Wir müssen die Liebe neu erfinden - Mona Chollet - E-Book
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Wir müssen die Liebe neu erfinden E-Book

Mona Chollet

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Beschreibung

Unsere gesamte Kulturgeschichte ist durchdrungen von Darstellungen idealtypischer Paarbeziehungen, die – direkt oder unterschwellig – eine weibliche Unterlegenheit inszenieren. Es sind Bilder, die suggerieren, dass die Frau nur durch Unterwerfung romantische Erfüllung erlangen kann. Diese gesellschaftliche Konditionierung impft Frauen und Männern die Überzeugung ein, dass Männern alles zusteht, während von Frauen Selbstlosigkeit und Hingabe erwartet werden. Durch das erzwungene Leugnen eigener Interessen, Bedürfnisse und Wünsche wird das Selbstvertrauen der Frauen untergraben. Dieses Machtungleichgewicht kann in physischer und psychischer Gewalt gipfeln. Und auch was die Sexualität anbelangt, wird das Begehren weiterhin von männlichen Fantasien dominiert. Mona Chollet führt uns vor Augen, dass unsere romantischen Vorstellungen stets auf der Unterordnung der Frauen basieren. Anschaulich und präzise legt sie dar, was dies für heterosexuelle Beziehungen bedeutet.

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»CHOLLET IST EINE INSPIRATION FÜR EINE GANZE GENERATION VON FEMINISTINNEN.« ELLE

Unsere gesamte Kulturgeschichte ist durchdrungen von Darstellungen idealtypischer Paarbeziehungen, die – direkt oder unterschwellig – eine weibliche Unterlegenheit inszenieren. Es sind Bilder, die suggerieren, dass die Frau nur durch Unterwerfung romantische Erfüllung erlangen kann. Diese gesellschaftliche Konditionierung impft Frauen und Männern die Überzeugung ein, dass Männern alles zusteht, während von Frauen Selbstlosigkeit und Hingabe erwartet werden. Durch das erzwungene Leugnen eigener Interessen, Bedürfnisse und Wünsche wird das Selbstvertrauen der Frauen untergraben. Dieses Machtungleichgewicht kann in physischer und psychischer Gewalt gipfeln. Und auch was die Sexualität anbelangt, wird das Begehren weiterhin von männlichen Fantasien dominiert.

Mona Chollet führt uns vor Augen, dass unsere romantischen Vorstellungen stets auf der Unterordnung der Frauen basieren. Anschaulich und präzise legt sie dar, was dies für heterosexuelle Beziehungen bedeutet.

© Olivier Vogelsang

MONA CHOLLET, geboren 1973, lebt in Paris. Sie hat für ARTE Radio gearbeitet und ist heute Redakteurin bei Le Monde diplomatique. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, u. a. ›Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen‹ (2018), das sich in Frankreich 350 000-mal verkaufte und 2020 auf Deutsch erschien.

NORMA CASSAU übersetzt überwiegend aus dem Französischen, u. a. Michel Houellebecq, Philippe Djian und Muriel Barbery.

NADINE LIPP arbeitet als Lektorin und übersetzt Belletristik und Sachbücher aus dem Französischen, Englischen, Spanischen und Rumänischen.

Mona Chollet

WIR MÜSSEN DIE LIEBE NEU ERFINDEN

WIE DAS PATRIARCHAT HETEROSEXUELLE BEZIEHUNGEN SABOTIERT

Aus dem Französischen von Norma Cassau und Nadine Lipp

Die Arbeit an der vorliegenden Übersetzung wurde im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Die französische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel ›Réinventer l’amour. Comment le patriarcat sabote les relations hétérosexuelles‹ bei Zones, einem Imprint von Éditions La Découverte.© Éditions La Découverte, Paris, 2021.

eBook 2023© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, KölnAlle Rechte vorbehaltenÜbersetzung: Norma Cassau und Nadine LippLektorat: Kerstin ThorwarthUmschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Hulton Archive/Getty ImagesSatz: Angelika Kudella, Köln eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck ISBN eBook 978-3-8321-8291-5

www.dumont-buchverlag.de

EINLEITUNG: DIE ILLUSION EINER OASE

Für mein erstes Smartphone habe ich einst ein Hintergrundbild ausgewählt, das mich seitdem begleitet: eine indische Miniatur von 1830 mit dem Titel A Lady Comes to her Lover’s House in a Rainstorm.1 Darauf ist eine Frau abgebildet, die im Regen einen Garten durchquert und auf das Haus ihres Geliebten zueilt. Die Farben sind prächtig. Der Sari der Frau leuchtet orangerot; einen Teil des Stoffes hält sie sich mit beiden Händen zum Schutz über den Kopf. Der Mann, der ihr von einem überdachten Balkon aus ein Zeichen gibt, trägt weiße, ins Rosa tendierende Kleidung. Das Gras, ein im Wind gebeugter Baum, die Berge im Hintergrund sind blassgrün; die Gewitterwolke, durch die sich ein Blitz schlängelt, ist tiefschwarz. Das Bild hält einen Moment fest, in dem Naturgewalten die Geliebte vor sich hertreiben, doch ist sie schon fast am Ziel. Gleich wird sie in Sicherheit sein. Sie wird ihr durchnässtes Kleid ausziehen, sich trocknen und aufwärmen, die Gerüche des Zimmers einatmen, sie wird bei dem Mann sein, den sie begehrt, ihn in ihre Arme schließen und sich mit ihm auf dem Bett wälzen. Ich stelle mir vor, wie sie sich beeilt, wie die kalten Regentropfen auf ihr Gesicht und ihre Unterarme fallen, wie ihr Herz rast.

Da ich dieses Bild täglich vor Augen habe, denke ich nicht mehr viel über seine Bedeutung nach. Es begleitet mich, wie ein Bildschirmhintergrund es nun einmal tut, und es erinnert mich daran, dass es die Liebe gibt, dass sie möglich ist. Wenn ich verliebt bin, habe ich das Gefühl, intensiver und wahrhaftiger zu leben, das Leben in volleren Zügen zu genießen – und ganz ähnlich geht es mir beim Schreiben. Wie die Liebe hilft mir auch das Schreiben, mich mit der Welt zu vereinen. »Das Liebesglück«, schreibt der Philosoph Alain Badiou, »ist der Beweis, dass die Zeit die Ewigkeit aufnehmen kann.«2 Und Annie Ernaux fasst in Eine vollkommene Leidenschaft ihre Beziehung zu A. wie folgt zusammen: »Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich mich der Grenze, die mich von einem anderen Menschen trennt, so weit genähert habe, dass ich mir manchmal vorgestellt habe, sie überwinden zu können. Ich habe die Zeit anders gemessen, mit meinem ganzen Körper.«3

In unserem Sozial- und Berufsleben haben wir es täglich mit Menschen zu tun, die uns sympathisch oder gleichgültig sind, die uns langweilen, ärgern oder sogar Hassgefühle in uns auslösen. Wir finden uns mit diesen widersprüchlichen Gefühlen ab, mit der Oberflächlichkeit vieler zwischenmenschlicher Beziehungen und der Einsamkeit, die daraus resultieren kann. Manchmal tut sich jedoch Verblüffendes auf: Gerade wenn wir es am wenigsten erwarten, meint das Schicksal es gut mit uns. Wir stehen einer Person gegenüber, die wir erst seit ein paar Sekunden kennen – oder auch seit einigen Tagen, manchmal sogar seit mehreren Jahren –, und mit einem Mal lüftet sich leise raschelnd ein Schleier und kündigt an, dass bald und unausweichlich auch unsere Kleider zu Boden fallen werden. Wir haben das Gefühl, diese andere Person vollumfänglich zu verstehen, genauso, wie sie uns versteht und verzaubert. Sie erscheint uns zu schön, um wahr zu sein; die gesamte Situation wirkt wie ein berauschendes Geschenk des Himmels. Wir fühlen eine tiefe Verbundenheit, und dieser Urknall der Gefühle setzt so viel Energie in uns frei, dass wir dreimal um die Welt sprinten könnten.

Indem sie zwei Personen miteinander vereint, verflicht die Liebe ihrer beider Lebenserfahrungen, Geschichten und Ressourcen, ihr Erbe, ihre Art, das Leben zu genießen, ihre Freundinnen und Freunde und ihre Herkunftsländer. Sie vervielfacht die Verbindungen und Möglichkeiten; in unserem Inneren gehen Türen auf, von deren Existenz wir nichts geahnt haben. Die Liebe schenkt uns die Gelegenheit, unser Leben zu erneuern.

Vor mehr als dreißig Jahren, an einem Frühlingstag in Cannes, hat meine Freundin K. sich getraut, den jungen, dunkelhaarigen Mann, der ihr schon seit Tagen schmachtende Blicke aus der Ferne zugeworfen hatte, auf einen Kaffee einzuladen. Sie waren beide als Filmkritiker beim Festival akkreditiert. (Kann es einen besseren Ort für solch eine Begegnung geben?) Sie begannen, sich auf Englisch zu unterhalten, und ich weiß nicht, ob ihr bewusst war, welche Welt sich ihr in dem Moment eröffnete, als er sagte, er komme aus Griechenland. Sie war noch nie dort gewesen und hatte sich nie sonderlich für dieses Land interessiert. Nun stand sie aber kurz davor, es zu entdecken und sich dafür zu erwärmen, die Sprache zu erlernen und sieben Jahre ihres Lebens in Griechenland zu verbringen. Auch nach der Scheidung würde sie jedes Jahr hinreisen und sich schließlich dort ein Haus kaufen. Sie würde diesem Land eine neue Bürgerin schenken, ein kleines Mädchen, das an jenem Tag in Cannes zuckend auf seiner kleinen virtuellen Wolke schlummerte, während seine zukünftigen Eltern sich zum ersten Mal in einem Café trafen und miteinander sprachen.

Während der Premiere ihrer Performance The Artist Is Present von 2010 im New Yorker Museum of Modern Art zeigte Marina Abramović auf unvergleichliche Weise, wie die Liebe Spuren in unserem Leben hinterlässt: Abramović saß in einem langen, knallroten Kleid auf einem Stuhl an einem Tisch. Ihr gegenüber stand ein weiterer Stuhl, ansonsten war der große Raum leer. Die Besucherinnen und Besucher zogen vorbei, manche nahmen auf dem Stuhl Platz, hielten schweigend ihrem Blick stand und gingen dann weiter. Ohne dass man sie vorgewarnt hätte, setzte sich auch der Künstler Ulay (grauer Bart, Sportschuhe, schwarzer Anzug), ihr ehemaliger Geliebter und Performance-Partner, an den Tisch. Als sie den Kopf hob und ihn erblickte, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie ließ ihnen freien Lauf. Die beiden hatten sich seit 1988 nicht mehr gesehen, seit sie, aus entgegengesetzten Richtungen kommend, jeweils die Hälfte der Chinesischen Mauer entlanggegangen waren, um sich in der Mitte zu treffen – und sich voneinander zu verabschieden (ursprünglich hatten sie dort heiraten wollen, aber bis sie alle nötigen Papiere beisammengehabt hatten …). In ihrem stillen Austausch an jenem Abend in New York, in ihren Blicken, in den Bewegungen ihrer Köpfe und Augenlider, im Andeuten eines Lächelns ließen sich Nostalgie, Zärtlichkeit und Bedauern erkennen. Entgegen dem Protokoll, das sie für die Performance festgelegt hatte, beugte sich Marina Abramović vor und hielt Ulay ihre Hände entgegen. Er ergriff sie, und so hielten sie sich über den Tisch hinweg gegenseitig fest, während aus dem Publikum Beifall und Jubel erklangen. Einige Jahre später sollte Ulay seine Ex-Partnerin wegen eines gemeinsamen Werks verklagen und den Urheberrechtsprozess gewinnen; vor seinem Tod am 2. März 2020 konnten sie sich jedoch wieder versöhnen.

Den großen Sprung wagen

Am liebsten würde ich ausschließlich so über die Liebe sprechen, immer nur die schönsten mir bekannten Geschichten aneinanderreihen. Zwischen Eros und Erzähltrieb besteht eine enge Verbindung, und einer guten Geschichte konnte ich noch nie widerstehen. Verliebt man sich, hat man das Gefühl, sich auf einer Buchseite oder einem Bildschirm wiederzufinden: Man erkennt im eigenen Leben all die großartigen Mechanismen und Entwicklungen, die sich für gewöhnlich Autorinnen und Autoren von (Dreh-)Büchern ausdenken. Wenn ich mich dem Schluss von Romanen oder Serien nähere, die mich tage- oder wochenlang so gefesselt haben, dass ich entscheiden musste, ob ich sie am Stück verschlinge oder mich mit kleinen Portionen zufriedengebe, um länger etwas davon zu haben, überkommen mich in gewisser Weise ähnliche Trennungs- und Verlustängste wie am Ende einer Liebesbeziehung: Ich empfinde Sehnsucht, habe den Eindruck, eine verzauberte Welt zu verlassen, eine Art Privileg zu verlieren und in einen öden und belanglosen Alltag zurückkehren zu müssen. Es ist, als wäre die Schonfrist vorbei, die mich vor allen Härten und Verletzungen im Leben geschützt hat.

Sehr gerne würde ich von der Liebe wie von einer eigenen Welt sprechen können, einer Oase, einem Tempel. Aber das heile Bild hat mit der Zeit immer mehr Risse bekommen. Ob es sich nun um Fälle empörender Unterdrückung handelt oder um völliges Unverständnis, das zwar weniger tragisch ist, in einer Partnerschaft jedoch sehr frustrierend sein kann: Ich habe über einen längeren Zeitraum viele verschiedene Situationen beobachtet – ganz allgemein in der Gesellschaft, aber ebenso in meinem direkten Umfeld und eigenen Leben –, und diese Erfahrungen verstärkten meinen Wunsch, der heterosexuellen Liebe und den damit verbundenen Problemen näher auf den Grund zu gehen.

In meiner Jugend konnte nichts und niemand meiner idyllischen Vorstellung von Liebe etwas anhaben, die ich aus Filmen und Romanen gewonnen hatte. Lange Zeit habe ich mich der Illusion hingegeben, dass Themen wie Ungleichheit, Macht und Gewalt in unserem Liebesleben keine Rolle spielten. Die Einsicht, dass sie uns durchaus betreffen können, und zwar gerade dort, wo sich unsere geheimsten Wünsche konzentrieren, wo wir am verletzlichsten sind, ist sehr beängstigend und destabilisierend. Allein im Jahr 2020 wurden in Frankreich 98 Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.4 Die Vorstellung, dass viele dieser Frauen glücklich und hoffnungsvoll gewesen sind, als sie demjenigen begegneten, der ihnen später zunächst nachstellen und sie dann töten sollte, ist besonders verstörend.

Frauen, die den Feminismus für sich entdeckt haben, ziehen häufig eine Parallele zu der Filmszene aus Matrix, in der sich Neo (gespielt von Keanu Reeves) für die rote Pille der Wahrheit entscheidet, die ihn in die Welt der Matrix führt. Mit diesem Schritt entscheidet er sich zugleich gegen die blaue Pille, die ein seliges Unwissen verspricht. In Bezug auf das Thema »Liebe« hätte ich gerne weiterhin blaue Pillen wie Bonbons gelutscht. Mir ist ein wenig mulmig dabei, das Vorstellungs- und Glaubenskonstrukt zu dekonstruieren, das mir lange Zeit als Halt und Orientierung gedient hat. Aber ich kann nicht weiterhin die Augen verschließen und so tun, als wäre die Kritik unberechtigt, die daran geäußert wird, wie heterosexuelle Liebe und Partnerschaft gelebt werden.

Als ich anfing, den 2009 erschienenen Essay A Vindication of Love5 der US-amerikanischen Publizistin Cristina Nehring zu lesen, fühlte ich mich in meinem Vorhaben bestärkt. Ihr flamboyanter Stil hat mich anfänglich eingenommen, doch schnell merkte ich, dass ich ihrer Argumentation nicht uneingeschränkt zustimmen kann. Nehring hält mir in gewisser Weise einen Spiegel vor, indem sie sich starrköpfig weigert, die Idee der bedingungslosen Liebe aufzugeben. Sie ruft ihre Leserinnen und Leser dazu auf, mutig und kühn zu lieben und das Risiko des Scheiterns einzugehen, da im Scheitern mehr Würde stecken könne als in manch einer Erfolgsgeschichte. Nehring konstatiert, die Liebe sei in ihrer stärksten, wildesten und authentischsten Form ein Dämon. Sie sei eine Religion, ein äußerst riskantes Abenteuer, eine Heldentat – Ekstase und Verletzung, Transzendenz und Gefahr, Altruismus und Exzess.

Zunächst kann ich der Art viel abgewinnen, wie Nehring die Liebe als einen Zustand klarsten Bewusstseins darstellt, als deutliches Erkennen eines anderen Menschen und nicht als klischeehafte Blindheit oder Illusion. Aber dann fällt mir die Geschichte von Mary Bain ein, auf die ich im zweiten Kapitel dieses Buches näher eingehen werde. Die New Yorkerin hatte sich 1987 in den Vater einer Schulkameradin ihrer Tochter verliebt, der des Mordes an seiner Frau beschuldigt wurde. Sie hatte an seine Unschuld geglaubt und alles stehen und liegen gelassen, um mit ihm zusammenzuleben. Als er sie jedoch eines Nachts durch den Wald jagt, dämmert ihr, dass er seine Frau wirklich umgebracht hat.

Führt die Liebe also wirklich dazu, dass wir klarer sehen? Sollten wir uns nicht erst einmal genauer anschauen, welche Kräfte im Spiel sind, wenn wir uns verlieben? Der britischen Wissenschaftlerin Wendy Langford zufolge ist es verlockend, anzunehmen, die Liebe könne nicht irren, denn schließlich gelte sie als frei. Aber genau diese romantisierende Sichtweise führe dazu, dass die Machtverhältnisse im Verborgenen blieben.6

Im Laufe meiner Lektüre des Buchs von Cristina Nehring wird aus Skepsis Ablehnung. Sie singt ein Loblied auf ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Liebenden, da sie der erotischen Spannung zuträglich seien. Dabei lässt sie völlig außer Acht, dass die »aphrodisierenden Effekte der Ungleichheit« darauf beruhen, dass wir gelernt haben, männliche Dominanz zu erotisieren.7 Wenn sie im Folgenden Beispiele aus Romanen aufführt, in denen mal der Mann, mal die Frau die Zügel in die Hand nimmt und das Spiel mit der Macht allein dem Necken und Flirten dient, fallen mir sofort zahlreiche reale Beispiele hierarchischer Beziehungen ein, die nur dazu geführt haben, Frauen, die sich frei und im Konsens gewähnt hatten, zu zerstören. Nehring widerspricht der durch viele Studien belegten Tatsache, dass die meisten Männer keine Partnerinnen wollen, die erfolgreicher sind als sie: Sie meint, die Männer seien nur nicht an Partnerinnen interessiert, die denselben Erfolg hätten wie sie selbst, da sie Ebenbürtigkeit als langweilig empfänden. Sie argumentiert auch, dass manche Frauen »schwierige« Männer anziehend fänden, weil sie die »Herausforderung« liebten. Ihrer Ansicht nach zeugen solche Liebesentscheidungen von Stärke und weisen nicht auf Unsicherheiten oder seelische Verletzungen der Frauen hin. Diese These lässt sich jedoch sehr schnell widerlegen.

Wir tun uns überhaupt keinen Gefallen, wenn wir die Schieflage, in der sich die Mehrheit der heterosexuellen Paarbeziehungen befindet, weiterhin leugnen. Es ist besser, gleich den großen Sprung zu wagen, sich den aufkommenden Fragen zu stellen, das alte Konstrukt zu zerlegen und ein neues, schöneres und stabileres Fundament zu legen. Angesichts meiner Recherche-Ergebnisse bin ich einerseits erleichtert, schädliche Denkmuster widerlegen zu können, andererseits bin ich traurig, weil ich gegen den Liebesrausch anschreibe, der so betörend sein kann. Wenn ich mir mit diesem Buch ein Ziel setze, dann dieses: Ich möchte zur beschwingten, beglückenden Liebe zurückfinden, aber sie muss definitiv unter anderen Vorzeichen stehen. Selbstverständlich kann man nicht verhindern, dass Lieben zuweilen Leiden bedeutet, schließlich liegen Paradies und Hölle nah beieinander. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es gerade für Frauen zwei verschiedene Arten von Leid geben kann.

Als ich Anfang 2020 die Arbeit an diesem Buch aufnahm, hatte ich den Eindruck, dass sich die Fragezeichen nicht nur in meinem Kopf häuften, sondern auch in den Köpfen vieler anderer Frauen. Seit dem Herbst 2017 hat die #MeToo-Bewegung sexualisierte Übergriffe in ungeheurem Ausmaß aufgedeckt und damit einen Dominoeffekt in Gang gesetzt. In einem kollektiven Prozess des Hinterfragens sind nach und nach immer mehr Aspekte thematisiert worden, die das Verhältnis von Frauen und Männern betreffen. Es wurde und wird über Einvernehmlichkeit gesprochen, über mental load (die seelische Belastung, die durch das Organisieren der Alltagsaufgaben entsteht und der meistens Frauen ausgesetzt sind) und orgasm gap (das Missverhältnis, dass beim heterosexuellen Sex Frauen seltener einen Orgasmus haben als Männer). Und so nähern wir uns langsam des Pudels Kern: Was macht eine gute Beziehung aus?8

Dieses Thema ist kein leichtes. Viele Menschen sind weiterhin davon überzeugt, dass die Art, wie wir Beziehungen leben und wie sich unsere Gefühle entwickeln, individuell sei. Sie denken, wir seien in unserer Wahl und in unserem Verhalten vollkommen frei und keinesfalls gesellschaftlich geprägt – als würde uns die jeweilige Kultur, in der wir aufwachsen, nicht von Anfang an durchdringen, als würde sie nicht Wünsche und Vorstellungen in unser tiefstes Inneres einschreiben. Als würden wir nicht stark beeinflusst und geformt werden, sondern nur mit einer Lackschicht überzogen, die keine große Wirkung hat. Die französische Schriftstellerin Amandine Dhée meint, dass man sich erst dann ein wenig neu erfinden könne, wenn man die Prägungen erkannt habe.9

Will man nun genauer beschreiben, wie wir geprägt werden, läuft man Gefahr, ins Karikaturhafte und in falsche Allgemeinplätze abzudriften. Der schwedischen Comiczeichnerin Liv Strömquist ist es aber meisterhaft gelungen, sich mit gezücktem Schwert, wild und humorvoll auf das Thema zu stürzen.10 Sie zeigt, dass sich das Risiko lohnt, Klischees zu kolportieren. Und dass es wichtig ist, die groben Regeln, denen heterosexuelle Liebe folgt, freizulegen und zu analysieren (und dabei die Ausnahmen nicht zu unterschlagen). Bei Strömquist sieht man, was für eine Wohltat es sein kann, Situationen auf einer Buchseite wiederzufinden, die man bislang verschwiegen und nur mit sich allein verhandelt hat und die einen in große Verlegenheit gebracht haben. Wenn alles glatt läuft, kann Liebe hinter verschlossenen Türen betörend sein. In der Paarbeziehung isoliert zu sein, kann uns aber auch enorm schwächen, und genau deshalb brauchen wir eine öffentliche Debatte.

Die Perversität unserer Gesellschaft besteht darin, dass wir auf Heterosexualität getrimmt werden, dass Männer und Frauen aber so unterschiedlich erzogen und sozialisiert werden, dass sie sich unmöglich verstehen können. Frauen und Männer, die ihrem jeweils vorgesehenen Rollenskript peinlich genau folgen, haben alle Chancen, sich sehr unglücklich zu machen. Diese Rollenbilder geben zum einen eine sentimentale und abhängige Person vor, die tyrannische Ansprüche an den Tag legt und übermäßig auf Gefühle und Liebe setzt, und zum anderen einen wortkargen, ungehobelten Grobian, der seine Illusion von Autonomie mit Zähnen und Klauen verteidigt und sich stets zu fragen scheint, in welchem tragischen, unaufmerksamen Moment er bloß in diese (Beziehungs-)Falle tappen konnte. Selbst wenn wir diesen Rollenvorgaben nicht hundertprozentig folgen, reproduzieren wir Elemente daraus. Allerdings sind wir uns ihrer Existenz bewusst, und sie erzeugen problematische Interferenzen – insbesondere das Rollenskript der Frau, das dem einer Vogelscheuche ähnelt.

Es wird in diesem Buch um Gewalt in Partnerschaften gehen, aber auch schlicht um Missverständnisse zwischen zwei Menschen, die einander respektieren. Nicht alle Situationen, die geschildert werden, sind gleichermaßen ernst und gefährlich. Bei Partnerschaftsgewalt steht die körperliche und psychische Unversehrtheit von Frauen, ja ihr Leben auf dem Spiel; ihnen wird jegliche Form von Energie und Selbstachtung geraubt, ihre Flügel werden gestutzt. Im Fall der Missverständnisse zwischen Partnern geht es darum, dass gegenseitiges Verständnis und Vertrauen Schaden nehmen können; die Freuden echter Partnerschaft stehen auf der Kippe und auf lange Sicht die Beziehung selbst. Dieses Buch hatte seinen Ursprung in meinem eigenen Gefühl des Durcheinanders, und es setzt sich zum Ziel, Frauen wie Männer dahingehend aufzuklären und zu stärken, dass sie erfüllende Beziehungen führen können.

Liebe und Wut

Gleich zu Beginn muss ich etwas offenbaren, das sicherlich einen Einfluss darauf hat, wie ich über das Thema »heterosexuelle Beziehungen« schreibe. Ich habe das Glück, mit Ende vierzig ein weitgehend gelassenes Verhältnis zu Männern zu haben. Mein Vater war sanft und gutmütig, ich habe einen wundervollen Bruder und war nie in einer toxischen Beziehung. Da ich nie Kinder haben wollte, kenne ich auch das plötzliche Ungleichgewicht in der Aufteilung der Haushaltspflichten nicht, das sich oft einstellt, sobald Nachwuchs geboren wird. Ich habe keine dieser zerstörerischen Scheidungen durchgemacht, die ich um mich herum beobachte. Ich bin jenem Mann (wieder) sehr nah, mit dem ich achtzehn Jahre lang zusammengelebt habe, und ich liebe ihn noch immer aus tiefstem Herzen. Nur einmal hatte ich einen unangenehmen Chef, der mich gerne unterbrach, um zu betonen, wie schön ich sei, und um über meinen Partner herzuziehen, dem er mal über den Weg gelaufen war; aber ich musste nicht eng mit ihm zusammenarbeiten und konnte mich aus dem Job verabschieden, bevor es unerträglich wurde.

Zwei wirklich bedrohliche Situationen in meinem Leben habe ich letztlich unversehrt überstanden. Als Jugendliche ging ich eines Nachts durch die verlassenen Straßen Genfs nach Hause. Als ich Schritte hinter mir hörte, eilte ich ins Haus und verriegelte die Tür. Das Gesicht des Mannes, der mich verfolgt hatte, tauchte hinter der Verglasung auf – er drückte mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, kam aber zum Glück nicht rein. An einem anderen Abend war ich im Wallis, in den Schweizer Bergen. Drei Typen mit Gorillamasken (es war Fastnacht) und einer starken Alkoholfahne brachen in das Chalet ein, in dem ich mit meinem Bruder und einer Freundin übernachtete. Als einer von ihnen sich über mich beugte und ein »Küsschen« verlangte, schaffte ich es, ihn abzuwehren, in den Flur zu laufen und mich im Bad einzuschließen. Er rüttelte noch eine gefühlte Ewigkeit brüllend an der Tür, während ich auf dem Toilettensitz kauerte und seine Kumpane die Alkoholreserven des Chalets erbeuteten. Schließlich türmten sie, weil meine Freundin einen von ihnen an seiner Stimme erkannt hatte. Dreißig Jahre später fällt es mir immer noch schwer, in unabgeschlossenen Häusern zu schlafen, und ich hasse es, mir als Frau ständig Gedanken über meine Sicherheit machen zu müssen, aber ich habe das Glück, nichts erlebt zu haben, das mich traumatisiert hat. Ich kenne diese unermessliche, wahrlich gerechtfertigte Wut nicht, die viele Vergewaltigungsopfer empfinden, auch wenn ich mich absolut mit ihnen solidarisch fühle.

Manchmal überrascht es mich, mit welch einer Leichtigkeit Klarsicht und Idealismus, Wut und Enthusiasmus in mir koexistieren können. Aber ich weiß, dies alles ist im Grunde Ausdruck ein und desselben Strebens. Die libanesische Schriftstellerin Joumana Haddad bringt es auf den Punkt: »Ich habe zwei Energiequellen: die Wut und die Liebe. Man könnte denken, sie seien Gegensätze, dabei ergänzen sie sich. Ich schöpfe aus der einen, was ich in der anderen nicht finde.«11

In meinen Büchern überwiegt dennoch die Wut. Das liegt sicherlich daran, dass ich, wenn ich etwas schreibe, das für die breite Öffentlichkeit gedacht ist, gerne in die Vollen gehe. Ich mag diese feministischen, großmäuligen Scherze, mithilfe derer ich mir beispielsweise die Konditionierung austreiben kann, die uns Frauen dazu bringt, auf den Märchenprinzen, den Retter zu warten. Ich liebe Ellie Blacks Karikatur im New Yorker, in der der Ritter vor dem Burgtor steht, um die Prinzessin aus den Klauen des Drachen zu befreien, während sie mit verschränkten Armen und herablassendem Gesichtsausdruck neben dem Drachen steht, der dem Ritter verkündet: »Sie will dich nicht sehen, Alter.« Gleichzeitig stelle ich aber fest, dass Scherze allein nicht (mehr) genügen.

Über die Liebe zu sprechen, heißt auch, zu seiner Verletzlichkeit, zu seinen Wünschen, Schwächen und Zweifeln zu stehen – ebenso zu seiner Sentimentalität, diesem leidigen weiblichen Zug, den wir zu verachten lernen und uns verbieten wollen. Die US-amerikanische Autorin bell hooks schrieb im Jahr 2002: »Unsere anhaltende Sehnsucht nach Liebe ist nie umfassend thematisiert worden, aus Angst, schon durch die Erwähnung das Bild der mächtigen, selbstverwirklichten feministischen Frau zu untergraben.«12 Frauen seien in der Lage, ihren Wunsch nach Macht zu verbalisieren, aber nicht den nach Liebe. »Wer für die Liebe brannte, musste es heimlich tun, unausgesprochen. Frauen, die ihre Sehnsüchte zum Ausdruck brachten, riskierten es, verlacht zu werden.«13

Als ich meiner Freundin I. neulich erzählte, dass ich immer häufiger auf der Straße erkannt würde, entgegnete sie: »Du meinst, du kannst dich nicht mehr darauf verlassen, unerkannt zu bleiben, wenn du dich in aller Öffentlichkeit einem Mann an den Hals wirfst?« Und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Oder wenn du sein Bein umklammerst und ihn anbettelst, dich nicht zu verlassen?« Ich musste auflachen bei dem Gedanken an eine solche Szene – gerade nachdem ich in meinem Buch Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen feierlich-rebellische Reden zur weiblichen Unabhängigkeit geschwungen habe.14 Kurz darauf las ich bei Cristina Nehring, dass das stürmische Liebesleben der britischen Philosophin Mary Wollstonecraft ihr die Ablehnung einiger ihrer Mitstreiterinnen eingebracht habe. Sie konnten es nicht fassen, dass die Autorin der Verteidigung der Frauenrechte (1792) gleich zweimal versucht hatte, sich wegen eines Mannes das Leben zu nehmen (beide Male sogar wegen desselben Mannes – hartnäckig war sie ja!). Nehring sieht darin jedoch keinen Widerspruch, und ich stimme ihr im Großen und Ganzen zu: Die Kraft der Gedanken und die der Gefühle zeugen von demselben unnachgiebigen und leidenschaftlichen Temperament, von derselben Unerschrockenheit.15

Während meiner Lektüre von bell hooks’ Alles über Liebe fiel mir auf, dass ich mein Buch ganz ähnlich begonnen hatte: mit der Beschreibung eines kleinen Elements aus dem Alltag, das einem Glaubensbekenntnis gleichkommt. Nur beschreibt hooks keine indische Miniatur, wie ich sie auf meinem Smartphone habe, sondern Fotos, die an ihrer Küchenwand hängen. Sie zeigen ein Graffiti, an dem sie täglich vorbeiging, als sie in Yale lehrte. Die Inschrift lautete: »Die Suche nach Liebe hält auch größten Widrigkeiten stand.« Eines Tages war das Graffiti entfernt worden, aber hooks machte den Urheber ausfindig, und der schenkte ihr ein paar Abzüge. Sie schreibt, seitdem habe sie diese Fotos immer über der Spüle hängen, egal, wo sie wohne: »So habe ich sie jeden Tag vor Augen, ob ich nun einen Schluck Wasser trinke oder Geschirr aus dem Schrank nehme, und werde daran erinnert, dass wir uns nach Liebe sehnen – dass wir sie suchen –, selbst wenn wir die Hoffnung aufgegeben haben, sie tatsächlich zu finden.«16

In ihrem Umfeld hat bell hooks’ Interesse für die Liebe zu Unbehagen und Ratlosigkeit geführt. Ihre Freundinnen konnten darin kein legitimes intellektuelles Ansinnen erkennen, sondern nur eine peinliche Schwäche. Regelmäßig brachen sie die Diskussion über die Liebe ab und rieten ihr zu einer Therapie. Das Thema, schreibt hooks, werde nur als ernsthaft und legitim betrachtet, wenn es von Männern behandelt werde, dabei »theoretisieren Männer über die Liebe, Frauen praktizieren sie«.17 Ein ähnliches Phänomen ist in der Küche zu beobachten, wo große Chefs, meistens Männer, gefeiert werden, während man Frauen die Expertise auf diesem Gebiet allgemein abspricht, obwohl sie im Alltag viel öfter kochen.

Ich weiß, dass ich mich mit der Wahl des Themas »heterosexuelle Beziehungen« dazu verdamme, kläglich am Boden vor dem Podium des radikalen Feminismus herumzukrebsen. So manch eine lesbische Feministin holt gerne das Popcorn heraus, wenn eine ihrer heterosexuellen Mitstreiterinnen in einem Anflug von Leichtsinn versucht, ihre problematische Angewohnheit zu rechtfertigen, sich in Männer zu verlieben und Sex mit ihnen zu haben. Und, ehrlich gesagt, warum sollten sie sich auch nicht darüber mokieren? Nüchtern betrachtet ist Heterosexualität eine Verirrung. Wie die Psychologinnen Patricia Mercader und Annik Houel und die Soziologin Helga Sobota in einem Essay festhalten, haben »Liebesbeziehungen zwischen Männern und Frauen die Besonderheit, dass sie die einzigen Beziehungen sozialer Dominanz sind, in denen sich der Dominierende und die Dominierte lieben sollen«18 (abgesehen vielleicht von der Eltern-Kind-Beziehung). In Anspielung auf eine bekannte Radiosendung der Journalistin Ménie Grégoire19 schreibt die lesbische Aktivistin Alice Coffin in ihrem Buch Le génie lesbien: »Die Heterosexualität der Frauen bleibt für mich ein schmerzhaftes Problem«, und weiter: »Ebenso wie für sie selbst, wenn mich die zahlreichen Gespräche darüber nicht täuschen.«20

Ob weibliche Heterosexualität und Feminismus zusammenpassen, wird seit Langem kontrovers diskutiert. 1972 veröffentlichten Frauen der Gay Liberation Party in New York eine Erklärung, in der sie ihrer Sorge darüber Ausdruck verliehen, dass heterosexuelle Feministinnen glaubten, sich befreien zu können, indem sie einen »neuen Mann« erschüfen, und in diese Aufgabe unendlich viel Energie steckten, aber nur magere Ergebnisse erzielten.21 Die feministische Schriftstellerin und Übersetzerin Emmanuèle de Lesseps22 berichtete 1980 in einem Artikel für die Zeitschrift Questions féministes: »Vor einigen Tagen unterhielt ich mich mit einer Feministin und fragte sie, ob sie sich als heterosexuell bezeichnen würde. ›Ja, leider!‹, antwortete sie. Sie sagte, sie wäre ›lieber homosexuell‹, weil sie finde, und da waren wir einer Meinung, dass ›Beziehungen mit Männern Mist sind‹.«23 Im selben Jahr erschien der Essay »Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz« der US-amerikanischen feministischen Autorin Adrienne Rich. Sie prangerte darin an, dass lesbisches Leben aus der Geschichte »ausgemerzt und Lesbischsein als Krankheit eingestuft« worden sei, was die Erkenntnis verhindere, dass Heterosexualität »womöglich nicht die von Frauen ›bevorzugte‹, sondern eine ihnen aufgezwungene, inszenierte, organisierte, von Propaganda gestützte und mit Gewalt aufrechterhaltene Form der Sexualität ist«.24 Ein Jahr zuvor hatte bereits die französische feministische Theoretikerin Monique Wittig in einem Vortrag Heterosexualität als ein politisches Diktat kritisiert.25

2017 sorgte die Schriftstellerin und Regisseurin Virginie Despentes, die mit fünfunddreißig Jahren lesbisch geworden war, mit der folgenden Aussage für Aufsehen: »Es war eine unglaubliche Erleichterung, nicht mehr heterosexuell zu sein. Hetero zu sein lag mir wohl ohnehin nicht besonders. Irgendetwas in mir passte nicht zu dieser Weiblichkeit. Andererseits kenne ich nicht viele, die das ganze Leben lang wirklich gut damit klarkommen. Aber es war überwältigend, sich plötzlich wie auf einem anderen Planeten zu fühlen. Als würde man dich einmal vorsichtig um dich selbst drehen, und plötzlich schaut dein Kopf in die andere Richtung. Wusch! Das ist ein tolles Gefühl. Ich war auf einmal vierzig Kilo leichter. Vorher konnte man mich immer als eine Frau bezeichnen, die nicht genug dies und zu wenig jenes war. Blitzartig war diese Last verschwunden. Das betrifft mich nicht mehr! Befreit von allen Zwängen, die mit heterosexueller Verführung zusammenhängen! Ich kann übrigens noch nicht mal mehr eine Frauenzeitschrift lesen. Nichts darin betrifft mich mehr. Weder, wie man jemandem einen bläst, noch die Mode.«26

In ihrem Buch The Tragedy of Heterosexuality (2020) gesteht Jane Ward, US-amerikanische Essayistin und Professorin für Feminist Studies an der University of California, Santa Barbara, ähnlich wie Despentes, ihre Erleichterung, der »Hetero-Kultur« (straight culture) mitsamt ihrem Konformismus, ihrer Langeweile, ihren Unterdrückungsmechanismen, Enttäuschungen und Frustrationen entronnen zu sein. Es sei ein Gefühl, das um sie herum rege geteilt werde, so Ward.27 Das zeigt auch der anglophone Instagram-Account @hets_explain_yourselves, der die straight culture humorvoll auf die Schippe nimmt. Die Vorherrschaft der heterosexuellen Norm verursache bei Lesben und Schwulen selbstverständlich Leid, so Ward weiter, aber dieses Leid mache nur einen kleinen Teil der homosexuellen Erfahrung aus, in der neben Freude und Lust auch Erleichterung darüber herrsche, nicht straight zu sein. Darüber hinaus fragt sie sich, ob Homophobie nicht von einer versteckten Eifersucht angetrieben werde – man hasse und beneide die Homosexuellen, weil sie bestimmten Erwartungen entkommen seien. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts habe die Mehrheitskultur queeren Menschen häufig vorgeworfen, zu grell, zu auffällig, zu sexuell, zu selbstbewusst zu sein; wenn es also in der queeren Kultur ein Zuviel gebe, dann müsse man hinsichtlich der heterosexuellen Kultur von einem Zuwenig sprechen, denn sie sei zu blass, zu kleinkariert und zu fantasielos. Ward stellt fest, dass viele ihrer Freundinnen genervt reagierten, wenn andere Frauen es bedauerten, nicht lesbisch zu sein, und betont: »Warum sind sie es dann nicht einfach? So schwer ist das nicht!«28

Der Traum von einer »wahren Heterosexualität«

Nach Virginie Despentes’ Äußerungen zu ihrer Homosexualität sind die Diskussionen über den politischen Lesbianismus innerhalb des französischen Feminismus neu entfacht. Dennoch sollte man homosexuelle Beziehungen nicht verklären, denn sie sind nicht zwangsläufig frei von ungleichen Machtverhältnissen, auch wenn es sich dabei um kein strukturelles Problem handelt. In Quebec etwa werden lesbische Frauen beim Thema »Partnerschaftsgewalt« seit 1995 ausdrücklich mit angesprochen – sie leben schließlich nicht außerhalb der Gesellschaft, und in ihren Beziehungen können sich Einstellungen und Verhaltensweisen widerspiegeln, die um sie herum existieren.29

Aber kann man sich seine sexuelle Orientierung wirklich aussuchen, wie Jane Ward suggeriert? Ich kann hier nicht in diese Diskussion einsteigen – und es wird auch Zeit, das Thema »heterosexuelle Beziehungen« anzugehen. Nichts anderes tut Jane Ward selbst in ihrem Buch. Sie möchte Heterosexualität »aktualisieren«, nicht »demontieren«. Und da manche Frauen und Männer nun einmal an ihrer gegenseitigen Anziehung festhalten und zugleich nach Lösungen suchen, wie sie die strukturellen Schwierigkeiten überwinden können, meinte Ward, dass ihre Erfahrung und ihre lesbische Perspektive nützlich sein könnten.

Für ihre Recherchen ist sie in die Hetero-Kultur eingetaucht und hat sogar an einem Seminar teilgenommen, in dem Männer lernen, wie sie Frauen anbaggern (»Während ich die Männer beobachte, wie sie sich Notizen zu diesem buchstäblich zum Kotzen heteronormativen Monolog machen, muss ich mich zusammenreißen, um mein Entsetzen vor lauter queerem Ekel nicht allzu offensichtlich zu zeigen«30).

Wie bereits die Aktivistin und Porno-Regisseurin Tristan Taormino unterstreicht auch Jane Ward, dass lesbische Frauen Heterosexuellen in Sachen Sex und Liebesbeziehungen schon häufig Tipps gegeben hätten. Es sei lesbischen Feministinnen zu verdanken, dass es gut beleuchtete, schamfreie und aufklärungsorientierte Sexshops – wie Good Vibrations oder Babeland in den Vereinigten Staaten – gebe, in denen normale Heteropaare Sexspielzeug kaufen könnten, ohne sich pervers zu fühlen. Ebenso hätten wir lesbischen Feministinnen das Konzept der ethischen Nicht-Monogamie und den feministischen Porno zu verdanken wie auch die revolutionäre Idee, dass man nach der Trennung mit der Ex-Partnerin oder dem Ex-Partner befreundet sein und sogar weiterhin eine Familie bilden kann. Des Weiteren verdankten wir ihnen die Einsicht, dass man sich experimentierfreudiger Praktiken unbedingt einvernehmlich und rücksichtsvoll bedienen sollte, sowie die radikale Auffassung, dass Frauen sich Dildos umschnallen und Menschen penetrieren dürften, inklusive ihrer Freunde und Ehemänner.31

Als eines der größten Probleme in heterosexuellen Beziehungen macht Jane Ward das »Misogynie-Paradox« aus, dessen ultimative Verkörperung wohl Donald Trump darstellt.32 Bei diesem Paradox geht es darum, dass heterosexuelle Männer Frauen begehren, dass dieses Begehren aber in einer Kultur stattfindet, die sie dazu ermuntert, Frauen zu verachten und zu hassen. Heterosexualität und Misogynie seien derart miteinander verbunden, dass die Abwesenheit von Machismus bereits als Hinweis auf Homosexualität interpretiert werde. In einem ihrer Seminare erzählte Jane Ward von einem Experiment des Schriftstellers Jason Schultz. Dieser habe einen alternativen Junggesellenabschied organisieren wollen und vorgeschlagen, dass seine Freunde und er über Sex und Begehren sprechen könnten, statt eine Stripteasetänzerin zu bestellen. Die Studierenden urteilten einhellig: Ganz schön schwul!

Auch der französische Comedian Laurent Sciamma greift das Thema »Machismus und Homosexualität« in seiner großartigen, ebenso aufgedrehten wie tiefgründigen Show Bonhomme auf. Er gibt eine Unterhaltung wieder, die er mit einem anderen Gast auf einer Party geführt hat. Ob er schwul sei, hatte dieser ihn gefragt, weil er so viel über Feminismus fasele. Die Denkweise, die sich durch diese Frage offenbart, bringt Sciamma aus der Fassung. »Als ob es absolut unvereinbar wäre, ein Mann zu sein, hetero – und Feminist. Also ich weiß nicht … Das kann doch nicht so außergewöhnlich sein! Ich meine, wenn man auf Frauen steht, also so richtig, dann kommt doch irgendwann der Zeitpunkt, an dem man sich wünscht, dass es ihnen gut geht, oder etwa nicht? […] Wie konnte es nur so weit kommen? Dass es derart misogyn und homophob zugeht, dass es plötzlich heißt: ›Wie, warte mal, du machst dir Gedanken wegen der Tussis? Wie schwul ist das denn?! Alter, guckt euch den an, der macht sich Gedanken wegen der Tussis – so was von schwul!‹ Ich verstehe das nicht!«

In ihrem Buch stellt Jane Ward auf einigen wohltuenden Seiten ihr Konzept der »wahren Heterosexualität« (deep heterosexuality) dar. Sie schlägt vor, dass Hetero-Männer und -Frauen ihre sexuelle Orientierung bewusst annehmen, sie reflektieren und sich zu eigen machen sollten, statt sie als unabwendbares Schicksal zu betrachten. Besonders Männern könne dies zugutekommen, da sie bisher zumeist darin bestärkt würden, ihr Begehren als rein körperlich, unkontrollierbar und derart losgelöst von allem anderen zu betrachten, dass sie ihre Lust auf Frauen von ihrer Wertschätzung der Frau als menschliches Wesen gänzlich trennen könnten. Wenn Männer Frauen liebten, dann sollten sie sie wirklich lieben, so Ward. Hetero-Männer könnten so unwiderstehlich heterosexuell werden, dass sie darauf brennen würden, mehr weibliche Stimmen und Meinungen zu hören und Frauen in Machtpositionen zu sehen, dass sie es kaum erwarten könnten, die ganze Menschlichkeit der Frauen zu entdecken und ihre Befreiung zu bejubeln. Hetero-Männer sollten Frauen so begehren, wie feministische Lesben Frauen begehren – ein anderer Weg als der, der sich aktuell mehrheitlich zeige, sei für die Heterosexualität also durchaus möglich, schließt Ward.

Entgegen zahlreicher reaktionärer Selbsthilferatgeber (ganz oben auf der Liste John Gray mit seinem Erfolgsbuch Männer sind anders. Frauen auch. Männer sind vom Mars. Frauen von der Venus von 1992), die grundlegende, unüberwindbare Differenzen zwischen Männern und Frauen postulieren und empfehlen, sich damit abzufinden, fordert Jane Ward Hetero-Männer dazu auf, herauszufinden, wie man sich mit einer Person identifizieren und mit ihr vögeln könne, wie man Frauen also »menschlich begehren« könne, indem man sie zugleich als Objekt und als Subjekt wahrnehme. Einen Widerspruch streicht sie besonders heraus: Das Verlangen der Männer sei ja angeblich triebhaft und nicht zu unterdrücken, und doch sei es recht häufig so, dass der Frauenkörper bestimmte Merkmale und Veränderungen aufweisen müsse, um in männlichen Augen Gnade zu finden. Er müsse jung sein, schlank, epiliert, parfümiert etc. Auch hier könnten Männer sich von Lesben inspirieren lassen, die fähig seien, eine Frau in ihrer Ganzheit, mit all ihren Narben, Polstern, Falten, ihrer Erfahrung und ihrer Persönlichkeit zu lieben. So könnten Männer »authentische heterosexuelle Männer werden, statt Pseudo-Heterosexuelle zu sein, die Frauen benutzen, um andere Männer zu beeindrucken«.33

Die Tendenz einiger, jegliches Interesse an einer Frau zu verlieren, sobald sie mit ihr geschlafen hätten, könne ebenso als Zeichen einer derartigen oberflächlichen oder Pseudo-Heterosexualität gedeutet werden: Diese Männer hätten kein echtes Interesse an der Person oder der Beziehung oder daran, wie beides ihr Leben bereichern könnte. Sie setzten lediglich ein »Eroberungsbedürfnis« um; sie verschafften sich eine narzisstische Gratifikation, die ihren Status oder ihr Image verbessern solle. Ward bestärkt ihre Leserinnen darin, sich zu trauen, mehr von ihren Männern zu erwarten und sie aufzufordern, ihrer angeblichen Liebe zu Frauen Taten folgen zu lassen. Dem Konzept der »wahren Heterosexualität« entspricht letztlich eine Heterosexualität, die sich vom Patriarchat und seinen Interessen distanziert, eine Heterosexualität, die das Patriarchat verrät.

Die Heterosexualität selbst als Ursache aller Probleme zu betrachten, wäre eine vertane Chance, denn es würde bedeuten, den Blick vor all dem zu verschließen, was infrage gestellt, neu erfunden oder umgestaltet werden kann. In ihrem Artikel von 1980 vertritt Emmanuèle de Lesseps die Ansicht, dass auch das Begehren heterosexueller Frauen befreit werden müsse: »Wir waren seit der Kindheit dem Druck ausgesetzt, eher heterosexuell als homosexuell zu sein. Vor allem aber waren wir dem Druck ausgesetzt, überhaupt nicht ›sexuell‹ zu sein.« Zum Gegensatz, Feministin zu sein und gleichzeitig Männer zu begehren, merkt sie an: »Bestünde radikaler Feminismus darin, jedweden Widerspruch abzulehnen, sich nur mit reinen, harten, glatten, unbefleckten Prinzipien zufriedenzustellen, wäre es ihm nicht möglich, die Wirklichkeit wiederzugeben, mit ihr umzugehen, sich ihrer zu bedienen, er wäre unfähig, die Gesamtheit der Frauen darzustellen und ihnen zu helfen.«34

Auch ich muss zugeben, dass ich Spannungen und Diskordanzen mag, sie können fruchtbar und von besonderem Interesse sein. Lese ich Alice Coffin, wird mir bewusst, dass mein Feminismus nie so enthemmt sein wird wie ihrer.35 Ihr Begehren schränkt sie nicht ein, meines hingegen bringt Reibungen und Loyalitätskonflikte mit sich. Aber es reizt mich, von diesen Reibungen und Loyalitätskonflikten ausgehend zu arbeiten. Und wenn man die Gewalt und Ungerechtigkeit, die Frauen erleiden, anprangert, wenn man sich darum bemüht, auch unterschwelligen Sexismus zu entlarven, dann tut man das, weil man an einen Ausweg aus dem Patriarchat glaubt, weil man daran glaubt, dass dieses System gestürzt werden kann. Folglich kann man auch daran glauben, dass sich unsere Liebesbeziehungen und generell unsere persönlichen Beziehungen verändern können.

Im Prolog werde ich zunächst den kulturellen Hintergrund ausleuchten, vor dem sich die Liebe in unserer Gesellschaft entfaltet. Er wirkt wie eine Leinwand, auf der sich einerseits Halbherzigkeit und ein Mangel an Fantasie abzeichnen und andererseits ein gewisses Gefallen am Scheitern, an der Tragödie und am Tod. Beide Haltungen drücken gleichermaßen die Unfähigkeit aus, sich wirklich auf die Liebe einzulassen, erfinderisch und vertrauensvoll mit ihr umzugehen und sie so zu leben, wie sie ist, auch im Alltag.

Im ersten Kapitel geht es um unsere romantischen Vorstellungen, die darauf beruhen, dass die weibliche Unterlegenheit sublimiert wird. Dadurch nehmen viele Frauen nur wahr, was an ihnen alles angeblich »zu viel« ist, um in den Augen eines Mannes zu bestehen: Sie fühlen sich zu groß, zu stark (sowohl körperlich als auch im übertragenen Sinne), zu klug, zu kreativ etc. Allerdings sind diejenigen unter ihnen, die alle vermeintlich richtigen Kästchen ankreuzen können und keine Gefahr für das männliche Ego darstellen, in Liebesdingen auch nicht glücklicher – kein Wunder, schließlich ist es schwer, sich auf der Basis von Selbstleugnung oder Selbstbegrenzung zu entwickeln.

Im zweiten Kapitel befasse ich mich mit den Mechanismen der Gewalt in Partnerschaften. Dabei betrachte ich sie nicht als Anomalien oder Abweichungen, sondern als logische Folge der Verhaltensweisen, die Männern und Frauen durch soziale Normen vorgeschrieben werden.

Im dritten Kapitel beleuchte ich den unterschiedlichen Stellenwert, den Männer und Frauen der Liebe in ihrem Leben beimessen sollen, die stärkere Investition der Frauen in Beziehungen, das daraus entstehende Ungleichgewicht und die Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen.

Zu guter Letzt stelle ich im vierten Kapitel die Frage, wie Frauen ihrer jahrhundertealten Rolle entkommen können, die sie dazu anhält, den Männern ein stummes Abbild ihrer Fantasien zu liefern, und wie sie selbst zu ebenfalls begehrenden Subjekten werden können. Daraus ergeben sich gleich die nächsten Fragen: Sind unsere Fantasien wirklich unsere Fantasien? Und wie erobert man sich eine eigene Vorstellungswelt zurück, wenn man sein ganzes Leben in einer männlich dominierten Welt verbracht hat?

Ich glaube nicht, dass heterosexuelle Liebe nur existiert, um dem Patriarchat als trojanisches Pferd den Zugang zu den Herzen der Frauen zu sichern. Ein Mann sei nie einfach nur ein Unterdrücker und eine Frau nicht ausschließlich eine Unterdrückte, schrieb Emmanuèle de Lesseps 1980.36 Dennoch ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen durch das anhaltende Machtgefälle definitiv vergiftet. Wir sollten so mutig sein, dieses Gift genauer unter die Lupe zu nehmen – dieses äußerst riskante Abenteuer ist eine Aufgabe für wahre Heldinnen, und es ist höchste Zeit, sie anzugehen.

PROLOG: DIE LIEBE ZWISCHEN KONFORMISMUS UND NIHILISMUS

Die Liebesgeschichten, die man uns erzählt, enden gerne dann, wenn sich die Hauptfiguren, nach diversen Irrungen und Wirrungen, gegenseitig ihre Gefühle gestanden haben. Und unsere Märchen klingen mit der rituellen und bemerkenswert vagen Formel aus: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.« Sobald wir beschreiben sollen, wie sich die Geschichte nach der Liebesbeschwörung entwickelt, wie die Liebe gelebt wird, wie sie sich im Alltag zeigt, wirken wir hilflos. Wir gehen davon aus, dass es darüber nichts Interessantes zu sagen gibt; wir kommen ins Schlingern, weil unsere Vorstellungskraft wie gelähmt ist.

Während ich mir die Serie Normal People nach dem gleichnamigen Roman von Sally Rooney anschaue, finde ich diese These ein weiteres Mal bestätigt.1 Die Protagonisten, Marianne und Connell, gehen in einer irischen Kleinstadt aufs Gymnasium. Sie verlieben sich, und wir folgen ihnen nach Dublin an die Universität. Sally Rooneys Sichtweise ist in vielerlei Hinsicht innovativ; besonders bemerkenswert ist Connells sensible und empathische Männlichkeit (fabelhaft gespielt von Paul Mescal). Hinsichtlich der Tradition, stets nur die Vorgeschichte einer Liebe für erzählenswert zu halten, ist Rooney hingegen nicht innovativ. Marianne und Connell trennen sich immer wieder und haben meist gute Gründe dafür. Eine der Trennungen ist von längerer Dauer und hat gravierende Folgen, wirkt allerdings an den Haaren herbeigezogen: Die beiden entzweien sich wegen eines Missverständnisses, das man mit drei oder vier Textnachrichten oder bei einem Kaffee innerhalb von zehn Minuten aus dem Weg hätte räumen können. Natürlich kommen Trennungen aus idiotischen Gründen immer wieder vor, aber diese wirkt so, als wäre das Drehbuch halbherzig, als hätten die Autorinnen nicht gewusst, worüber Marianne und Connell sich unterhalten könnten, wenn kein Konflikt zwischen ihnen stünde. Die Drehbuchschreiberinnen klammern sich an das bewährte (und effektive) Erzählverfahren, das darin besteht, die Zuschauenden in Sorge über zwei Figuren zu versetzen, die sich lieben, aber nicht zueinanderfinden: Werden sie am Ende einsehen, dass sie zusammengehören, oder nicht? »Es ist leichter, über Verlust zu sprechen als über Liebe«, schreibt bell hooks. »Es ist einfacher, den Schmerz angesichts fehlender Liebe zu äußern, als das Vorhandensein und die Bedeutung der Liebe in unserem Leben zum Ausdruck zu bringen.«2 Unglück hinzunehmen oder Gefallen an ihm zu finden, als läge darin paradoxerweise etwas Beruhigendes – zwischen diesen beiden Einstellungen liegt manchmal nur ein schmaler Grat.

Bisweilen beruht das mangelnde Interesse an dem, was nach dem gegenseitigen Liebesgeständnis passiert, auf der konventionellen Annahme, es gebe darüber nichts zu reden, da die Protagonist:innen ab diesem Zeitpunkt nach dem Universalrezept handeln: Hochzeit (idealerweise), Zusammenziehen, gegenseitige Treue, Fortpflanzung. Diese Lebensstationen werden für gewöhnlich wenig hinterfragt; es wird davon ausgegangen, dass alle Menschen sie anstreben. Unsere emotionale Unsicherheit drängt uns nicht nur dazu, dem Partner oder der Partnerin sorgsam kodifizierte Liebesbeweise abzuverlangen; für unser soziales Ansehen sind auch unser Zivilstand und Familienstatus wichtig, was uns zusätzlich davon abhält, bekannte Pfade zu verlassen und uns wenig schmeichelhaften Urteilen auszusetzen.

Doch selbst wenn das Liebespaar den vorgeschriebenen Weg gewissenhaft abschreitet, muss es mit den unvermeidlichen Schwierigkeiten und Enttäuschungen allein fertigwerden. Die Vorbilder, die unser Umfeld uns präsentiert, die gängigen Wertvorstellungen, die romantischen Komödien und die soziale Regulierung, die täglich subtil in Form von Tausenden Kommentaren mit mehr oder weniger verschleierten Handlungsaufforderungen zu uns vordringt und von uns weitergetragen wird – das alles erneuert und verstärkt nur das Klischee vom Glück. Ob wir ein erfolgreiches Leben führen, messen wir an der Treue, mit der wir dieses Klischee reproduzieren. Und wenn sich die Wirklichkeit als weniger idyllisch als die Idealvorstellungen erweist – Pech gehabt.

In anderen Fällen resultiert das mangelnde Interesse daran, wie Liebe gelebt wird, aus der Verachtung der Zweisamkeit, die als prosaisch, spießig und langweilig abgetan wird. Diese Geringschätzung erklärt zum Teil die weitverbreitete Vorliebe für unmögliche Liebesgeschichten oder für solche, die schnell oder sehr böse enden, etwa mit einem Mord oder Selbstmord oder beidem. Ein tragischer Ausgang – Julias letzter Atemzug auf Romeos Leiche, der junge Werther, der sich in den Kopf schießt, weil seine geliebte Lotte mit einem anderen verheiratet ist – bietet nicht nur die Gelegenheit für große Gefühlsergüsse; durch ihn erübrigt sich auch das Nachdenken darüber, wie man Liebe wirklich leben kann. Dem Theoretiker der politischen Ökologie André Gorz wurde erst im Jahr 2006, an seinem Lebensabend, bewusst, dass ihn seine Vorurteile lange daran gehindert hatten, das Glück wertzuschätzen, das er mit seiner Frau Dorine gefunden hatte. Um diese Ungerechtigkeit ihr gegenüber wiedergutzumachen, schrieb er das Buch Brief an D., in dem er ihr seine Liebe und Anerkennung zu Füßen legt. Konkret wirft er sich vor, Dorine in einem seiner frühen Werke herablassend behandelt zu haben, da er darin die Trennung von einer anderen Frau aufs Genaueste sezierte, obwohl er bereits mit Dorine zusammenlebte. Der zeitliche Abstand ermöglicht es ihm, die Gründe für die verzerrte Sicht auf das Erlebte zu analysieren: »Zum ersten Mal leidenschaftlich verliebt zu sein, wieder geliebt zu werden, war anscheinend zu banal, zu privat, zu ordinär: es war kein geeigneter Gegenstand, mir zum Universellen Zugang zu verschaffen. Eine gescheiterte, unmögliche Liebe dagegen ergibt edle Literatur. Ich fühle mich wohl in der Ästhetik des Scheiterns und der Vernichtung, nicht in der des Erfolgs und der Bejahung.«3

In dem vierhändigen Tagebuch, das Benoîte Groult mit ihrem dritten Ehemann Paul Guimard geführt hat und in dem man gut nachspüren kann, wie sich ihr feministisches Bewusstsein herausgebildet hat, notierte Groult am 27. Oktober 1952: »Pauls Tagebuch gelesen. Jedes Mal, wenn er von dem spricht, was man wohl ›unser Glück‹ nennen muss, steigt ein Gefühl der Melancholie daraus auf, ich weiß nicht, warum. Aus seiner Feder klingt das glückliche Eheleben monoton, blass, ›beschwichtigend und konventionell‹.« Sie dagegen findet: »Konventionell! Die Konvention, die Banalität – sie sind gleichbedeutend mit dem Unglücklichsein. Das Risiko, das Abenteuer – das ist das Glücklichsein.«4

Anhand von düsteren und quälenden Geschichten können Männer (Intellektuelle, Romanciers, Cineasten) über die Liebe sprechen und dabei »ernsthaft« bleiben, sie können Tiefgründigkeit vermitteln, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben oder sich mit peinlichem, kitschigem Weiberkram zu kompromittieren. Laut der Wissenschaftlerin Anne-Marie Dardigna hält Michel Leiris in seinem Buch Mannesalter (1939) seinem Vater vor, stets eine alberne Empfindsamkeit an den Tag gelegt zu haben, die der Sohn als abstoßend empfand – und das nur, weil der Vater gerne Romanzen von Massenet sang. »Ich verstehe die Liebe kaum anders als in der Qual und in den Tränen«, schreibt Leiris.5

Um die virile Würde aufrechtzuerhalten, wird das Weibliche geopfert – und zwar nicht nur das, was in einem selbst als weiblich, also ehrenrührig, betrachtet wird, sondern gelegentlich auch die weibliche Figur. In den brutalen Geschichten »verfluchter« Leidenschaften, die sich in unseren Bibliotheken und Filmarchiven stapeln, umgibt die Frauenmorde oft eine romantische, fast heroische Aura – und nährt die Nachsicht, mit der reale Femizide wahrgenommen werden. Etwa in dem französischen Kultfilm Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen (1986) von Jean-Jacques Beineix nach dem gleichnamigen Roman von Philippe Djian, in dem der Schriftsteller Zorg seine Freundin Betty mit einem Kissen erstickt. Betty hat das Tierische und das Chaos verkörpert und somit eine Bedrohung dargestellt; erst nachdem er sie beseitigt hat, kann Zorg sich endlich seiner edlen Berufung als Schriftsteller widmen.

Unsere Liebeskultur ist also zugleich konformistisch und morbide (und misogyn). In Die Liebe und das Abendland (1939) zeigt der Philosoph Denis de Rougemont, wie wir zwischen zwei entgegengesetzten Moralkonzepten oszillieren. Auf der einen Seite befindet sich die bürgerliche Moral, die Ehe und Beständigkeit befürwortet, und auf der anderen Seite steht die leidenschaftliche, romantische Moral, die uns von stürmischen, bewegten, unwiderstehlichen und unmöglichen Liebesabenteuern träumen lässt. De Rougemonts Buch ist eine Art Archäologie der Gefühle; er folgt der Vorliebe des Abendlands für diese besondere Art der Leidenschaft bis zu ihren Ursprüngen – den Troubadouren, die eine idealisierte, unerreichbare Dame besangen. Die Troubadoure ließen sich von den Katharern beeinflussen, den Häretikern, die das »Reine« und die »Vollkommenheit« anstrebten, in Askese lebten und das Weltliche ablehnten.

Die Legende von Tristan und Isolde ist in Denis de Rougemonts Augen die Matrix, die unserem Streben und unseren Gefühlen zugrunde liegt: Sogar wenn wir sie nie gelesen haben, verrät sich »die sehnsüchtige Gewalt eines solchen Mythos […] in der Mehrzahl unserer Romane und Filme, in ihrem Erfolg bei den Massen, in dem Wohlgefallen, das sie in den Herzen der Bürger, der Dichter, der unglücklich Verheirateten, der kleinen Verkäuferinnen hervorrufen, die von wunderbaren Liebesabenteuern träumen«.6 Bei der von de Rougemont dargestellten Leidenschaft dient der oder die andere lediglich als Lieferant großer Gefühle – und das vorzugsweise aus der Ferne statt aus der Nähe. Wir schätzen den Zustand mehr als die Person.

In ihrer unmöglichen Liebe gefangen (Isolde muss König Marke heiraten), sehnen Tristan und Isolde sich nach der Absolutheit des Todes und erreichen sie auch. »Lieben im Sinne der Leidenschaft bedeutet also das Gegenteil von leben!«, schreibt de Rougemont. »Es ist eine Verarmung des Wesens, eine Askese ohne Jenseits, eine Unfähigkeit, das Gegenwärtige zu lieben, ohne es sich abwesend vorzustellen, eine Flucht ohne Ende vor der Besitzergreifung.«7 Ihm ist bewusst, dass die Kritik an dieser Disposition schwerlich angenommen werden kann, da diejenigen, die sich der Leidenschaft hingeben, dies ja voller Stolz auf ihren Irrtum tun: »Denn der Mensch der Leidenschaft ist gerade der, der in den Augen der Welt im Unrecht zu sein wählt – in jenem höheren Unrecht, jenem unwiderruflichen Unrecht, das die Wahl des Todes gegen das Leben bedeutet.«8

Die Schöne des Herrn – alles andere als eine zarte Liebesgeschichte

Der Roman Die Schöne des Herrn (1968) des Schweizer Schriftstellers Albert Cohen9 zählt gemeinhin zu den größten Liebesgeschichten der französischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Hauptfiguren Ariane und Solal verkörpern in extremer Weise die Unfähigkeit, ihre Liebe über den schicksalhaften Moment ihrer Begegnung hinaus zu gestalten. Am Ende führt sie ihr Weg in den Suizid, sodass man auch dieses Buch mit Tränen in den Augen schließt.10

Albert Cohens Roman thematisiert nicht nur »die Wahl des Todes« statt des Lebens, sondern kartografiert auch sämtliche Irrtümer, denen wir aufgrund unseres Liebeskults aufsitzen. Sehen wir uns das genauer an: Die Hauptfiguren begegnen sich im Genf der 1930er-Jahre. Solal ist Generaluntersekretär beim Völkerbund; Ariane, die der Genfer Aristokratie entstammt, ist mit Adrien Deume verheiratet, einem Dummkopf, der ebenfalls beim Völkerbund arbeitet. (Denis de Rougemont bezeichnet die konkrete Existenz des Ehemannes, der »von der höfischen Minne verachtet wird«, als das offensichtlichste all jener Hindernisse, aus denen sich die Leidenschaft speise.11 Das archetypische Hemmnis verkörpert König Marke, Isoldes Gatte in Tristan und Isolde