraus.

Im Gegensatz zu den meisten NGO-Tribunalen nutzen die Initiator*innen kein gerichtsähnliches Setting, sondern entwickelten ein Programm aus insgesamt 38 Veranstaltungen, darunter acht Hauptveranstaltungen, 19 Workshops, vier Theaterstücke, sechs Plakat-, Raum- und Videoinstallationen, vier Konzerte sowie mehrere Interventionen, und ließen das Tribunal mit einem Trauermarsch in Anlehnung an die berühmten afroamerikanischen Jazz Funerals der US-Südstaaten am Sonntag auf der Keupstraße enden.[54]

Die einzelnen Programmslots verwiesen eher assoziativ aufeinander und bildeten im Gegensatz zu juristischen Anklagen keine lineare Erzählung. Das Programm verdichtete sich in der Gegen-Anklageschrift des NSU-Tribunals, die als einer der Höhepunkte am Samstagabend öffentlich verlesen wurde. Hierfür zogen die Organisator*innen alles öffentlich verfügbare Material zum NSU-Komplex heran und stellten sich der großen Herausforderung, im vierten Jahr des Münchener NSU-Prozesses die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit und Empathie für die Opfer (neu) zu erwecken. Vom juristisch formulierten Beweisantrag der Nebenklage über wissenschaftliche Gutachten des zivilgesellschaftlichen Forschungsinstituts Forensic Architecture über das Gedicht »Mein Name ist Ausländer« der türkeistämmigen Dichterin Semra Ertans bis zum Konzert der Hip-Hop-Gruppe Microphone Mafia nutzten die Gestalter*innen sehr verschiedene Sprachlichkeiten und Erzählweisen.

Das Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen berief sein Tribunal in direkter Nachbarschaft zur Keupstraße, im Kölner Schauspiel-Depot auf dem Carlswerk-Gelände ein. Das Depot fungierte als Zentrum des Tribunals. Hier fanden die zentralen Veranstaltungen statt. Die zahlreichen Workshops wurden an verschiedenen Orten in Köln, darunter in Cafés und Projekträumen, zumeist in Mülheim, aber auch in anderen Stadtteilen wie Deutz und in der Altstadt veranstaltet.[55] Der Tagungsort war in dieser unmittelbaren Nähe zur Keupstraße als einem der NSU-Tatorte und gleichzeitig als dem Geburtsort des Aktionsbündnisses selbst hoch symbolisch. Eine dritte Bedeutungsebene ergibt sich aus der Historie des Carlswerks. Im System der sogenannten »Gastarbeit« beschäftigte die ehemalige Drahtseilfabrik unter ausbeuterischen Verhältnissen ausländische »Massenarbeiter*innen«. Als es in der Zeit der Deindustrialisierung in den 1970er und 1980er Jahren zu Massenentlassungen der Fabrikarbeiter*innen kam, eröffneten diese im Stadtteil Mülheim eigene Geschäfte. Das Carlswerk und die Keupstraße sind Teil des großen Transformationsprozesses von der damaligen postnazistischen Nachkriegsgesellschaft zur Migrationsgesellschaft, der bis heute andauert.

In seinem Analyseraster vermittelte das Aktionsbündnis den NSU-Terror als mehrdimensionalen Gesamtkomplex und Kristallisationspunkt eines existierenden strukturellen Rassismus in der Mitte der Gesellschaft.[56] Dieses Verständnis und diese öffentliche Thematisierung strukturellen Rassismus war im Jahr 2017 noch nicht selbstverständlich. Erst nach der Ermordung Georges Floyds am 25. Mai 2020 in den USA und dem darauffolgenden globalen Protest der Black Lives Matter-Bewegung entstand auch in Deutschland eine größere Diskussion zu strukturellem Rassismus und zu Racial Profiling der Polizeibehörden. Das NSU-Tribunal in Köln war mit seiner frühen Analyse strukturellen Rassismus im NSU-Komplex wegweisend für die deutsche Debatte.

Im Gegensatz zur offiziellen Anklage der Bundesanwaltschaft (BAW) im Münchener NSU-Gerichtsprozess, die lediglich fünf Nazi-Täter*innen anklagte, benannten die Ankläger*innen auf dem NSU-Tribunal in ihrer gesamtgesellschaftlichen Perspektive über 90 Personen aus Polizei, Geheimdiensten, Politik, Medien und auch Bundesanwaltschaft als Verantwortliche für den NSU-Komplex. Denn erst in dieser breiten Verwobenheit konnte sich die ganze terroristische Dimension der NSU-Taten entfalten.

İbrahim Arslan, der den rassistischen Brandanschlag auf das Haus seiner Familie in Mölln 1992 schwerverletzt überlebte und für das Kölner NSU-Tribunal eine wichtige Rolle spielte, bezeichnete die Intervention als »eine der größten Demonstrationen und Widerstände für die Freiheit der Betroffenen in der [deutschen] Geschichte.«[57] Trotz dieser Relevanz existierte bis heute keine offizielle Dokumentation der NSU-Tribunale insgesamt.

Der Sammelband Tribunale,[58] der im Juli 2021 im Verlag Assoziation A publiziert wurde und die drei Tribunal-Anklageschriften aus Köln, Mannheim und Chemnitz versammelt, entstand erst im Rahmen des Antifa-Projektes »Antifaschistische Auktion« des kunstaktivistischen Peng! Kollektivs im Sommer 2020.[59] Bis dahin waren die Mannheimer und Chemnitzer Anklagen nicht öffentlich, sondern wurden lediglich in überarbeiteter Form in Eigendruck auf den jeweiligen Tribunalen verteilt.

Selbst das bundesweite Projekt Kein Schlussstrich, das die damalige Mit-Organisatorin des Kölner Tribunals Ayşe Güleç gemeinsam mit dem Kulturpolitiker Jonas Zipf zum 10. Gedenkjahr mit über 100 Veranstaltungen kuratierte, widmete den NSU-Tribunalen (bis auf eine Paneldiskussion) keine Aufmerksamkeit. Auch die Ausstellungsmacher*innen von Offener Prozess thematisierten die NSU-Tribunale nicht, obwohl der Verein ASA-FF e.V. maßgeblich das dritte NSU-Tribunal 2019 in Chemnitz und Zwickau mitverantwortete.

Ich möchte an dieser Stelle nicht über mögliche Gründe spekulieren, sondern die verschiedenen Motivationen dieses Buches umreißen. Schließlich ist dieses Buch, neben der publizierten Anklageschrift im Jahr 2021, die erste Publikation, die sich der Aufgabe annimmt, die NSU-Tribunale nachträglich für Interessierte zugänglich zu machen und als ein Stück Erinnerungsarbeit die Tribunale dem Vergessen zu entreißen. Dabei richtet sich mein Fokus im Besonderen auf Köln, das für die weiteren Tribunale in Mannheim, Chemnitz/Zwickau und Nürnberg Modellcharakter hatte.

Wir klagen an!, der Titel dieses Buches, war auch der Titel der Anklageschrift des Kölner Tribunals und Header des Programmslots am Samstag, in dem die Anklageschrift verlesen wurde.

Ein weiteres Anliegen dieses Buchs betrifft die Rezeption des Tribunals als Kunst- und Theaterprojekt. Immer wieder gab es im Vorhinein Verwirrungen darüber, was nun eigentlich das »Tribunalhafte« am NSU-Tribunal wäre und worin es sich von anderen Theaterinszenierungen oder Kongressen unterscheide.[60] Im November 2017 wurde das Aktionsbündnis bzw. der dahinterstehende Kölner Verein Lückenlos e.V. mit dem Kunst-Hauptpreis der Amadeu Antonio Stiftung als »engagiertes Kunstprojekt« und als »nachgestelltes Tribunal« ausgezeichnet.[61] In der Würdigung der politischen Intervention als Kunstprojekt zeigt sich, was der Mitorganisator Timo Glatz zu mir im Interviewgespräch sagte: »Das Theater war Fluch und Segen zu gleich.«

Als ich vor ca. drei Jahren mit der Beschäftigung der NSU-Tribunale begann, fragte ich mich, auch aufgrund meines eigenen kunstaktivistischen Hintergrunds, wie das Politische des Kölner NSU-Tribunals mit seiner starken ästhetischen und künstlerischen Dimension wieder freigelegt werden könnte. Denn die Auffassung als Kunstprojekt läuft schnell Gefahr, wenn auch ungewollt, entpolitisierend zu wirken. Schließlich war die Intervention des Tribunals vor allem politisch gedacht und geplant: Neben der Recherche zu den Täter*innen-Netzwerken und der Aufarbeitung der Migrationsgeschichte beteiligten sich Betroffene des NSU-Terrors an der Selbstorganisierung und sprachen als Redner*innen auf dem Tribunal. Darüber hinaus investierte das Aktionsbündnis viel Kraft und Zeit, den betroffenen Familien in regelmäßigen Treffen und Berichten die Möglichkeit einzuräumen, eigene Wünsche und Kritiken zu äußern.[62] Als ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang zu nennen ist, dass es sich beim NSU-Tribunal im Gegensatz zu anderen NGO-Tribunalen im Theaterkontext – bspw. dem Kongo Tribunal (2015/2017) – um eine autonome Selbstorganisierung handelte und nicht um eine Theater- und Filmproduktion. Und als letzten kritischen Punkt im Kontext der Kunst möchte ich zu bedenken geben, dass das Gutachten von Forensic Architecture bezüglich des ehemaligen hessischen Verfassungsschützer Andreas Temme während der Ermordung Halit Yogzats am Ende aufgrund seines Kunstkontextes weder im Münchener Gericht, noch in den Untersuchungsausschüssen als Beweismittel eingeführt wurde.[63]

Das Kölner NSU-Tribunal stelle ich in seinem dramaturgischen Dreiklang aus Beklagen, Anklagen und Einklagen vor, der vom Bündnis entwickelt wurde und als ein Grundpfeiler seiner Intervention bereits in der Bewerbung des Kölner Tribunals eine prominente Rolle in der Öffentlichkeitsarbeit spielte. Unter jeder dieser Dimensionen widme ich mich unterschiedlichen Aspekten des Tribunals und schließe mit einer analytischen Einordnung im Kontext der drei Gerechtigkeitsideen ab.

Die erste Dimension Beklagen wendet sich in seiner vielstimmigen Erinnerung der Trauer, der Wehklage und der Betroffenenperspektive zu. Nach der Darstellung der Trauermärsche Kein 10. Opfer gehe ich im Abschnitt »›Der Anschlag nach dem Anschlag‹«auf die rassistische Opfer-Täter-Umkehr im NSU-Komplex ein. Die Stimmen, Geschichten und das Wissen der Betroffenen des NSU-Komplexes und auch anderer rassistischer Gewalttaten, die gemeinsam die Kontinuität rechten Terrors bezeugen, stehen hier im Vordergrund. Das Erinnern und Gedenken seitens des NSU-Tribunals steht hier im Fokus. Neben dem kämpferischen Erinnern Reclaim and Remember der Familie Arslan begegnen uns weitere Gedenkpraktiken, die auf dem Tribunal geteilt wurden und von mir im analytischen Kapitel »Erinnern heißt Kämpfen« mit restaurativer Gerechtigkeit und dem Konzept des Multidirektionalen Erinnerns von Michael Rothberg kontextualisiert werden.

Die zweite Dimension Anklagen beginnt mit einer detaillierten Einführung in den NSU-Gerichtsprozess, der auf dem Tribunal eher am Rande (mit-)verhandelt wurde. Darin nehme ich eine eigene inhaltliche Ergänzung zur Tribunalverhandlung vor, um in meiner analytischen Einordnung »Anklagen heißt Verändern« das konzipierte Tribunaldesign und insbesondere das Inszenierungs- und Gestaltungskonzept stärker als eine radikale Konsequenz aus dem Münchener Gerichtsprozess herausarbeiten zu können. Die Dimension des Anklagens umfasst die retributiven Aspekte des Tribunals, die insbesondere aus seiner Position, die ich als »Gegen-Prozess« bezeichne, erwachsen. Anhand der Anklageschrift gehe ich auf einige Aspekte des NSU-Netzwerks, der Rolle der Geheimdienste und im Besonderen auf die Causa Temme und das Gutachten von Forensic Architecture ein, das vom Tribunalbündnis beauftragt wurde. Es zeigt sich, dass der NSU-Prozess in seiner Art der Prozessführung letztlich selbst Teil des strukturell-rassistischen NSU-Gesamtkomplexes wurde.

In der dritten Dimension, Einklagen, geht es um die Vision der Gesellschaft der Vielen. Im Depot des Schauspiels Köln wurde jene Geschichte der »Gast- und Vertragsarbeit« erzählt, mit der der große Transformationsprozess von der postnazistischen Nachkiegsgesellschaft zur heutigen Migrationsgesellschaft begann und der auch heute noch stetig verteidigt und neu erkämpft werden muss.[64] Die Einklage stellt das NSU-Tribunal als Teil (post)migrantischer Widerstände und Selbstorganisierungen anhand historischer und zeitgenössischer Beispiele vor. Einen besonderen Stellenwert nimmt darin das Freitagspanel unter dem Motto »We are the Future in the Present« ein, auf dem über 14 Initiativen aus ganz Deutschland zusammenkamen. Einige ihrer Kämpfe und Projekte werden in diesem Buch auf gesonderten, gerahmten »Strategie-Seiten« vorgestellt, die den Fließtext unterbrechen.

In dem Kapitel »Verändern heißt Erinnern« untersuche ich das NSU-Tribunal aus der Perspektive Transformativer Gerechtigkeit. Ich zeige auf, dass es Schlüsselmoment eines bis heute andauernden Community-Buildings ist, das im Jahr 2013 auf der Keupstraße begann. Im abschließenden Buchteil »Kein Schlussstrich« gehe ich auf die weiteren NSU-Tribunale in Mannheim, Chemnitz/Zwickau und Nürnberg als Echos des Kölner Tribunals ein.

Beginnt das Buch mit der Nennung der Namen der Mordopfer und der Taten des NSU, ist ihnen im Anhang je eine eigene Seite gewidmet. Zusätzlich befindet sich im Anhang eine Namensliste mit allen Opferangehörigen und Betroffenen, Expert*innen und Nebenklageanwält*innen, die ich in diesem Buch zitiere, sowie das Kölner Tribunalprogramm.

Im Laufe des Buches werden den Leser*innen eine Fülle an Endnoten, an Verweisen und Literaturvorschlägen begegnen. Darin habe ich bestmöglich versucht, die Thesen, Erzählungen und Zitate in den filmisch dokumentierten Hauptveranstaltungen im Depot 1 nachträglich zu belegen, da ich seitens des Bündnisses keine Quellennachweise hatte. Diese nachträgliche Quellenrecherche hat einen großen Teil meiner Arbeit an diesem Buch ausgemacht und dazu geführt, dass ich mich noch einmal intensiver mit dem NSU-Komplex, unserer Migrationsgesellschaft und (post-)migrantischer Selbstorganisierung auseinandergesetzt habe. Diese intensive Beschäftigung möchte ich als herzliche Einladung an die Leser*innen weitergeben. Konnte ich auf dem Tribunal Verhandeltes nicht belegen oder handelte es sich um ein Zitat aus einer Rede, verweise ich in den Endnoten auf Person und Veranstaltung.

Die Hauptquelle dieses Buches bildet die bisher noch unveröffentlichte, über 14-stündige Filmdokumentation der acht Depot-Hauptveranstaltungen, die mir das Aktionsbündnis im Rahmen dieses Buchprojektes zur Verfügung stellte.[65] Weitere wichtige Quellen waren auf der Website des Tribunals veröffentlichte Pressemitteilungen, Interviews, Publikationen, Zeitungsartikel, der Twitter-Feed sowie das im Social Media veröffentlichte Foto- und Videomaterial. Vor allem möchte ich dem Fotografen Jasper Kettner danken, der mir sein komplettes Fotoarchiv zum Kölner Tribunal zur Verfügung stellte, aus dem ich die in diesem Buch abgebildeten Fotografien auswählen durfte. Weitere Bezugsquellen waren das Theaterstück Die Lücke, dessen Dokumentation mir vom Schauspiel Köln zur Verfügung gestellt wurde, die Publikation des Dokumentartheaterstücks Urteile und insbesondere die NSU-Monologe