Wir konnten auch anders - Annette Kehnel - E-Book
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Annette Kehnel

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem NDR Sachbuchpreis 2021

Unser wirtschaftliches Denken - über Konsum, Kapital, Profit - stammt aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Und ist unbrauchbar geworden.

Wie die Historikerin Annette Kehnel anhand lebendig erzählter Beispiele deutlich macht: Ein Blick auf die vormoderne Geschichte der Menschheit offenbart Anregungen für unsere Zukunft jenseits von Gewinnstreben und Eigennutz. Renaissance-Architekten, die Baustoffrecycling betrieben, Crowdfunding für die Brücke in Avignon, nachhaltige Fischerei am Bodensee, Second-hand-Märkte in Paris und Reparaturberufe in Frankfurt in Zeiten, als Kreislaufwirtschaft eine Selbstverständlichkeit war.

Teilen, tauschen und nachhaltig handeln: Eine Reise in unsere Vergangenheit, die Lust auf Veränderung macht.

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Zum Buch

Unser wirtschaftliches Denken – über Konsum, Kapital, Profit – stammt aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Und ist unbrauchbar geworden.

Wie die Historikerin Annette Kehnel anhand lebendig erzählter Beispiele deutlich macht: Ein Blick auf die vormoderne Geschichte der Menschheit offenbart Anregungen für unsere Zukunft jenseits von Gewinnstreben und Eigennutz. Renaissance-Architekten, die Baustoffrecycling betrieben, Crowdfunding für die Brücke in Avignon, nachhaltige Fischerei am Bodensee, Secondhandmärkte in Paris und Reparaturberufe in Frankfurt in Zeiten, als Kreislaufwirtschaft eine Selbstverständlichkeit war.

Teilen, tauschen und nachhaltig handeln: Eine Reise in unsere Vergangenheit, die Lust auf Veränderung macht.

Zur Autorin

Prof. Dr. Annette Kehnel studierte Geschichte und Biologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, am Somerville College Oxford und an der LMU München. Ihr Promotionsstudium am Trinity College Dublin widmete sie der Erforschung irischer Klostergemeinschaften und arbeitete dann an der TU Dresden, wo sie sich im Jahr 2004 habilitierte. Seit 2005 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Sie hat zahlreiche Veröffentlichungen zu ihren Forschungsschwerpunkten Kultur- und Wirtschaftsgeschichte und der historischen Anthropologie vorgelegt.

Annette Kehnel

Wir konnten

auch anders

Eine kurze Geschichte

der Nachhaltigkeit

Blessing

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Annette Kehnel

Copyright © 2021 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Umschlagabbildung: Landleben, Holzschnitt, Französisch, 1517

© Alamy Stock Photo/Granger Historical Picture Archive

Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26712-4V001

www.blessing-verlag.de

Für meine Kinder und Enkel,

mit Dank für ihre ansteckende Lust

auf Zukunft und »Ganz anders«

Inhalt

Einleitung

1.  Waren wir arm vor der Erfindung des Kapitalismus?

1.1. Die Geschichte vom Fortschritt – Moderne Meistererzählungen und ihre Fallstricke

1.2. Mussten unsere Vorfahren von morgens bis abends schuften?

1.3. Europa im Hoch- und Spätmittelalter – Ein paar Daten und Zahlen

2.  Sharing

2.1. Teilen macht reich – Die Wirtschaft der Klöster

2.2. Commons und die Kunst, Externalitäten zu internalisieren

2.3. Beginenhöfe – Frauen-WGs und Urban Gardening

3.  Recycling

3.1. Reparaturberufe und Secondhandmärkte

3.2. Papier – Ein Recyclingprodukt schreibt Weltgeschichte

3.3. Bricolage und Assemblage – Die Wiederverwertung der Antike im Mittelalter

4.  Mikrokredit

4.1. Mikrokreditbanken in den italienischen Städten – Monti di Pietà

4.2. Peer-to-Peer-Lending in mittelalterlichen Städten

4.3. Stadtnahe Landwirtschaft – »Rent a cow« im Mittelalter

5.  Spenden und Stiften

5.1. Spenden für Gemeinschaftsprojekte – Pont Saint-Bénézet in Avignon

5.2. Nachhaltigkeit in Kultur und Soziales – Ohne Ablass kein Michelangelo

5.3. Sozialer Wohnungsbau in Augsburg – Die Fuggerei

6.  Minimalismus

6.1. Reichtum ist die Kotze des Glücks – Diogenes von Sinope

6.2. Geld ist Mist – Franz von Assisi

6.3. Minimalismus und Wirtschaftstheorie – Petrus Johannis Olivi

7.  Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit für die Zukunft

7.1. Was würden sie uns raten, unsere Vorfahren?

7.2. Raus aus dem Käfig der Alternativlosigkeit

7.3. Gut gegen Zukunftsangst – Rückenwind aus der Vergangenheit

Dank

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

Bibliografie

Onlinequellen

Einleitung

Wir stehen an einer Zeitenwende. Die Begrenztheit der Ressourcen, das Ende der Konsumgesellschaft, wachsende Ungleichheit, Globalisierung, digitale Beschleunigung, Klimawandel und schließlich die zunehmende politische Verunsicherung der Menschen, vor allem in den wirtschaftlich reichsten Ländern der Erde, versetzen uns in einen Zustand kollektiver Ratlosigkeit. Politik und Wirtschaft versuchen, Lösungen aufzuzeigen. Populisten predigen allerorten radikale Schlussstriche und suchen das Heil in einer national säuberlich sortierten Welt. Hie und da wird verhaltene Kapitalismuskritik vernehmbar. Andere setzen auf den technisch-medizinischen oder auf den digitalen Fortschritt. Was tun? Angesichts dieser Entwicklungen, die allesamt wenig Aussicht auf Lösungen und noch viel weniger Aussicht auf Zukunft bieten? Es muss sich was ändern. Das ist allen klar.

Die Konzepte der Moderne haben ausgedient

Warum gehen uns trotz hektischer Suche nach Lösungen für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts allmählich die Ideen aus? Weil wir die Probleme der Zukunft mit Konzepten der Moderne lösen wollen. Moderne klingt zwar noch immer fortschrittlich und innovativ, doch ist diese Moderne historisch betrachtet mittlerweile mehr als zwei Jahrhunderte alt. Das bedeutet, wir wollen die Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts mit Konzepten lösen, die im späten 18. und 19. Jahrhundert entwickelt wurden. Konzepte, die den Aufstieg in die sogenannte Moderne ermöglichten. Die Zauberformel damals hieß: Fortschritt, Wachstum, Wohlstand.

Diese drei Ziele haben uns als Leitmaximen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Handelns weit nach vorne gebracht. Die Industrialisierung, die Französische Revolution, der Nationalstaat und die Demokratie haben das Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts modern gemacht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam ein unverhoffter Nachschlag. Die Moderne bescherte den von zwei Weltkriegen arg verwundeten Menschen einen nie da gewesenen Wirtschaftsboom, getragen von einem rasanten Wachstum des Konsums und von der Erfindung der Wegwerfgesellschaft. Die westlichen Industrienationen wurden in einen Aufstiegstaumel namens Wirtschaftswunder versetzt und versuchen seither – wie Junkies –, diesen Zustand zu halten beziehungsweise immer wieder aufs Neue herzustellen. Das gelang während der letzten Jahrzehnte zwar ganz gut, doch seit einiger Zeit verdirbt uns die Rechnung den Spaß: Mikroplastik im Meer, Glyphosat in den Lebensmitteln, CO2 in der Atmosphäre, und das alles irreversibel und mit globalen Konsequenzen. Statt uns diesem Sachverhalt zu stellen, wollen wir lieber einfach noch mal »alles wie früher«, und bitte mit allem. Das war doch so schön. Sitzen da wie übellaunige Kinder vor der leeren Bonbontüte. Wir wollen einfach mehr! Etwas anderes fällt uns nicht ein, etwas anderes als noch mehr Wachstum und noch mehr Wohlstand.

Wir sind im 19. Jahrhundert stecken geblieben. Das Koordinatensystem unserer Lösungsansätze ist fast 200 Jahre alt. Ein Koordinatensystem, das hervorragend geeignet war zum Beispiel zur Modellierung optimaler Wertschöpfungsstrategien, zur Bestimmung maximaler Ausbeute vorhandener Ressourcen oder zur Berechnung von Kapitalrenditen. Allerdings scheitern wir damit, wenn wir vor Problemen jenseits von Profitmaximierung stehen.

Homo oeconomicus – der verzweifelte Held der Moderne

Eine Schlüsselrolle in dieser Geschichte spielt der »Homo oeconomicus«, der rationale Agent und Nutzenmaximierer, die Vorstellung, dass Menschen immer und in erster Linie auf ihren eigenen Nutzen bedacht seien. Zwar handelt es sich dabei lediglich um ein Modell, um einen fiktiven Akteur in Formeln, mit denen wirtschaftliche Zusammenhänge erklärt werden sollen. Überdies ist das Modell vom Nutzenmaximierer eine sehr späte Erfindung der modernen Wirtschaftswissenschaften, es wurde erst mit der sogenannten Rational Choice Theory in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts zum Dogma erhoben. Doch hat die Heiligsprechung des »Eigennutzens« ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert. Denn in der Populärversion der von Charles Darwin und Herbert Spencer entwickelten Evolutionstheorie wurde Eigennutzen oft mit Selektionsvorteil verwechselt. Die Fähigkeiten zur Anpassung an die Umwelt, zur geschickten Ausbeutung verfügbarer Ressourcen und zur Überbietung der Konkurrenz wurden als Erfolgsfaktoren der Evolution missverstanden. Wettbewerb und Kampf ums Dasein waren plötzlich biologische Tatsachen. Wer da nicht mithalten konnte, den sortierte die Natur einfach aus. Und was für den Evolutionsbiologen die natürliche Auslese, wurde in den Wirtschaftstheorien die unsichtbare Hand des Marktes, nämlich jene unverfügbare Macht, die alles regelt und so den altmodischen moralischen Ballast vormoderner Gesellschaften überflüssig machte. Beide Konzepte fügten sich nahtlos zu einem modernen Ganzen zusammen, das den rationalen Nutzenmaximierer zum preisgekrönten (in der Regel männlichen) Mitarbeiter, nein vielmehr zum Chef, zum CEO der Moderne erhob.

Das Problem ist nur: Das 19. Jahrhundert ist längst vorbei. Die Errungenschaften der Moderne sind zweifelsohne grandios und sollen in keiner Weise geschmälert werden. Was nun, nach 200 Jahren Wachstum, Fortschritt und Wohlstand, dringend ansteht, ist ein Realitätscheck. Wir müssen uns der Herausforderung stellen und die Prämissen der Moderne auf ihre Gegenwartstauglichkeit und insbesondere ihr Potenzial zur Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts überprüfen.

Angst vor Veränderung

Man könnte auch von einer kollektiven Entwicklungsverweigerung sprechen. Und in einem solchen Fall muss es irgendwie gelingen, jene Knoten zu lösen, die für das Festhalten an überkommenen Vorstellungen und Regeln verantwortlich sind. Die Erkenntnis, dass diese zwar für eine bestimmte Phase sehr nützlich, vielleicht sogar überlebenswichtig waren, nun aber überflüssig geworden sind, wäre völlig ausreichend. In der Regel ist es ein dicht verwobenes Geflecht aus diffusen Ängsten, insbesondere der Angst vor Veränderung. Was hilft? Ein erster Schritt wären Selbsterkenntnis, Einsicht, die Änderung der Blickrichtung – und irgendwann taucht der Wunsch nach Veränderungen auf. Horizonterweiterung heißt das Zauberwort, die Mobilisierung der Vorstellungskraft in Richtung Zukunft.

Vergleichen wir die Situation mit der eines Künstlers oder einer Künstlerin: In den vergangenen 200 Jahren hat die Menschheit mit großem Fleiß, in bewundernswerter Konzentration und unter Aufbringung ganz erheblicher Opfer an der Moderne gearbeitet. Nun ist es Zeit, endlich einmal wieder aufzuschauen. Zurückzutreten. Den Blick auf das Gesamtkunstwerk, das da entstehen soll, freizugeben. Erst dann sieht die Künstlerin – in unserem Fall also die Menschheit –, wie sich die vielen einzelnen Details zu einem Ganzen zusammenfügen. Auch sieht sie, wo der Pinsel neu angesetzt werden kann. Wenn es uns gelingt, eine Vorstellung von unserer Zukunft zu entwickeln, wissen wir, wie wir jetzt handeln sollten. Die Lust zum Weitermalen kommt zurück.

Abstand gewinnen. Zurücktreten. Sich trennen. Den Pinsel mal aus der Hand legen. Eine neue Perspektive wählen. All das sind notwendige Voraussetzungen zur Entwicklung neuer und zukunftsfähiger Konzepte für das 21. Jahrhundert.

Historischer Weitblick statt gegenwartsfixierter Kurzsichtigkeit ist gefragt

Was mir als Historikerin immer wieder auffällt, ist die Kurzsichtigkeit der Gegenwart. Sie ist eines der größten Hindernisse dabei, sich Distanz zugunsten der Zukunft zu verschaffen. Kennzeichnend dafür sind die vielen Bilder der Vergangenheit, die im kollektiven Bewusstsein herumgeistern. Wie eine Wolke schwebt das unausgesprochene Gesetz der linearen (Höher-)Entwicklung in unseren Köpfen.

Was fällt uns ein, wenn wir darüber nachdenken, wie die Menschen früher im Lauf der Geschichte gelebt haben? Sofort entsteht das Bild vom Aufstieg der Menschheit aus der Steinzeithöhle in den Renaissancepalast und von dort direkt in unsere komfortablen Eigenheime mit Badewanne und Internetanschluss. Ähnlich die Vorstellung von Wirtschaft. Richtig angefangen hat das mit der Wirtschaft ja angeblich erst vor Kurzem, mit der industriellen Revolution. Natürlich haben die Menschen schon immer Waren getauscht und gehandelt. Aber erst mit der Erfindung des Kapitalismus und der industriellen Revolution ging es dann wirklich zur Sache. Und – so dann gleich der nächste Sprung – außerdem gibt es zum Kapitalismus keine Alternative. Sowohl die sozialistischen als auch die faschistischen Planwirtschaften sind bekanntlich gescheitert, und wie es aussieht, ist von außereuropäischen Wirtschaftsmodellen auch nicht viel zu erwarten: Also müssen wir uns notgedrungen für die nächsten Jahrhunderte irgendwie mit dem Kapitalismus arrangieren.

Aus historischer Perspektive sind solche Aussagen Kennzeichen extremer Kurzsichtigkeit und Gegenwartsfixierung. Vielleicht kommt ein tüchtiger Schuss Selbstüberschätzung hinzu. Weiter ein Mangel an Vorstellungskraft. Und schließlich die Angst, sich aus der eigenen Komfortzone hinauszubegeben. Die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es anderswo, zum Beispiel früher – also in der Vergangenheit – oder später – also in der Zukunft – ganz anders war oder sein könnte. Anders, und dennoch gut.

Was wir brauchen, sind neue Vorstellungen von der Zukunft. Die Konzepte der vergangenen 200 Jahre, der sogenannten Moderne, waren grandios, und sie haben weit getragen. Viele Versprechen der Moderne wurden eingelöst. Doch wie geht es jetzt weiter? Bekanntlich hören Märchen nicht von ungefähr dann auf, wenn der verwunschene Prinz die Prinzessin heiratet und alle glücklich und zufrieden bis an ihr Ende leben können. Wie leben wir in einer Welt der erfüllten Wünsche? Einer Welt der Waschmaschine, mit einer weltweiten Alphabetisierungsrate von nahezu 80 Prozent und scheinbar unbegrenzter Mobilität, die uns erlaubt, in anderthalb Stunden die Alpen zu überqueren, im Flugzeug von Frankfurt nach Mailand für nur zehn Euro. Wohin mit all diesen grandiosen Errungenschaften der Moderne? Was tun in einer Welt, die sich auf einmal so viel schneller zu drehen scheint als noch vor zehn Jahren, die so viel kleiner geworden ist, aber auch zerbrechlicher, ächzend unter der Last der Erfolge der Moderne, und überdies so vollgepackt mit jungen zukunftshungrigen Menschen.

Horizonterweiterung

Wenden wir uns der Vergangenheit zu, um die Zukunft besser in den Blick nehmen zu können. Mit dem Ziel, jenen größeren Rahmen zu erfassen, der Handlungsspielräume eröffnet. Dazu müssen wir weiter zurück als nur 200 Jahre. Immerhin kann der moderne Homo sapiens auf 300 000 Jahre Vergangenheit zurückblicken. Hat vor etwa 100 000 Jahren Afrika verlassen und nach und nach erfolgreich fünf Kontinente besiedelt, die große Eiszeit überlebt, ebenso wie die darauf folgende Klimaerwärmung – im Gegensatz etwa zum Mammut, das um 12 000 v. Chr. ausgestorben ist. Wie haben sie das geschafft, diese Menschen? Wie haben sie gewirtschaftet? Wie haben sie Krisen überstanden?

Im Folgenden schlage ich eine Konzentration auf die Zeit vor der industriellen Revolution im 18. Jahrhundert vor. Auf die sogenannte Vormoderne. Ein schwieriger Begriff, der die Weltgeschichte in Modern – also »wir« – und alles davor – also die »anderen« – einteilt. Das ist eine nicht besonders kluge Einteilung, vor allem, wenn man bedenkt, dass die »Vormoderne« mehr als 300 000 Jahre Menschheitsgeschichte unter einen Hut bringen soll. Daher wird dieser Begriff wenn möglich vermieden. Wir bewegen uns in den gut zwei Jahrtausenden vor der Industrialisierung, also in der Zeit seit der griechischen Antike im 5. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Die meisten der Beispiele stammen aus dem Hoch- und Spätmittelalter, die Zeit seit der Jahrtausendwende bis ins 16. Jahrhundert. Wir sprechen über Gesellschaften und Wirtschaftsformen auf dem europäischen Kontinent, einschließlich des Vorderen Orients und Nordafrikas, die damals, als das Mittelmeer die Schaltzentrale der Wirtschaft war, kulturell und wirtschaftlich ganz selbstverständlich dazugehörten. Diese Epoche und der geografische Raum haben den Vorteil, dass die Menschen vergleichsweise viele schriftliche Dokumente hinterlassen haben, die uns erstaunlich detaillierte Einblicke in ihre Lebens- und Vorstellungswelten geben. Aus diesen lassen sich Diskurse um Normen, Praktiken und Theorien des Wirtschaftens in der Vormoderne rekonstruieren.

Um Enttäuschungen zu vermeiden: Es geht nicht um konkrete Lösungsvorschläge im Sinne einer Rückkehr zu mittelalterlichen Formen des Wirtschaftens. Ganz und gar nicht. Keiner, der sich nur ein bisschen mit der Geschichte dieser Zeit auskennt, wird sich eine Rückkehr ins Mittelalter wünschen. Dieses Buch soll Inspirationen vermitteln, unseren Möglichkeitssinn wecken und uns helfen, die Grenzen überkommener Denkmuster zu überwinden.

Es wird viel darüber diskutiert, ob man aus der Geschichte etwas lernen könne oder nicht. Nach meiner Erfahrung ist eines unbestreitbar: Keine Vergangenheit kann maßgeschneiderte Lösungen für eine Zukunft bieten. Jede Zeit muss selbst handeln. Was sie bieten kann, ist eine Erweiterung unseres Vorstellungshorizonts. Anregungen auf unserer Suche nach zukunftsfähigen Wirtschaftsmodellen, für unser Bemühen um Neuinterpretationen des Status quo zugunsten zeitgemäßer Konzepte. Wie sieht die Zukunft aus, wenn wir sie nicht länger durch die Brille der längst überkommenen Moderne betrachten, zu deren wichtigsten Merkmalen Normierung und Standardisierung zählten? Was passiert, wenn wir dieses viel zu enge und unzeitgemäße Korsett einmal ablegen? Was geschieht, wenn wir – inspiriert von vergangener Vielfalt – ganz anderen Sichtweisen auf Gegenwart und Zukunft Raum geben? Was, wenn sich herausstellen sollte, dass wir auch ganz anders können?

Ein neuer Blick auf das Rahmenwerk

Viele Ansätze sind bereits sichtbar. Ansätze für ganzheitliche und zukunftsorientierte Unternehmenssteuerung, die Non-Profit-Initiative der OECD für neue Accounting-Standards in börsennotierten Unternehmen zum Beispiel. Die Nachteile von Eigentum, die Verantwortung, die Kosten, aber auch die Verlockungen der Ungebundenheit machen neue Modelle der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen attraktiv. Immer mehr Menschen entscheiden sich gegen das Hamsterrad maximaler Produktivität und eine steile Karriere. Lieber wollen sie weniger arbeiten und dafür mehr Zeit für ihre Kinder haben. Oder sie reisen mit wenig oder gar keinem Geld um die Welt und verzichten ganz bewusst auf ein festes Einkommen. Ganz falsch liegt, wer hier ein spätes Erbe der in die Jahre gekommenen Hippies vermutet. Die neue Minimalismusbewegung kommt vielmehr postmodern und digital daher. Man kann ihre Akteure auf TED-Konferenzen treffen oder auf Buchmessen. Sie gewinnen renommierte Preise, etwa mit Baukonzepten für Kleinstraumwohnungen. Tauschbörsen boomen allerorten, ebenso wie Start-ups, die zum Beispiel aus alten Lastwagenplanen Taschen zu Respekt einflößenden Preisen herstellen. Marktsektoren im Bereich von Nutzungs- und Konsumgemeinschaften wachsen in beeindruckender Geschwindigkeit ebenso wie Vintage-Mode-Onlineshops bis hin zur Haute Couture. Auch wächst die Zahl der Menschen, die über Möglichkeiten von Wirtschaft ohne Wachstum nachdenken, das Schlagwort heißt Post-Growth Economy, Slogans wie »From Bigger to Better« geben die Richtung vor. Im Bereich der Theorie werden die Forderungen nach der Pluralisierung der Wirtschaftswissenschaften immer lauter, etwa in der studentischen Initiative »Plurale Ökonomik« oder der Initiative FuturZwei von Harald Welzer. Man muss diese Bewegungen nicht alle gut finden. Aber ihre Anliegen sind dringlich. Diese Menschen agieren auf dem Markt, als MarktteilnehmerInnen, wollen partizipieren und einen Beitrag leisten zur Gestaltung der Zukunft. Aber eben auf eine Art und Weise, die unserem ökonomischen Alltagsverständnis – dem überkommenen Alltagsverständnis einer in die Jahre gekommenen Moderne – zuwiderläuft.

Dieses Buch möchte einen Beitrag zur Erweiterung unserer Handlungsspielräume leisten. Neugierig machen, Ängste abbauen und die Lust auf Zukunft wecken. Ein Plädoyer sein für ein neues Verständnis der menschlichen Fähigkeiten zu wirtschaften. Nicht die Wirtschaft ist das Problem, sondern unser eindimensionales Verständnis davon, was Wirtschaften heißt.

Gang durch das Buch

Das erste Kapitel durchleuchtet zunächst landläufige Vorstellungen über die Vergangenheit, erklärt, was Metanarrative sind und warum das 21. Jahrhundert endlich seine eigenen, neuen Geschichten braucht. Die vertraute Erzählung vom Aufstieg und Fortschritt wird eingebettet in ihre Entstehungszeit im 19. Jahrhundert. Damals wurde alles immer besser, und um die eigene Gegenwart umso heller erstrahlen zu lassen, musste die Vergangenheit umso dunkler gezeichnet werden. Bis heute bestimmt das Bild von der grenzenlosen Armut der Menschen früher ganz selbstverständlich, fast intuitiv unsere Vorstellung. Aber mussten unserer Vorfahren wirklich von morgens bis abends schuften? Waren sie arm wie die Kirchenmäuse? Lebten sie in Schmutz und Dreck unter menschenunwürdigen Bedingungen? Zur besseren Orientierung bietet das Kapitel statt Mythen einige historisch belastbare Daten und Zahlen zu Europa im Hoch- und Spätmittelalter.

Dann beginnt die Zeitreise in die Vergangenheit auf den Spuren der wirtschaftlichen Vielfalt Europas vor der industriellen Revolution.

Geschichte des Teilens und der Kooperation. Mittelalterliche Klöster werden vorgestellt als Gemeinschaften mit anderthalb Jahrtausenden Erfahrung in Sharing Economy. Ihre Geschichte beweist: Man kann Ressourcen kollektiv nutzen und mit diesem wertvollen Gut erfolgreich und nachhaltig wirtschaften. In diesem Kapitel wird auch die Geschichte der Commons beleuchtet. Wie konnte über Jahrhunderte die nachhaltige Bewirtschaftung gemeinschaftlicher Ressourcen gelingen? Wie haben unsere Vorfahren Externalitäten internalisiert? Das 1713 erschienene Werk Sylvicultura Oeconomica von Hans Carl von Carlowitz gilt heute als die »Geburtsurkunde« der Nachhaltigkeit. Bedeutet das, es gab davor keine Nachhaltigkeitskonzepte? Am Beispiel der Bodenseefischerei und der Fernweidewirtschaft südfranzösischer Bauern (Transhumanz) wird diesen Fragen nachgegangen. Ein drittes Beispiel für Sharing Communitys sind die Wohngemeinschaften von Frauen, die in den wirtschaftlichen Zentren Flanderns seit dem 13. Jahrhundert entstanden. Frauen, die in ganz unterschiedlichen Berufen arbeiteten und denen Städte wie Antwerpen und Brügge ihre wunderschönen Stadtgärten verdanken.

Recycling. Hier geht es um ökologische Nachhaltigkeit in Konzentration auf den schonenden Umgang mit Ressourcen. Erst im 20. Jahrhundert taucht der Begriff »Abfall« im heute geläufigen Sinn als »nicht weiterverwertbare Reste« in den Wörterbüchern auf. Die Vormoderne kannte den Begriff nicht. Es gab nur Kreislaufwirtschaft, Wiederverwerten war selbstverständlich, Secondhandware dominierte die Märkte, Recyclingprodukte waren die Norm. Eine erste Studie widmet sich den Reparaturberufen am Beispiel der mittelalterlichen Stadt Frankfurt, wo die Buden der sogenannten Altlepper und Altplecker auf Handelsmessen und im Straßenbild der Stadt allgegenwärtig waren. Schilderungen von Secondhandmärkten in Paris geben eine Vorstellung davon, wie die damalige Mode von Upcycling und Trödlern geprägt war. Am Beispiel der Geschichte des Papiers wird gezeigt, wie ein chinesisches Recyclingprodukt aus Lumpen (Hadern) die globalen Märkte eroberte. Das Kapitel behandelt auch das Problem der Innovationsfeindlichkeit von Experten, die als Hüter des Althergebrachten den neuen Techniken und Materialien skeptisch begegnen. Das letzte Beispiel handelt von Baustoffrecycling im Mittelalter. Die Wiederverwertung antiker Bauteile war damals selbstverständlich. Neben pragmatischen Aspekten spielte der Mehrwert der Vergangenheit eine große Rolle, die Lust an Assemblage und Bricolage, wie sie zum Beispiel am Dom zu Aachen sichtbar wird.

Mikrokredite. Das vierte Kapitel fragt nach Modellen sozialer Nachhaltigkeit und beginnt mit der Geschichte der Mikrokreditbanken im 15. Jahrhundert in Oberitalien. Diese sogenannten Monti di Pietà, kommunale Pfandleihanstalten, gegründet auf Initiative der städtischen Bevölkerung, dienten zur Kapitalversorgung der ärmeren Stadtbevölkerung. Die wohlhabenden Bürger der Stadt stellten das Kapital, um den weniger wohlhabenden, insbesondere den ärmeren Handwerkern, Bauern und Tagelöhnern Zugang zu Investitionskapital zu verschaffen. So konnte der im städtischen Umland tätige Bauer im Frühjahr seinen Wintermantel als Kreditsicherung hinterlegen – gegen Geld, das er dann in Saatgut investierte. Im Herbst nach der Ernte konnte er mit den Gewinnen aus den Erträgen den Mantel schließlich wieder auslösen. Innerhalb kürzester Zeit verbreitete sich dieses Modell in ganz Europa. Kreditfinanzierung war mittelalterliche Alltagspraxis, und zwar auf allen sozialen Ebenen. Das wird am Beispiel der Stadt Basel veranschaulicht, wo Kreditsicherung für die Bürger durch einen Eintrag in öffentliche Schuldbücher – den sogennanten Vergichtbüchern – erfolgte. Diese Bücher sind bis heute im Basler Stadtarchiv erhalten und erlauben Einblicke in die zeitgenössischen Kreditpraktiken und über die Funktion von Schulden als Sozialkitt innerhalb der städtischen Kommune. Die nachhaltige Vernetzung ländlicher und städtischer Wirtschaft wird am Beispiel der sogenannten Viehverstellung veranschaulicht. Städter gaben Kredite an Landbewohner in Form von Vieh, das vom Bauer großgezogen, gepflegt und genutzt wurde. Risiken und Erträge der sogenannten Nachzucht, also Kalb, Fohlen, Ferkel und dergleichen, wurden zwischen Besitzer und Landwirt geteilt.

Spenden und Stiften. Projektfinanzierung über Spenden war im Mittelalter selbstverständlich. Nicht allein für soziale und karitative Einrichtungen, sondern auch für größere gemeinnützige Projekte. So zählte etwa der Brücken- und Straßenbau im Mittelalter zu den Werken der Barmherzigkeit. Wie genau eine solche Spendenkampagne funktionierte, wird am Beispiel der berühmten Rhônebrücke in Avignon vorgestellt. In der zweiten Fallstudie wird die Frage diskutiert, ob der Ablass als ein Modell mittelalterlicher Crowdfinanzierung verstanden werden kann, an dem sich die Chancen und Risiken dieser Finanzierungsform zeigen lassen. Es geht um umlagefinanzierte Kulturförderung, mit der neben Brücken, Deichen oder Kirchenbauten auch die bis heute bedeutendsten Renaissancekünstler von Raffael und Bramante bis Michelangelo finanziert wurden. Doch zeigt dieses Beispiel auch sehr schön, dass die Geduld der Menge (Crowd) nicht unerschöpflich ist. Der Ablass wurde zu einem der wichtigsten Gründe für den durchschlagenden Erfolg der Reformation. In dem Kapitel wird zudem eines der eindrücklichsten Beispiele für nachhaltiges Investment in dem Bereich, den wir heute Corporate Social Responsibility nennen würden, vorgestellt: die Sozialwohnungen am Kappenzipfel in Augsburg – besser bekannt als die Fuggerei –, gestiftet von Jakob Fugger, dem Reichen im Jahr 1521. Was diesen Fall so einmalig macht, ist die Nachhaltigkeit der Siedlung, die bis heute unverschuldet in Not geratenen Bürgerinnen und Bürgern der Stadt günstigen Wohnraum bietet.

Minimalismus. Das sechste Kapitel fragt nach Lösungsansätzen, die in der Forderung nach Konsumverzicht wurzeln. Menschen, die freiwillig ohne Geld und ohne festes Einkommen lebten, waren über Jahrhunderte fester Bestandteil jeder größeren Stadt und trugen maßgeblich zur Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens bei. Dieses Kapitel führt uns weit zurück in die griechische Antike im 4. Jahrhundert v. Chr. zu dem Philosophen Diogenes in der Tonne, dem Begründer der sogenannten Kyniker, einer Philosophie, die den pragmatischen Verzicht als Weg zur Freiheit und zum guten Leben beschreibt. Das nächste Beispiel stammt aus dem Spätmittelalter. Mit der wachsenden Urbanisierung Europas seit dem späten 12. Jahrhundert, ausgelöst durch Klimawandel und eine damit verbundene demografische Expansion, entstanden plötzlich unzählige Gemeinschaften dieser Minimalisten – die sogenannten Bettelorden –, die nach dem Prinzip »Less is more« ihr Umfeld, insbesondere das soziale und wirtschaftliche Leben, nachhaltig prägten und unter anderem die originellsten Wirtschaftstheoretiker der Zeit hervorbrachten. Petrus Johannis Olivi aus Sérignan in Südfrankreich, ein radikaler Minimalist, legte eine zukunftsweisende Analyse des Marktgeschehens vor und definierte in seiner Schrift über Verträge – 500 Jahre vor Karl Marx – den Begriff des Kapitals.

Im letzten Kapitel werden Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit für die Zukunft gezogen. Wirtschaft ist nicht alternativlos. Wir können auch anders. Wir können Veränderung. Menschen können und wollen viel mehr als nur Eigennutz. Erst Kooperation ermöglicht die Umsetzung individueller und kollektiver Ziele. Doch dafür braucht es Regeln, die dafür sorgen, dass die Menschen nicht dümmer handeln, als sie eigentlich sind. Das Buch endet mit Vorschlägen, die einen Weg aus der Alternativlosigkeit weisen könnten. Denn die Geschichte lehrt uns, dass Menschen viel mehr können als individuellen Eigennutz. Die Geschichte hat gezeigt, wir können auch ganz anders – wir müssen es nur wollen.

1.  Waren wir arm vor der Erfindung des Kapitalismus?

1.1. Die Geschichte vom Fortschritt – Moderne Meistererzählungen und ihre Fallstricke

Es fällt uns heute schwer, die Geschichte der Menschheit nicht als eine Geschichte des Fortschritts und Aufstiegs zu erzählen. Dabei war das nicht immer so. Es gab viele Epochen, in denen man Geschichte anders dachte, zum Beispiel zyklisch, in immer wiederkehrenden Rhythmen, oder auf ein Endgericht zusteuernd, oder auch als Geschichte des Abstiegs. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde der Fortschritt auf den Sockel gehoben. Es war das Zeitalter der sogenannten Aufklärung, in dem das Licht der Vernunft Europa erleuchtete und Immanuel Kant die Geschichte des Aufstiegs der Menschheit aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit (1784) neu erzählte. Damit schuf er den Gründungsmythos der Moderne, der im Laufe des 19. Jahrhunderts in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft reiche Früchte trug. Charles Darwins Theorie von der Entstehung der Arten (1859) erweiterte dieses Bild ins Reich der Natur. Mit dem »Stammbaum der Evolution«, in dem der biologische Aufstieg der Arten dargestellt wird, fand der Homo sapiens seinen Platz ganz oben an der Spitze, quasi als Sieger des biologischen Kampfes ums Dasein. Karl Marx und Friedrich Engels spornten das Proletariat an, endlich aus der Unterdrückung hin zur klassenlosen Gesellschaft aufzusteigen, während der Kapitalismus Technik und Wirtschaft als Motoren des Aufstiegs in eine Welt der ungehinderten Bedürfnisbefriedigung predigte. Ein weiteres, besonders unschönes Kapitel in dieser aufklärerischen Geschichte vom Aufstieg ist die Einteilung der Menschen in »Wir und die Anderen«. Denn der westliche weiße Mann trieb ja den Aufstieg voran, war er doch dem Rest der Welt überlegen, weil er diese Geschichte erfunden hatte. Mit seinem Fleiß, seiner Effizienz und Rationalität war er an die Spitze gelangt. Mit der Erfindung der Rassen, ebenfalls im 18. Jahrhundert, wurde diese Vorstellung mit vermeintlich wissenschaftlichen Argumenten fundiert. Die Folgen sind bekannt und belasten uns bis heute: Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus und die Ausbeutung von Mensch und Natur in weiten Teilen der Erde haben globale Ungerechtigkeiten zementiert, die nur schwer rückgängig zu machen sind. Ähnlich die langfristigen Schäden und die Zerstörung, die der Mythos vom Eigennutz als Triebfeder des Fortschritts angerichtet hat. Dieser Mythos zählt vermutlich zu den robustesten Narrativen der letzten zwei Jahrhunderte. Zum Erfinder hat man Adam Smith erklärt, der in seinem Klassiker über den Wohlstand der Nationen (1776) im Kapitel über die Arbeitsteilung darauf hinweist, dass der Bäcker seine Brötchen natürlich nicht aus Nächstenliebe, sondern aus Eigennutz verkaufe, damit aber dennoch für das Wohl der Allgemeinheit sorge.1 Daraus wurde im Umkehrschluss gefolgert, dass individuelles Gewinnstreben am besten sei für alle, für Innovation und Fortschritt, und dass folglich die Menschheit ihren Aufstieg dem Kapitalismus verdanke, dessen Anfänge, Frühformen und Vorboten bis weit zurück in die Antike verfolgt wurden.

Der Wind der Zukunft hatte die Menschen in Europa mit dem Beginn der Moderne vor über 200 Jahren erfasst, und die Geschichte vom Aufstieg passte nicht nur zur damaligen Zeit, sie hat sich auch erstaunlich lange gehalten, hat sich bis heute festgesetzt im kollektiven Gedächtnis. Man spricht in diesem Fall von Metanarrativen, auch Meistererzählungen genannt. Gemeint sind damit nicht Geschichten im eigentlichen Sinne, also Geschichten, wie man sie in historischen Zeitschriften liest oder von Geschichtslehrern erzählt bekommt – nein, es sind Geschichten, die einfach da sind, die nicht darauf angewiesen sind, explizit erzählt zu werden. Narrative, also Erzählungen, die gleichsam unter der Oberfläche der eigentlichen Geschichte spielen, uns Sicherheit geben und Sinn stiften. Solche Meistererzählungen speichern Erfahrungswissen vieler Generationen und geben Orientierung für das Selbstverständnis der Gegenwart. Sie sind wichtig, und sie sind gut.2

Allerdings nur solange sie zu der Wirklichkeit passen, die sie erklären sollen. Die Frage ist, ob wir heute immer noch Erzählungen brauchen, die den Aufstieg der westlichen Welt erklären. Dieses Narrativ passte zur Zeit der Hochindustrialisierung und zum Zeitalter des Kolonialismus. Es begleitete die zunehmende Beherrschung der Natur durch Innovation und Technik seit der Erfindung der Dampfmaschine 1769, der Eröffnung der ersten Dampflokbahn der Stockton-Darlington Railway im September 1825, über die Inbetriebnahme des ersten Atomkraftwerks in Obninsk in Russland im Sommer 1954 bis zur Mondlandung im Juli 1969. Aber passt diese alte Geschichte auch für das 21. Jahrhundert? Die Welt hat sich weitergedreht. Die Natur schickt uns jetzt die Rechnung für die zwei Jahrhunderte gnadenloser Ausbeutung. Die Einteilung des Globus in »Wir und die Anderen« hat Verheerendes angerichtet, sodass es allen Grund gibt, diese Metanarrative auf den Prüfstand zu stellen. Welche sind noch nützlich? Von welchen können wir uns verabschieden?

War früher alles besser oder alles schlechter – Romantiker vs. Modernisten?

»Es war einmal vor langer Zeit, da waren wir alle arm, dann kam der Kapitalismus, und jetzt sind wir alle reich.«3
 Mit dieser Kurzformel hat Deirdre McCloskey – US-Ökonomin an der University of Illinois in Chicago – das naive Weltbild vieler ihrer Kollegen kritisiert. Der Kapitalismus gilt vielen noch immer als Schlüssel zum Heil. Dort, wo heute Armut herrscht, hat der Kapitalismus offenbar noch nicht richtig Fuß fassen können. Doch irgendwann werden der Kapitalismus und damit der Fortschritt auch in Afrika, Südostasien oder Südamerika obsiegen – so die stillschweigende Annahme.

Die Vorstellung, wonach früher, egal ob im Mittelalter oder im 19. Jahrhundert oder in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, alles schlimmer gewesen sei, durchzieht unsere kollektive historische Fantasie wie ein roter Faden. Genau wie im Übrigen die gegenläufige Erzählung davon, dass früher alles besser, einfacher, natürlicher, unkomplizierter und irgendwie menschlicher gewesen sei. Zwei seltsam widersprüchliche Erzählungen, die unser Gehirn jedoch irgendwie gleichzeitig gespeichert hat und je nach Bedarf abrufen kann, ohne dass sie sich allzu sehr in die Quere kommen. Die Debatte läuft unter dem Oberbegriff der »Modernisten vs. Romantiker«. Während Erstere die Segnungen der Moderne rühmen, trauern Letztere einer untergegangenen Welt nach. Beide Lager haben eines gemeinsam: Sie »exotisieren« die Welt der Menschen, die früher gelebt haben. Die »Romantiker« betrauern den Verlust der Einfachheit, der Solidarität der Großfamilien, des Lebens in Einheit mit der Natur ohne Entfremdung und Konsum. Die »Modernisten« sind heilfroh, die primitiven Lebensverhältnisse der Vergangenheit überwunden zu haben. Beide argumentieren nach dem gleichen Muster: Die Menschen früher waren anders als wir, gewalttätiger oder friedlicher, hatten es besser oder schlechter, je nach Weltanschauung und Diskussionszusammenhang, doch in jedem Fall waren sie »anders«. Man macht sie zu Fremden, distanziert sich von ihnen, vergleicht sich mit ihnen, um sich von ihnen abzuheben, egal ob man dies wie die Romantiker als »Opfer« oder wie die Modernisten als »Sieger der Moderne« tut. Man könnte von einer Form des historischen »Otherings« sprechen, ein Begriff, der in der Sozialpsychologie verwendet wird, um die menschliche Tendenz zur Einteilung der Menschen in »Wir und die Anderen« zu fassen.4 In der Konstruktion der Mythen der Moderne spielt dieser Mechanismus eine wichtige Rolle als Motor der Selbstvergewisserung der Gegenwärtigen.

Von Läusen, Knochensägen und Langeweile

Als Beispiel dazu hier ein Auszug aus Steven Pinkers Buch Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, der die These vom Aufstieg der Menschheit aus einer gewalttätigen, finsteren Vergangenheit in eine friedliebende, gewaltarme Gegenwart vertritt. Aus seiner Sicht stellte sich das Leben früher wie folgt dar:

»Unsere Vorfahren waren von Läusen und Parasiten befallen und lebten über einem Keller, in dem sich ihre eigenen Exkremente häuften. Das Essen war fade, eintönig und nur unregelmäßig verfügbar. Die medizinische Versorgung bestand aus der Knochensäge des Arztes und der Zange des Zahnarztes. Beide Geschlechter schufteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und anschließend waren sie von Dunkelheit umgeben. Winter bedeutete mehrere Monate mit Hunger, Langeweile und quälender Einsamkeit in verschneiten Bauernhäusern. […] Ihnen fehlten auch die höheren, edlen Dinge des Lebens wie Wissen, Schönheit und zwischenmenschliche Bindungen. Noch vor nicht allzu langer Zeit entfernten sich die meisten Menschen nie weiter als ein paar Kilometer von ihrem Geburtsort. Niemand wusste etwas über die ungeheuren Weiten des Kosmos […]. Wenn Kinder auswanderten, sahen ihre Eltern sie möglicherweise nie mehr wieder, hörten nie mehr ihre Stimme und lernten nie ihre Enkelkinder kennen. Und dann sind da die Geschenke der Moderne an das Leben selbst: zusätzliche Lebensjahrzehnte, Mütter, die am Leben bleiben und ihr Neugeborenes sehen, Kinder, die das erste Jahr auf Erden überleben. Wenn ich heute in Neu-England über alte Friedhöfe schlendere, bin ich immer wieder verblüfft über die vielen winzigen Gräber und die rührenden Grabinschriften. ›Elvina Maria, gestorben am 12. Juli 1845 im Alter von 4 Jahren und 9 Monaten. Vergebt mir die Tränen, hier weint eine Mutter. An diesem Ort schläft das verblichene Blümlein.‹«5

Spätestens mit dieser rührenden Szene am Grab eines vierjährigen Mädchens im Jahr 1845 hat Pinker uns auf seine Seite gebracht. Es muss furchtbar gewesen sein früher. Die Menschen hatten es schwer. Und natürlich wird ihm kaum jemand widersprechen, schon gar nicht jene, die sich ein bisschen auskennen mit Geschichte. Allerdings fällt doch auf, dass bei der ganzen Dramatik gänzlich offenbleibt, von welcher Vergangenheit nun eigentlich die Rede ist. Wann genau und in welchen Regionen haben unsere Vorfahren direkt über Kloaken gehaust? In welchem Jahrhundert gab es Ärzte, die keine Behandlungsmethoden außer der Knochensäge kannten? Wann gab es Menschen, die nie ihren Geburtsort verließen? Wie passt das zur mittelalterlichen Pflicht jedes Christen, eine Pilgerreise zu unternehmen? Wie passt das zu den vielen Migrationen der Geschichte, angefangen bei der sogenannten Völkerwanderung im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr., zu den Angeln und Sachsen, die im 5. Jahrhundert nach England zogen, zu den Normannen, die seit dem 8. Jahrhundert in ganz Europa von der Atlantikküste bis nach Kiew, von Schottland bis nach Sizilien siedelten? Und wie passt es zu den überbuchten Schiffen und zu den Massen, die seit dem 12. Jahrhundert regelmäßig ins Heilige Land aufbrachen? Schließlich fragt man sich, wie sich diese bedrückende Immobilitätserfahrung unserer armen Vorfahren mit all ihren Qualen beim Auswandern unter einen Hut bringen lässt.

Was uns hier serviert wird, ist ein leichter Sommersalat, bunt gemischt mit Pseudowissen quer durch die Jahrhunderte. Eine nahezu vollkommene Zusammenschau des Allgemeinwissens über »früher« in unserem kollektiven Unterbewusstsein. Aber stimmt das denn?

1.2. Mussten unsere Vorfahren von morgens bis abends schuften?

Nehmen wir Pinkers Vorstellung von der unermüdlichen Schufterei unserer Vorfahren, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und davon, wie sie anschließend in der Dunkelheit herumsaßen und weder Kunst noch Schönheit, noch zwischenmenschliche Beziehungen kannten. Was wissen wir über die Arbeitszeiten der Menschen in früheren Jahrhunderten? Wie war ihre Wochenarbeitszeit? Wie viele Arbeitstage und wie viele Feiertage hatte das Jahr?

Intuitiv gehen wir davon aus, dass Pinker recht hat. Und intuitiv stellen wir uns vor, dass der Kapitalismus die Mühsal des Arbeitslebens reduziert habe. Man vergleicht die moderne 40-Stunden- mit der 80-Stunden-Woche des 19. Jahrhunderts und geht davon aus, dass das früher schon immer so war. Erinnert sich an das harte Leben der mittelalterlichen Bauern, die tagaus, tagein ihre Feldarbeit verrichten mussten, von den armen Handwerkern, die in kalten, feuchten Werkstätten oft bis spät in die Nacht ihre Aufträge erfüllen mussten. Diese Bilder sind Rückprojektionen aus der Gegenwart in vermutete Vergangenheiten. Sie sind falsch! Vor der Erfindung des Kapitalismus arbeiteten die meisten Menschen nicht besonders lange. Rhythmus und Geschwindigkeit des Lebens waren andere. Die Menschen verfügten sicherlich über weniger Geld, aber sie hatten mehr Zeit.

Fünf-Tage-Woche, Blauer Montag und jede Menge Feiertage

Ein Arbeitstag im Leben eines Arbeiters in England, ein sogenannter Frontag, war ein halber Tag, und wenn der Arbeiter den ganzen Tag arbeitete, wurde dies als zwei Tage gerechnet. Die US-amerikanische Ökonomin und Soziologin Juliet B. Schor untersuchte die Entwicklung der Arbeitszeiten von Arbeitern im 20. Jahrhundert und verglich diese mit historischen Daten der Vormoderne.6 Sie arbeitete dazu mit Metadaten aus Studien zu verschiedenen Städten und Regionen im mittelalterlichen England, die eine durchschnittliche Arbeitszeit von acht bis neun Stunden pro Tag für Handwerker, Bauarbeiter, Zimmermänner oder Schreiner ergaben. Die Zahl der Feiertage variierte von Region zu Region und von Diözese zu Diözese. Außer den 52 Sonntagen waren zum Beispiel in der Diözese Oxford im Jahr 1222 mehr als 40 Tage arbeitsfrei, darunter fünf Ferientage an Weihnachten und jeweils drei Tage Urlaub in der Oster- und in der Pfingstwoche. In manchen Regionen Frankreichs gab es mehr als 90 freie Tage, und aus Spanien wird berichtet, dass nahezu fünf Monate des Jahres arbeitsfrei gewesen seien. Auch hatten die Arbeiter Handlungsspielräume, bestimmten ihre Arbeitszeiten mitunter selbst – wenn auch nicht immer im Sinne des Arbeitgebers –, indem sie zum Beispiel das Wochenende verlängerten und am Montag »blaumachten«. Erst seit dem 16. Jahrhundert mehren sich die Verbote des Blauen Montags.7 Der Kieler Wirtschaftshistoriker Gerhard Fouquet bemerkte dazu einmal trocken, dass »dem Schlendrian der spätmittelalterlichen Fünf-Tage-Woche« erst die Reformation ein Ende bereitete.8 Man kann also mit gutem Gewissen davon ausgehen, dass die durchschnittliche Jahresarbeitszeit eines mittelalterlichen Arbeiters bei ca. 2000 Stunden lag, was in etwa dem heutigen Durchschnitt entspricht. Erst im 19. Jahrhundert wurden die Arbeitszeiten dramatisch angehoben, Kinder als Arbeitskräfte herangezogen und all die unmenschlichen Arbeitsbedingungen eingeführt, die wir aus den Romanen von Charles Dickens in so trauriger Erinnerung haben. Und dabei vergessen wir völlig, dass das 19. Jahrhundert nicht das Ende des Mittelalters, sondern der erste Höhepunkt der Moderne war.

Abb. 1: Entwicklung der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit vom 13. bis ins 20. Jahrhundert.

Ist ein Leben ohne Waschmaschine lebenswert?

Hinsichtlich der Arbeitszeiten lässt sich also keine Verbesserung seit dem Mittelalter feststellen. Weder die Fünf-Tage-Woche noch die mittlere Jahresarbeitszeit von 2000 Stunden sind Errungenschaften der Moderne, ganz im Gegenteil. Sie wurden mit dem Anbruch der Moderne und der industriellen Revolution erst einmal abgeschafft. Doch wie sieht es mit dem Lebensstandard aus? Hier scheint die Lage eindeutig. Das Leben der Menschen im 14. Jahrhundert war ohne Zweifel viel unsicherer als unser heutiges. Unsichere Nahrungsmittelversorgung, Krisenanfälligkeit und Labilität zählen zu den wichtigsten Strukturmerkmalen. Doch ist verallgemeinernde Elendsmalerei unzulässig. Denn ausgerechnet die Zeitabschnitte mit dem niedrigsten Stand der Bevölkerung waren die mit der verhältnismäßig besten Versorgung.9 Dennoch, aus heutiger Perspektive kann man eigentlich gar nicht anders, als die Menschen damals als bitterarm zu bezeichnen. Zumindest fehlten ihnen die Annehmlichkeiten, die für uns so selbstverständlich sind: Sie lebten ohne Waschmaschine, ohne Kühlschrank, ohne Telefon und all die anderen Segnungen der Technik. Unvorstellbar. Die Gefahr der Rückschauverzerrung (»Hindsight Bias«) ist offensichtlich, wir neigen dazu, vergangene Gesellschaften aus unserer heutigen Perspektive zu bewerten, und kommen gar nicht auf die Idee, die entscheidende Frage zu stellen: Ist möglicherweise auch ein Leben ohne Waschmaschine lebenswert? Diese provozierende Frage soll nicht dazu verleiten, die Vergangenheit schönzureden. Ganz im Gegenteil. Sie soll dazu anregen, nicht immer nur zu diskutieren, ob es früher besser oder schlechter war, und ein einfaches »anders« in Betracht zu ziehen.

Ernährung und Lebensstandard

Wie sah es mit der Ernährung aus? Fleischtage waren selten. Freitags und samstags, an den wöchentlichen Fastentagen, wurde generell vegetarisch gegessen. Mancherorts hatte die Woche sogar nur drei Fleischtage. Selbstverständlich war die sechswöchige Fastenzeit vor Ostern und in manchen Regionen eine 28-tägige Fastenzeit vor Weihnachten (Adventszeit), daraus ergaben sich zwischen 138 und 230 Fleischtage im Jahr. Die Begrenzung der Fleischtage galt schichtenübergreifend. So ermittelte man für den sicherlich nicht asketisch geführten Haushalt des Bischofs in Arles für das 15. Jahrhundert anhand exakt geführter Haushaltsbücher 214 Fleischtage. Nürnberger Verpflegungssätze aus dem Jahr 1449/50 weisen 109 kg Fleisch für Schweizer Söldner im Dienst der Stadt Nürnberg aus, also für gesuchte und hochbezahlte Spezialisten. 54,3 kg für Egerer Fußknechte, 32,7 kg für ausdrücklich sparsam zu verpflegende Kriegsgefangene. Der Straßburger Chronist Hug Villinger notiert in seiner Chronik aus dem Jahr 1527 eine Teuerung des Fleisches. Der Grund dafür, so vermerkt er lakonisch, sei die Reformation, denn mit deren Einführung seien die Städter dazu übergegangen, auch freitags und samstags Fleisch zu essen.10 Im 19. Jahrhundert ging der durchschnittliche Fleischkonsum eher zurück, lag im Jahr 1890 bei 37,7 kg. Heute verzehren die Deutschen im Schnitt 60 kg Fleisch im Jahr.11

Die Höhe von Lehrgeldern ist sicherlich kein idealer Maßstab zur Ermittlung des Lebensstandards, weil in die Summen eine Entschädigung für den Meister mit eingerechnet ist, dafür, dass er in den Lehrling investiert. Doch tauchen sie verschiedentlich in Rechnungsbüchern auf. So gab der Nürnberger Großkaufmann Hans Praun im Jahr 1472 seine Tochter zu einem Seidennäher in die Lehre. Er zahlte siebeneinhalb Gulden im Jahr für »kostung und lernung«. Ähnlich hoch war ein Stipendium für arme begabte Schüler, mit 8,75 Gulden im Jahr 1496 in Heidelberg. Das war schwerlich kostendeckend, doch kann davon ausgegangen werden, dass damit zumindest ein bescheidener Lebensunterhalt sichergestellt werden konnte. In Straßburg wurden etwa zur selben Zeit, im Jahr 1482, die Kosten für die Unterbringung eines Waisenkindes in einer Familie mit 5,7 bis 7,6 Gulden veranschlagt; in Nürnberg zahlte einer im Jahr 1496 für die Unterbringung eines Familienangehörigen bei einem Wirt umgerechnet aufs Jahr 14,5 Gulden, während der Jahresbedarf für eine einfache anspruchslose Familie zwischen 29 und 31 Gulden lag. Der Unterhalt für den Schreiber des Straßburger Kaufhausmeisters wurde laut Kaufhausordnung aus dem Jahr 1450 mit 19,4 Gulden veranschlagt, und in den Rechnungsbüchern der Gemeinde Stankt Lorenz in Nürnberg werden die Kosten des Orgelbauers, der im Jahr 1448/9 in Sankt Lorenz engagiert wurde, mit 31,5 Gulden für »Zehrkosten und Wein« berechnet.12 Davon konnte ein Handwerker sehr gut in moderatem Komfort leben. Auch wenn die Umrechnung in Euro aufgrund regionaler Unterschiede und Schwankungen in den Wechselkursen nur schwer möglich ist, mögen diese Zahlen und Beispiele genügen, um den Mythos vom verlausten, gelangweilten, einsamen mittelalterlichen Menschen infrage zu stellen.

1.3. Europa im Hoch- und Spätmittelalter – Ein paar Daten und Zahlen

Klimawandel – Bevölkerungswachstum – Verstädterung

Die Mehrzahl der folgenden Beispiele konzentriert sich auf das Hoch- und Spätmittelalter, die Zeit zwischen dem Jahr 1000 und 1600. Daher im Folgenden zur besseren Orientierung einige grundlegende Zahlen und Daten zu den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und klimatischen Bedingungen, die größtenteils auf wissenschaftlich abgesicherten Schätzungen beruhen, da solides Datenmaterial, wie wir das für Gesellschaften des 20. Jahrhunderts haben, nicht vorliegt.13

Ungefähr mit der Jahrtausendwende vom ersten ins zweite Jahrhundert n. Chr. lässt sich zunächst ein leichter, dann ein sehr deutlicher Bevölkerungsanstieg beobachten. Auf dem europäischen Kontinent lebten um das Jahr 1000 ca. 20 Mio. Menschen, im Jahr 1200 an die 60 Mio. Menschen, um 1300 hatte sich die Bevölkerung weiter auf ungefähr 73 Mio. erhöht. Mitte des 14. Jahrhunderts sackte die demografische Kurve dramatisch ab und stabilisierte sich erst wieder Mitte des 15. Jahrhunderts bei 53–55 Mio., fast 10 Mio. weniger als im Jahr 1200. Ein Grund, vielleicht der wichtigste Grund für diese Entwicklung, war ein Klimawandel.

Seit der Jahrtausendwende waren die durchschnittlichen Jahrestemperaturen leicht gestiegen, das Klima wurde milder und freundlicher. Man spricht, zuweilen etwas irreführend, vom hochmittelalterlichen Klimaoptimum, das bis Ende des 13. Jahrhunderts anhielt (11. bis 13. Jahrhundert). Danach wurde es kälter in Europa, das Wetter verschlechterte sich dramatisch. Es kam zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Erträge, verursacht durch Unwetter und Seuchen. 1342 brach eine Serie extrem nasser und kalter Sommer an. Die Sommerkälte des Jahres 1347 gilt als einmalig in der Klimageschichte der vorausgegangenen 700 Jahre. Davor, in den 1320er- bis 1330er-Jahren, waren die Sommer zwar warm, aber überwiegend trocken gewesen, was auch bereits zu Ernährungsengpässen geführt hatte. Die Pest hatte daher ein leichtes Spiel, nachdem der Erreger im Jahr 1347 auf einem Handelsschiff aus Caffa am Schwarzen Meer über Messina nach Europa eingeschleppt worden war. Seit Jahrtausenden war sie ein steter Begleiter der Menschheit gewesen, doch dass sie Mitte des 14. Jahrhunderts so heftig in ganz Europa wütete und fast ein Drittel der Bevölkerung starb, lag vor allem daran, dass die Menschen geschwächt waren und nur wenig Widerstandskräfte hatten. Die sogenannte kleine Eiszeit des Spätmittelalters (14.–16. Jahrhundert) war also der Grund für einen dramatischen Bevölkerungsrückgang.

Abb. 2: Bevölkerungsentwicklung in Europa im Mittelalter.

Am deutlichsten waren diese Klimaveränderungen in den Alpen und an den nördlichen Küsten zu spüren. In den Bergen blieben Pässe wegen Schnee- und Eismassen zeitweise geschlossen, Gletscherzungen drangen seit der Mitte des 12. Jahrhunderts langsam in die Talregionen vor, der Meeresspiegel stieg seit dem 13. Jahrhundert stark an, große Landflächen gingen an das Meer verloren, Sturmfluten, wie die Marcellusflut im Jahr 1362, machten Sylt und Föhr überhaupt erst zu Inseln. Eine Antwort der Menschen auf die andrängende See war verstärkter Deichbau bereits seit dem frühen 10. Jahrhundert. So hatten genossenschaftliche Verbände an der flandrischen Küste geschlossene Deichsysteme mit Schleusen entlang der Küste errichtet. In den Niederlanden wurden im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts mehr als 70 000 Hektar Land abgerungen. Auch entstanden vermehrt Kanalsysteme, die englische Stadt Bristol zum Beispiel wurde im Jahr 1247/8 durch umfassende Kanalanlagen direkt ans Meer angebunden und stieg zur zweitwichtigsten Hafenstadt Englands auf. In der Lombardei legte man den Ticinello an, einen Kanal, der zu Bewässerungszwecken Wasser von einem Nebenfluss des Po nach Mailand abzweigte und später zu einem schiffbaren Kanal ausgebaut wurde. Zahlreiche Brückenbauprojekte wurden geplant. Die Brücke von Avignon über die Rhone wurde im späten 12. Jahrhundert in Angriff genommen – wir werden darüber noch viel hören –, ein anderes berühmtes Beispiel ist die Karlsbrücke über die Moldau in Prag, deren Bau unter der Leitung von Peter Parler 1357 begonnen wurde. Auch in den Bergen überbrückte man Täler, so etwa die Schöllenenschlucht am Gotthardpass, und an der Brennerroute ließ ein Bozener Kaufmann, Heinrich Kunter, einen Saumweg durch die Eissackschlucht nach Klausen schlagen. In ganz Europa wurden Landflächen kultiviert und Wälder gerodet. Auch in bisher unzugänglichen und weniger fruchtbaren Regionen, zum Beispiel im kargen Zentralmassiv Frankreichs, siedelten nun Menschen. Immer mehr Menschen aus den Regionen nördlich der Alpen zogen in die kaum besiedelten Gegenden im Osten. Das neu gegründete Lübeck wurde zu einem Zentrum der Ostexpansion.

Abb. 3: Stadtgründungen und Bevölkerungsentwicklung in Mitteleuropa 1150–1600.

Eine Folge des demografischen Wachstums war die Urbanisierung der Gesellschaft, die Gründung neuer Städte. Sie entstanden in den reichsten landwirtschaftlichen Regionen, vermehrt bereits seit Mitte des 11. Jahrhunderts als urbane Zentren, die von der Wirtschaft der Bauern in der Umgebung lebten. Kein Bauer, so schreibt Konrad von Megenberg im 13. Jahrhundert, kehrt freiwillig aufs Land zurück, wenn er erst mal die »urbanitas« kennengelernt hat. Sie versprachen höhere Löhne und besseres Essen – die Städte waren für die Menschen damals wohl nicht weniger attraktiv als heute. An die 25 Prozent der ländlichen Siedlungen wurden in dieser Zeit verlassen. Man spricht von Wüstungen, Dörfer und Weiler, die aufgegeben wurden, weil es die Menschen massenhaft in die Stadt zog.

Im 13. Jahrhundert erlebte die Stadtgründungsaktivität ihren absoluten Höhepunkt. Bis ungefähr ins Jahr 1250 herrschten die sogenannten Gründungsstädte vor, von einem Landesherrn neu gegründete Städte wie Kiel (1242), Rostock (1218), Stralsund (1234) oder Berlin (1230). In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts werden dann bereits bestehende, expandierende Siedlungen mit dem Stadtrecht versehen, was eine Vielzahl von Kleinstädten und auch Zwergstädten mit oft nicht mehr als 800 Einwohnern hervorbrachte. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts flaut dieser Stadtgründungsboom wieder ab. Die Zwergstädte machen europaweit circa 18,5 Prozent an der Gesamtzahl der Städte aus, die Großstädte nur 1,5 Prozent. Köln war die größte deutsche Metropole, man schätzt circa 35 000 Einwohner zu Beginn des 14. Jahrhunderts, Gent und Brügge lagen schätzungsweise bei 50 000 Einwohnern, ganz vorne lag Oberitalien, für Mailand, Florenz und Venedig rechnet man mit jeweils knapp 100 000 Einwohnern.

Je größer die Städte, desto ausgeprägter die sozialen Differenzen. Obwohl die Einteilung von Stadtbevölkerung in Schichten nicht ganz unproblematisch ist, unterscheidet man drei Schichten: die Oberschicht, zu der zum einen die städtische Führungselite, das Patriziat, gehört, und zum anderen die politisch weniger privilegierte Gruppe der Reichen. Zweitens gab es die Mittelschicht, bestehend aus den wohlhabenderen Kaufleuten und Handwerkern. Drittens die Unterschicht, der Schätzungen zufolge weit über die Hälfte der mittelalterlichen Stadtbevölkerung zuzurechnen waren. Dabei handelt es sich um Menschen, die in den Steuerlisten der Städte nicht auftauchen oder nur den untersten Steuersatz, zum Beispiel in Augsburg die sogenannte Habnit-Steuer, bezahlten. Diese Menschen vegetierten nicht am Existenzminimum dahin. Sie arbeiteten in kleinen Gewerbebetrieben, führten kleine Läden oder Werkstätten oder waren als Lohnarbeiter tätig. Nur ein geringer Anteil gehörte den wirklich Armen an, die auf städtische oder kirchliche Almosen angewiesen waren. Schichtabstufungen und -grenzen waren fließend. Immer hat es soziale Auf- und Absteiger gegeben.

Zur Vielfalt der mittelalterlichen Städte gehörten selbstredend immer auch »Ausländer«. Menschen aus der Fremde, die entweder lebenslang oder für eine gewisse Zeit in einer Stadt lebten. Internationale Geschäftsbeziehungen waren für Handel und Gewerbe gleichermaßen wichtig und funktionierten nur mit Menschen aus anderen Städten und Ländern. Auch waren die Menschen mobil. Dass ein Kaufmann aus Prato in Italien zehn oder mehr Jahre in Avignon lebte und dann nach Florenz übersiedelte, war völlig normal. Dass ein Student zum Studium seine Heimat verließ, um in Bologna, Paris oder Oxford zu studieren, war völlig normal. Dass ein Vater in der Normandie seine Tochter zum Onkel nach Paris schickte, damit sie dort unterrichtet würde, war im 12. Jahrhundert nichts Besonderes. Die größte ethnisch-religiöse Minderheit in fast allen großen und mittleren Städten Europas stellten die jüdischen Gemeinden. In Erfurt und Nürnberg leben um 1300 ca. 1000 Juden, die zwischen 5 und 10 Prozent der städtischen Gesamtbevölkerung ausmachten. In den meisten Städten waren es jedoch zwischen einigen Dutzend und wenigen Hundert Personen, zwischen 0,5 und 0,8 Prozent der städtischen Bevölkerung. Für das Gebiet des mittelalterlichen deutschen Reiches rechnet man um das Jahr 1300 mit ca. 100 000 Juden. Im Laufe des krisengeschüttelten 14. Jahrhunderts kam es zu einem Anstieg von Verschwörungstheorien, denen vor allem die Juden zum Opfer fielen, die vielerorts für die Pest verantwortlich gemacht wurden. Durch massenhafte grausame Vertreibungen und Morde im Laufe des 14. Jahrhunderts nahm die Zahl der Juden rapide ab und war um 1400 nach neuesten vorsichtigen Schätzungen auf ca. 40 000 gesunken.14

Schließlich zur Expansion des Handels und des Finanzwesens, der sogenannten kommerziellen Revolution des Mittelalters (R. Lopez). Die Entstehung einer auf Handel gestützten Wirtschaft – so die These – war eine der größten Errungenschaften des europäischen Mittelalters. Diese Revolution begann im 11. Jahrhundert im byzantinisch-östlichen Mittelmeerraum und überzog von dort im Laufe der nächsten Jahrhunderte zunächst Italien und dann ganz Europa. Mit der Renaissance im 15. Jahrhundert begann – nach Lopez – eine Periode des wirtschaftlichen Niedergangs.

Abb. 4: Mittelmeerhandel und Karawanenrouten nach Asien (12.–13. Jahrhundert).

Das 21. Jahrhundert braucht neue Meistererzählungen

Waren wir arm vor der Erfindung des Kapitalismus? Hausten unsere Vorfahren von Läusen und Parasiten befallen über Kellern, in denen sich ihre eigenen Exkremente häuften? Die Antwort ist ein klares Nein. Oder, um präziser zu sein: Es gab Menschen, die so leben mussten, aber ganz sicher nicht mehr als heute. Solche Vorstellungen gehören ins Reich der Mythen der Moderne. Sie geben uns Sicherheit. Bestätigen uns darin, immer so weiterzumachen wie bisher, um den Rückfall in die primitiven vorkapitalistischen Zeiten zu verhindern. Die Erzählungen vom rationalen Entscheider, vom Aufstieg aus den Niederungen der Tauschwirtschaft auf die Höhen der Gegenwart, vom Segen des Eigennutzes? Sie passen ja irgendwie noch immer, diese Erzählungen. Sie sind ja nicht wirklich falsch. Und doch belegen sie genau jenen Platz, an dem das Neue entstehen soll. Was wir brauchen, sind Geschichten, die uns dabei helfen, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern, nicht die des 19. Jahrhunderts. So wird es zum Beispiel höchste Zeit, dass der Eigennutzenmaximierer seine Hauptrolle wieder abgibt, und zwar an den Planeten Erde. Es wird Zeit, dass die Natur wieder vorkommt in unseren Meistererzählungen. Und Menschen aus Fleisch und Blut, nicht nur Modelle. Wir brauchen Märkte, auf denen sich Menschen treffen, nicht nur Angebot und Nachfrage. Konzepte, die mehr können als Knappheit reduzieren und Güterallokation. Es wird Zeit, dass wir die historische Erfahrung im Umgang mit Krisen und Herausforderungen als Ressource für die Gestaltung der Zukunft nutzen. Die Geschichte der Nachhaltigkeit ist im Grunde genommen eine Geschichte der Resilienz. Und dazu gehört in ganz besonderem Maße die menschliche Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen.

Die folgenden Kapitel sind Angebote zum kreativen Denken. Vielleicht passt nicht alles, was man da so zu sehen und zu hören bekommt, vielleicht will man nicht alles glauben, was da erzählt wird, und man muss auch nicht alles glauben, es reicht, wenn man neugierig und zum Nachdenken angeregt wird. Wir treffen Menschen, die sich ganz andere Geschichten erzählten, die auf ihre Art wirtschafteten und Krisen meisterten – manche häuften Reichtümer an, andere erklärten Reichtum zur »Kotze des Glücks«, lebten ohne Geld, reisten durch die Weltgeschichte, gründeten Wohn- und Arbeitsgemeinschaften, ernährten sich als Vegetarier, gaben sich wechselseitig Kredite. Wir begegnen Menschen, für die Recycling alltäglich und das Gemeinwohl wichtig war und die Verzicht als eine Form des Wirtschaftens betrachteten, ohne Wachstum, ohne Massenkonsum, ohne Rational Choice Theory. Aber waren sie deswegen unterentwickelt? Arm? Froh, als endlich der Kapitalismus kam und ihrem Elend ein Ende bereitete? Vielleicht waren sie gar nicht so elend, vielleicht waren sie zufrieden, und vielleicht würden sie sehr viel über uns lachen. Erst mit dem Anbruch der Moderne wurde die Ökonomie zu jener grauen, traurigen Wissenschaft, die sich dem Diktat der Knappheit unterwarf. Und mit ihr begann die Sucht nach beständigem Wachstum. Vielleicht entdecken wir im Blick zurück, in der vergangenen Vielfalt des Wirtschaftens, Konzepte für unsere Zukunft?

2.  Sharing

Wer teilt, hat’s leichter

»… sie waren ein Herz und eine Seele; und auch nicht einer sagte, dass etwas von seiner Habe sein eigen sei, sondern es war ihnen alles gemeinsam. […] Denn es war auch keiner bedürftig unter ihnen, denn so viele Besitzer von Äckern oder Häusern waren, verkauften sie und brachten den Preis des Verkauften und legten ihn nieder zu den Füßen der Apostel; es wurde aber jedem zugeteilt, so wie einer Bedürfnis hatte.« (Apg 4,32–35)

»[…] und brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Lauterkeit des Herzens.« (Apg 2,44–46)

Wie im Märchen hört sich das an. »Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende.« Das Zusammenleben der ersten Christen in der Apostelgeschichte des Paulus weckt wohlige Gefühle: lauter gute Menschen, die Essen und Trinken bei Kerzenlicht miteinander teilen und Tag und Nacht nett zueinander sind. Alles gehört allen – klingt ebenso verlockend wie weltfremd. Überdies hat man doch im Sozialismus gesehen, wo das hinführt. Für Menschen scheint Privatbesitz das Richtige. Und für die Wirtschaft sowieso. So in etwa lautet die spontane Reaktion der meisten Menschen auf diese Idylle urchristlicher Gütergemeinschaft. Skepsis scheint angesagt. Doch liegen wir damit richtig?

Historisch gesehen ist die menschliche Fähigkeit, mit anderen zu teilen, alles andere als ein Märchen. Teilen war der Schlüssel zum Erfolg des Homo sapiens. Menschen, im Gegensatz zu Menschenaffen, beherrschen diese überaus anspruchsvolle Kulturtechnik: Sie sind in der Lage, auch ohne Aussicht auf unmittelbaren Nutzen für sich selbst wertvolle Dinge gemeinsam mit anderen Gruppenmitgliedern zu nutzen. Menschen sind zum Teilen geboren. Man muss sie dazu nicht erst erziehen. Das hat der Verhaltensbiologe Michael Tomasello in zahlreichen Vergleichsstudien mit Menschenaffen herausgefunden. Diese können zwar individuelle Intentionen ihres Gegenübers erfassen und darauf reagieren, doch Teilen erfordert geteilte Intentionalität, das heißt gemeinsame Absichten und geteilte Ziele. Nur Menschen kommunizieren zum Zweck des Teilens von Information und zur Abstimmung der Ziele, sind damit fähig zu einer gesteigerten Form der Kooperation und des Gruppenzusammenhalts, daraus ergibt sich ein wichtiger Selektionsvorteil.15 Diejenigen, die in der Lage waren, ihre Suppe – im übertragenen Sinne ihre Beute, ihre Feuerstelle, ihre Jagdgründe, ihre Werkzeuge oder ihren Schlafplatz – mit anderen zu teilen, hatten es nicht nur mit dem Zugang zu Nahrung leichter, sondern auch mit Sex. Die, die teilen konnten, hatten mehr Kinder. Und bei der Erziehung der Kinder war die Fähigkeit zu kooperieren ebenfalls hilfreich. Überdies hatte Teilen einen weiteren unschätzbaren Nebeneffekt: Es ergab sich beim Teilen der Beute, beim Kochen und dann beim gemeinsamen Essen die Gelegenheit zu Klatsch und Tratsch. So konnten die gemeinsamen Regeln und Normen in Gesprächen kommunikativ gefestigt werden. Der Psychologe Robin Dunbar erklärte, dass auf diese Weise die Konflikte in der Gruppe gleichsam beim Teilen der Ressource Nahrung auf eine sozialverträgliche Temperatur heruntergekocht und so die Überlebenschancen der Gruppe erhöht wurden.16 Daher hat sich die Erinnerung an die positiven Aspekte des Teilens fest in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingeschrieben.

Homo oeconomicus vs. Homo cooperans

Aus der Kurzzeitperspektive der Moderne wird oft der Eindruck vermittelt, Teilen sei den Menschen fremd, eine sozial zwar erwünschte – von der Kirche und anderen moralischen Instanzen gepredigte –, aber eine der menschlichen Natur zuwiderlaufende Tugend. Das Gegenteil ist der Fall. Doch geriet dieses Wissen im Zeitalter des Eigennutzenmaximierers in Vergessenheit. Was geschieht, wenn wir statt Homo oeconomicus nun auch Homo cooperans wieder stärker in den Blick nehmen? Hier gibt es einen großen Nachholbedarf, denn die Wissenschaften, auch die Geschichtswissenschaft, hat sich lange nur auf Aufstieg des Kapitalismus konzentriert und dabei die zentrale Bedeutung der Sharing Economy aus den Augen verloren. Man hat vergessen, dass kooperative Wirtschaftsformen, kollektive Versorgungsstrategien und die gemeinschaftliche Nutzung von Ressourcen zu allen Zeiten bis heute komplementär zu privatwirtschaftlich organisierten Wirtschaftsformen existierten.17 Dafür gibt es Gründe: Vor allem das Trauma der gescheiterten Planwirtschaften – seien diese kommunistisch, faschistisch oder idealistisch – hat die kollektive Erinnerung an die positiven Erfahrungen mit der Sharing Economy verdunkelt, und das Wissen um die historische Vielfalt von koexistierenden Wirtschaftsformen ist der Vorstellung gewichen, dass es praktisch nur zwei Wirtschaftssysteme gäbe, nämlich Planwirtschaft und Kapitalismus. Da das eine nicht funktioniert hat, müsse man nun zwangsläufig das andere machen.18 Freilich spricht einiges dafür, dass auch die neue Sharing Economy von dieser Alternativlosigkeit geschluckt wird. Die Silicon-Valley-Erfolgsgeschichten der Sharing-Economy-Weltmarktführer wie Airbnb oder Uber entpuppten sich schon nach einem halben Jahrzehnt als Albtraum des neoliberalen Kapitalismus, in dem die Kräfte des freien Marktes jenseits von Arbeitnehmerrechten und staatlicher Regulierung ungezügelt toben.19 Wer mit etwas Realitätssinn an die Sache herangeht, erkennt hier rasch einen weiteren Beweis für die »Alternativlosigkeit«. Doch wo es Realitätssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben, sagte einst Robert Musil. Wer mit Alternativlosigkeit argumentiert, steckt meist schon in der Klemme, ist in der Defensive und scheut die Veränderung. Horizonterweiterung kann helfen, die Angst vor Alternativen abzubauen. Die Vergangenheit hat genau dazu einiges zu bieten.

2.1. Teilen macht reich – Die Wirtschaft der Klöster

Die kollektive Nutzung von Ressourcen macht reich. Das lernt man am besten aus der Geschichte der Klöster, in denen das Prinzip des Teilens und der Verzicht auf Privatbesitz seit alters her gilt. Klostergemeinschaften sind Sharing Communitys, Lebensgemeinschaften mit Jahrtausenden an Erfahrung im Umgang mit kollektiven Nutzungsmodellen. Es gibt dieses Lebensmodell in vielen verschiedenen Ausprägungen – zeitlich begrenzt oder lebenslang – im Buddhismus, Hinduismus, Christentum und anderen Religionen, und zwar durch alle Epochen hindurch bis heute. Und es gab wohl noch nie so viele religiöse Lebensgemeinschaften wie im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der globalen Verbreitung von Aschrams, Hare-Krishna-Gemeinschaften oder Zen-Klöstern.20

Nutzen statt Besitzen in der Benediktsregel

Privateigentum gab es nicht. Das Laster des Besitzes muss mit der Wurzel aus der Gemeinschaft ausgerottet werden, schreibt Benedikt von Nursia um das Jahr 540 in einer Handreichung für seine Mönchsgemeinschaft, die sich südlich von Rom auf dem Monte Cassino niedergelassen hatte. In 73 kurzen Absätzen werden spirituelle und praktische Belange des alltäglichen Miteinanders geregelt.21 Im Kapitel 33 legt er fest, dass keiner etwas als Eigentum haben soll, nicht einmal ein Buch, eine Schreibtafel oder einen Griffel. Im Gegenzug darf jeder Bruder erwarten, dass der Abt ihm alles Notwendige zuteilt, und zwar nach seinen individuellen Bedürfnissen. Das soll nicht heißen, dass jemand wegen seines Ansehens bevorzugt werden soll, sondern vielmehr, dass man Rücksicht nehmen muss auf die individuellen Schwächen. Wer weniger braucht, danke Gott und sei nicht traurig. Wer mehr braucht, werde demütig wegen seiner Schwäche und nicht überheblich. Murren ist verboten. Geteilt werden auch sämtliche praktischen Aufgaben des Alltags, bis hin zum Küchendienst. Keiner wird ausgenommen, es sei denn, er ist krank oder verhindert, »denn dieser Dienst bringt großen Lohn und lässt die Liebe wachsen«, schreibt Benedikt im Kapitel 35. Denen, die nicht so gut klarkommen mit Hausarbeit, gebe man Hilfe, sodass sie nicht frustriert werden. Der Wochendienst geht von Samstag bis Samstag, und am Ende sollen alle Arbeitsgeräte gereinigt und die Tücher, mit denen sich die Brüder Hände und Füße abtrocknen, gewaschen werden. Danach geht alles sauber und unbeschädigt an den Cellerar – den Verantwortlichen für Wirtschaft und Personal im Kloster, zuweilen findet man auch die Bezeichnung Ökonom – zurück. Dieser gibt alles an den weiter, der den nächsten Wochendienst antritt. So weiß er stets, was er gibt und was er zurückerhält.

Ganz erstaunlich, wie präzise die Organisation dieser Sharing Economy im Kloster geregelt wird. Gegenüber der älteren Magisterregel, die Benedikt als Vorlage nutzte, hatte seine Fassung den großen Vorteil, dass er das Wesentliche in kurzen und klaren Anweisungen zusammenfasste.22