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Aminata Touré

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Beschreibung

Was in diesem Land anders werden muss. Aminata Touré verbrachte die ersten Jahre ihres Lebens in einer Unterkunft für Geflüchtete, heute ist sie Vizepräsidentin eines Landtags. Dass sich dieser Satz wie eine Heldinnengeschichte liest, zeigt, dass wir noch nicht in einer offenen und gleichberechtigten Gesellschaft leben. Es ist höchste Zeit, das zu ändern. Aminata Tourés Eltern flohen 1992, kurz vor ihrer Geburt, aus Mali. Im selben Jahr, während sie mit ihrer Familie in einer Flüchtlingsunterkunft lebte, brannten in Deutschland eben solche Häuser. Und das nicht zum letzten Mal. Ihr Buch handelt vom Aufwachsen als Schwarze Frau in einer Gesellschaft, die immer noch Mühe hat, ihren eigenen Rassismus zu erkennen, aber auch vom Weg in die Politik, von Erfolgen und vom Scheitern – nicht, um zu sagen, dass es schwer oder einfach war, sondern, um zu sagen, was in diesem Land anders werden muss. Politik kann mehr sein als Machterhalt und die Verwaltung der Zustände. Ein Aufruf an junge und diverse Menschen, in die Institutionen zu gehen, um die Politik und unser Zusammenleben zu verändern.

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Aminata Touré

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Die Macht der Vielfalt

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Aminata Touré

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Aminata Touré

Aminata Touré wuchs in Neumünster auf, studierte Politikwissenschaft und Französische Philologie, arbeitete als Referentin für eine Bundestagsabgeordnete. Seit 2017 ist sie Landtagsabgeordnete in Schleswig-Holstein und seit 2019 Vizepräsidentin des Parlaments. In ihrer Fraktion ist sie unter anderem Sprecherin für die Themen Migration, Antirassismus und Gleichstellung.

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Über dieses Buch

Aminata Tourés Eltern flohen 1992, kurz vor ihrer Geburt, aus Mali. Im selben Jahr, während sie mit ihrer Familie in einer Flüchtlingsunterkunft lebte, brannten in Deutschland eben solche Häuser. Und das nicht zum letzten Mal. Ihr Buch handelt vom Aufwachsen als Schwarze Frau in einer Gesellschaft, die immer noch Mühe hat, ihren eigenen Rassismus zu erkennen. Und sie erzählt von ihrem Weg in die Politik, von Erfolgen und vom Scheitern – nicht, um zu sagen, dass es schwer oder einfach war, sondern, um zu sagen, was in diesem Land anders werden muss. Ein Aufruf an junge und diverse Menschen, in die demokratischen Institutionen zu gehen, um unser Zusammenleben zu gestalten und eine wirklich gleichberechtigte Gesellschaft zu schaffen.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Epilog

Mehr sein

Von vorne

In die Politik

Ein anderes Leben

Im Herzen des migrantischen Lebens

Au cœur de la vie d’immigrés

Was meine Mutter mir beibrachte

Zurück in die Vergangenheit

Eine Sprache finden

Eine schwere Zeit beginnt

Armut und Scham

Parlamentarische Arbeit

Gewählt werden

Straße oder Parlament

Die Landtagswahl

Politischer Alltag

Die anstrengenden Seiten

Herausforderungen

Verbündete

Veränderung wird kommen

Warum sollte ich vergessen, wo ich herkomme

Literaturverzeichnis

Danksagung

Für Mama, Saka, Mariam, Medina & Joschka.

 

Für alle, die Wege gehen, die vor ihnen noch niemand gegangen ist.

rupi kaur

 

 

home body

 

break down

every door they built

to keep you out

and bring all your people with you

 

- storm

Es war ein großer Tag und ich stand ratlos vor dem Kleiderschrank. Schon an normalen Tagen ist mir Kleidung wichtig. Sie hat eine Symbolkraft. Aber ich war nicht sicher, was ich darstellen wollte. Welche Bedeutung hatte dieser Moment? Eigentlich hatte ich mir seit Wochen ganz genau vorgestellt, was ich heute tragen würde: ein weißes Cape. Aber es sah nicht gut aus. Ich fragte meine Schwestern und sie stimmten mir zu. Außerdem, dachte ich, war es vielleicht doch ein wenig zu extravagant.

Am Tag zuvor war ich bei der Ostseeparlamentarierkonferenz in Oslo gewesen, am Flughafen hatte ich in einem Laden einen dunkelgrünen Jumpsuit gesehen. Ich hatte ihn anprobiert, er passte, ich kaufte ihn. Jetzt war er plötzlich das perfekte Outfit.

Draußen war es wärmer als mir lieb war und ich nahm ein Taxi, um an diesem großen Tag nicht völlig verschwitzt anzukommen. Ich sprach mit dem Taxifahrer, der mir alles Glück der Welt wünschte: »Das wäre großartig, wenn Sie gewählt werden würden. Was für ein Zeichen für so viele Menschen in diesem Land. Ich habe ja auch einen Migrationshintergrund!« Ich bedankte mich für die herzlichen Worte und dachte darüber nach, was alles passieren könnte.

Theoretisch dürfte nichts schiefgehen. Mein Kollege Rasmus Andresen war ins Europaparlament gewählt worden, sein Amt als Stellvertreter des Landtagspräsidenten musste neu besetzt werden, und die Koalition hatte beschlossen, mich vorzuschlagen. Ich war trotzdem nervös. Würde ich wirklich die erforderliche Mehrheit bekommen? Die Wahl war geheim und vielleicht waren doch nicht alle begeistert davon, dass ich in meinem Alter ein solches Amt bekomme.

 

Ich stieg aus und atmete tief durch. Zwei Kamerateams warteten auf mich, die mich in den kommenden Monaten immer wieder zu Terminen begleiten würden. Das wusste ich schon und ich hatte mich über die Anfragen gefreut, aber jetzt steigerte es einfach nur die Nervosität. Wenn ich heute nicht gewählt werden würde, dann wäre es nicht nur durch die Liveübertragung des Parlamentsfernsehens, sondern auch noch durch zwei extra angereiste Kamerateams dokumentiert. Super.

Ich ging rein, rauschte an meinen Kolleg*innen vorbei, die mir alle Glück wünschten und mein Outfit positiv kommentierten. In meinem Büro machte sich eines der Kamerateams startklar. Ich sah meine Mitarbeiterin Katrine, was mich immer beruhigt, weil sie weiß, wie es mir in solchen Momenten geht, und dann die Organisation im Blick hat. Wir gingen zusammen runter zum anderen Kamerateam, das ein Vorabstatement aufnehmen wollte. Wie ich mich fühle, wollte der Journalist wissen. »Ich bin sehr aufgeregt!«, antwortete ich.

Der Vorraum des Plenarsaals füllte sich mit Abgeordneten, Gäst*innen und Journalist*innen. Einige fragten mich, ob ich nervös sei, andere wünschten mir Glück, ich bejahte und bedankte mich. Die Wahl war als letzter Punkt vor der Mittagspause angesetzt. Ehrlich gesagt konnte ich mich nicht so ganz auf die Debatten davor konzentrieren. Ich saß im Plenarsaal, blickte zur Tribüne und hoffte, dass meine Freund*innen Anne, James und Annso rechtzeitig erscheinen würden und vor allem meine Familie. Zum ersten Mal würden sie alle gleichzeitig da sein.

Am Tag der Landtagswahl, dem 7. Mai 2017, hatte ich nur eine Person mitnehmen dürfen und ich hatte Saka gefragt, meine älteste Schwester. Am Tag meiner Vereidigung waren meine Freundin Lara, mein Mann Joschka und meine Mutter da, aber meine Schwestern konnten nicht dabei sein. Bei unserer Antirassismuskonferenz, für mich einer der bedeutendsten Tage in diesem Parlament, saßen unzählig viele Freund*innen, Mariam, meine ein Jahr ältere Schwester, und Medina, meine kleine Schwester, meine Mutter und Joschka im Plenarsaal, nur Saka konnte nicht teilnehmen. Heute waren sie alle da. Als ich sie reinkommen sah, war ich beruhigt und glücklich.

Nun stellten sich mir andere Fragen, zum Beispiel, wie es genau ablaufen würde. Musste ich, falls ich gewählt würde, nach vorne gehen und noch mal einen Eid schwören? Würde die Sitzung einfach weitergehen? Ich beschloss, dass das erst mal nicht so wichtig war. Wichtiger war, dass es mit der Wahl klappte. Im schleswig-holsteinischen Landtag gibt es 73 Abgeordnete, demnach reichten 37 Stimmen, so viel hatte ich mir vorher ausgerechnet. Da sich für heute 4 Abgeordnete abgemeldet hatten, würden 35 Stimmen reichen. Ich wollte in dem Moment, in dem das Ergebnis verlesen wird, nicht lange überlegen müssen. Es war nicht meine erste Wahl und auch nicht meine erste Ergebnisverkündung, aber dazu kommen wir später.

Der Tagesordnungspunkt dreizehn wurde aufgerufen: »Wahl einer Landtagsvizepräsidentin«. Ich konnte die Aufregung kaum unterdrücken und rutschte nervös auf meinem Stuhl herum. Auf der Tribüne saß meine Familie in der letzten Reihe hinter Schüler*innen und anderen Besucher*innengruppen und reckte die Köpfe. Ich hatte ihnen eine Nachricht geschickt, dass sie sich nach vorne setzen sollten, aber sie antworteten, sie könnten von ihren Plätzen alles sehr gut sehen. Es war so typisch! Wenn es eine Sache gibt, die meine Familie wirklich gut kann, dann ist es, sich bloß nicht unnötig in den Vordergrund zu drängen. Aber da hatten sie die Rechnung ohne Daniel Günther und Monika Heinold gemacht. Der Ministerpräsident kam zu mir und sagte, er habe Monika, seine Stellvertreterin und meine Parteikollegin, gebeten, meiner Familie vorzuschlagen, sich nach vorne zu setzen. Ich war sehr dankbar für diese herzliche Geste, und auch dafür, dass er mir viel Glück für die Wahl wünschte. Nun saß meine Familie dort, wo ich sie sehen konnte, und es ging los.

Der Landtagspräsident eröffnete den Tagesordnungspunkt: »Mit der Drucksache 19/1625 haben die Fraktionen von CDU, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP die Abgeordnete Aminata Touré zur Wahl als Landtagsvizepräsidentin vorgeschlagen …« und nun wurde es hart für den schüchternen Teil meiner Familie (und das sind eigentlich alle außer Saka und mir), »… in diesem Zusammenhang darf ich die Familie ganz herzlich auf der Tribüne des Schleswig-Holsteinischen Landtages begrüßen!« Es wurde geklatscht und ich bin mir sicher, dass es ihnen da oben todesunangenehm war. Aber sie ließen sich nichts anmerken und lächelten tapfer. Für einige Sekunden dachte ich daran, wie unglaublich gut es ist, dass wir immer zusammengehalten haben. Ich glaube, dass es vielen Menschen so geht, die außer der Kernfamilie keine weiteren Verwandten im selben Land haben. Es gab immer nur uns sechs. Uns fünf, als mein Vater uns verließ.

Nachdem das Prozedere erklärt worden war, riefen die Schriftführer*innen die Abgeordneten einzeln auf, zur Wahlkabine zu gehen und ihre Stimme abzugeben. Als mein Name vorgelesen wurde, stand ich auf und ein Kamerateam folgte mir bis kurz vor die Wahlkabine. Ich hatte dem Film zugestimmt, also musste ich da jetzt durch. Nachdem alle gewählt hatten, wurde die Sitzung für zehn Minuten unterbrochen und ich konnte endlich wieder Luft holen.

Nach der Pause folgte das Ergebnis. Ich warf noch einen Blick zur Tribüne, zu meiner Familie, und konzentrierte mich dann darauf, nach vorne zu schauen. »Abgegebene Stimmen 69, gültige Stimmen 69, ungültige Stimmen keine, Jastimmen 46, Neinstimmen 15, Enthaltungen 8. Damit ist der Wahlvorschlag mehrheitlich angenommen worden.« Im offiziellen Protokoll der Sitzung stehen danach in Klammern die Worte »Anhaltender Beifall im ganzen Haus«. Kolleg*innen stürmten auf mich zu, umarmten mich und ich erhielt Blumensträuße. Anscheinend gab es also keine zusätzliche Vereidigung. Nach den Glückwünschen folgten die Interviews. Eine Journalistin fragte mich, ob ich enttäuscht sei, dass nicht alle Abgeordneten der demokratischen Fraktionen für mich gestimmt hätten, ich erwiderte, dass ich einfach nur froh sei, gewählt zu sein. Wenn man die Dinge so mache, wie ich sie mache, sagte ich ihr, dann wisse man, dass nicht alle Menschen es nur großartig finden.

Der Saal war inzwischen leer, weil alle in die Mittagspause gestürmt waren. Ich ging raus und da standen meine Familie und meine Freund*innen. Ich lief auf sie zu und umarmte alle. Zuletzt meine Mutter und ich verkniff mir die Tränen, denn natürlich hielten auch die zwei Kamerateams auf diesen Moment.

Ich hatte völlig unterschätzt, was nach dieser Wahl passieren würde. Meine Wahrnehmung war falsch, ich dachte nämlich, dass es vielleicht für meine Familie und mich etwas Besonderes war, und dass vielleicht politikinteressierte Menschen in Schleswig-Holstein davon Notiz nehmen würden. Es kam anders. Die nächsten Tage bestanden aus einem einzigen Ansturm von Presseanfragen, es gab nicht nur in Deutschland alle möglichen Meldungen und Berichte, sondern auch in den USA, in Großbritannien und sogar in Mali, dem Land, in dem meine Eltern geboren waren. Und was noch viel wichtiger war: unfassbar viele Menschen, die sich mit mir freuten, die mir Nachrichten schrieben.

Ich war zur ersten afrodeutschen und jüngsten Vizepräsidentin in einem deutschen Parlament gewählt worden. Obwohl ich eigentlich sehr viel über diese Dinge nachdenke, hatte ich unterschätzt, wie viel es auch anderen Menschen bedeuten würde, mich an diesem Ort zu sehen.

Mehr sein

Der 28. August 2019, als ich zur Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags gewählt wurde, war einer der Tage, an denen ich mich frage, wofür ich stehen möchte. Was ich mit der Aufmerksamkeit tun will, die mir entgegengebracht wird, und was ich mit der Macht anstellen möchte, die ich als Abgeordnete ja zweifellos habe. Aber natürlich sind das keine Fragen, die man sich einmal stellt, beantwortet und abhakt. Sie begleiten mich jeden Tag, seit ich Politik mache.

Auch in diesem Buch möchte ich mich diesen Fragen widmen. Ich möchte aufschreiben, was es bedeutet, jung, Schwarz und eine Frau zu sein. In unserer Gesellschaft. In Deutschland. In der Politik. Ich möchte meine Erfahrungen teilen und den vielen Schwarzen Menschen, Frauen, People of Color, Menschen aus marginalisierten Gruppen und jungen Menschen, die etwas ändern wollen, aber nicht wissen, wo sie anfangen sollen, den Anstoß geben, den ich brauchte, um in die Politik zu gehen. Nicht einfach, weil das für mich die richtige Entscheidung war, weil diese Arbeit mich erfüllt, weil sie tolle Begegnungen und große Momente (auf die frustrierenden komme ich erst später zu sprechen) mit sich bringt, sondern, weil die Politik genau diese Menschen braucht.

Das Bild, das viele junge Menschen von Parteipolitik haben, und das auch ich einmal hatte, ist nicht besonders gut. Manches davon sind Vorurteile, manches sind Dinge, die auf den ersten Blick nicht besonders einladend, in einer Demokratie aber ganz einfach notwendig sind. Doch es gibt durchaus Elemente in diesem negativen Bild, die der Wahrheit entsprechen. Posten, die nur der Posten wegen angestrebt werden und nicht für die Gestaltungsmacht, die mit ihnen einhergeht. Aufmerksamkeit, die nur für das eigene Ego gesucht wird und nicht der Macht zur Veränderung wegen, die sie bedeutet. Es gibt Entscheidungen, die aus den falschen Gründen getroffen werden, und Entscheidungen, die nicht richtig erklärt und begründet werden. Das alles gibt es, ich konnte es nun schon ein paar Jahre erleben. Und die Folgen davon lassen sich leider auch von außen sehr leicht beobachten: Das Vertrauen in Politik als den Ort, an dem der Rahmen für unser Zusammenleben gefunden wird, nimmt ab. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem wir mit unterschiedlichen Krisen konfrontiert sind, die kluge Korrekturen dieses Rahmens brauchen. Sei es die Klimakrise, die Spaltung der Gesellschaft oder soziale Ungerechtigkeit.

Das sind Probleme, für die die Politik Lösungen finden muss. Und dafür braucht es Menschen, die sich dieser Aufgabe annehmen, die die Probleme sehen und die den Anspruch haben, etwas zu verändern. Denn ich glaube, dass Politik mehr sein kann – mehr sein muss – als die Verwaltung der gegebenen Verhältnisse, dass es um mehr gehen muss als um Machterhalt.

Ich möchte Menschen dafür begeistern, sich politisch einzubringen, weil es notwendig ist und weil es sich lohnt. Denn obwohl viele junge Menschen in Deutschland es nicht anders kennen, ist unsere Demokratie keine Selbstverständlichkeit. Sich für sie einzusetzen und sie zu verteidigen muss unser aller Anliegen sein. Sie lebendig zu halten und sie mit neuen Ideen zu bereichern, ist keine Sache, die wir irgendwem oder anderen Generationen überlassen können. Und dafür braucht es Menschen, die mit verschiedenen Erfahrungen, Motivationen und Vorstellungen zusammenkommen, um gemeinsam gute Lösungen zu finden.

Meine Eltern sind in einem Land aufgewachsen, in dem es keine funktionierende Demokratie gab. Ich bin immer dankbar dafür gewesen, in einer Demokratie zu leben und es ist eine Ehre für mich, Abgeordnete sein zu dürfen. Aber es gibt unzählige Möglichkeiten, sich politisch einzusetzen, in einer Partei, in Organisationen, hauptberuflich oder ehrenamtlich. Nicht alles liegt allen gleich gut, nicht alles passt zu den eigenen Talenten oder Fähigkeiten. Ich treffe oft Menschen, die es sich nicht vorstellen können, ein politisches Amt zu übernehmen. Weil sie Angst haben, dann ständig unterwegs und erreichbar sein zu müssen, ihr ganzes Privatleben einzubüßen, sich ständig auf anstrengende Diskussionen einlassen zu müssen oder sich zu langweilen – es gibt natürlich unzählige Gründe. In diesem Buch möchte ich von meiner Arbeit als Politikerin erzählen, denn ich habe schon oft die Erfahrung gemacht, dass sich mit ein bisschen Wissen sehr viele der Vorbehalte auflösen, die sich auf Gerüchte und Vermutungen stützen. Ich verspreche nicht, dass die folgenden Geschichten in allen Punkten dem widersprechen, was an Vorurteilen über Politiker*innen und ihre Arbeit in Umlauf ist. Aber ich habe doch den Anspruch, deutlich zu machen, dass es keine Vorgaben dafür gibt, wie man zu sein hat und wer man zu sein hat, wenn man in der Politik ist. Zum Glück. Denn die Politik und damit die Gesellschaft können nur davon profitieren, dass die Aufgabe Politiker*in immer wieder neu ausgefüllt wird.

Es sollte in der Politik mehr Menschen geben, die etwas verändern wollen und die dafür auf verschiedene Hintergründe und Erfahrungen zurückgreifen können, migrantische, arme Personen oder Angehörige anderer marginalisierten Gruppen. Dass diese Menschen dort unterrepräsentiert sind, ist weder ein Zufall, noch ist es die Folge von fehlender Motivation. Es liegt auch nicht daran, dass sie sich zu fein dafür sind, dass ihnen ihre Zeit zu schade ist oder sie Besseres zu tun haben. Es liegt an den Zugangsbarrieren. Wer die politischen Räume nur aus der Ferne kennt, wer ohne das selbstverständliche Wissen darüber aufgewachsen ist, wie Politik funktioniert, wie man sich als Politiker*in verhält, darstellt, positioniert oder absichert, wird genau dadurch davon abgehalten, selbstbewusst in diese Räume zu gehen. Wenn ich von meinem Weg in die Politik erzähle, von den Herausforderungen und Rückschlägen, dann um genau dagegen anzukämpfen. Denn Selbstverständlichkeiten brechen auf, wenn man um sie weiß. Wenn man die Verhaltensmuster zu verstehen beginnt, wenn man die Rituale als solche erkennt.

Doch fehlendes Wissen um die Vorgänge ist nur einer von zahlreichen Mechanismen, die dafür sorgen, dass Menschen über sehr unterschiedliche Möglichkeiten verfügen, um »in die Politik zu gehen«. Denn es gibt viele Menschen, denen es an anderen Dingen fehlt, in deren Alltag die Prioritäten anders liegen. Die keine Zeit haben, weil sie mit ihren verschiedenen schlecht bezahlten Jobs gerade so hinkommen. Weil sie Kinder haben oder Menschen in ihrem Umfeld pflegen. Oder keine Kraft mehr haben, weil sie täglich Diskriminierung ausgesetzt sind. Weil wir in einer Gesellschaft leben, in der die Menschen nicht nur unterschiedliche Startbedingungen haben, sondern auch unterwegs noch sehr unterschiedlichen Problemen begegnen. Und klar, man könnte diese Probleme als persönliche Herausforderungen abtun – aber wenn so vielen Menschen jeden Tag die gleichen Probleme begegnen, sind es eben politische Herausforderungen. Das müssen wir verstehen und angehen, wenn wir als Gesellschaft und als Politik mehr sein wollen.

 

Heute, knapp zwei Jahre nach diesem Tag und fast vier Jahre, nachdem ich Landtagsabgeordnete wurde, schreibe ich darüber. Was in dieser Zeit passiert ist, fühlt sich für meine Familie und mich manchmal immer noch surreal an. Niemals hätten wir uns vorstellen können, dass eine von uns eines Tages in einem Parlament sitzen würde, dass eine von uns diese Gesellschaft vertreten und Entscheidungen für sie treffen würde. Es sind die Momente, in denen ich mir vornehme, das Privileg, Politik machen zu dürfen und Abgeordnete sein zu können, für diejenigen zu nutzen, die dieselben Erfahrungen gemacht haben wie meine Familie und ich. Für Menschen, die in den meisten Strukturen unterrepräsentiert sind aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Identität, ihrer Herkunft oder ihrer Religion.

Dieses Buch soll ein Beitrag sein, diesem Anspruch näherzukommen. Ich wollte es jetzt schreiben und nicht irgendwann als Rückschau auf mein Leben in der Politik. Als ich mir vor einigen Jahren überlegte, ob ich in eine Partei gehen soll, und später, ob ich mich für ein Amt oder ein Mandat bewerben soll – und ich treffe heute oft junge Menschen, die genau in dieser Situation sind –, habe ich immer wieder Autobiografien von großen Politiker*innen gelesen. Es waren bessere und schlechtere Bücher dabei, aber manchmal hätte ich es doch gerne näher dran gehabt: Ich hätte gerne von jemandem gelesen, der*die ganz unmittelbar vor meiner Haustür gerade Politik macht. Vielleicht ist das hier der Versuch, ein solches Buch zu schreiben. Ich hoffe, dass es einige von euch motiviert. Manchmal scheinen die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft stehen, unfassbar groß und nicht lösbar. Man fragt sich, was für einen Unterschied macht es schon, wenn ich da nun auch mitmische? Aber ich glaube, dass es eben einen Unterschied macht. Dass jede Generation die Aufgabe hat, diese Gesellschaft mitzugestalten und zu verändern. Zum Guten.

 

Weil wir mehr sein können.

Wir sind die nächsten Generationen

Wir sind die nächsten Generationen

voller Träume, die wahr werden können.

Fühlen uns schuldig

für die Träume unserer Eltern,

die nicht wahr werden konnten.

Ich blicke hoch,

sehe meine Mutter

auf der Tribüne.

Es ist unser Moment –

und doch bin ich es, die ihn lebt.

Wir gewöhnen uns daran.

In dem Moment, in dem sie dieses Land betreten,

beerdigen unsere Eltern ihre Träume.

Ihre Träume sind fortan unsere

und unsere ihre.

Von vorne

Als ich am 15. November 1992 geboren wurde, waren meine Eltern noch nicht einmal ein Jahr in Deutschland. Dass die Bedingungen, unter denen ich aufwuchs, nicht die gleichen waren wie bei der Mehrheit in dieser Gesellschaft, wurde mir erst viele Jahre später klar. Die ersten fünf Jahre nach meiner Geburt lebten wir im Stadtteil Faldera in Neumünster. Ich persönlich habe diese Zeit überwiegend als schön wahrgenommen. In Gesprächen mit meinen älteren Geschwistern oder meiner Mutter wird mir jedoch immer wieder bewusst, dass sie diese Zeit ganz anders in Erinnerung haben. Viel schmerzvoller. Ich hatte wohl das Glück, so jung zu sein, dass ich wenig verstand und vieles, was wir erlebten, als normal empfand. Um mich herum waren Kinder aus allen Teilen der Welt, die die meiste Zeit gemeinsam draußen verbrachten und spielten. Es gab alle Altersstufen, von Kleinkindern bis zu jungen Erwachsenen. Ich wusste, dass unser Leben irgendwie ein wenig anders war, als das derer, die ein paar Häuser weiter lebten, aber ich konnte noch nicht einschätzen, inwiefern. Für mich war die Flüchtlingsunterkunft mein Zuhause. Wir lebten in unserer Wohnung und zum Duschen ging man eben in den Keller. Aber wenn man nichts anderes kennt, dann empfindet man es auch nicht als merkwürdig. Von den Erwachsenen hörte man oft Sätze wie »Hast du Papiere« oder »Hast du Duldung«, aber diese Worte spielten in meiner Welt keine Rolle – anfangs.

Saka ging bereits zur Schule, was Mariam und ich extrem cool fanden. Wir konnten es kaum abwarten, selbst dorthin zu gehen. Wir waren schon ziemlich erpicht darauf, etwas anderes zu sehen als unsere vier Wände, den Parkplatz, die große Wiese vor und den Wald hinter dem Haus. Ich weiß noch, dass ein Mädchen aus der Ukraine, das in unserem Alter war, in den Kindergarten gehen durfte und wir nicht. Das hatte »aufenthaltsrechtliche Gründe«, auch so ein Wort. Wir warfen ihr neidvolle Blicke zu, wenn sie hinging oder zurückkam.

Bis zu unserer Einschulung hatte meine Mutter es sich zur Aufgabe gemacht, Mariam und mir das Rechnen, Schreiben und Lesen auf Deutsch und Französisch beizubringen. Dafür hatte sie sich etwas in ihren Augen ganz Hervorragendes ausgedacht: Aus der Rückwand eines alten Schranks bastelte sie eine Tafel, sprühte sie mit schwarzer Farbe an, kaufte Kreide und schon gab es zu Hause Unterricht. Natürlich. Wenn ich an meine Mutter denke, und zwar in jeder Phase meines (und auch ihres) Lebens, dann sehe ich ihren entschlossenen Blick und ihre klare Haltung. In ihren Augen ist nichts unmöglich, man muss sich schlichtweg Mühe geben. Meine Mutter hat uns damals nie erklärt, weshalb sie so viel Kraft und Energie in unsere Bildung investierte. Ich nahm es einfach hin, dass man eben sehr viel lernen musste und auch gut sein musste.

Später erst begriff ich, dass sie versuchte, uns auf ein Leben vorzubereiten, in dem wir es immer schwer haben würden. Ein Leben, in dem man immer die andere sein und unterschätzt werden würde. In dem viele Menschen einen für dumm und unfähig halten werden. Als wir älter wurden, sagte meine Mutter uns einen Satz, den ich mir eingeprägt habe: »Dort, wo andere 100 Prozent geben werden, werdet ihr 200 Prozent geben müssen, um dasselbe zu erreichen.« Dafür wollte sie uns wappnen. Einige romantisieren so etwas und finden es toll, dass meine Mutter all das getan hat. Und es ist auch wirklich toll. Das finde ich auch. Ein Problem wird es, wenn diese Romantik die Tatsache überdeckt, dass es grundfalsch ist, dass es Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die für Außenstehende unbemerkt mit diesen zusätzlichen Anstrengungen aufwachsen.

Um das Gift der Unzulänglichkeit, den Gedanken, dass man weniger kann als andere, nicht in sich streuen zu lassen, muss man wissen, wer man ist und was man kann, das war die Maxime zu Hause. Diese Erziehung war der Grund dafür, dass ich nie verstanden habe, weshalb man uns Schwarze Menschen für minderwertig gehalten hat und hält. Ich habe nie an die Unzulänglichkeit von Schwarzen Menschen geglaubt, sosehr diese Welt auch versucht hat, alle davon zu überzeugen. Stattdessen begann ich, an einer Welt zu zweifeln, die so verächtlich auf Schwarze Menschen blickt. Aber auch das Wissen um die rassistischen Strukturen dieser Welt, das man mit der Zeit erwirbt, verhindert nicht, dass das Gift sich in einem ausbreitet und man viele Momente des Zweifelns hat. Es braucht Strategien, um damit umzugehen, es erfordert ein tägliches Selbstvergewissern. Man muss sich schlicht jeden Tag sagen, dass man nicht minderwertig ist. Aber wie jeder Mensch hat man schlechte Tage, an denen das Gutzureden nicht wirkt. An denen die Summe an Verletzungen einen trifft und man sich schwach fühlt. An denen man den rassistischen Erzählungen mehr glaubt als all dem Wissen, das man sich angeeignet hat. Als all den Erfahrungen, die man gesammelt hat, die die rassistischen Zuschreibungen widerlegen. In diesen düsteren Momenten, manchmal Tage, manchmal Wochen, erfordert es Kraft und Resilienz, sich wieder auf die Beine zu stellen. Wenn ich höre, wie Menschen über Rassismus sprechen, wie sie sich fragen, ob er hier existiert und ihn damit komplett infrage stellen, denke ich an genau diese Momente. Ich denke dann, ihr habt doch keine Ahnung, wie tief verwurzelt Rassismus in dieser Gesellschaft ist und was er in uns bewirkt. Ihr hättet es gerne in knackigen Zweizeilern beschrieben, damit es euch besser geht. Damit ihr rezitieren könnt, was Rassismus ist. Möglichst kurz und knapp und verständlich und in den Schilderungen nicht allzu drastisch, sodass sie für die Mehrheitsgesellschaft verdaulich sind. »Nichts zu Belastendes, sodass die Leser*innen der Zeitungen nicht überfordert sind.« Wie oft wir das hören. »Man darf die Leute nicht überfordern.« Die Erfahrungsberichte über Rassismus sind nichts im Vergleich zu den jahrelangen Selbstzweifeln, Verletzungen und den Kämpfen in einer Gesellschaft, in der man so oft nicht akzeptiert wird. Sie sind nichts im Vergleich.

 

Ich kann mich mehr an die Französisch- als an die Deutschstunden erinnern. »Un petit bébé ne fume pas la pipe«, ist ein Satz, der bei mir hängen geblieben ist und über den wir uns heute noch kaputtlachen: Ein kleines Baby raucht keine Pfeife. Als ich in die Grundschule kam, konnte ich also lesen, schreiben und rechnen. Die Schreibschrift war anders als zu Hause, aber gut, ich musste flexibel sein.

Bevor Mariam eingeschult wurde, waren wir beide morgens zu Hause. Wir lernten und spielten zusammen und so fühlte sich das Nicht-in-den-Kindergarten-gehen-Dürfen nicht so schwer an. Als sie dann in die Schule ging, tauchte sie in die andere Welt ein, zu der ich noch keinen Zugang hatte. Ab sofort war ich morgens alleine. Klar, meine Mutter war da, aber eben keine Kids in meinem Alter. Ich stellte mir vor, dass alle anderen Kinder jetzt gerade ohne mich spielten und lernten. Manchmal war ich morgens draußen vor dem Haus und spielte alleine. Unsere Nachbarin von unten, eine alte Frau, die mit ihrer Familie hierhergeflohen war, sagte zu mir, dass meine Haare in der Sonne etwas rot leuchteten. Ich sei eine kleine Hexe. Ich musste lachen und fand es cool, dass sie das sagte. In meinen Augen war ich Schwarz und Schwarze Menschen hatten schwarze Haare, keine roten. Es war dennoch irgendwie ein melancholischer Morgen. Wenn ich mich heute daran erinnere, denke ich, dass ich wohl schon früh gelernt habe, was Melancholie bedeutet. Mir reichte es. Ich wollte in die Schule.

An einem Morgen brachten meine Mutter und ich Mariam zur Schule, was ich extrem aufregend fand, weil ich mir dabei vorstellen konnte, selbst zur Schule zu gehen. Ich durfte mir ihre Emilflasche um den Hals hängen und sie ihr zur Schule tragen. Auf dem Rückweg bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, ihr die Flasche zu geben. Meine Mutter hatte einen Fotoapparat dabei und fotografierte mich. Auf diesem Bild strahle ich über beide Ohren. Ich fühlte mich wie eine kleine Erwachsene, also wie eine Grundschülerin.

 

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich bald auf dieselbe Schule wie meine Schwestern gehen würde, aber kurz vor meiner Einschulung verließen wir Faldera und zogen in den Stadtteil Einfeld. Es war ein völlig anderes Umfeld und damit auch eine neue Etappe in unserem Leben. Wir durften die Flüchtlingsunterkunft verlassen, weil sie abgerissen wurde, und bezogen unsere erste eigene Wohnung. An unserem Status als Geduldete hingegen änderte sich nichts. Wir lebten weiter in der Unsicherheit, mit der ständigen Frage, ob wir in Deutschland würden bleiben können.

Der Umzug war ein absolut krasses Ereignis für uns. In Faldera war es völlig klar, dass alle Menschen, die in genau diesen Wohnblöcken lebten, die »Asylanten« waren. Ja, das sagte man damals noch ungenierter als heute. Es gab auch eine Abstufung: In den ersten beiden Wohnblöcken direkt an der Straße lebten diejenigen, die eine unsichere Bleibeperspektive hatten und jederzeit abgeschoben werden konnten. Dort lebten wir. In den zwei hinteren Wohnblöcken lebten diejenigen, die es »geschafft« und bereits ein Bleiberecht hatten. Man blickte voller Neid auf sie. Das war der Kosmos, in dem man lebte: bleiben dürfen oder nicht. Saka berichtete manchmal davon, dass sie in der Schule mit Worten wie »Verpiss dich in dein scheiß Asylantenheim!« konfrontiert wurde. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann war es vielleicht doch nicht so schlimm, dass ich nicht in den Kindergarten gehen durfte. Zumindest konnte ich mir so die Illusion einer Welt, in der man verschieden ist, aber eben alle verschieden sind, noch aufrechterhalten.

Denn die Zeit, in der wir als Asylsuchende in der Flüchtlingsunterkunft lebten, war eine Zeit, in der in Deutschland Asylheime brannten. 1992, das Jahr meiner Geburt: in Rostock-Lichtenhagen zwischen dem 22. und 26. August. In Mölln am 23. November, acht Tage nach meiner Geburt. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda, knapp ein Jahr zuvor, bevor meine Eltern nach Deutschland kamen, am 23. September 1991. 2015, als sich diese Ereignisse wiederholten, und ich im Bundestag als Mitarbeiterin für die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen arbeitete, dachte ich darüber nach, was die Ereignisse damals für die Generation meiner Mutter und der älteren Kids, die in den 90ern hierhergeflohen sind, bedeutet hatten. Ich las alles, was ich dazu finden konnte, und stieß dabei auf den Brief, den Audre Lorde, wenige Wochen vor ihrem Tod, gemeinsam mit Gloria I. Joseph an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl geschrieben hatte. Im Tagesspiegel war er unter der Überschrift »Rostock erinnert an die 30er-Jahre« abgedruckt worden. Sie kritisierten die Zustände in der deutschen Gesellschaft und prangerten die fehlende Solidarisierung und Positionierung der weißen Mehrheitsgesellschaft an. Sie fragen sich, ob Deutschland aus seiner Geschichte nichts gelernt habe, und sind entsetzt über die faschistische Stimmung in dem Land, das sie in den 80er-Jahren als Professorinnen kennengelernt haben. Diese Sätze beschreiben eindrucksvoll das Problem dieser Zeit, und angesichts unserer gegenwärtigen Situation machen sie einen ziemlich nachdenklich:

Wo sind […] die persönlichen und offiziellen Aufschreie gegen diese rassistischen Ausschreitungen und diesen Fremdenhaß? Wir sehen uns die Bilder aus Rostock an, und unsere Herzen sind schwer vor Angst um unsere eigene Sicherheit, die Sicherheit unserer Afro-deutschen Schwestern und Brüder und die von Jüdinnen und Juden, AusländerInnen und allen denen, die weiße deutsche Reaktionäre für unakzeptabel halten. […]

Wenn die Öffentlichkeit sich wirklich um das Bild Deutschlands auf der gegenwärtigen Weltbühne Sorgen macht, wie können da die Bundes- und Landesregierungen drei Nächte eskalierender Wildheit gegen AusländerInnen zulassen, ohne laut und deutlich zu sagen: DAS MUSS AUFHÖREN! […] und auf diese rassistische […] Gewalt zu reagieren. Dies hat nichts mit dem gesetzlichen Standpunkt gegenüber Flüchtlingen zu tun.

Es hat mit einer offiziellen Stellungnahme zu tun, die das Zusammenschlagen, Verbrennen und Töten von Mitmenschen auf Grund unserer Hautfarben, unserer religiösen Praktiken, auf Grund dessen, wer wir sind, verurteilt, und damit, daß ein solches Verhalten überall gestoppt werden muß und zwar ungeachtet dessen, mit welcher nationalistischen Erklärung es stattfindet.

Rostock und Hoyerswerda und Übergriffe und Morde an Afro-Deutschen, AfrikanerInnen, türkischen und asiatischen Menschen in den letzten drei Jahren werfen nicht lediglich die Frage auf, wieviele AusländerInnen in Deutschland aufgenommen werden können oder wieviele abgewiesen werden müssen. […] Ausschlaggebend sind die fundamentalen Fragen von Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie, Probleme der deutschen Psyche, […] die das gegenwärtig ausgedrückte Bewußtsein der breiteren deutschen Gesellschaft durchdringen. […]

Wo sind die guten BürgerInnen, die sich nicht dem Schweigen ergeben? Die wachsende Zahl Deutscher, die sich organisieren und gegen den Haß, der in ihrem Namen ausagiert wird, protestieren, ermutigt mich. Aber ihre Zahl muß viel größer werden, und dies muß schnell geschehen.[1]

Wir Kleineren wuchsen damals zwar mit ganz unterschiedlichen, aber vor allem mit kindlichen Wünschen und Vorstellungen auf. Und obwohl die Angst vor einer Abschiebung mit der Zeit auch für uns mehr und mehr eine Rolle spielte, kann ich mein Schicksal nicht mit dem der Kinder vergleichen, die Fluchtrouten selbst erlebt haben, die mitansehen mussten, wie Familienmitglieder im Krieg oder auf dem Weg starben. Ich hatte das Glück, dass mein Leben in einem Land ohne Krieg begann. Und ich kann auch nur versuchen, mich in die Situation der Generation meiner Eltern und der älteren Kids hineinzuversetzen, die damals mit einem ganz anderen Bewusstsein gesellschaftliche Debatten und Stimmungen mitbekamen. Wie furchtbar muss es sein, zweimal in so massiven und gewaltsamen Wellen vermittelt zu bekommen, dass man nicht erwünscht ist und von Teilen der Gesellschaft gehasst wird? Wie ist es, das zweimal mitzubekommen? Einmal als ganz offensichtlich Betroffene, als in einer Flüchtlingsunterkunft Wohnende, und ein zweites Mal, Jahre später, als schon lange hier Lebende. Wie ist es, dann zu realisieren, dass man immer noch nicht akzeptiert ist als Teil der Gesellschaft?