»Wir müssen Sie leider freisprechen« - Gisela Friedrichsen - E-Book

»Wir müssen Sie leider freisprechen« E-Book

Gisela Friedrichsen

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Beschreibung

Jedes Gerichtsverfahren spiegelt wider, woran unsere Gesellschaft krankt. Mal offenbaren wohlhabende Finanzjongleure ihren Hochmut, mal zeigt sich, wie armselig das Leben auf der anderen Seite der Gesellschaft ist. Mal wird einem von den Medien längst verurteilten Bundespräsidenten die Amtswürde vor Gericht endgültig genommen, mal das Intimleben eines TV-Wetterexperten lüstern seziert. Vor Gericht erhalten nahezu alle menschlichen Seelenregungen, die sonst im Verborgenen walten, ihre Bühne: Machtfantasien oder Habgier, seelische Gewalt oder Niedertracht. Es kommt aber auch die Infamie eines Justizapparats zum Vorschein, der lieber an einem Irrtum festhält, als ihn zuzugeben. Oder der einem Angeklagten, der freigesprochen werden musste, nachruft, man halte ihn trotzdem für den Täter. Vor Gericht zeigen sich jedoch nicht nur die Abgründe menschlicher Existenz, es gibt auch Momente der Hoffnung. Wenn es einem Richter gelingt, die aus den Fugen geratene Welt der Täter und Opfer wieder ins Lot zu bringen, kann unsere Justiz Wunden heilen.

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Gisela Friedrichsen

„Wir müssen Sie leider freisprechen“

Gerichtsreportagen 2005–2016

Gisela Friedrichsen studierte Germanistik und Geschichte in München. Von 1974 bis 1989 war sie Redakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, von 1989 bis 2016 Gerichtsreporterin des „Spiegel“. Bis 2020 arbeitete sie als Gerichtsreporterin für die „Welt“.

SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG

2020 zu Klampen Verlag ∙ Röse 21 ∙ 31832 Springe ∙ www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Hildendesign unter Verwendung mehrerer Bilder von www.shutterstock.com · München · www.hildendesign.de

Satz: Germano G. Wallmann ∙ Gronau ∙ www.geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

ISBN 978-3-86674-755-5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Über die Autorin

Impressum

Vorwort von Ralf Eschelbach

I Kann sein, kann nicht sein Freisprüche, die keine waren

Wahrheit ist, was Richter glauben. Rehabilitation für Jörg Kachelmann?

Kann sein, kann nicht sein. Pascal-Prozess in Saarbrücken: Alle Angeklagten freigesprochen, aber „höchstwahrscheinlich“ schuldig

Der völlig unnötige Prozess. TV-Moderator Andreas Türck freigesprochen, aber trotzdem ruiniert

II Verlorene Jahre Justizirrtümer

Triumph des Richters. Harry Wörz nach zwölf Jahren rechtskräftig freigesprochen

Tot ist tot. Der Fall des angeblich aufgefressenen Bauern Rudolf R.

„Schämt sich keiner?“

„Von vorn bis hinten erfunden“. Freispruch für Horst Arnold: Das Stigma des Vergewaltigers

„Ohne moralische Skrupel“

Verlorene Jahre

Spektakuläre Irrtümer. Der Fall „Peggy“ und das falsche Geständnis von Ulvi K.

Mit der Stimmgabel. Der Berliner Rechtspsychologe Max Steller hat schon so manches Fehlurteil verhindert

Ein verdammtes Leben lang. 43 Jahre hinter Gittern, weil Gutachter immer wieder voneinander abschrieben

III „Wille oder Wahn?“ Grenzfälle

„Da hört das Denken auf“. Der Fall des Armin M. führt die Justiz in den Grenzbereich des Strafrechts

Abnorm, aber nicht krank. 24 Jahre lang im Keller eingesperrt und vergewaltigt: Der Inzestfall Josef F. in Österreich

Wille oder Wahn? Prozess in Oslo gegen den Attentäter Anders Breivik, der 77 Menschen tötete

IV „Ich sollte mich schämen“. Kindstötungen

„Diese hohe, dünne Stimme“. Karolina und Jonny-Lee: Getötet, weil sie angeblich nicht brav waren

„Ich sollte mich schämen“. Prozesse um verhungerte und verwahrloste Kinder erschüttern die Öffentlichkeit

Vieles schöngeredet. Der grausame Fall Kevin in Bremen

„Der Mann war der Grund“. Sabine H., die neun Säuglinge getötet hat, wurde wieder zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt

V „Ich habe es nicht ertragen“ Patientenmorde

„Ich habe es nicht ertragen“. Der Prozess gegen den Krankenpfleger Stephan L. in Kempten

Nur ein „absurder Irrtum“? Charité-Schwester zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt

Tödliches Lob. Der Fall Niels H. in Oldenburg

VI In der Falle Prominenz

Ergebnis null. Der Strafprozess gegen den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff

In der Falle. Uli Hoeneß’ Spiel mit den Gesetzen des Rechtsstaats

Eulenspiegel oder Künstler. Wolfgang Beltracchi: Der größte Kunstfälscher-Skandal der Nachkriegszeit

Eine Leiche erschossen? Kirch-Erben gegen die Deutsche Bank

„Ein Freispruch, wie er sich gehört“ im Strafprozess gegen die Deutsche Bank

VII Auf der Suche nach der eigenen Wahrheit Spätfolgen

„Ausgestanden ist die Sache nicht“. Nachlese zu den legendären Wormser Missbrauchsprozessen

Keine Wurzeln, keine Identität

Daschners Sündenfall. Muss der ehemalige Polizeivizepräsident wegen Folterandrohung bestraft werden?

„Habe ich etwa gelogen?“ Michael Buback im Prozess gegen die ehemalige RAF-Terroristin Verena Becker

Lebenslang freigesprochen. Die Justiz bleibt einem Vater die Antwort auf den Mord an seiner Tochter schuldig

VIII Am Ende des Weges Greise Angeklagte

Totschlag aus Geradlinigkeit? Ein alter Bauer erschießt nach jahrelangem Streit seinen Sohn

Am Ende des Weges. Brauchen wir ein Altersstrafrecht?

Von kleinem Verstand. 98-Jährige als Ladendiebin verurteilt

IX Allen war klar, was geschah Späte NS-Prozesse

Ein Gebot der Menschlichkeit. Der Prozess gegen John Demjanjuk in München

„Allen war klar, was geschah“

Justitia zittert. Das Scheitern der Frankfurter Justiz, die für Auschwitz zuständig war

Schlimmer als Dantes Höllenkreis. Der Prozess gegen Reinhold Hanning in Detmold

Weitere Bücher

Vorwort

Die Sammlung von Prozessberichten ist wichtig, zumal das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Sensationsprozesse sind zunächst Einzelfälle, die vielfach nicht erkennen lassen, ob das Rechtssystem Lücken aufweist oder nur Bedenken gegen das Prozessverhalten Einzelner anzumelden sind. Dass ein Einzelfall ausnahmsweise Rückschlüsse auf Fehler im System zulässt, ist selten, kommt aber vor. Dafür ist der Fall des Bauern R. besonders wichtig, weil bei ihm – ausnahmsweise – sicher nachweisbar ist, dass es durch falsche Geständnisse zu einem sachlich falschen Urteil zum Nachteil von Verurteilten gekommen ist. In fast allen anderen Fällen lassen selbst nachträgliche Korrekturentscheidungen aufgrund von Rechtsmitteln oder Wiederaufnahmeanträgen immer noch die Möglichkeit offen, dass das letzte Urteil, wenn es nur im Zweifel zugunsten des Angeklagten ergangen ist, seinerseits nicht die ganze Wahrheit erfasst hat.

Die zentrale Lehre aus dem Fall des Bauern R. besteht in der Erkenntnis, dass intensive Befragungen von Beschuldigten unter Umständen sogar dazu führen können, dass Menschen eine eigene Beteiligung an einem Kapitalverbrechen gestehen, welches tatsächlich nie begangen wurde. Die in einem veröffentlichten Videofilm festgehaltene Tatrekonstruktion in jenem Fall ergibt, dass die Beschuldigten zeitweise selbst an die Richtigkeit ihrer Tatschilderungen geglaubt haben und „falschen Erinnerungen“ erlegen sind. Das den Psychologen lange bekannte „false memory syndrome“ ist aber Juristen kaum geläufig. Bedenken gegen das Rechtsschutzsystem im deutschen Strafprozess, die sich aus dem Fall des Bauern R. herleiten lassen, bestehen in Folgendem:

Die Revision ist kein geeignetes Rechtsmittel zur Aufdeckung von Erinnerungsfehlern bei Auskunftspersonen. Sie schützt wegen der weitgehenden Bindung der Revisionsrichter an die tatrichterlichen Urteilsfeststellungen auch nicht vor Dissonanzreduktionen im Strafurteil gegenüber jeder kognitiven Dissonanz nach der Verurteilungsprognose der Richter aus dem Eröffnungsbeschluss. Staatsanwaltschaften legen so gut wie nie Rechtsmittel oder Wiederaufnahmeanträge zugunsten von Angeklagten oder Verurteilten ein. Sie treten umgekehrt deren Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen nahezu reflexartig entgegen. Selbst nach dem Erkennen eines Fehlurteils aufgrund von nachträglich aufgetauchten objektiven Befunden wird den zu Unrecht Verurteilten eine Haftentschädigung versagt, weil die suggestive Herbeiführung von falschen Erinnerungen nicht als ein dem Staat zuzurechnender Verursachungsbeitrag erkannt wird.

Die Bilanz lautet darüber hinaus: Aus dem Fall des höchst ausnahmsweise einmal nachweisbaren Fehlurteils sind bei der Justiz keine Folgerungen gezogen worden. Die weiteren Beispiele für Fehlgriffe in der vorliegenden Fallsammlung unterstreichen diesen Befund. Auch angesichts der Tatsache, dass Fehlurteile, aufs Ganze gesehen, nie absolut vermeidbar sein werden, ist der Totalausfall einer aktuellen Fehlerquellenforschung mit dem Ziel einer strukturellen Verbesserung des Rechtsschutzsystems die wichtigste Lehre daraus. Auch Falschaussagen durch vermeintliche Opferzeugen kommen vor und die vorschnelle Annahme von deren Glaubhaftigkeit, weil ein Falschaussagemotiv nicht erkennbar sei oder der persönliche Eindruck des Zeugen auf die Richter positiv sei, kann auf trügerische Kriterien gestützt sein. Psychisch kranke Personen, etwa solche mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, benötigen kein für Juristen plausibel erscheinendes Falschaussagemotiv (S. 56) und der persönliche Eindruck von einem Menschen, dem Richter in der Hauptverhandlung erstmals unter besonderen Umständen begegnen, wird in seiner Aussagekraft zumindest grob überschätzt, soweit eine solche überhaupt anzuerkennen ist.

Die vorliegende Fallsammlung ist für Justizjuristen auch deshalb informativ, weil sie zeigt, dass die öffentliche Wahrnehmung ihrer Außendarstellung große Unterschiede zur Selbstwahrnehmung aufweist. In den Prozessberichten wird über Meinungsäußerungen von Verfahrensbeteiligten und Unbeteiligten, von Plädoyers in der Hauptverhandlung und von der mündlichen Urteilsbegründung des Strafkammervorsitzenden berichtet. Das alles sind gesprochene Worte, die typischerweise nicht aufgezeichnet werden und in die rechtlich allein maßgebende schriftliche Urteilsbegründung nicht einfließen. Meinungsäußerungen außerhalb der Hauptverhandlung sind für das Urteil irrelevant, weil dieses nur aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen ist (§ 261 StPO). Meinungsäußerungen in Plädoyers sind Vorschläge der Prozessbeteiligten zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage, aber für die Richter nicht verbindlich. „Wahrheit ist, was Richter glauben.“ So ist einer der Beiträge betitelt und zwar zu Recht; denn die Rechtsprechung, einschließlich der Sachaufklärung als Urteilsgrundlage, ist exklusiv den Gerichten anvertraut (Art. 92 GG). Die zuständigen Richter haben im Strafprozess nach ihrer individuellen Überzeugung zu urteilen. Sie sind auch nicht an Beweisregeln oder fremde Überzeugungen gebunden (§ 261 StPO). Selbst die Methodenvorgaben für aussagepsychologische Gutachten zur Aussageninhaltsanalyse sind für Richter bei ihrer Würdigung der Beweise nicht verbindlich, zumal ihr Urteil nicht nur daraus besteht, sondern auch, soweit vorhanden, weitere Beweismittel anderer Art und Güte in eine Gesamtschau einbeziehen muss. Der Satz „in dubio pro reo“ ist eine Entscheidungsregel für das Resultat der Gesamtwürdigung, nicht für die einzelnen Elemente. Insoweit ist sie mit der „Nullhypothese“ für aussagepsychologische Gutachten durchaus nicht identisch. Die abweichende Bemerkung eines Tatrichters in einem der Prozessberichte zeigt, dass alles andere als Klarheit herrscht.

Das Resultat der tatrichterlichen Beweiswürdigung ist eine „forensische Wahrheit“, die den Versuch der größtmöglichen Annäherung an eine historische Realität darstellt. Mehr ist mit Mitteln menschlicher Erkenntnis nicht zu leisten. Die Fallsammlung lässt bei einer Längsschnittbetrachtung unschwer erkennen, dass auch Sachverständige der verschiedenen Disziplinen nur partiell mehr bewirken können (auch „Aussagepsychologen sind keine Hellseher“; S. 18) und ihrerseits bisweilen Fehler machen. Zudem sind unterschiedlichen Disziplinen, wie forensischer Psychologie, Psychiatrie, Kriminologie, Rechtsmedizin u. a. durchaus verschiedene Einzelaufgaben zugewiesen, deren Resultate in die richterliche Gesamtwürdigung einfließen sollen. Das Endprodukt im Urteil kann durchaus anders aussehen als eines der Einzelelemente der Beweisaufnahme. Die Fallsammlung belegt, dass Unterschiede in den Entscheidungsergebnissen von Zivil- und Strafprozessen ohne Weiteres vorkommen können und strukturbedingt hinzunehmen sind, was aber der Öffentlichkeit von Fall zu Fall schwer zu vermitteln ist. Wenn die Fallberichte dazu führen sollten, dass besondere Härten bei einer Dissonanz zwischen den unterschiedlichen Verfahrensordnungen und den verschiedenen Instanzen im Einzelfall zum Nachdenken, zur Fehlerquellenforschung und danach zur Systemverbesserung führen, werden sie ein wichtiges Ziel erreicht haben.

Wichtig ist auch die Erkenntnis aus den Berichten über den tragischen Fall des Lehrers Arnold., dass die Prozessführung in Konstellationen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, strukturell einseitig ist. Gegenüber Angeklagten ist die Erforschung ihrer Persönlichkeit und Lebensverhältnisse seit jeher selbstverständlich. Bei sogenannten Opferzeugen wird der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Argument für eine Nichterforschung ihrer Verhältnisse und Persönlichkeitshintergründe aktiviert. Dadurch können, wie der Beispielsfall drastisch zeigt, Falschaussagemotive und Neigungen zur Falschbezichtigung verborgen bleiben. Die Konzentration der Sachaufklärung durch die Strafjustiz auf das vermeintliche Kerngeschehen der angeklagten Tat führt zum Fehlurteil, wenn es die Tat nicht gegeben hat und das allein der Realität entsprechende Hintergrundgeschehen, aus dem sich eine Tendenz der einzigen Belastungszeugin zur Falschbezichtigung ergibt, nicht aufgeklärt wird. Die Fallsammlung erinnert damit an die Tatsache, dass die Beweisproblematik in den „Aussage gegen Aussage“-Konstellationen auch mit den Mitteln der hypothesengeleiteten Aussageinhaltsanalyse anhand sogenannter Realkennzeichen längst nicht abschließend bewältigt ist. Umgekehrt ist die Gegenreaktion auf die Erkenntnis im Einzelfall, dass eine falsche Zeugenaussage zu einer Fehlverurteilung geführt haben dürfte, strukturell defizitär. Falschaussagen vor Gericht werden statistisch selten nachdrücklich verfolgt und Klageerzwingungsverfahren begegnen – unbeschadet des umgekehrten Vorzeichens – ähnlich überzogenen Begründungsanforderungen wie Wiederaufnahmeanträge. Daher werden sie kaum praktiziert und sind noch viel seltener erfolgreich. Auch das erscheint bedenklich.

Für die Prozessführung liefern die Fallberichte in der vorliegenden Sammlung wichtige Hinweise an Vorsitzende der Strafgerichte. Ihre mündliche Urteilsbegründung ist nicht identisch mit dem später vom Berichterstatter formulierten Urteil und sie ist keine exakte Wiedergabe des Ergebnisses der Urteilsberatung, zumal dort nur eine Totalabstimmung über den Tenor, nicht über die Gründe des Urteils stattfindet. Vorsitzende, die sich nach Fallschilderungen im vorliegenden Sammelwerk bemüßigt fühlen, in der mündlichen Urteilsbegründung zu betonen, was ihnen auf der Seele liegt, verfehlen den Zweck dieser Begründung. Eine Urteilsbegründung, in der sich der Vorsitzende „grollend“ äußert, ist fehlerhaft; ein Vorsitzender, der „uneitel und entspannt“ verhandelt, ist dagegen ein „Glücksfall“ (S. 148). Die mündliche Urteilsbegründung ist nicht als Gelegenheit für den Vorsitzenden gedacht, Vorwürfe gegenüber anderen zu machen, die nicht zur Sache gehören, oder Fehler bei der Sachverhaltsaufklärung durch die Justiz zu verharmlosen. Zurückhaltung und neutrale Formulierungen dienen der Sache und dem Ansehen der Justiz mehr als unnötig starke Worte. Das gilt auch deshalb, weil die Verursachung eines Rufschadens für Betroffene über das sachlich Unvermeidbare hinaus unangebracht ist.

Überhaupt sind Appelle an Strafjustizjuristen zu mehr Neutralität und Objektivität, wie sie in den Fallschilderungen aufscheinen, sachdienlich. Vorschnelle Festlegungen auf eine Verdachtshypothese und unkritische Bewertungen von Geständnissen und Aussagen angeblicher Opferzeugen sind eine besondere Fehlerquelle im Strafverfahren. Freilich läuft das Massengeschäft jenseits der spektakulären Prozesse, die in der Fallsammlung beschrieben werden, meist reibungslos ab. Die Zahlen des statistischen Bundesamts belegen, dass die Mehrzahl aller Strafverfahren nicht zu Gericht kommt, sondern im Ermittlungsverfahren eingestellt wird. Von den verbleibenden Verfahren, die zu Gericht gelangen, werden die allermeisten bei den Amtsgerichten durch Strafbefehl oder Urteil erledigt. Urteile der Strafkammern, über die hier berichtet wird, machen nur einen niedrigen einziffrigen Prozentsatz aller gerichtlichen Verfahrenserledigungen aus. Die beschriebenen Fälle sind also schon Ausnahmen, die aber für die öffentliche Wahrnehmung von besonderer Bedeutung sind und Aufmerksamkeit verdienen. Sie zeigen auch die besonderen Probleme beim Umgang mit pathologischen Fällen, namentlich bei extremen Taten durch psychisch auffällige Beschuldigte, und den Umgang mit pathologischen Rechtslagen, wie auch der defizitären Vergangenheitsbewältigung nach dem Dritten Reich. Insgesamt ist die Sammlung der Prozessberichte zur Mahnung und Erinnerung ausgesprochen wertvoll.

Prof. Dr. Ralf EschelbachRichter am Bundesgerichtshof

IKann sein, kann nicht seinFreisprüche, die keine waren

Wahrheit ist, was Richter glauben

Rehabilitation für Jörg Kachelmann?

SPIEGEL 26/2014, 23. JUNI 2014

Sprichwörter sagen oft nur die halbe Wahrheit. Eines der bekanntesten lautet: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Die Frage, ob nicht selbst notorische Lügner – oder Lügnerinnen – auch mal die Wahrheit sagen können, ist damit beantwortet. Ende der Diskussion. Überlegungen wie: Kann auch eine Prostituierte vergewaltigt werden?, erübrigen sich.

An Jörg Kachelmann scheint das ehrabschneidende Prädikat des Lügners zu haften wie Pech, zumindest in den Augen der Justiz. Zwar wurde er vom Landgericht Mannheim 2011 vom Vorwurf der besonders schweren Vergewaltigung einer seiner Ex-Geliebten, der Radiomoderatorin Simone D., rechtskräftig freigesprochen. „Allein auf die Aussage der Nebenklägerin“ habe sich ein Schuldspruch nicht stützen lassen, stellten die Richter fest. Doch der „Freispruch beruht nicht darauf, dass die Kammer von der Unschuld von Herrn Kachelmann überzeugt ist“, konnte sich der Vorsitzende Michael Seidling zum Abschied nicht verkneifen hinzuzufügen.

Zum Aussageverhalten Simone D.s sagten die Richter nur, es habe gezeigt, „dass sie willens und fähig war, die Ermittlungsbehörden zeitweilig zu täuschen, um den Eindruck uneingeschränkter Glaubwürdigkeit zu erwecken und aufrechtzuerhalten“. Um ein klares Wort aber, dass die Frau Kachelmann zu Unrecht beschuldigt hatte, drückten sich die Strafrichter.

Sie wollten augenscheinlich das vermeintliche Opfer nicht auch noch als Lügnerin brandmarken. Die Frau hatte zwar zunächst Polizei und Staatsanwaltschaft belogen, auch ihren Anwalt, ihren Therapeuten und die Eltern. Auf Seite 187 des Mannheimer Urteils hielt das Gericht fest: „Vieles spricht zudem dafür, dass sie auch noch in der Hauptverhandlung an falschen Bekundungen zur verfahrensgegenständlichen Vorgeschichte festhielt.“ Das war ein starkes Stück, aber es passierte nichts. Der halbherzige Freispruch Kachelmanns verschonte Simone D. vor Ermittlungen. Und Kachelmann gilt, so folgt aus alldem, weiter als potenzieller Vergewaltiger.

Inzwischen hat er einen kleinen Sohn von seiner jungen Frau und versucht, beruflich wieder Fuß zu fassen. Er hoffte, sich vor der 18. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main gegen den fortbestehenden Verdacht, den ihm die Mannheimer Richter angehängt hatten, dadurch wehren zu können, dass er gegen Simone D. auf Schadensersatz wegen „Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft“ klagte. Damit wollte er zunächst die Kosten für Gutachten erstattet haben, die sein damaliger Verteidiger Reinhard Birkenstock im Haftbeschwerdeverfahren dem Oberlandesgericht Karlsruhe vorgelegt hatte – wie sich erweisen sollte, aus gutem Grund. Denn diese Expertisen zu den vorgewiesenen angeblichen Verletzungen der Frau und zu ihrer zum Teil falschen, mit erfundenen Geschichten angereicherten Aussage waren der erste und entscheidende Schritt zum späteren Freispruch.

Die Causa ist der Musterfall, wie die Justiz mit vielleicht teilweise oder vollständig erfundenen Vergewaltigungsvorwürfen umzugehen gedenkt. An ihm wird sich ablesen lassen, ob ein vom Vorwurf der Vergewaltigung rechtskräftig freigesprochener Mann rehabilitiert werden kann. Eine Falschbeschuldigung scheint nämlich meist folgenlos zu bleiben, solange sich Richter in ihren rabulistischen Fehlleistungen einmauern. Wie lange noch?

Der Wettermann war nach einer Anzeige Simone D.s am 20. März 2010 bei seiner Rückkehr von den Olympischen Winterspielen in Vancouver am Frankfurter Flughafen festgenommen worden. Mehr als vier Monate verbrachte er anschließend als Untersuchungshäftling in der Justizvollzugsanstalt Mannheim. Denn Haftverschonung erhielt er nicht, selbst als längst klar war, dass Simone D. in wesentlichen Punkten die Unwahrheit gesagt hatte. Erst das Oberlandesgericht Karlsruhe setzte Kachelmann auf freien Fuß. Es folgte ein Strafprozess von neun Monaten Dauer.

Allein dieser Rechtsstreit brachte ihn um Vermögen und Existenz. Sein Ruf als Fernsehmoderator war dahin mit Auswirkungen auf die künftigen beruflichen Möglichkeiten. Von den in die Öffentlichkeit gezerrten Indiskretionen aus seinem Privatleben gar nicht zu reden.

Kachelmanns Hoffnung, außerhalb Mannheims mit dem Wunsch nach Rehabilitation Gehör zu finden, erfüllte sich nicht. Die Schadensersatzklage in Frankfurt, wo er festgenommen worden war, wurde im Dezember 2013 abgewiesen. Er hätte beweisen müssen, dass Simone D. „eine wissentlich unwahre oder leichtfertige Anzeige erstattet hat“, urteilten die Richter. Dass sie sich den Vergewaltigungsvorwurf vollständig ausgedacht habe. Dieser Nachweis sei nicht erbracht worden, hieß es.

Doch Kachelmann lässt nicht locker. Er kämpft um seine verlorene Ehre. Nächste Station ist das Oberlandesgericht Frankfurt am Main.

Nun lässt sich darüber streiten, wie der nach Aussage Kachelmanns einvernehmliche Geschlechtsverkehr in jener Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2010 Frau D. im Nachhinein vorgekommen sein mag, nachdem ihr der Angebetete gestanden hatte, noch eine weitere Liebschaft zu unterhalten, und die Beziehung abrupt endete. Das war womöglich ein Schock für sie, ein Zusammenbruch ihres gesamten Selbstbilds. Dass sie sich betrogen, benutzt, ja missbraucht gefühlt haben mag, ist nachvollziehbar. Aber passierte wirklich mehr?

Luise Greuel, die die Angaben von Frau D. unter aussagepsychologischen Gesichtspunkten analysiert hatte, konnte eine absichtliche Falschaussage ebenso wenig ausschließen wie eine „autosuggestiv generierte oder kontaminierte“ Aussage – unrichtige Angaben also, an deren Richtigkeit Frau D. zumindest zum Teil selbst glaubte.

Aussagepsychologen sind keine Hellseher. Und von einer mit der Analyse einer Aussage beauftragten Sachverständigen zu erwarten, dass sie einem Gericht im Brustton der Überzeugung mitteilt, die Angaben des vermeintlichen Opfers seien eindeutig erstunken und erlogen, wäre naiv. Die aussagepsychologisch-diagnostischen Methoden zur Feststellung der Wahrheit sind begrenzt. Frau Greuel konnte abschließend nicht feststellen, ob Simone D.s Aussage zum angeblichen Kerngeschehen „erlebnisbasiert“ war. Damit war Kachelmanns Schuld nicht zu beweisen.

Was blieb? Die Frankfurter Zivilrichter hätten sich schon ein der Bedeutung des Falls angemessenes eigenes Bild von der Sache machen müssen und können. Doch der Einfachheit halber, so der Eindruck, wiesen sie die Klage zurück und schrieben: „In der Regel wird allerdings den strafgerichtlichen Feststellungen zu folgen sein, sofern nicht gewichtige Gründe für deren Unrichtigkeit von den Parteien vorgebracht werden.“ Und dann, nonchalant: „Einer erneuten Beweisaufnahme, die etwa der Kläger zu einigen Punkten beantragt hat, bedurfte es nicht.“ Diese dürren Feststellungen ließen die ganze Unlust erkennen, mit der die Frankfurter an die Sache herangegangen waren. Sie versteckten sich hinter ihren Mannheimer Kollegen – und waren den Fall damit los.

Dabei hatte Kachelmann im Zivilverfahren, vertreten durch die Frankfurter Anwältin Ann Marie Welker, etwa mit einem Gutachten des Berliner Rechtsmediziners Michael Tsokos nachgelegt. Dieser verglich die Verletzungen Simone D.s mit den in der wissenschaftlichen Literatur aufgeführten charakteristischen Befundmustern für selbst beigebrachte Verletzungen und zog das Fazit: Aus rechtsmedizinischer Sicht gebe es „keinen vernünftigen Zweifel“ daran, dass sich die Frau sämtliche Verletzungen „selbst beigebracht“ habe. Nicht viel anders hatte sich schon in Mannheim die übrige Creme der deutschen Rechtsmedizin geäußert: Bernd Brinkmann aus Münster etwa oder der Kölner Markus Rothschild und der Hamburger Klaus Püschel. Kein Experte, der ausschließlich Kachelmann als Verursacher ernsthaft in Erwägung zog.

Wahrheit ist, sagen Juristen, was Richter glauben. Die Frankfurter Richter schrieben Kachelmann ins Stammbuch, was schon die Mannheimer zu seiner Glaubwürdigkeit sagen zu müssen gemeint hatten: Durch seine Lebensgestaltung in der Vergangenheit habe er bewiesen, dass auch er „ein nicht immer ungetrübtes Verhältnis zur Wahrheit gegenüber seinen jeweiligen Partnerinnen pflegte“. Der Eindruck „einer besonderen und lange eingeübten Geschicklichkeit bei der Errichtung von Scheinwirklichkeiten“ lasse sich kaum unterdrücken.

Aber ist ein Mann, der Frauen mit falschen Liebesschwüren umgarnt, automatisch auch ein Vergewaltiger?

Das Oberlandesgericht Frankfurt, das jetzt am Zug ist, weil Kachelmann Berufung eingelegt hat, traf nun erste Entscheidungen. Es wird den Leiter der Frankfurter Rechtsmedizin Marcel Verhoff beauftragen, Sachverständige aus seinem Institut zur neuerlichen Begutachtung der mutmaßlichen Selbstverletzungen Simone D.s zu benennen. Auch sollen Spuren am angeblichen Tatmesser, von dem sich Kachelmanns „Opfer“ bedroht gefühlt haben will, noch einmal ausgewertet werden. Denn, so die bisherige Lesart, der Befund, der eher ein Nicht-Befund ist, passt nicht zu den Aussagen der Frau. „Damit sind wir ein gutes Stück vorangekommen“, sagt Rechtsanwältin Welker.

Der Rechtsbeistand Simone D.s hingegen, Rechtsanwalt Manfred Zipper, ist da ganz anderer Ansicht. Er bestreitet schon die Legitimation Kachelmanns zu klagen, weil nicht dieser, sondern dessen Verteidiger Rechtsanwalt Birkenstock seinerzeit die Gutachten in Auftrag gegeben habe (Kachelmann saß zu der Zeit in U-Haft). Auch könne seiner Mandantin kein Vorsatz unterstellt werden, dass Kachelmann seiner Freiheit beraubt werden sollte. Sie habe schließlich „keine Tatherrschaft“ gehabt. Für die Anordnung der U-Haft sei nicht die Strafanzeige Simone D.s kausal gewesen, sondern der Erlass des Haftbefehls. Den aber habe die Staatsanwaltschaft beantragt. An diesem Rechtsanwalt werden die Damen und Herren vom Oberlandesgericht wohl noch viel Freude haben.

Simone D., ausgestattet mit einem eisernen Willen zum Durchhalten, erfuhr durch den Kachelmann-Prozess erstmals öffentliche Aufmerksamkeit. Wie im Zivilverfahren bekannt wurde, strich sie durch die Vermarktung ihrer Geschichte 115 000 Euro ein. Außerdem nennt sie drei Immobilien ihr Eigen. Trotzdem verlangte sie Prozesskostenhilfe und bekam sie auch – weil sie behauptete, die Honorare habe sie an namentlich nicht genannte Personen verschenkt. Ein Beleg dafür, dass sie es mit der Wahrheit vor Gericht generell nicht genau nimmt? Nun wollte sie auch für den Gang zum Oberlandesgericht Geld vom Staat. Dieser Antrag aber wurde schon zurückgewiesen. Ein Schritt zur Wahrheit?

Den letzten Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt, in dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit noch einmal eine gründliche Beweisaufnahme stattfand, gewann Kachelmann nicht nur. Das Gericht sprach ihn im September 2016 überdies, im Gegensatz zu den Mannheimer Strafrichtern und den Kollegen der Zivilkammer, vollumfänglich frei. Der Senat sei überzeugt, so hieß es in der Urteilsbegründung, dass die Frau den Wettermoderator „wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigte“. Es stehe nun zweifelsfrei fest, dass er „Opfer eines Verbrechens“, nämlich falscher Beschuldigungen, geworden sei. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass sich Simone D. aus extrem starkem Hass, weil er sich von ihr getrennt hatte, selbst Verletzungen zufügte, in der Absicht, ihn hinter Gitter zu bringen. Sie habe damit eine vorsätzliche Freiheitsberaubung begangen, da sie nachweislich eine ganze Reihe von Falschbehauptungen aufgestellt habe. Ihre enorme Fantasie habe Simone D. dazu benutzt, ihren Ex-Geliebten persönlich und finanziell nahezu komplett zu ruinieren.

Die Staatsanwaltschaft Mannheim leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen Simone D. wegen des Verdachts der schweren Freiheitsberaubung ein, da sich Kachelmann aufgrund ihrer Anzeige mehrere Monate lang in Untersuchungshaft befunden hatte. Mit dem Argument, „die Vielzahl der Gutachtenergebnisse aus den verschiedenen Prozessen“ habe kein einheitliches Bild ergeben, sodass „unterschiedliche Geschehensabläufe als möglich“ erschienen, wurden die Ermittlungen im September 2017 eingestellt.

Kann sein, kann nicht sein

Pascal-Prozess in Saarbrücken: Alle Angeklagten freigesprochen, aber „höchstwahrscheinlich“ schuldig

SPIEGEL 37/2007, 10. SEPTEMBER 2007

Nein, nichts gegen das Urteil. Wenn eine Straftat nicht nachzuweisen ist, kann in einem Rechtsstaat auch nicht verurteilt werden. Aber die Begründung des Freispruchs, die der Vorsitzende Richter Ulrich Chudoba am Ende des Pascal-Prozesses vortrug, war kein Ruhmesblatt für die saarländische Justiz.

Ein freisprechendes Urteil hätte zum Beispiel mit den Worten beginnen können: Die Hauptverhandlung hat nicht den Beweis erbracht, dass der am 30. September 2001 in Saarbrücken verschwundene fünfjährige Pascal, wie von der Anklage behauptet, in der Burbacher „Tosa“-Klause brutal missbraucht und dann getötet wurde. Daher sind die Angeklagten vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes freizusprechen.

Doch was tat Chudoba? Er fing so an: „Dem Gericht erscheint es durchaus als möglich, dass sich die Tat (Mord an Pascal) abgespielt hat wie von der Anklage behauptet. Es gibt sogar deutlich überwiegende Gründe, dass sich die Angeklagten, zumindest was das Kerngeschehen betrifft, strafbar gemacht haben. Es spricht auch viel dafür, dass es im Umfeld der Angeklagten zu sexuellem Kindesmissbrauch gekommen ist. Nimmt man eine Gesamtwürdigung vor, ist es höchstwahrscheinlich, dass die Angeklagten die Taten begangen haben.“

Dann wiederholte Chudoba die Anklage mit allen scheußlichen Details. Alsdann zitierte er die „belastenden Angaben“, die fünf der ursprünglich 13 Angeklagten gemacht haben, wieder mit allen scheußlichen Details, und attestierte der Staatsanwaltschaft, sie habe „ein Bild von den Vorwürfen gezeichnet, das in sich stimmig ist und möglicherweise den Tatsachen entspricht“. Das Gericht teile manches durchaus. Da schnurrt die Staatsanwaltschaft.

Aber da blieben doch ein paar Zweifel. Es sei noch nicht mal sicher, ob Pascal an jenem 30. September überhaupt in der „Tosa“ gewesen sei. Wie das? Hieß es nicht eben, die Angeklagten hätten die Taten höchstwahrscheinlich begangen?

„Wir haben hier einen Grenzfall“, fuhr Chudoba fort. „Die Annahme von Schuld und von Unschuld ist gleichermaßen möglich.“

Ist von einem Gericht nach drei Jahren Hauptverhandlung nicht zu verlangen, dass es sich wenigstens zu einer eindeutigen Haltung anlässlich der Urteilsverkündung durchringt? Ein Strafprozess ist doch keine Fernsehshow à la „Pro und Contra“ oder „Wie würden Sie entscheiden?“. Und ein Richter ist kein Moderator, der den Ball einfach ins Publikum spielt. Solche Freisprüche geben die öffentliche Treibjagd frei.

Nach dem Desaster des Montessori-Prozesses (1992 bis 1995), als in Münster allein auf Grundlage von Kinderaussagen über 750fachen Missbrauch verhandelt wurde, und den Freisprüchen nach den Wormser Prozessen (1994 bis 1997), als es drei Gerichten nicht gelang, einen imaginierten Kinderpornoring aufzudecken, war zu hoffen, dass sich die Justiz beim Verdacht des Kindesmissbrauchs künftig weniger von blindem Übereifer und emotionaler Verwirrung hinreißen ließe. Justizkatastrophen im Namen des Kinderschutzes sollten sich nicht mehr ereignen.

Doch nun Saarbrücken, und wieder ein GAU der Justiz, der schlimmste vielleicht. Denn diese Urteilsbegründung zeigt, dass die Richter offenbar ihre Unabhängigkeit aus politischem Kalkül aufgeben und die rechtsprechende Gewalt dem Volk überlassen. Man spricht frei und tut so, als sei man von der Schuld der Angeklagten überzeugt. Volkes Stimme aus dem Mund des saarländischen SPD-Mannes Heiko Maas: „Ich finde die Freisprüche zum Kotzen!“

Das Saarland ist ein kleines Land. Da hat man es nicht gern, wenn Fehler von Polizei und Staatsanwaltschaft die Bürger verwirren. Da tut keiner dem anderen weh, auch nicht ein Richter dem Staatsanwalt.

Im „Kernbereich“, um auch mal das Lieblingswort der Ankläger zu zitieren, gleichen sich die Fälle „Worms“ und „Pascal“ auffallend: keine Spuren, kein Film, kein Foto, kein Euro ungeklärter Herkunft. Bei keinem der Angeklagten sexuelle Auffälligkeiten. Im Fall „Pascal“ gibt es weder eine Leiche noch einen Fingerabdruck, kein Haar, keinen Blutstropfen oder das Bruchstück einer Faser. Wieder wurde stümperhaft „aufgedeckt“ statt aufgeklärt. Und was macht die Justiz dieses Mal?

Niemandem wird ein Haar gekrümmt. Hatte die Saarbrücker Kripo anfangs noch um Unterstützung durch den Berliner Psychologieprofessor Max Steller gebeten, auf dass es nicht zu einem zweiten „Worms“ komme, verzichtete die Staatsanwaltschaft brüsk auf Stellers Rat in dem Moment, als der Wissenschaftler dringend davor warnte, Anklagen allein auf dubios erzielte Kinderaussagen zu gründen. „Ich brauche keinen Wahrsager oder irgend so einen Sachverständigen“, sagte Oberstaatsanwalt Josef Pattar in seinem Plädoyer.

Für den Versuch, den Prozess mit Verurteilungen zu Ende zu bringen, war der Justiz kein Preis zu hoch. Ein geistesschwacher Mensch, der „kleine Peter“, bestätigte in einem skandalösen Schnellverfahren Übergriffe auf Kinder, schlotternd vor Angst, andernfalls im Pascal-Prozess wegen Mordes vor Gericht zu kommen. War der Mann überhaupt aussagetüchtig?

Es gibt perfekte Protokolle von seinen Vernehmungen, obwohl er, wie ein Videomitschnitt zeigt, überhaupt keinen brauchbaren Ton herausbrachte. Wen schert es? Bitte, keine Kritik an der Polizei, die interpretierte doch nur!

Das Urteil gegen den hilflosen Mann vom Oktober 2003, sieben Jahre plus Sicherungsverwahrung, ist rechtskräftig und damit eine Hauptstütze der Pascal-Anklage. „Ausgerechnet solch ein rechtswidriges, grob fahrlässig herbeigeführtes Urteil wird benützt, um weitere Anklagen herbeizuführen“, konstatiert resigniert der Saarbrücker Strafverteidiger Walter Teusch.

Die Schäden, die der Prozess angerichtet hat, sind exorbitant. Einige Angeklagte saßen über dreieinhalb Jahre in U-Haft, das ist verlorene Lebenszeit. Welches Zeugnis stellt sich ein Oberstaatsanwalt aus, der am 145. Verhandlungstag auftrumpft, dass er „nach drei Tagen schon hätte plädieren können und es wäre das Gleiche herausgekommen“? Wer soll einer solchen Justiz denn noch trauen?

Die saarländischen Ermittlungsbehörden haben aus dem Montessori-Prozess und den Wormser Verfahren nichts gelernt. Gleiches gilt für die Aussagebegutachtung, leider nicht nur im Saarland. Die Qualitätsstandards, deren Einhaltung der Bundesgerichtshof seit 1999 von Sachverständigen verlangt – papperlapapp, da schreiben wir hin, dass wir alles recht gemacht haben, und verfahren wie gewohnt.

In Saarbrücken wurde der Bundesgerichtshof von der Gutachterin Petra Schwitzgebel sogar gerügt ob dieser Qualitätsstandards, weil sie gerade auf minderbegabte und traumatisierte Kinder angeblich nicht angewendet werden könnten. So bleibe gerade der Missbrauch der Schwächsten oft folgenlos. „Dies ist aus Sicht der Opfer besonders zu bedauern.“

Aus Sicht der seriösen Wissenschaft ist eine solche Auffassung barer Unsinn. Der Stimmungsmache aber dient sie allemal. Und einer weiteren Beauftragung mit Gutachten steht es wohl auch nicht im Wege, im Gegenteil, wenn man behauptet, die Qualität des Aussagematerials lasse zwar keine Schlüsse zu, allerdings sei da doch ein „erlebnisfundierter Kern“. Wer heute noch behauptet, ein Kind denke sich so etwas mangels Phantasie nicht aus, hat die Forschung der letzten 20 Jahre missverstanden oder nicht zur Kenntnis genommen.

Frau Schwitzgebel kommt aus dem Institut der Universität des Saarlandes, dem auch der umstrittene Psychologe Georges Hengesch angehört, der als Gutachter am Zustandekommen der verheerenden Wormser Anklagen beteiligt war, und nicht nur daran. Auch ihn hat seine Gutachterei nicht ruiniert; er ist nach wie vor tätig.

Der Pascal-Prozess geht wie der Montessori-Prozess und die Wormser Verfahren auf ein Kind zurück, dessen an sich harmloses Verhalten plötzlich auffällt. Kevin (Name geändert) ist sechs Jahre alt, als er 2001 seiner Mutter Andrea weggenommen wird. Sie stand damals unter Betreuung von „Tante Christa“, der Wirtin der „Tosa“-Klause, die Menschen ein Zuhause bot, die sonst auf der Straße hätten leben müssen oder in ihrem Elend untergegangen wären.

Das Milieu war für ein Kind sicher nicht das beste. Trotzdem ist der Junge ein fröhlicher kleiner Kerl. Er kommt in eine erste Pflegefamilie, ein Jahr später in eine zweite. Er gilt als retardiert wie seine Mutter, zu der ein inniges Verhältnis besteht, denn er ist das einzige ihrer fünf Kinder, das nicht gleich nach der Geburt zur Adoption gegeben wurde.

In der zweiten Familie gilt er anfangs noch als „ein Sonnenschein“, dann entwickeln sich Auffälligkeiten. Kevin erzählt Phantasiegeschichten: Bei seiner Mutter sei er vom zwölf Meter hohen Balkon geworfen worden; ein Mitbewohner habe ihm mit einer Säge die Finger fast abgeschnitten. Als eine der drei Töchter der Familie berichtet, wer aus ihrer Klasse rauche, ruft er: Ich auch! In der „Tosa“ natürlich.

Vor den Mädchen lässt er mehrfach die Hose herunter. Er „zeigt“ sich, sagte die Pflegemutter. Im Juli 2002, die Kinder spielen im Garten, erwischt sie Kevin, wie er auf der nackten Vierjährigen liegt: „Ich nahm meine Kleine auf den Arm. Und ihn hab ich geschüttelt und angebrüllt, dass er hier rausfliegt, wenn noch mal so etwas vorkommt“, sagt sie als Zeugin vor Gericht. „Das hatte für mich ganz klar den Touch von sexuellem Akt. Auch wenn er sich selbst nicht so artikuliert hat.“

Vieles an Kevin stört sie. Dass er sich „mit dem männlichen Geschlechtsteil malte“. Dass er Körperkontakt suchte und Küsse gab auf den Hals („Ich fand das eklig“). Dass er alle Biersorten kannte und in der Stadt um „Säufer und alte Knacker“ keinen Bogen machte. Dass er oft herumtanzte: „Sein Hüftschwung war nicht kindgerecht, sondern sexualisierte Bewegung!“

Sie sucht eine Beratungsstelle der „Lebenshilfe“ auf, um ihre Töchter vor diesem siebenjährigen Unhold zu schützen. Man erörtert den Verdacht, dass Kevin sexuell missbraucht wurde (bei dieser promisken Mutter!). Dann passiert es noch einmal: Kevin „zeigt“ sich am Sportplatz. Weil „die Männer es verlangten“, sagt er in seiner Erklärungsnot. Welche Männer? „Die in der Tosa“, so seine Rechtfertigung.

Nun beginnt ein Martyrium. Die Dame von der „Lebenshilfe“ weiß, was im Kopf dieses Jungen drin sei, müsse ja irgendwie hineingekommen sein. Wenn man mit ihm über das Schreckliche spreche, dann komme alles heraus, und es werde ihm leichter.

Fortan muss Kevin abends, wenn die Töchter schon im Bett sind, das „Peinliche“ aus sich „herauslassen“, denn tagsüber war das ja wegen der Töchter verboten. Und die Pflegemutter dokumentiert für die Kripo. Irgendwann schreit das Kind nur noch und versteckt sich unter einem Tisch.

Aus dem gebetsmühlenartigen „Tante Christa hat mich gefickt“ wird „Tante Christa hat eine Million Kinder gefickt. Ich hasse sie“. Mittlerweile hasst Kevin auch seine Mutter. Das ist Gehirnwäsche, wie bei den Wormser Kindern.

Niemand gebietet Einhalt. Was hier (wieder einmal) mit einem wehrlosen Kind veranstaltet wurde (und wofür viel Geld bezahlt wird monatlich), es schreit zum Himmel. Doch der Vorsitzende Chudoba dankte der Pflegemutter am Freitag ausdrücklich für ihre „Bemühungen um Aufklärung“. Ohne sie, mit Verlaub, wären dem Saarland Millionen Euro an Prozesskosten erspart geblieben.

Parallel zu Kevins Leidensweg nahm bei der Kripo die Überzeugung Gestalt an, wie man sich das Verschwinden Pascals vorstellen müsse. Von Januar 2001 an, so die Rechnung, als Kevin zu Pflegefamilien kam, stand er für Missbrauch nicht mehr zur Verfügung. Brauchte man da nicht Nachschub? Einem stadtbekannten Vielredner präsentierte die Kripo als Erstem die Version vom Nachschub. Alles frei erfunden, sagte der Vernehmungsbeamte später vor Gericht.

Weit gefehlt: Die Geschichte, inspiriert von Kevins Angaben, war schon so sehr Gewissheit, dass der Vielredner nur noch nicken konnte: „Ja, so war’s.“ Ein wenig Suggestion, mein Gott, die gibt es doch immer. Das Gericht fand keine Hinweise, dass etwas hineingefragt wurde.

Wer ist nun schuld an diesen sonderbaren Freisprüchen, die im Volk als „Katastrophe“ angesehen werden? Niemand natürlich. Wir haben alles prima gemacht. Und jetzt dürfen alle enttäuscht sein, bis die Staatsanwaltschaft Revision einlegt. Dann besteht ja wieder Hoffnung.

Im Januar 2009 bestätigte der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Freisprüche der angeklagten acht Männer und vier Frauen. Der Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft wurde zurückgewiesen. Die Richter bedauerten zwar, dass es nicht gelungen sei, das Verschwinden des Jungen zu klären. Das Urteil jedoch halte der rechtlichen Überprüfung stand. Ob Pascal tot ist oder noch am Leben, blieb weiterhin ungeklärt. Wahrscheinlich war er nie in der „Tosa“-Klause gewesen, wo keine einzige Spur von ihm gefunden wurde. Insgesamt, das ist bemerkenswert, wurden in dem Fall neun sich diametral widersprechende falsche Geständnisse abgelegt.

Der völlig unnötige Prozess

TV-Moderator Andreas Türck freigesprochen, aber trotzdem ruiniert

SPIEGEL-ONLINE, 8. SEPTEMBER 2005

Freispruch – und doch kein Grund zum Jubeln: Der ehemalige Fernsehmoderator Andreas Türck ist, wie sogar von der Staatsanwaltschaft beantragt, freigesprochen worden, weil die Beweise für eine Verurteilung nicht ausreichten. Er könnte damit zufrieden sein. Doch ist er es?

Wer weiß, dass er nichts Strafbares getan hat, dem genügt ein solcher Spruch nicht. Er hofft auf Rehabilitierung, auf die Wiederherstellung seines guten Rufes, auf Wiedergutmachung des Schadens, der ihm durch Verdacht, Ermittlungen, Anklage und nicht zuletzt die Hauptverhandlung zugefügt wurde. Er hofft auf die Tilgung des Makels, der ihm seit der Berührung mit der Strafjustiz anhaftet.

Eine unerfüllbare Hoffnung, vor allem, wenn eine Person angeklagt wurde, die in der Öffentlichkeit steht. Sie hofft, dass ihr vor dieser Öffentlichkeit, die sie auf der Anklagebank wahrgenommen hatte, wenigstens Genugtuung widerfährt durch eine entsprechende Urteilsbegründung. Dass der Freispruch auch wie ein Freispruch klingt.

Doch auch diese Hoffnung hat sich für Andreas Türck nicht erfüllt. Nicht nur, dass die mündliche Urteilsbegründung durch die Vorsitzende der 27. Strafkammer des Landgerichts Bärbel Stock nicht so eindeutig war, wie sie sich ein zu Unrecht Angeklagter wünscht. Es schwang immer wieder ein Ton des Bedauerns mit, dass man nicht hatte verurteilen können. Die Vorsitzende enthielt sich auch fast jeder Kritik an der Staatsanwaltschaft, die das Verfahren mit staunenswertem Eifer vorangetrieben hatte. „Man kann durchaus diskutieren, ob im Zwischenverfahren nicht schon mehr hätte geklärt werden können“, sagte die Vorsitzende. Das war’s an Kritik.

Von einem Schulterschluss mit der Staatsanwaltschaft zu sprechen, liegt nahe. Denn nicht grundlos lautet eine der Fragen, die nicht oder nur schwer zu beantworten sind: Warum hat die Staatsanwaltschaft überhaupt angeklagt, wenn doch die Beweise so dürftig waren?

Die Vorsitzende zählte zu den „gewichtigen Indizien“, die zunächst „nach Aktenlage“ für eine Anklageerhebung sprachen, die „zeitnahen Angaben von Katharina B. gegenüber Dritten“, ihre Weigerung, Anzeige zu erstatten, und den Mangel an Motivation für eine Falschaussage. Sie zählte aber auch das Gutachten dazu, das die psychologische Sachverständige Edda Gräfe zur Glaubhaftigkeit der Aussage des angeblichen Opfers Katharina B. angefertigt hatte.

Das aber nun verstehe, wer will. Denn Gräfe hatte sehr frühzeitig im Ermittlungsverfahren unmissverständlich darauf aufmerksam gemacht, dass „die Aussagezuverlässigkeit“ von Katharina B. „massiv eingeschränkt“ sei. Dass ihre Angaben zum angeblichen Tatgeschehen – gewaltsam erzwungener Oralverkehr mit Andreas Türck auf der Frankfurter Honsell-Brücke in der Nacht vom 24. auf den 25. August 2001 – „gravierende Mängel in Quantität und Qualität“ aufwiesen. Dass „eine Erlebnisfundiertheit“ nicht bestätigt werden könne und so fort. Gräfes Befund einer wohl „unbewussten Falschaussage“ der jungen Frau war alles andere als ein Indiz für Türcks Täterschaft.

Die Frankfurter Staatsanwaltschaft webt inzwischen an der Legende, Gräfes schriftliches Gutachten sei „unbrauchbar“ gewesen.

Unbrauchbar wozu? Für eine Verurteilung? Gräfe wehrt sich mittlerweile gegen solche Anwürfe. Sie legt offen, dass sie in vielen Telefonaten ihre Einschätzung von Katharina B.s Aussage der Staatsanwaltschaft mitgeteilt habe; dass sie daraufhin vom ermittelnden Staatsanwalt aufgefordert worden sei, sich mit der Frage einer möglichen Traumatisierung Katharina B.s und deren eventuellen Folgen auseinanderzusetzen – offenbar in der Hoffnung, die mangelnde „Qualität und Quantität“ der Aussage damit zu erklären. Und die Anklage zu retten.

Die Psychologin wies in einem „Exkurs“ auf den renommierten Berliner Psychologen Max Steller hin, der als Experte für derlei Fragen gilt. Warum hat die Staatsanwaltschaft nicht bei ihm nachgefragt? Gräfe hat auch auf die Notwendigkeit eines medizinischen Gutachtens bezüglich der Alkoholisierung und des vermuteten Drogenkonsums von Katharina B. hingewiesen. Warum wurde die Staatsanwaltschaft nicht tätig?

Die Vorsitzende Richterin wich all diesen Fragen aus und erklärte, dass sich gerade bei Sexualdelikten – „dieser Grauzone menschlicher Begegnungen“ – vieles erst in der Hauptverhandlung kläre. Das ist sicher richtig. Doch manchmal liegt das Kind dann schon im Brunnen.

Richterin Stock schalt die Verteidigung, weil sie Protokolle von Telefongesprächen verlesen ließ, die ein eindrucksvolles Bild von Katharina B.s Umfeld und Umgang abgaben. Die Vorsitzende: „Die Verlesung dieser Protokolle waren weder für den Freispruch noch für eine Verurteilung nötig. Sie diente nur dazu, die Nebenklägerin möglichst übel beleumundet dastehen zu lassen.“

Aber ist es denn völlig egal zu wissen, in welchem Milieu sich eine angeklagte Tat ereignet hat? Ist es egal zu erfahren, dass sich die angeblich Geschädigte zur Tatzeit und unmittelbar davor schon in einem höchst desolaten körperlichen und seelischen Zustand befand, der den angeblichen Tatfolgen bis ins Detail ähnelte? Hätten die Zeugen ohne Vorhalte aus jenen Protokollen über Rauschgiftkonsum, Alkohol und Tabletten gesprochen? Das Gericht bezeichnete Zeuginnen aus dem Partymilieu als glaubwürdig, die bekundeten, mit Katharina B. sei „etwas Schlimmes passiert“. Andere, die von „aufreizendem, sexualisiertem Verhalten“ der angeblich Geschädigten sprachen, fanden keinen Glauben. Da war manches für den Beobachter, der die gesamte Hauptverhandlung verfolgt hat, nicht recht nachvollziehbar.