Die sieben Todsünden - Annette Kehnel - E-Book

Die sieben Todsünden E-Book

Annette Kehnel

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Beschreibung

Altes, wiederentdecktes Menschheitswissen – das uns neue Orientierung gibt Wir leben im Zeitalter der Krise – und haben doch kaum eine Vorstellung davon, wie wir dem Imperativ des «Immer mehr» entkommen können. Dabei kannten unsere Vorfahren, wie Annette Kehnel zeigt, doch Mittel und Wege. Sie nimmt uns mit auf eine Reise in die Antike und ins Mittelalter, wo sie jahrtausendealtes Menschheitswissen entdeckt – ausgerechnet in den sieben Todsünden, die sie als Lehre vom Umgang mit der Naturgewalt Mensch neu interpretiert. Jede der Todsünden spiegelt eine Bedingung unserer menschlichen Existenz: So geht es bei luxuria (Wollust) letztlich um maßvollen Konsum, bei avaritia (Habgier) um die Einsicht, dass Besitz und Reichtum beschränkt werden müssen; ira (Zorn) bearbeitet Aggression und Gewalt, invidia (Neid) die Kehrseite von ungezügeltem Wettbewerb und superbia (Hochmut) unser Streben nach Status und Macht. Ein überraschend aktuelles Bild des Menschen, das auf Balance, Resonanz und Ausgleich zielt – ein neuer Deutungshorizont für unsere Zeit und ihre Herausforderungen. Das in der Todsündenlehre gespeicherte traditionelle Wissen weist einen Weg, mit unserer destruktiven Seite umzugehen. Kehnel birgt dieses Wissen für die Gegenwart und zeigt, wie wir damit uns und die Welt verändern.

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Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Annette Kehnel

Die sieben Todsünden

Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise

 

 

 

Über dieses Buch

Wir leben im Zeitalter der Krise – und haben doch kaum eine Vorstellung davon, wie wir dem Imperativ des «Immer mehr» entkommen, unsere Lebensweise tiefgreifend verändern können. Dabei wussten wir das, wie Annette Kehnel zeigt, schon einmal sehr genau. Sie nimmt uns mit auf eine Reise ins Mittelalter, wo sie jahrtausendealtes, ungebrochen gültiges Menschheitswissen entdeckt – in der Lehre der sieben Todsünden. Jede der Todsünden spiegelt eine Bedingung unserer menschlichen Existenz: So geht es bei luxuria (Wollust) letztlich um maßvollen Konsum, bei avaritia (Habgier) um die Einsicht, dass Besitz und Reichtum beschränkt werden müssen; ira (Zorn) bearbeitet Aggression und Gewalt, invidia (Neid) die Kehrseite der Konkurrenz und superbia (Hochmut) unser Streben nach Status und Macht.

Ein überraschend zeitgemäßes Bild des Menschen, das auf Balance, Resonanz und Ausgleich abzielt – und ein neuer Deutungshorizont für unsere Zeit und ihre Herausforderungen. Das in der Todsündenlehre gespeicherte traditionelle Wissen weist einen Weg, mit unserer destruktiven Seite umzugehen. Kehnel birgt dieses Wissen für die Gegenwart und zeigt, wie wir damit uns und die Welt verändern.

Vita

Annette Kehnel studierte Geschichte und Biologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, am Somerville College Oxford und an der LMU München. Ihr Promotionsstudium am Trinity College Dublin widmete sie der Erforschung irischer Klostergemeinschaften, anschließend arbeitete sie an der TU Dresden, wo sie sich im Jahr 2004 habilitierte. Seit 2005 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Ihr Buch «Wir konnten auch anders» (2021), in dem Kehnel mittelalterliches Nachhaltigkeitswissen für die Gegenwart birgt, war ein «Spiegel»-Bestseller und wurde mit dem NDR-Sachbuchpreis ausgezeichnet.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Der Garten der Lüste (Ausschnitt). Mitteltafel des Triptychons von Hieronymus Bosch, um 1500. Madrid, Museo del Prado (Erich Lessing/akg-images)

ISBN 978-3-644-01989-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für meine Eltern.

Ein großer Dank für den Reichtum an Erfahrung, den ihr an uns weitergegeben habt.

Where is the wisdom we have lost in knowledge?

Where is the knowledge we have lost in information?

 

Wo bleibt die Weisheit, die wir im Wissen verloren?

Wo bleibt das Wissen, das die viele Information uns nahm?

 

T.S. Eliot, Choruses from «The Rock» (1934)

Prolog:Erfahrungswissen kann Leben retten

Als am 26. Dezember 2004 eine Tsunamiwelle über die Küsten Thailands und Indiens hereinbrach, starben mehr als eine Viertelmillion Menschen. Touristen, die Sonne tanken wollten, Einheimische, die ihrer täglichen Arbeit nachgingen, Väter, Mütter, Kinder, alle wurden gleichermaßen von der Naturkatastrophe überrollt. Mit einer Ausnahme: Mehrere indigene Stämme blieben weitgehend verschont. Sie mussten kaum Opfer verzeichnen, obwohl sie sich mitten im Auge der Katastrophe befanden. Es handelte sich um Bewohner der Andamanen und Nikobaren, einer Inselgruppe im Golf von Bengalen. Menschen, die in einfachsten Verhältnissen lebten und Fischfang betrieben, beinahe unberührt von der modernen Zivilisation. Was rettete sie?

Keine ausgeklügelte Technologie, sondern Erfahrungswissen. Überlieferte Kenntnis im Umgang mit Naturgewalten. Die Inselbewohner wussten, dass die Götter des Meeres alle zehn oder zwanzig Generationen zornig werden. Dass sie dann wild um sich schlagen, Wind und Wellen schicken, wie sie kaum ein Mensch je gesehen hat. Und sie wussten auch, was in einem solchen Fall zu tun ist: auf die Frühwarnsysteme achten, etwa den Tieren folgen, sich gegenseitig warnen, in die Höhen steigen und abwarten, bis sich der Zorn der Götter gelegt hat. Genau das war es, was die indigenen Stämme taten. Zu einem Zeitpunkt, als alles noch in Ordnung schien, als die Touristen an den thailändischen Stränden sich noch in der Sonne aalten. Die Inselbewohner überlebten, weil sie rechtzeitig handelten, in Einklang mit jahrhundertealtem Erfahrungswissen.[1]

Erfahrungswissen kann Leben retten. Diese Einsicht sorgt gegenwärtig – im Zeitalter der Polykrisen – dafür, dass sich die Arbeitsweisen der Wissenschaft verändern. Das betrifft nicht nur die Erdbebenforschung, sondern auch die Klimaforschung, die Resilienzforschung, sämtliche Zweige der Zukunftsforschung. So werden die Auswirkungen der Eisschmelze in der Arktis auf die globalen Ökosysteme in enger Zusammenarbeit mit den Inuit erforscht. Maßnahmen zum Erhalt der Artenvielfalt von Flora und Fauna, etwa im Gebiet des Sambesi, bauen auf die Kenntnisse einheimischer Kulturen, und das indigene Heilpflanzenwissen Asiens ist von großem Interesse für die Pharmaindustrie. «Traditional Ecological Knowledge» (TEK) ist weltweit auf dem Vormarsch. Die Zeiten, in denen traditionelles Wissen belächelt wurde, sind vorbei.[2]

Zugleich ist Vorsicht geboten vor einem blinden run auf verschollene Weisheiten und Wissenstraditionen sogenannter Naturvölker, vor falschen Hoffnungen, romantischer Verklärung und gefährlichen Heilsversprechen. Im Januar 2023 besuchte ich meine jüngste Tochter Lotte in Vancouver, wo sie ihr «Gap Year» nach dem Abitur verbrachte. Sie begleitete mich ein Stück auf der Suche nach den Weisheiten der First Nations an der Pazifikküste. Zuerst ging es nach Squamish ins Lil’wat Cultural Centre, dann mit der Fähre von Horseshoe Bay nach Nanaimo auf Vancouver Island und von dort nach Alert Bay, weit im Norden, wo uns im U’mista Cultural Centre Vain Alfred, ein Vertreter der Kwakwaka’wakw, die Masken, Tänze, Rituale seines Stammes, aber auch die Regeln, Tabus und Verbote erklärte. Ich nahm an einer Survivors Conference teil, mit Menschen, die als Kinder die berüchtigten Residential Schools überlebt hatten, und führte Arbeitsgespräche mit Kolleginnen und Kollegen an der University of British Columbia. Es war die vermutlich spannendste meiner bisherigen Forschungsreisen und zugleich die ernüchterndste. Denn in all den Gesprächen mit den Menschen vor Ort war eine Botschaft unüberhörbar: Unsere Traditionen lassen sich nicht einfach nachahmen. Sie sind nicht statisch. Auch wir verändern uns ständig und aktualisieren unsere Wissensvorräte von Generation zu Generation. Hört auf, uns nachahmen zu wollen. Indigenes Wissen ist kein Exportgut. «Davon, dass ihr ein bisschen trommeln lernt, mit den Bäumen redet und Süßgras flechtet, werden sich Klimawandel, Artenschwund, Müllberge in den Weltmeeren etc. nicht beeindrucken lassen. Ihr habt all diese Krisen verursacht! Warum nutzt ihr nicht eure eigenen Wissensressourcen?»[3]

Doch wo ist das «traditionelle Wissen» des Westens? Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. War enttäuscht und ernüchtert zugleich. Denn natürlich war sie berechtigt, aber eben nicht das, was ich hören wollte. Dazu kam die fast provokante Frage meiner Tochter: Du kennst dich doch aus in der Vergangenheit. Wo ist das Problem?

Spontan fallen uns die weisen alten Frauen ein, Kräuterweiblein, Hildegard von Bingen oder das frühe keltische Christentum, sibirische Schamanen usw. Wenn man etwas tiefer bohrt, stellt sich automatisch die Frage nach den Regelsystemen traditioneller westlicher Gesellschaften. Welche Rituale, welche Tabus, welche Verbote gab es? Welche Feste bestimmten ihren Lebensrhythmus? Was war ihnen heilig? Welche Geschichten erzählte man sich, und wer war zuständig für die Weitergabe dieser Traditionen an die nächste Generation? Spätestens hier kommen Überlieferungen ins Spiel, die meist mit Religion verbunden waren. Genauer gesagt jene Wissenssysteme, die seit dem Zeitalter der Aufklärung dem Bereich des Magisch-Religiösen zugeordnet und zur Privatsache erklärt wurden. Man war froh, diese altmodischen Regeln endlich loszuhaben. Ganz besonders traf dies auf all die Einschränkungen im Namen der Sünde zu. Hatte nicht die Kirche damit über Jahrhunderte die Menschheit geknechtet, individuelle Freiheiten eingeschränkt, Unterdrückung und Sklaverei gerechtfertigt, Menschen zu dumpfem Schuldbewusstsein verdammt? Ganz besonders den Todsünden haftet der Mief der Jahrhunderte an. Allenfalls etwas für religiöse Fanatiker oder Psychopathen, wie sie Morgan Freeman und Brad Pitt im Psychothriller «Se7en» aus dem Jahr 1995 zur Strecke bringen müssen.

Doch es steckt viel mehr dahinter. Auf der Suche nach den Weisheiten des Westens, ermutigt durch die vielen Fragen, wage ich in diesem Buch ein Experiment, indem ich das Konzept der Todsünden gleichsam unter das Mikroskop lege, die einzelnen Bestandteile analysiere, um das darin tradierte Erfahrungswissen des Westens, Weisheiten, Maßnahmen, Regeln für den Erhalt des sozialen und natürlichen Gleichgewichts – und damit für das langfristige Überleben einer Gesellschaft –, herauszuarbeiten. Denn jede der sieben Todsünden deckt eine Grundbedingung menschlicher Existenz ab: Bei Gula (Völlerei) geht es um Ernährung, bei Avaritia (Habgier) um Besitz, Reichtum und Gerechtigkeit, bei Luxuria (Ausschweifung) um Konsum, um das Verhältnis zur Mitwelt, seien dies Menschen, Tiere, Natur oder Konsumgüter. Acedia (Trägheit) betrifft das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit, das Problem von Verlustängsten, die uns am Status quo festhalten lassen und Entwicklung verhindern. Invidia (Neid) verhandelt die Schattenseiten der Konkurrenz. Ira (Zorn) bearbeitet das Thema Aggression und Gewalt, und bei Superbia (Hochmut, Glaube an die eigene Unverwundbarkeit) geht es um Hierarchie, Status und insbesondere um die Gefahren der Macht.

Nimmt man all das zusammen, ergibt sich ein überraschend zeitgemäßes Bild des Menschen – als Ausgangspunkt einer Lehre, die nicht auf Maßregelung und Unterdrückung abzielt, sondern auf Balance, Resonanz und Ausgleich. Dabei geht es weniger um das individuelle Glück und Wohlbefinden, zu dem uns die Ratgeberliteratur unserer Tage verhelfen will. Vielmehr geht es um den Menschen in seiner Umwelt, als soziales Wesen und als Teil der Natur. Das in der Todsündenlehre gespeicherte kollektive Erfahrungswissen zeigt uns, wie wir unseren destruktiven Kräften entgegenwirken und unser positives, weltveränderndes Potenzial entfalten können. Es liefert uns einen neuen Deutungshorizont und, so hoffe ich, eine neue Denkweise für den Umgang mit den großen Herausforderungen unserer Zeit.

Eine kurze Geschichte der Todsünden

«Das Wort Sünde kommt von absondern, das heißt sich entfremden.»[4]

Nikolaus von Kues

Das Konzept der Sünde kam zwar erst spät in der Menschheitsgeschichte auf, ist jedoch wesentlich älter als das Christentum.[5] Am Anfang war ein Störgefühl. Ein Gespür dafür, dass Menschen – warum auch immer – durch ihre bloße Existenz die kosmische Ordnung durcheinanderbringen. Dieses Unbehagen schlägt sich nieder in Versuchen der Wiedergutmachung und des Ausgleichs, wie sie in vielen alten Kulturen aufscheinen. Dazu gehören Opferkulte zur Beschwichtigung der Naturgewalten, Regeln der Zurückhaltung, Verbote, sogenannte Tabus, oder auch Vorstellungen postmortaler Wiedergutmachung: die Idee, dass eine Seele nach dem Tod erst dann zur Ruhe kommt, wenn all die Verletzungen, all die negativen Spuren, die ihr Träger zeitlebens hinterlassen hat, durch positive Taten ausgeglichen sein werden. Das heißt, die Seele wird nach dem Tod des Körpers weiterexistieren, wird reinkarniert, muss wandern. Bis das Gleichgewicht wiederhergestellt ist. Diese Idee reicht möglicherweise zurück bis ins 2. Jahrtausend v. Chr., lässt sich jedoch erstmals in indischen Quellen des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. fassen.

Orpheus und die Seelenwanderung

Ungefähr in dieser Zeit taucht die Vorstellung der Seelenwanderung auch in Griechenland auf. Hier spielt Orpheus, der mythische Urvater der Musik, Kind des Gottes Apollo und der Muse Kalliope, eine zentrale Rolle. Er konnte so wunderbar singen, dass Menschen und Tiere gleichermaßen in seinen Bann gerieten. Ja sogar die Felsen vergossen Tränen, wenn er seine Lyra spielte. Trotz dieser außergewöhnlichen Gabe – die nicht schöner den Einklang des Menschen mit dem natürlichen Gleichgewicht zum Ausdruck bringen könnte – war da das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es rührte von der Trauer, vom Leiden des Menschen am natürlichen Lauf der Dinge. Und der arme Orpheus litt unendlich. Er vermisste seine geliebte Gefährtin Eurydike. Sie war weg. Von einem Göttersohn vergewaltigt, von einer Schlange gebissen, tot. Es waren die Götter, die Gewalt der Natur, die ihm sein Liebstes entrissen hatten.

Der arme empfindsame Orpheus vermochte das nicht zu akzeptieren. Und weil er ein Liebling der Götter und so überaus musikalisch und so überaus verzweifelt war, gelang ihm das Unmögliche: der Abstieg in die Unterwelt. Mit dem unwiderstehlichen Zauber seiner Musik überlistete er Charon, den Fährmann über den Styx, und den Höllenhund Kerberos. Schließlich gelang es ihm sogar, Hades, den Gott der Unterwelt, zu überreden. Er rang ihm die Erlaubnis ab, seine geliebte Eurydike mit zurück ins Reich der Lebenden zu nehmen. Allerdings – Gott Hades war ein Zocker, für ihn war der Kampf um Leben und Tod das Alltagsgeschäft – unter der Bedingung, dass sich Orpheus auf dem Weg aus der Unterwelt kein einziges Mal nach seiner Geliebten umsehen dürfe.

Der Aufstieg verlief zunächst reibungslos, Orpheus voraus, Eurydike hinterher. Kurz vor dem Tor zur Welt der Lebenden fiel Orpheus jedoch plötzlich auf, dass er die Schritte seiner Eurydike nicht mehr hören konnte. Reflexhaft drehte er sich zu ihr um – und augenblicklich sank die Geliebte zurück ins Totenreich.

Gleich mehrfach wird in dieser Geschichte über verletzte Ordnung erzählt. Vergewaltigung, Schlangenbiss, Tod. Das alles klingt schrecklich und steht doch für die unerbittliche, gewaltsame Natur. Den Lauf der Dinge. Orpheus – der Mensch – kann sich damit nicht abfinden. Versucht, eine bessere Welt zu schaffen. Das Paradies wiederherzustellen, das er dereinst mit Eurydike teilte. Dieses Unterfangen misslingt. Und lässt den armen Orpheus in einer Not zurück, die die Trauer um den Tod seiner Geliebten bei Weitem übertrifft. Denn fortan lastet auf ihm die Schuld. Dabei hatte er es ja nur gut gemeint.

Es ist diese tragische Geschichte, die Orpheus zur Gründerfigur einer frühen griechischen Religion macht. Die Orphiker waren eine Art postmortaler Wanderverein. Ihre Lehren kreisten um eine Reise, die die Seele nach dem Tod antreten musste. Sinn und Zweck dieser Reise war die Reinigung.[6] Dabei war der Orphismus keine Religion im Sinne eines institutionalisierten Kultes, vielmehr – davon geht man heute aus – gab es mehrere verschiedene, kleine, regional organisierte, voneinander isolierte orphische Gemeinden oder Gruppen, die manche gemeinsame Ansichten und Praktiken teilten.

Unser Wissen über die Orphiker stammt von Grabungen auf Kreta, Sizilien und in Nordgriechenland. Dort fand man Grabbeigaben, beschriftete Goldplättchen, die den Toten in die Hand oder vor den Mund gelegt worden waren. Die Inschriften auf diesen Plättchen erzählen von der Wanderung durch die Unterwelt.[7] Genauer noch handelt es sich um eine Art Reiseführer ins Jenseits mit erstaunlich präzisen Angaben zur Jenseitsetikette:

Der Erinnerung Werk ist dies. Wenn du gestorben bist,

kommst du zu des Hades weitem Haus. Es liegt rechts eine Quelle,

bei ihr steht eine weiße Zypresse.

Dort erfrischen sich beim Abstieg die Seelen der Toten.

Dieser Quelle sollst du ja nicht nahekommen.

Weiter weg wirst du, wie es vom See der Erinnerung niederrinnt,

kaltes Wasser finden: Wächter stehen darüber,

die werden dich mit klugem Geiste fragen,

weshalb du durchwanderst des schlimmen Hades’ Dunkel.

Sprich: Kind bin ich der Erde und des gestirnten Himmels.

Von Durst bin ich trocken und vergehe: doch gebt rasch

kaltes Wasser, das niederrinnt vom See der Erinnerung.

Und sie werden mit dir Mitleid haben, auf Wunsch des unterirdischen Königs,

und sie werden dir zu trinken geben vom See der Erinnerung,

und auch du wirst den langen Weg gehen, den auch die anderen

Mysten und Bakchen gingen, den heiligen, die berühmten.[8]

Der See der Erinnerung ermöglicht Orientierung für die Seele. Das Goldplättchen hilft dem Wanderer, den gefährlichsten Teil des Weges bis zur Quelle der Erinnerung zu bewältigen. Es zeigt ihm, wo es langgeht, und sagt ihm, was zu tun ist. Wenn auch unklar bleibt, was genau das Ziel ist, scheint es hier um die Suche nach Erlösung zu gehen.

Doch warum bedarf es der Erlösung, woher rührt die Schuld? Nun, von Orpheus’ misslungenem Versuch, der Natur eine Ausnahme abzuringen. Das Leben schöner zu machen. Jenes Paradies wiederherzustellen, das er mit seiner Geliebten Eurydike erfahren durfte. Orpheus hat alles gegeben und ist doch gescheitert. In der orphischen Welt gründet die «Ur-Schuld» in der Liebe, im Verlangen, eine ursprünglich verlorene Unschuld zurückzugewinnen.

Brudermord, Dionysos und die Titanen

Es gibt noch eine andere, weniger komplexe Erzählung, die das ursprüngliche Störgefühl auf einen Akt der Gewalt zurückführt. Gemäß einem aus späterer Zeit überlieferten orphischen Schöpfungsmythos hat das Menschengeschlecht seinen Ursprung in einer ungeheuerlichen Bluttat.[9] Hier sind die Titanen die Übeltäter, eine göttliche Geschwisterschar, Kinder des Uranos, die zunächst von sich reden machen, weil sie, angespornt von ihrer Mutter Gaia, ihren Vater kastrieren. Später treten sie den Kampf gegen die Götter des Olymps an und töten aus Übermut, vielleicht auch aus Eifersucht, den Knaben Zagreus alias Dionysos. Zagreus ist der kleine Sohn des Zeus, und als er wieder einmal mit Blitzen seines Vaters spielt, kommt es zum grausamen Mord: Die Titanen reißen das Kind in sieben Teile und kochen es in einem Kessel, um es dann gemeinsam zu verspeisen. Als Zeus davon erfährt, ist er außer sich, und er bestraft seinerseits die Titanen, indem er sie mit seinen Blitzen verbrennt. Später bereut er die Tat und macht aus der Asche der Titanen, in der ja auch die des kleinen Dionysos enthalten ist, Menschen.

Ein Ursprungsmythos, der die Erschaffung der Menschen gleich mit zwei Gräueltaten in Verbindung bringt: mit der grausamen Gemeinschaftstat der Titanen an dem unschuldigen Kindgott Dionysos und mit dem Rachemord des Zeus an den Titanen. Die Botschaft liegt auf der Hand: Der Stoff, aus dem Menschen gemacht sind, ist eine hochgefährliche Mischung. Sie enthält sowohl die Stärke und Gewalttätigkeit der Titanen als auch den göttlichen Funken des Dionysos. Hier, im dionysischen Ursprung, wurzelt der orphische Glaube an die Unsterblichkeit der Seele. Doch lastet andererseits das gewalttätige Erbe der Titanen schwer auf der menschlichen Existenz.

Nur zur Beruhigung sei erwähnt, dass Dionysos auf wundersame Weise überlebt beziehungsweise reanimiert wird. Zeus persönlich – oder, je nach Erzähltradition, auch Rhea, eine der Titaninnen – fügt die Glieder des jungen Gottes wieder zusammen und lässt ihn auferstehen. Nun lebt Dionysos erst einmal glücklich und zufrieden als Gott des Weines und des Rausches. Eine Lebensform, die nicht lange auf dem Olymp geduldet wird: Bald gehen den Göttern der Lärm und die Gesänge der ständig besoffenen Freunde so auf die Nerven, dass sie Dionysos und seinem Gefolge Hausverbot erteilen. Und sogar die Titanen werden wieder zu neuem Leben erweckt.

Dieser Mythos begründet das Störgefühl mit einer Art Systemfehler. Die Erkenntnis, dass Menschen eine Gefahr für die kosmische Ordnung sind, wird begründet mit dem explosiven Material, aus dem sie geschaffen wurden.[10] Wichtig ist, dass es dabei nicht um Sünde im Sinne eines individuellen Fehltritts geht, sondern um eine Schuld, die dem Einzelnen vorausgeht, eine «prähumane» Schuld. Allerdings, und das ist die gute Nachricht, besteht die Möglichkeit des Ausgleichs und der Versöhnung: Dazu muss die Seele auf ihrer postmortalen Wanderung zur Quelle der Erinnerung gelangen, wo sie die Fähigkeit zur Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichts erlangt.

Doch wer genau muss versöhnt werden? Es ist Persephone alias Kore, die Mutter des Knaben Dionysos, Königin der Unterwelt und zuständig – gemeinsam mit Demeter, dessen Großmutter – für Wachstum und Gedeihen auf der Erde. Persephone war einst als lebenslustiges Mädchen beim Blumenpflücken überrascht, vergewaltigt und von Hades in die Unterwelt entführt worden. Mehr noch, irgendwie gelang es ihm, Persephone zum Bleiben und zur Heirat zu überreden, was allerdings zur Folge hatte, dass Wachstum und Gedeihen oben auf der Erde zum Erliegen kamen. Schließlich einigte man sich auf eine Teilzeitehe als Kompromiss. Persephone wohnte abwechselnd bei ihrem Gatten in der Unterwelt und auf dem Olymp bei ihrer Mutter Demeter. So konnte das natürliche Gleichgewicht und insbesondere der rechtmäßige Ablauf der Jahreszeiten gesichert werden. Wenn Persephone in der Unterwelt weilte, war es Winter, und wenn sie wieder auf der Erde erschien, wurde es Frühling und Sommer. Damit waren Saat und Ernte, Hitze und Kälte, Tod und Leben, Werden und Vergehen, kurz: der Kreislauf der Natur, gesichert. Mit dem Mord der Titanen an Dionysos drohte erneut Verstimmung. Persephone, die Mutter, die Natur, musste versöhnt werden.

Hier liegt der Grund dafür, dass die Orphiker alles Lebende als etwas ihnen Ebenbürtiges verehrten. Sie versuchten, jede überflüssige Einflussnahme auf die Natur zu vermeiden, ernährten sich ausschließlich von Unbeseeltem, verzichteten auf tierische Produkte, trugen Leinen statt Wolle, lehnten Lederschuhe ab, und was ihnen ganz und gar nicht behagte, waren Blutopfer für die Götter. Auch andere hellenistische Schulen, etwa die des Sokrates, vertraten das Konzept der Seelenwanderung und versuchten, ihre Spuren so gering wie möglich zu halten. Sokrates selbst sei Vegetarier gewesen, wird überliefert, laut einer arabischen Erzählung stammt von ihm die Mahnung «Macht aus eurem Magen keinen Tierfriedhof».[11] Auch die Pythagoräer predigten die Enthaltung von Beseeltem, und Empedokles predigte die Abschaffung des blutigen Tieropfers und schlug stattdessen Opfergaben aus Teig und Honig vor.[12]

Der jüdisch christliche und der muslimische Ursprungsmythos begründet das Störgefühl noch mal anders, gewissermaßen intellektuell, mit dem Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis. Adam und Eva und alle ihre Nachkommen verlieren damit ihren Platz im Paradies, sind seither Heimatvertriebene, ein Mythos, der der gesamten Menschheit einen kollektiven Migrationshintergrund gibt. Die Wanderung wird ins Diesseits verlegt. Und auch hier ist Gewalt im Spiel. Die Bluttat des Kain an seinem Bruder Abel entspringt allerdings nicht der Lust an Gewalt oder einem unbändigen Naturell, sondern vielmehr dem Neid des Älteren auf den Jüngeren. Kain fühlt sich zurückgesetzt, weil sein Tieropfer von den Göttern weniger geschätzt wird als das vegetarische Brandopfer seines Bruders. Gleichzeitig wird in der christlichen Tradition seit der Spätantike der Orpheusmythos lebendig gehalten und vielfach weiterentwickelt. Orpheus und Jesus teilen die Erfahrung in der Unterwelt und die Hoffnung auf die Möglichkeit der Überwindung des Todes.[13]

Mit dem Anbruch der Moderne im 18. Jahrhundert wurden weniger empfindsame Stimmen immer lauter. Prometheus: der unbändigste der Titanen, der den Göttern trotzte, das himmlische Feuer stahl, es zu den Menschen trug und sie die Schmiedekunst lehrte, die Voraussetzung zur Unterwerfung, ja Überwindung der Natur. Der junge Goethe erhob den Titanen in seiner Sturm-und-Drang-Zeit zum Schutzheiligen der Moderne: «Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst!» Sein Gedicht «Prometheus» (1772) war dem modernen Menschen gewidmet, der seine Faust gen Himmel erhebt und all das Wissen der Alten abschüttelt. Der sich der göttlichen Ordnung widersetzt, weder Sinn für Schuld noch ein Interesse am kosmischen Gleichgewicht zeigt. Selbst als er zur Strafe an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet wird, schleudert Prometheus dem Göttervater Zeus sein trotziges «Ich dich ehren? Wofür?» entgegen.

Vom orphischen Urfehler zu den antiken Lasterkatalogen

Wie lassen sich die Folgen der orphischen Urschuld ausgleichen? Wie die Gefahren, die von dem dionysisch-titanischen Gemisch namens Mensch ausgehen, möglichst kleinhalten? Die griechischen Philosophen brachen das Problem herunter auf die Frage nach dem guten Leben. Für Aristoteles war die Spannung zwischen arete (Gutheit, Tugend) und kakia (Schlechtigkeit, Laster) entscheidend. Beide beruhen gleichermaßen auf dem Wollen, und erst das Übermaß macht eine Disposition zum Problem. Die aristotelischen Einzeltugenden – Tapferkeit, Mäßigung, Freigebigkeit im Umgang mit äußeren Gütern, Ehre, Sanftmut, Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und vor allem die Vernunfttugenden wie Klugheit, Weisheit, Intuition, Einsicht, Beherrschtheit – bilden die Grundlage aller traditionellen Wissenssysteme des Westens.[14]

Die gnostische Lehre formulierte ihr Wissen im Bild der Seele, die nach dem Tod himmlische Lasterkreise durchwandern und die verschiedenen Wirkbereiche böser Gestirneinflüsse in der Planetensphäre überwinden muss: die Trägheit des Saturn, den Zorn des Mars, die Wollust der Venus, die Habsucht des Merkur, die Herrschsucht des Jupiter. Die Essener, eine jüdische Sekte, unterschieden zwischen dem Geist des Lichts und dem Geist des Frevels, Letzterer charakterisiert durch Unersättlichkeit in Form von Habgier, Trägheit, Bosheit, Lüge, Stolz und Hochmut, Betrug und Täuschung, Grausamkeit, Jähzorn, Torheit, Eifersucht und Halsstarrigkeit. Die Stoiker kamen ohne Sterne oder Götter aus. Sie verorteten das Problem im Inneren des Menschen, insbesondere im menschlichen Begehren. Zu den Hauptleidenschaften (pathe) zählten sie Betrübnis, Furcht, Begierde und Lust.[15]

Daraus entstanden sogenannte Lasterkataloge. Sie sind im Grunde als Versuch zu verstehen, eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Ungleichgewichts zu finden. Einige sprachen auch von der Herkunft des Bösen. Doch noch wichtiger ist ihre praktische Bedeutung: Der Aufzählung und dem Aussprechen dieser «Sünden» wurde ein reinigender Effekt zugesprochen. Um das «Böse» – egal, ob in Form von Gedanken, Taten, Worten oder Gewohnheiten – loszuwerden, muss die Seele sie benennen können. Aus dieser Vorstellung heraus erwuchsen lange Listen von Schädlichem, das oft nur vorausschauend ausgesprochen werden musste, um es unwirksam zu machen. Auch in vielen anderen Kulturkreisen ist diese Idee verbreitet. Wir finden solche «Sündenlisten» in religiösen Texten aus China, Tibet, Turkestan oder Ägypten. Das ägyptische «Buch der Toten» etwa nennt gleich zweiundvierzig Sünden, von denen der Verstorbene quasi vorsorglich bestätigt, dass er sie nicht begangen oder schon gesühnt hat.

Am Anfang steht also eine ernüchternde Erkenntnis: Das Menschensein ist mit der Gefahr verbunden, die natürliche Ordnung aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auch im Christentum wird Sünde als Rebellion gegen die Natur, als Gewalt gegen die Schöpfung definiert.[16] «Sündenlisten» sind ein Versuch, die Störungsquellen genauer zu identifizieren, um die Fehler, wenn nicht beheben, so doch immerhin eindämmen zu können. Laster- und Tugendkataloge waren nützliche Hilfsmittel, Werkzeuge, wie Minendetektoren ermöglichten sie das Auffinden des im Menschen verborgenen explosiven Materials.

Allerdings war es schon bei den alten Griechen mit dem Wissen allein nicht getan. Der Erkenntnis folgt Arbeit: Geradeso, wie ein Athlet tagtäglich trainieren muss, um fit zu bleiben, muss sich der Philosoph tagtäglich im Guten üben. Man nannte das Askese, vom griechischen askein, übersetzt «üben», «ausüben» oder etwas «mit Sorgfalt bearbeiten». Askese bezeichnete neben sportlichen und militärischen Übungen (exercitia) ein körperliches und seelisch-geistiges Training.[17]

Die Anfänge in der ägyptischen Wüste: Evagrius Ponticus

Die Grenzen zwischen der Welt der antiken und jener der christlichen Philosophie sind fließend. Im 4. Jahrhundert findet man die ältesten christlichen Spuren, und zwar in der ägyptischen Wüste. Dorthin nämlich zogen sich vermehrt überforderte Großstadtmenschen zurück, um in der Einsamkeit endlich Ruhe zu finden. Einer davon war Evagrius Ponticus (griech. Euagrios Pontikos, 345 bis 399 n. Chr.).[18] Er gilt als Vater der christlichen Todsündenlehre.

Evagrius kam wie viele große Heilige aus der heutigen Türkei, der anatolischen Stadt Ibora, damals die römische Provinz Helenopontus (daher der Name Ponticus), heute Turhal. Er entstammte einer wohlhabenden Familie, hatte eine gute Ausbildung bei bedeutenden Lehrern wie Basilius von Caesarea und Gregor von Nazianz genossen und zog als junger Mensch in die Großstadt, nach Konstantinopel, der damaligen Hauptstadt des oströmischen Reiches. Dort studierte er weiter, wurde Diakon und erarbeitete sich eine Stellung als nachgefragter Berater und Redner. Wie es scheint, lebte er ein gutes und nicht besonders frommes Leben. Dazu gehörten auch Liebesbeziehungen, bis schließlich eine davon gefährlich zu werden drohte: Der Ehemann einer Geliebten hegte Mordpläne gegen Evagrius. Diese Geschichte führte ihn in eine tiefe Krise. Evagrius ließ alles hinter sich und zog nach Jerusalem. Dort lebte er einige Zeit in einer Gemeinschaft von Männern und Frauen, die unter Führung von Melania, einer adeligen Römerin, und Rufinus, ihrem Gefährten, ihr spirituelles Fortkommen suchten. Evagrius aber wurde krank, litt an einem unerklärlichen Fieber, das einfach nicht besser werden wollte. Bis ihn Melania zur Rede stellte: «Sohn, deine lange Krankheit gefällt mir nicht. Sag mir, was in dir vorgeht.» Kaum hatte Evagrius ihr seine Geschichte erzählt, eine Generalbeichte abgelegt, setzte die Heilung ein. Er entschloss sich, als Mönch, im radikalen Rückzug von der Welt, nach innerem Frieden zu suchen.

Der Ort, an dem man ein solches Vorhaben damals am besten verwirklichen konnte, war die Wüste. Vermutlich um das Jahr 384 zog Evagrius nach Kellia, einer Eremitensiedlung in der Sketischen Wüste, ungefähr siebzig Kilometer südöstlich von Alexandria. In diesen Ausläufern der Sahara hatten sich seit der Mitte des Jahrhunderts immer mehr christliche Männer und Frauen niedergelassen, um in der Einsamkeit Gott und sich selbst zu finden. Trendsetter war der heilige Antonius, der im Jahr 356 als Hundertjähriger verstorben war. Es ging diesen Menschen auch um den Rückzug aus familiären Bindungen und den Verpflichtungen ihrer Herkunftsgemeinden. Untereinander jedoch pflegten sie – auch als Eremiten – eine lose Gemeinschaft, geprägt von festen Regeln und angeleitet durch einen frei gewählten erfahrenen «Seelenführer». Sie lebten ein Leben im ständigen Wechsel von Handarbeit und Gebet, der Rezitation von Gebeten und Psalmen sowie der Meditation im Sitzen.

Die Eremiten suchten nach Freiheit von den Leidenschaften und innerer Gelassenheit. Das Ziel war Stille, hesychia. Ein Zustand innerer Ruhe als Voraussetzung eines Lebens der Kontemplation. Der Einstieg in dieses Leben erfolgte in drei Schritten: zunächst im Rückzug aus der Welt, der Aufgabe enger persönlicher Bindungen und Partnerschaften; sodann mit einfacher, rein pflanzlicher Ernährung, schlichter Kleidung, wenig Besitz; schließlich durch die tägliche Übung in Meditation und Gebet (Askese).[19]

Der Lebensweg des Evagrius Ponticus – von Ibora in der römischen Provinz Helenopontus (der Evagrius seinen Beinamen verdankt) bis zur Eremitensiedlung Kellia in der Sketischen Wüste. Welche Routen Evagrius genau gewählt hat und ob er etwa zu Land oder zu Wasser gereist ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.

In einer solchen Gemeinschaft also verbrachte Evagrius den Rest seines Lebens. Bis zu seinem Tod im Jahr 399 schrieb er erstaunlich viele Bücher: Anleitungen zum geistlichen Leben (Institutio), Briefe aus der Wüste an befreundete Mönche und Nonnen (Epistulae), Regeln für Männer und Frauen, die ein spirituelles Leben führten (Ad monachos, Ad virginem), hundert Sätze für die praktische Umsetzung (Praktike). In einem Traktat über acht Übel des Geistes (De octo spiritibus malitiae tractatus) dokumentiert Evagrius die Ergebnisse aufmerksamer Selbstbeobachtung: Was man früher etwas altbacken «Anfechtungen» nannte, bezeichnet er als schädliche Gedanken, als Feinde im eigenen Kopf, die Zufriedenheit und das Erreichen der eigenen Ziele verhindern. Die Grundlage seiner Überlegungen ist die «Praktike», also das ganz praktisch-asketische Alltagsleben. Es geht um Erfahrungswissen im Umgang mit inneren Konflikten. Evagrius ist im Grunde ein Psychologe, der die verborgensten Winkel menschlicher Regungen und Motivationen ausleuchtet.

In seiner Sammlung von «Sprüchen», die er mit spitzer Feder, oft selbstironisch, aber stets mit Zugewandtheit und Humor zu Papier brachte, identifiziert Evagrius acht Hauptfeinde, denen er jeweils ein eigenes Kapitel widmet:

Fresslust (gastrimargia)

Ausschweifung (porneia)

Geldgier (philargyria)

Kummer und Sorgen (lypê)

Zorn (orgê)

Überdruss (akedia)

eitle Ruhmsucht (kenodoxia)

Hochmut (hyperêphania)[20]

 

Um die Sache anschaulich zu machen, gibt er den inneren Feinden die Gestalt von Dämonen, die sich anschleichen und dem Menschen etwas einflüstern. Der Dämon der Fresslust zum Beispiel setzt den Verstand außer Kraft: «Nebelgewölk verhüllt die Sonnenstrahlen, und die dumpfe Verdauung der Speisen verfinstert den Intellekt.» Vertrieben werden kann dieser Dämon mit einer möglichst trockenen Diät. Der Feind namens Zorn verleitet zur Selbstzerfleischung: «Die Gedanken des Zornigen sind ein Natterngezücht, und sie fressen das sie gebärende Herz.» Hochmut vergleicht Evagrius mit einem «Geschwulst der Seele, voll von Eiter, wenn es reif ist, platzt es und verursacht starken Ekel». Die Gier nach Geld und Besitz macht das Leben schwer und raubt die Freiheit: «Wie ein überladenes Schiff von jeder Welle bedrängt wird, so wird der Vielbegüterte von seinen Sorgen überschwemmt.» Die Habsucht verführt den Menschen dazu, sich einer Vorsorge zu widmen, die in Wirklichkeit nur Ausdruck von Angst um sich selbst ist.

Sprüche wie «Ein Reicher ist von Sorgen gefesselt, wie ein Hund an die Kette gebunden ist» oder «Ein wütender Mönch ist eine einsame Wildsau» sind einprägsam und unterhaltsam. Zwar richtet sich Evagrius damit auch an die «Weltlinge», doch sind die Mönche im Grunde schlimmer dran, denn in der Einsamkeit der Wüste sind sie nur mit sich selbst konfrontiert, und der Intellekt, die inneren Stimmen – davon ist Evagrius überzeugt – sind das, was am schwersten zu zügeln ist. Dieser innere Feind plagt alle gleichermaßen, egal, ob Mönch oder nicht.

Das Büchlein wurde ein Bestseller spätantiker Ratgeberliteratur und auch international rezipiert: Evagrius schrieb in seiner Muttersprache Griechisch, überliefert sind Übersetzungen auf Äthiopisch, Arabisch, Armenisch, Koptisch, Latein, Syrisch und möglicherweise auch Georgisch. Bald schon fanden die acht Gedanken auch im Westen Europas Verbreitung.[21]

Von Ägypten nach Südfrankreich. Cassian verbreitet die «acht Gedanken» im Westen

Johannes Cassian (ca. 360 bis ca. 435 n. Chr.) war ein Schüler des Evagrius. Er zog nach einigen Jahren in der ägyptischen Wüste nach Frankreich, damals Gallien, und gründete in Marseille ein Kloster. Man bat ihn, die Weisheiten der ägyptischen Klöster aufzuschreiben. Anfangs weigerte er sich. Ihn interessierte die Zukunft, nicht die Vergangenheit. Auch war er der Meinung, dass handeln wesentlich mehr zählt als reden oder Bücher lesen. Und er hielt wenig von guten Ratschlägen für die Jungen. So berichtet er jedenfalls im Vorwort seiner «Instituta» (Grundsätze), zu deren Abfassung er sich also doch überreden ließ.

Prominent vertreten war in dieser Schrift Evagrius’ Achtlasterlehre. Cassian fasste die schädlichen Gedanken in Krankheitsbildern zusammen, fragte nach möglichen Ursachen und empfahl – ganz in der Tradition der Antike – Gegenmaßnahmen als Heilmittel (remedia).[22] Im Grunde war er, wie auch Evagrius, ein Psychologe, der die inneren Nöte der Zeitgenossen zu formulieren verstand. Und auch seine Schrift fand ein großes Publikum. In ganz Europa machte das Konzept aus der ägyptischen Wüste Karriere, Texte aus dem 6. Jahrhundert belegen die Verbreitung von Irland bis Nordafrika. Die Synthese von antiker Gelehrsamkeit, ägyptischer Psychologie und abendländischem Pragmatismus erwies sich als ungemein erfolgreich.[23]

Wie so oft in der Weltgeschichte wurden mehr oder weniger zeitgleich an verschiedenen Orten ähnliche Entdeckungen gemacht. In Spanien schrieb ein pensionierter Jurist namens Aurelius Prudentius Clemens (348 bis 405) ein Lehrgedicht mit dem schönen Titel «Psychomachia», wörtlich der «Kampf der Seele» – und zwar gegen die Laster. Prudentius hatte in Rom studiert und dort Gladiatorenkämpfe gesehen. Er kannte das Gefühl, im Kolosseum mitzuverfolgen, wie zwei Kämpfer ihre Kräfte messen. Entsprechend ließ er in seiner «Psychomachia» jedes Laster, ausgestattet mit einem Heer von Kriegern, gegen die zugehörige Tugend antreten.

Wie überaus unterhaltsam das werden konnte, zeigt der Kampf zwischen Luxuria, hier Verschwendung, und Sobrietas, Nüchternheit (Gregor der Große wird ein Jahrhundert später Sobrietas zum Gegenmittel gegen Gula erklären):[24] Luxuria erscheint auf dem Schlachtfeld ziemlich verlebt und verwahrlost, stinkend nach Essensresten und Alkohol. Ein so heruntergekommenes Laster dürfte eigentlich nicht in der Lage sein, seinem tugendhaften Gegner standzuhalten, zumal sich Luxuria vor Kampfbeginn auch noch übergibt und völlig erschöpft ist. Als das Signal zum Kampf ertönt, lässt sie erst mal alles stehen und liegen und schwankt vom Schlachtfeld. Nach einiger Zeit kommt sie – noch immer sturzbetrunken – auf ihrem prächtig verzierten Prunkwagen zurück und streut körbeweise Veilchen und Rosen über ihre Gegner aus, um sie so, durch eine völlig unkriegerische Kampfesweise, zu entwaffnen. Doch die Rechnung geht nicht auf, Luxuria verliert den Kampf. Ihre Vasallen fliehen vom Schlachtfeld: Die Lust lässt ihren Bogen samt vergifteten Pfeilen fallen, die Eitelkeit flieht nackt, lässt ihr teures Kleid zurück, ebenso Verführung und Vergnügen, die barfuß über dornige Pfade davoneilen. Sobrietas geht siegreich vom Platz, und alle Zuschauer hatten ihren Spaß.

Knapp zweihundert Jahre später arbeitet ein Mönch namens Gregor, von Geburt Römer, aber aus beruflichen Gründen einige Zeit in Konstantinopel tätig, an einem umfassenden Kommentar zum Buch Hiob (Moralia in Iob). Über die Todsünden kommt Gregor zu den Versen Hiob 39,24–25, die beschreiben, wie ein Schlachtross aufhorcht, nervös mit den Hufen scharrt und wiehert, wenn es den Kampf wittert, das Klappern der Speere vernimmt und das Jauchzen und Schreien der Feinde von ferne hört. In bunten Farben malt Gregor diese Schlacht aus und beschreibt dabei den Kampf des Soldaten mit den Feinden, als da wären Neid, Zorn, Schwermut, Geldgier, Völlerei und Wollust. Angeführt werden sie von Hochmut, dem Ursprung allen Übels. Auch hier ist die Seele Schauplatz des Kampfes. Einmal beschreibt Gregor den Menschen als Gefangenen der Laster, ein andermal betont er, dass diese im Grunde genommen aus guten Absichten hervorgehen. Hochmut etwa ist oft eine Folge von großer Kenntnis und Gelehrsamkeit, Grausamkeit kann dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit entspringen, Gleichgültigkeit erscheint zuweilen als eine Begleiterscheinung der Sanftmut, Zorn ist die Kehrseite von Eifer und Trägheit die von Freundlichkeit.[25]

Gregors Gedanken leuchten ein. Und auch weil er später als Gregor der Große zu einem der berühmtesten Päpste wurde, hat man seine Texte gelesen, studiert, zitiert und immer wieder abgeschrieben. Mehr als 1666 erhaltene Handschriften belegen die Popularität seiner Schrift.[26] Dabei bestand die größte Neuerung Gregors in einer winzigen, aber entscheidenden Veränderung. Er vereinfachte das Konzept und vervollständigte es zugleich. Evagrius’ Kummer (lypê/tristitia) fasste er mit Überdruss (acedia) zusammen, die Ruhmsucht (kenodoxia) schlug er dem Hochmut (superbia/hyperêphania) zu. Er machte also aus den acht Gedanken sechs. Und fügte den Neid (invidia) hinzu. So entstand der Siebenerkatalog:

Superbia

Avaritia

Luxuria

Invidia

Gula

Ira

Acedia

Die Reihenfolge war variabel. Kürzel wie «SALIGIA», «SIIAAGL» oder «SIAGLIA» dienten als Eselsbrücken. Stets führte Superbia die sieben Laster an.[27]

Komplementär setzt sich auch eine Siebenerliste der Tugenden durch:

humilitas (Demut, gegen den Hochmut)

paupertas (Armut, gegen die Habgier)

castitas (Zurückhaltung, gegen die Ausschweifung)

caritas (Liebe, gegen den Neid)

sobrietas (Nüchternheit, gegen die Völlerei)

patientia (Geduld, gegen den Zorn)

contricio (Reue, gegen die Trägheit)

Was genau sind Todsünden?

(Thomas von Aquin)

Bisher war – das dürfte vielleicht schon aufgefallen sein – kein einziges Mal von «Todsünden» die Rede. Wir sollten uns klarmachen, dass im Mittelalter die sogenannten Todsünden weder unbedingt Sünden waren noch zwangsläufig tödlich, und auch nicht immer sieben.[28] Erst in der Frühen Neuzeit, im späten 16. Jahrhundert, erhob der Jesuit Petrus Canisius die sieben Todsünden zum allgemeinen Katechismuswissen.

Die antiken Philosophen sprachen von Lastern (vitia), Evagrius von schlechten Gedanken (malitia spiritūs), gemeint waren lebensfeindliche Gewohnheiten, Charaktereigenschaften, Persönlichkeitszüge. Erst im Hochmittelalter wird auch der Begriff «Todsünden» (peccata mortalia) gebraucht. Im Grunde geht es durchweg um psychologische Fragen. Man behandelt die Laster auch als Krankheiten, die wie verdorbene Speisen den Körper schädigen (vitia corporalia) oder wie schlechte Luft Kopfschmerzen verursachen (vitia spiritualia). Als Medizin (remedia) wurden die Tugenden verschrieben. Gegen Beklemmungen und Verlustängste half Großzügigkeit (nach dem Prinzip der paradoxen Intervention), gegen Neid wirkte regelmäßiges Zufriedenheitstraining (vielleicht verwandt mit dem, was wir heute Achtsamkeit nennen), gegen Magenkrämpfe wegen Völlerei wurde Maßhalten verschrieben. Es waren Probleme, die jeden Einzelnen, aber auch alle gemeinsam betrafen.

Bücher über Todsünden verkauften sich, ähnlich wie die heutige Ratgeberliteratur, sehr gut. Kein Wunder also, dass im Laufe des Mittelalters unzählige Schriften, Traktate, philosophische Abhandlungen, Gedichte, Romane und insbesondere Predigthandbücher entstanden.[29] Eine solche Materialsammlung war ein Buch mit dem Titel «Fasciculus Morum», wörtlich «Bündel der Sitten», verfasst im frühen 14. Jahrhundert in England, in der Nähe von Shrewsbury an der Grenze zu Wales. Der Autor war vermutlich ein Franziskaner namens Richard Selke. Er sammelte Material zur Vorbereitung von Predigten. Dazu ordnete er seinen Stoff – Zitate, Geschichten über Tugenden und Laster seit den alten Griechen, Anekdoten aus dem Alltagsleben, Merkverse aus der Bibel – übersichtlich nach den sieben Lastern oder Sünden (vitia sive peccata). Diese Sammlung ist überaus hilfreich bei der Analyse zeitgenössischer Wissensbestände zu den einzelnen Todsünden.

Darstellung der sieben Todsünden im Krumauer Bildercodex aus dem späten 14. Jahrhundert, heute in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Superbia (Hochmut) steht ganz oben, am Kopf der Figur. In ihrer rechten Hand Ira (Zorn), links Avaritia (Habgier), Gula (Völlerei) in der Magengegend, Invidia (Neid) als Schlange, die in das Bein der Figur beißt, und am Fuß Acedia (Trägheit). Aus unerfindlichen Gründen fehlt Luxuria (Ausschweifung), die in der Körpermitte bei Gula anzusiedeln wäre. Man könnte auf die Idee kommen, die Zunge des Löwen als Penis zu deuten – das Spätmittelalter konzentrierte sich im Kampf gegen die Luxuria vor allem auf Sex, das konsumptive Verhältnis im Umgang mit dem Körper.

Noch wichtiger für diesen Zweck ist Thomas von Aquin, der im späten 13. Jahrhundert an einer umfassenden Synthese zum Thema arbeitete. Er war einer der bedeutendsten Intellektuellen seiner Epoche, lehrte als Philosoph und Theologe an der Universität Paris und war maßgeblich beteiligt an der Wiederentdeckung der Werke des Aristoteles. Man arbeitete damals nach neuen wissenschaftlichen Standards, nach der sogenannten scholastischen Methode. Eine These wurde zur Diskussion gestellt, und die Studierenden mussten verschiedene Argumente durchspielen, zunächst dagegen, dann dafür. Am Ende der Übung stand in der Regel eine ausgewogene Synthese. Die Vorbereitung beziehungsweise Ergebnisse dieser Diskussionen im Hörsaal wurden oft verschriftlicht und sind als «Quaestiones disputatae» überliefert. Zu den populären Themen zählte das «Böse» (De malo), und hier verhandelte Thomas ausführlich die sieben Hauptlaster (vitia capitalia). Der scholastischen Methode entsprechend wird alles zur Diskussion gestellt: Gibt es fünf oder sieben oder vielleicht sogar acht Todsünden? Gibt es schlimmere und weniger schlimme? Was ist die größte Todsünde? Gehen alle anderen aus der Superbia hervor? Die Antwort auf die letzte Frage ist ja. Hochmut steht, nicht anders als bei Gregor dem Großen, ganz oben an der Spitze der Laster, während Fresssucht und Wollust die vergleichsweise harmlosen Schlusslichter bilden.

Bemerkenswert ist die Definition, die Thomas an den Anfang stellt.[30] Für ihn sind Laster allgemeine charakterliche Orientierungen oder innere Grundeinstellungen, die uns das Falsche tun lassen, aus denen also schlechte Einzelhandlungen hervorgehen. Er geht aus von der aristotelischen Tugendlehre, die die Natur des Menschen aus der Spannung seines Strebens zwischen arete (Gutheit, Tugend) und kakia (Schlechtigkeit, Laster) herleitet. Es ist das Übermaß des Wollens, das ein Begehren zum Laster werden lässt. Gute und schlechte Grundhaltungen lassen sich gleichermaßen trainieren. Durch wiederholtes Tun und Gewöhnung gehen sie dem Menschen in Fleisch und Blut über. Während die guten Grundhaltungen, also die Tugenden, aus den Maßgaben der Vernunft hervorgehen, rühren die Laster aus irrationalem Streben.

Zentral für die Scholastik ist die Annahme, dass erst die Grundhaltung eine Sünde zur Todsünde macht und den Verlust des ewigen Lebens zur Folge hat. Konkret heißt das, dass nicht jede Form der Eitelkeit eine Todsünde ist: Ein eitler Sänger, der sich im guten Glauben seiner Sangeskunst rühmt, obwohl er eigentlich schrecklich singt, macht sich selbstverständlich keiner Todsünde schuldig. Was die Todsünde ausmacht, ist der Umstand, dass sie im Sinne der Entfremdung gegenüber Gott den gesamten Lebensweg des Menschen charakterisiert. Der Mensch wird durch eine fehlerhafte Grundeinstellung so nachhaltig geformt beziehungsweise verformt, dass das Böse und das Übel die Oberhand gewinnen. Wenn die verderbliche Grundeinstellung zur zweiten Natur des Menschen wird und die erste – die ursprünglich gute Natur – gänzlich überlagert, dann wird sie zur Todsünde.[31]

Und woher rühren die Todsünden? Hier gibt Thomas eine höchst erstaunliche Antwort. Der Neid zum Beispiel, den er als Kummer definiert, ausgelöst durch das Glück des anderen, entstehe in der Regel aus Angst. Ja, mehr noch, jede Sünde sei ihrer Ursache nach «schlechtgeratene Liebe», denn jede Bewegung der Seele, auch der Kummer, entstehe aus Liebe.[32] Oftmals komme das Böse von einem Zuviel des Guten. Thomas spricht vom «ungeordneten Begehren» (inordinatus appetitus) und meint damit, dass die Hauptlaster ihren Ursprung in einer Übersteigerung der natürlichen guten Antriebe haben, in einer Kultivierung des Guten in übertriebener und falscher Form.[33]

Auf zum Höllenkrater: Dantes «Göttliche Komödie»

Karfreitag im Jahr 1300. Dante Alighieri macht einen friedlichen Waldspaziergang, der unvermittelt gefährlich wird: Plötzlich tauchen ein Panther, ein Löwe und eine Wölfin auf, die den Erzähler so tief in den Wald hineintreiben, dass er unmöglich wieder allein herausfinden kann. In dieser verzweifelten Situation erscheint Vergil, ein vor mehr als einem Jahrtausend verstorbener Dichterfreund. Leider hat er keine guten Nachrichten: Kein Weg führe aus der Wildnis heraus – außer der Weg durch die Hölle! Immerhin bietet Vergil dem armen Dante an, ihn zu begleiten. Ein schwacher Trost zwar, aber Dante weiß, dass sich Vergil mit Höllenfahrten auskennt, denn er hat einst Aeneas, einen der wenigen Überlebenden des Trojanischen Krieges, aus den brennenden Ruinen Trojas und durch die Hölle des wilden Meeres an die sicheren Ufer Latiums geführt – wo Aeneas zum Stammvater Roms wurde. Es gibt also ein Fünkchen Hoffnung für Dante.

Tatsächlich geht die Sache gut aus, jedenfalls langfristig. Denn was als Waldspaziergang beginnt, wird zur berühmtesten Wanderung der Weltliteratur: Dantes Abstieg in die Hölle (Inferno) und der steile Anstieg durch das Fegefeuer (Purgatorio) bis in den Himmel (Caelo) machen ihn unsterblich. Sein Inferno, die Hölle, ist ein riesiger, mehrstöckiger, trichterförmiger Einschlag in die Erdoberfläche – Folge des Zerstörungswerks der Sünde, die dazu führt, dass die Menschen in einer gestörten Beziehung zu sich selbst und zur Natur leben.[34] Durch den ersten Stock, die Vorhölle, geht es hinunter zu neun Höllenkreisen, bis zum Mittelpunkt der Erde.

Dante vor dem Läuterungsberg (Purgatorium), Fresko von Domenico di Michelino in der Kathedrale von Florenz, 1465. Man sieht im zweiten Stockwerk über dem rechten Arm des Dichters die von schweren Lasten niedergedrückten Hochmütigen, darüber die Neider, fast ununterscheidbar in ihren grauen Gewändern, und, noch ein Stockwerk höher, die Zornigen, eingehüllt in finsteren Rauch.

Der Weg durch die Hölle liest sich wie ein Who’s who des 13. und frühen 14. Jahrhunderts. Dante lässt seiner Fantasie freien Lauf und denkt sich für die politische und künstlerische Prominenz seiner Zeit die wunderbarsten Qualen aus. Die oberen Etagen sind für die Maßlosen reserviert, die mittleren für die Boshaften, und in den tiefsten Tiefen der Hölle werden die schlimmsten aller Sünder bestraft: die Verräter. Hierher verfrachtet Dante seine politischen Feinde und lässt sie büßen für das, was sie ihm angetan haben: Er selbst war 1302 als einstiger Rat der Stadt und Anhänger der kaiserfreundlichen Partei der Guelfen in die Verbannung geschickt worden. Ohne dieses Ereignis wäre die «Göttliche Komödie» vermutlich nie entstanden. Erst im Exil, das er in verschiedenen Städten Norditaliens verlebte, hatte er Zeit, um seine literarische Abrechnung niederzuschreiben, und kleine und große Sünder, von seinem eigenen Lehrer Brunetto Latini bis zu Papst Bonifaz VIII., in der Hölle schmoren zu lassen.

Vom zehnten Höllenkreis aus, am Mittelpunkt der Erde, gelangt man durch ein Weltenmeer zu einer Insel, auf der sich das Purgatorium, genauer: der Läuterungsberg befindet. Diesen müssen die beiden Wanderer kreisend erklimmen, um ins Paradies zu gelangen. Während die Höllenqualen unendlich sind, darf derjenige, der hier angekommen ist, auf Erlösung hoffen. In sieben Stockwerken besteht die Möglichkeit zur Buße. In umgekehrter Reihenfolge zum Inferno beginnt die Läuterung mit der schwersten der Sünden, dem Hochmut, und endet mit der leichtesten, der Wollust. Ähnlich wie die Strafen im Inferno gestaltet Dante die Bußübungen im Purgatorium äußerst fantasievoll.[35] Superbia etwa wird durch die fortdauernde Übung in Humilitas geläutert: Die Hochmütigen laufen mit einem riesigen Felsbrocken auf dem Rücken gekrümmt umher, so tief zur Erde gebeugt, dass man sie kaum mehr erkennen kann. Und Dante lässt sie ihre Niedrigkeit spüren, vergleicht sie mit Raupen, die ihre Bestimmung verfehlten, weil sie zwar das Zeug zum Schmetterling hatten, aber leider die Metamorphose verpatzten.

O ihr hochmütigen Christen, ihr saumseligen […],

Seht ihr denn nicht, dass wir nur Würmer sind,

geboren, den Himmelsfalter einst zu bilden,

der ohne Hülle auffliegt zum Gericht?

Warum schwimmt euer Geist so obendrauf?

Ihr seid doch wie ein fehlerhaft Insekt,

gleichsam ein Wurm, in dem die Bildung fehlging.[36]

Die Zornigen lässt der große Dichter in einem finsteren, raucherfüllten Raum büßen, die Habgierigen fesselt er dicht am Boden, wo sie – zur Untätigkeit verdammt und von der Gerechtigkeit, gegen die sie so oft verstoßen haben, niedergedrückt – auf Erlösung warten müssen. Für die Fresssüchtigen denkt sich Dante einen Baum voller Früchte aus, der leider unmöglich zu besteigen ist, weil ganz unten die dünnsten Äste sind, die saftigen Früchte jedoch ganz oben hängen. Die Wollüstigen schließlich schickt er auf eine Gratwanderung an einer glühenden Wand entlang. Auf der einen Seite drohen Flammen, auf der anderen der Sturz in die Tiefe.

Bei aller Freude an den Qualen, die Dante sich für seine Feinde ausdenkt, ist sein Purgatorium jedoch kein Gefängnis und auch kein Folterkeller. Vielmehr ist es ein Ort der Veränderung, ein Ort, an dem es zu einem Bewusstseinswandel kommt: einer Transformation der Überheblichkeit in Demut, der Habgier in Bedürfnislosigkeit, des Neids in Nächstenliebe und so weiter.

Über die Jahrhunderte hinweg hielt sich die Überzeugung, dass die Probleme, mit denen Menschen zu tun haben, ihren Grund in bestimmten inneren Überzeugungen haben. Und man ging davon aus, dass diese verändert werden können, egal, ob auf einer Reise der Seele im Jenseits, wie sich das die Orphiker vorstellten, durch tägliches Training, das die griechischen Philosophen Askese nannten, oder durch Standhaftigkeit im inneren Kampf der Tugend gegen die Laster, wie ihn Prudentius und Gregor der Große beschrieben. Die antiken und mittelalterlichen Lasterlehren gingen davon aus, dass das Gute trainiert werden kann und muss.

Im 18. Jahrhundert zeichnete sich dann ein entscheidender Wandel ab.

Als die Todsünden zu Tugenden wurden: «Private Vices – Publick Benefits»

(Bernard Mandeville)

Nachdem die Laster alias Todsünden über Jahrhunderte hinweg als Feinde des guten Lebens bekämpft wurden, entdeckte man im 18. Jahrhundert ihren Nutzen für die Allgemeinheit. Im Grunde fand hier der bedeutendste Paradigmenwechsel im Wissenssystem des Westens statt: Aus Lastern wurden Tugenden.

Auch in der Antike und im Mittelalter wurden die Vorteile einzelner Laster diskutiert, doch im 18. Jahrhundert schlug die Stimmung um. Kaum jemand hat diesen Umschwung so prägnant zum Ausdruck gebracht wie Bernard Mandeville (1670 bis 1733) in seiner berühmt gewordenen «Bienenfabel». Mandeville hatte Medizin und Philosophie in Leuven studiert und war in jungen Jahren nach England ausgewandert, wo er als Arzt arbeitete und seine staatsphilosophischen Studien vorantrieb.[37] Die «Bienenfabel» ist ein Sammelsurium von Texten, Gedichten, Satiren und moralphilosophischen Essays, die er über die Jahre 1705 bis 1728 schrieb. Leitthema sind die Laster alias Todsünden, die er als wichtigste Triebfeder der Ökonomie zur Grundlage eines prosperierenden Gemeinwohls erklärte.

Mandeville stellt das bekannte Bild vom Bienenstock, das über Jahrhunderte als Musterbeispiel für den idealen Staat gedient hatte, auf den Kopf: Bei ihm verwenden Millionen von Bienen ihre Zeit und Kraft darauf, den Lastern zu frönen.[38] Kaufleute befriedigen die Eitelkeit und Lust ihrer Zeitgenossen. Diebe und Banditen, Falschmünzer und andere Nichtsnutze verstehen es mit ihrer Schläue, aus ihren Mitmenschen Profit zu ziehen, Rechtsverdreher und andere Gauner bereichern sich am Gut ihrer Nachbarn, Ärzte sind nicht an der Gesundheit ihrer Patienten interessiert, sondern einzig am Geldverdienen durchs Rezepteschreiben. Hinzu kommen ehrlose Soldaten und Politiker, Betrüger in Wissenschaft und Kunst, Halsabschneider in Handwerk und Gewerbe, bestechliche Richter. Doch trotz allem ist es wie im Himmel, denn die Wirtschaft boomt.

Das aber ändert sich schlagartig, als die Bienen beschließen, künftig ehrlich und tugendhaft zu leben. Was nämlich geschieht? Die Fleischpreise fallen, weil niemand mehr prasst, die Juristen verlieren ihren Job, weil es keine Streitfälle mehr vor Gericht gibt, ebenso werden die Gerichtsdiener, Wächter, Schmiede und Henker arbeitslos. Die Anzahl der Ärzte nimmt dramatisch ab, weil sie ihre Arbeit ordentlich machen und die Kranken gesund werden. Die Priester müssen nicht mehr nach Macht und Geld streben und haben plötzlich Zeit, sich um Arme, Hungrige und Erschöpfte zu kümmern. Minister und Politiker tun einfach ihre Arbeit und leben zufrieden vom Staatsgehalt, die Immobilienpreise stürzen in den Keller, das Baugewerbe liegt am Boden, Handwerker, Künstler, Maler, Steinschneider, Schnitzer finden keine Arbeit, weil die Lust an der Verschwendung fehlt. Alle leben sparsam und anspruchslos, niemand bestellt mehr Schaumwein und teure Leckereien, die Mode besteht nur noch in einfachen Leinengewändern, Handel und Handwerk kommen zum Erliegen. Es mangelt an Mitteln, um Waffen zur Verteidigung nach außen zu kaufen, den Soldaten fehlt es an Heldenmut, und da alle den ganzen Tag nur brav arbeiten, erstirbt auch das soziale Leben.

Mandevilles Moral leuchtet ein:

Stolz, Luxus und Betrügerei

Muss sein, damit ein Volk gedeih’.

Quält uns der Hunger oft auch grässlich,

Zum Leben ist er unerlässlich.

Ohne Unersättlichkeit, ohne den Hunger auf immer mehr, kann, so die Lehre daraus, eine Gemeinschaft nicht überleben. Was seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. als Grund für alles Unglück galt – dass Menschen so unersättlich sind und notorisch unzufrieden, weil sie Dinge haben wollen, die sie gar nicht brauchen –, wurde im 18. Jahrhundert zum großen Heilsversprechen des Fortschritts. Aus Mandevilles Motto «Private Vices – Publick Benefits», also der Vorstellung, dass private Laster sozial von Nutzen seien, strickten seine Nachfolger das Glaubensbekenntnis des Kapitalismus. Friedrich Hayek adelte Mandeville in einer Vorlesung aus dem Jahr 1966, in der er die «Bienenfabel» zum Gründungstext der modernen Wirtschaftstheorien und Mandeville zum Vordenker von Adam Smiths Theorie der «unsichtbaren Hand» erklärte. Damit nicht genug, auch Darwin habe er vorweggenommen, indem er die Idee der Evolution mit der spontanen Formierung von Ordnung verband. Das Konzept der Todsünde, das über Jahrtausende diese Spontanität der Evolution zu unterdrücken suchte, wurde nun endlich abgeschafft, um dem freien Spiel der Kräfte Platz zu machen – so Hayek.[39]

Heute, dreihundert Jahre nach Mandeville, dämmert uns so ganz allmählich, dass der öffentliche Nutzen der privaten Laster uns langfristig teuer zu stehen kommt. Und dass es vielleicht gute Gründe dafür gab, dass frühere Gesellschaften den Kampf gegen die Unersättlichkeit und ihre Begleiterscheinungen so ernst nahmen.

Homo sapiens: Die unterschätzte Naturgewalt – und die unbeabsichtigten Nebenfolgen des Fortschritts

Abschließend noch einmal zurück zum Störgefühl, zum archaischen Unbehagen an der menschlichen Existenz. Vor 2500 Jahren, in der griechischen Antike, erklärte man die Gefahren, die vom Menschen ausgehen, in der Sprache des Mythos, etwa in der Erzählung von dem explosiven dionysisch-titanischen Stoff, aus dem Zeus die Menschen formte. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich in Europa die Sprache der Wissenschaft als Leitmedium durchgesetzt. Nun wird versucht, das Unbehagen auf wissenschaftliche Befunde zurückzuführen.

So erzählt etwa die Paläoanthropologie die Geschichte einer beispiellosen Verdrängung. Mit der Ausbreitung von Homo sapiens auf dem Planeten verschwanden nach und nach alle seine «Brüder und Schwestern»: die Neandertaler-Menschen vor rund 30000 Jahren, die Denisova-Menschen in Sibirien vor ca. 40000 Jahren, die Zwergmenschen auf der Insel Flores vor gut 12000 Jahren. Ein dramatischer Verlust an Diversität.

Das Gleiche gilt für die Großsäuger, auch sie verschwanden nach der Ankunft des Homo sapiens. So in Ostasien und Westeuropa die Mammuts, Wollnashörner oder die Europäischen Waldelefanten. Die australischen Riesenkängurus, Beutellöwen und Riesenwombats überlebten die Ankunft des Menschen vor ca. 45000 Jahren um nur wenige Tausend Jahre. Freilich spielten dabei auch natürliche Faktoren und vor allem der Klimawandel eine Rolle. Doch das Schicksal der Riesenfaultiere in Amerika stimmt bedenklich: Sie hatten in zwei Millionen Jahren schon zahlreiche klimatische Veränderungen überlebt – die Ankunft der Menschen hingegen überlebten sie nicht.[40]

Egal, welche Sprache wir bevorzugen, die der Mythen oder die der Wissenschaft, beide erzählen von den Gefahren, die von Homo sapiens ausgehen. Während wir in den letzten drei Jahrhunderten alles unternommen haben, um die Gefahren zu bändigen, die von der Natur ausgehen, geriet die «Naturgewalt Mensch» aus dem Blick. Erst seit der Chemie-Nobelpreisträger Paul L. Crutzen im Jahr 2000 den Begriff «Anthropozän» eingeführt hat, dringt diese Erkenntnis wieder ins kollektive Bewusstsein: Menschen sind in der Lage, alles zu verändern. Sogar das Klima.

Das Fatale ist, niemand hatte die Absicht, das Klima zu verändern. Hier scheint der berühmte Schmetterlingseffekt am Werk, dem zufolge der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann (Edward N. Lorenz). Der Klimawandel ist nur eine von vielen unbeabsichtigten Nebenfolgen des sogenannten Fortschritts. James Watt wollte nur «die Verringerung des Dampf- und Brennstoffverbrauchs bei Verbrennungsmaschinen» erreichen, als er im Jahr 1769 sein Patent für die Weiterentwicklung der Dampfmaschine von Thomas Newcomen in London anmeldete. Über Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre machte er sich keine Gedanken. Und auch die Pioniere der Erdölindustrie – wie die Rockefellers, Rothschilds, Samuels etc. – verschwendeten keinen Gedanken an die langfristigen Folgen des fossilen Zeitalters, das sie einläuteten, als sie sich Anfang des 20. Jahrhunderts im Wettlauf um die weltweiten Erdölvorkommen wechselseitig zu Höchstleistungen anspornten.

Jenseits und unabhängig von individuellen Absichten historischer Akteure hat die «Naturgewalt Mensch» dramatische Umwälzungen des planetarischen Gleichgewichts verursacht und läuft nun Gefahr, sich selbst zu zerstören.[41] Seit mehr als einem halben Jahrhundert liegen die wissenschaftlichen Fakten auf dem Tisch. Als Donella und Dennis Meadows 1972 den ersten Bericht des Club of Rome veröffentlichten, ließen sie keinen Zweifel an der Dringlichkeit der Lage.[42] Und doch ging man schon bald wieder zum Tagesgeschäft über. Man hat die Situation unterschätzt, wollte den erreichten Wohlstand nicht gefährden, das Wachstum nicht bremsen. Oder, wie es der indische Historiker Dipesh Chakrabarty in seiner Studie zum «Klima der Geschichte» formuliert: Wir haben viel zu spät realisiert, dass der «Prachtbau der modernen Freiheiten» auf einem massiven Fundament der Nutzung fossiler Brennstoffe ruht.[43] Dass das fossile Zeitalter zu einer existenziellen Bedrohung für die wunderlich widersprüchliche Spezies Homo sapiens werden könnte, damit hatte keiner gerechnet. Alle wollten ja nur das Beste.

Mittlerweile aber hat die Wissenschaft die Grenzen, innerhalb derer eine Zukunft der Menschheit auf dem Planeten möglich ist, klar definiert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben den sicheren Handlungsraum auf der Erde quantifiziert. Es gibt eine wissenschaftliche Grundlage für die Maßnahmen, die jetzt notwendig sind, um die Widerstandsfähigkeit des Planeten wiederherzustellen.[44]

Doch zunächst ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Menschen mehr können als nur Zerstörung. Es gibt jahrtausendealtes Erfahrungswissen im Umgang mit der Naturgewalt Mensch, Maßnahmen zur Einhegung ihres destruktiven Potenzials. Eine von vielen dieser zu bewahrenden Wissenstraditionen, nämlich die des Westens, soll in diesem Buch in Erinnerung gerufen werden.

Regensburg im Sommer 1266. Aufregung herrscht in der Stadt, als der berühmte Prediger Berthold von Regensburg angekündigt wird. Man kennt ihn schon. Ein wortgewaltiger Redner, der die Menschen wie ein Magnet anzieht. Seine Vorträge sind unterhaltsam und geben viel Stoff zum Nachdenken. Er spricht den Menschen aus der Seele, erzählt von Teufeln und Engeln, als hätte er noch gestern mit ihnen Bier getrunken. Stets lebensnah. Nicht weltfremd. Theologische Spitzfindigkeiten, wie sie die Philosophen seiner Zeit pflegen, sind ihm zuwider.

Berthold wurde um 1210 vermutlich in Regensburg geboren, wo er im Jahr 1272 auch verstarb.[45]