Wir müssen wiral werden - Bernhard Lembcke - E-Book

Wir müssen wiral werden E-Book

Bernhard Lembcke

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Beschreibung

Warum dieses Buch? Weil es nötig ist. Ein Buch der besonderen Art; -aber das behaupten alle Bücher von sich. Spitze Findigkeiten wider impressionistischen Nihilis-mus, bisweilen eine wild verliebte Wortklauberei, gefasst in Sprache, die vielsagender wird, als es die Worte vorgeben. Eine Sprache, die skizziert, plakatiert, seziert und polemisiert. Mit Worten gaukelnd, schaukelnd und spielend; sprachliche Brücken, wo der Ernst zu kurz geraten würde. Zugespitztes als ein -mal ironischer, mal analytischer oder auch exzentrischer- Dosenöffner zeitgeistiger Konserven. Information durch Deformation in der selbstgewählten Kategorie des unsachlichen Sachbuchs. Herausfordernd, überdies eine charmante Verführung zum Nachdenken in der sprachlichen Rhythmik eines Tangos: aktiv, aufmerksam, sinnlich, präzise und mit einem Faible für überraschende Kehrtwendungen. Ein Buch, das als ein Soufflé an Ernsthaftigkeiten, teils nature, teils mit einem Hauch medizinischen Trüffels verfeinert oder mit einigen Krümeln grotesken Krokants versüßt für ein ein-tauchendes Schlemmen gedacht ist. Als fastfood denkbar ungeeignet. Und ganz sicher auch verschwendet.

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Inhalt

Ein Buch

Jab? A jab? Ah: do! - „Jaba-jaba-doo!“

Spritzenkandidat

Skizzenbuch des Unsichtbaren im Offenkundigen

Hofgeplauder, bayerisches

Faksimile einer Plage

Blenden und Ausblenden

Zuviel des Guten

Das Soufflé

Wir können wählen

Splitter. Nicht stilvoll bekleidet, sondern nackt

Jedermann ist nicht irgend jemand

Im Sog des Sogenannten

Meinungsbildung

Posaunen der Politik

Alter

Wort und Totschlag

Unerhörtes, sichtbar gemacht

Umschaltmomente

Bestand und Wandel

50-35-100: Stillstand zwischen Null und unendlich

Gähntechnisch verändert

Von Menschen und Bäumen

Scheitern für Fortgeschrittene

Schreiben über Unausgesprochenes

Jabs save jobs

Medizin - aber sicher?!

Sp(r)itzenkandidaten sind keine Empathie-freie Zone

Wer? Bung?

Mea tulpa!

Kreisreisen auf der Memory Lane

Ausgeliefert

PoP, vielleicht:

part of paradise

Datenhürde schlägt Menschenwürde

Barrikaden zu Barrique

Atmosphärische Begegnungen

Palaveristen der Politik

Quod erat demonstrandum

Beobachtungen in einer undurchsichtigen Zeit

Ja. Gone

Kreislauf mit Kanten

Bemerkenswert und des Bemerkens wert

#allesschlichtmachen

Das Deszendieren des Dezenten

Demokratischer Destruktivismus - destruktive Demokratie

Der Abschied von Entscheidungen

Amorpheus in der Mittelerde

Der Tod der Sachlichkeit in Wahljahren

Es wahr einmal

Realität als surreale Melange virtueller Lichtreflexe

Wenn das Lebensgefühl geht und das Leben bleibt

Ich habe einen ganz einfachen Geschmack. Ich bin immer mit dem Besten zufrieden (Oscar Wilde).

Wir schaffen das

Kleinkram mit ggfs. großen Konsequenzen

Ich bin „in“, also bin ich (

follower – ergo sum

)

Diplokokken der Diplomatie

Geist auf Anfrage...

Vexierbilder

„Schein“werfer

Schwere Fragen vertragen keine leichten Antworten

Kritik des Groteskapismus

Die Regression der Moderne

Ansehen und Zerfall

Gespräche. Fäden & Knoten

Nee (zu) flektion

Physikalische Medizin für Verschwörungstheoretiker

Das A und O beim

Ah

und

oh

Satirium - Satyrium

Stillstand

Momentaufnahmen

Fußball ist unser Leben – ein Einwurf von der Grundlinie

Wahr(iabel)

Silhouetten des Lebens

Wetterberichtsberichtigungswetter

Empirie und Phantasie

Redensarten, Schreibensarten

Mehr geht nicht – besser ging´s nicht

Herdenverdummung

Ätzen mit Sätzen

Frevelhaftes & Frivoles

Epilogischer Prolog

Übungen mit ungewissem Ausgang

Tor und Torheiten

Wahrung des Bewährten? Denkste.

Lösungen statt Losungen

Spirit und Sperenzchen

Aphorismen - WiederSprüche

Ein Buch

Dies hätte ein „Buch ohne Titel“ werden können. Aber davon gibt es schon einige, sei es von Lina Loos, sei es von Raymond Smullyan. Und da es ein Buch vielfältiger persönlicher Empfindungen ist, dem -vielleicht- ein Titel auch gar nicht hinreichend gerecht wird, muss das Buch gleich aus mehreren Gründen auf diesen Titel verzichten.

Das bedingt dann -abermals vielleicht- eine andere Charakterisierung:

Auf- und andere Regungen

zu

Ab- und anderen Artigkeiten

mit

An- und anderen Regungen

.

Einfach. So.

Anregungen und gleichzeitig ein feuilletonistischer Fixateur. Man kann den Mutterwitz auch vom Vater haben.

Jab? A jab? Ah: do! - „Jaba-jaba-doo!“

Offenbar kannten bereits bei den Feuersteins Barny Geröllheimer und Fred Feuerstein den Imp(f)erativ, dass Impfen für die Weiterentwicklung der Menschheit, heraus aus infektiologischer Stein- oder Vorzeit, eine entscheidende Rolle spielt.

An dieser Bedeutung hat sich auch 225 Jahre nach Edward Jenners Pockenimpfung (…in Großbritannien) nichts geändert, außer, dass heute von „Gamechanger“ gefaselt wird, wo es doch um ernsthafteste Ernsthaftigkeit geht (die mit einem veritablen Menschen-Experiment begann) und gewiss nicht um irgendeine Form irgendeines Spiels. Das, was da vermeintlich „locker“ über die Lippen geht, erscheint denn auch nur als ein Lippenbekenntnis, wo eine in Mark und Bein (heißt: bis auf und in die Knochen) gefestigte Überzeugung, ein Bewusstsein gefragt war (und ist).

Aber Bewusstsein hat Wissen zur Voraussetzung und damit ist es nicht so weit her. Weil es weit weg ist. Nicht einmal das Fernsehen scheint da eine wirksame Option zu sein.

Edward Jenner hatte eine Überzeugung, für ihn ein Bewusstsein, das sein Experiment am 14. Mai 1789 eingedenk der grausamen Realität der „schwarzen Blattern“ (Pocken) rechtfertigen mochte, wiewohl es erhebliche und zweifellos begründete Widerstände im konservativen Medizinverständnis gab. Eine Ethik-Kommission jedenfalls hätte seinen Plan und sein Vorgehen zu dieser Zeit wohl kaum gebilligt.

Bezeichnend auch, dass er sein Experiment (das nicht einmal einen Heilversuch im engeren Sinne darstellte) wohl nur bei einem sozial Abhängigen durchführen konnte: seine Versuchsperson war James Phipps, der 8jährige Sohn seines Gärtners. Vermutlich begleitete aber großes Vertrauen des Gärtners dessen Zustimmung, zugleich zweifellos auch große Angst, schließlich waren die Pocken zu dieser Zeit in England für jeden 10. (!), in den Städten jeden 5. Todesfall (!) verantwortlich.

Der erste Bericht Jenners über die erfolgreiche Verhinderung der tödlichen Pockenerkrankung durch seine Kuhpockenbasierte Impfung wurde dennoch zunächst nicht zur Publikation angenommen, da er nur auf einem Einzelfall basierte, so dass Jenner weitere Probanden impfen musste (darunter seinen eigenen, elf Monate alten Sohn), bevor sich sein Konzept durchsetzen konnte.

In Deutschland wurde eine Impfpflicht gegen Pocken übrigens zuerst in …Bayern (1807) eingeführt, während die Pockenimpfung in Preußen 1815 verpflichtend wurde (und in England erst 1867).

Die englische Bezeichnung Vaccination geht dabei auf die Kuh (lat. vacca) zurück, deren Kuhpocken (Cow pox) die Immunität hervorriefen.

Eine wünschenswerte Sensibilität für nuancierende Facetten im Sfumato von Menschenliebe, Hoffnung, gerechtfertigter Überzeugung, begründetem oder auch brüchigem Wissen und bisweilen (in einer historischen Perspektive offenkundig zunehmenden) Ruhmsucht erfordert den Hinweis, dass auch Louis Pasteur 1885 seine „erfolgreiche Tollwut-Impfung“ (die aber nicht einer präventiven Impfung im engeren Sinn, sondern einer therapeutisch intendierten Serum-Gabe entsprach) an einem Kind (dem neunjährigen Joseph Meister) „nachwies“, während das Schicksal eines zuvor experimentell behandelten Erwachsenen mit erkennbarer Erkrankung nicht weiter dokumentiert ist und ein Mädchen mit fortgeschrittener Erkrankung am Tag nach dem Behandlungsversuch verstorben war (U. Benzenhöfer, Deutsches Ärzteblatt 2010; 107: A2112). Kritische Stimmen betonen auch, dass die beschriebenen Krankheitssymptome des kleinen Joseph Meister durchaus nicht beweisend für eine tatsächliche Infektion mit dem Tollwut-Virus sind (die eine sehr lange Inkubationszeit aufweist), wohingegen das Bemühen (und Beharren) Pasteurs nachträglich durch den „Test of time“ bestätigt wird.

Will sagen: Medizin war erkennbar existentiell.

Und sie ist es noch.

Solche, einst (mehr oder weniger heroisch) gangbare, historische Lösungswege sind (hier und heute) undenkbar, aufgrund wissenschaftlicher Fortschritte aber auch überholt und dabei in anderer Weise mit kontemporärer ethischer Stimmigkeit erreichbar. Die Entwicklung eines mRNA-basierten Impfstoffs gegen Sars-CoV-2 ist hierfür ein deutlicher Beleg. Wenn für den Nachweis der Wirksamkeit von Impfstoffen in einer groß angelegten Untersuchung an Tausenden Probanden heute Studien in Entwicklungs- und Schwellenländern durchgeführt werden, dann, weil dort die besten Bedingungen für einen wissenschaftlich fundierten Wirksamkeitsbeleg und ein (auch zeitlich) homogenes Infektionsgeschehen aufgrund der Bevölkerungsdichte (und der sozialen Standards) vorliegen, weitaus weniger aufgrund etwaiger Abhängigkeiten (und unabhängig davon, ob diese ökonomisch bestehen).

Ethisch auch ein kategorischer Imp(f)erativ, diese Länder parallel zu den Ländern, die die Impfstoffentwicklung und -Produktion gewährleisten, umfassend mit den notwendigen Impfmöglichkeiten auszustatten (zudem medizinisch erforderlich, um reimportierte Mutationen nach Kräften zu verhindern). Es ist bemerkenswert, dass und wie sehr sich aus einstigem Vertrauen Misstrauen entwickeln konnte, obwohl die Entwicklung des Impfens eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel darstellt. Es ist vermutlich ein Gutteil Unvorstellbarkeit, der dieser Skepsis zugrunde liegt, ähnlich der Skepsis von Herrschern in autoritären Regimen gegenüber der Sonographie, so sie (gleichermaßen abstrus wie arbiträr) befürchten, durch den Kontakt mit (vergiftetem) Kontaktgel und auf ihr Inneres gerichteter Anwendung von (nicht hör-, sicht- und spürbaren) Schallwellen ermordet zu werden, einzig, weil sie analog erscheinende Möglichkeiten der Ausschaltung unerwünschter Personen in ihrem Verantwortungsbereich womöglich kennengelernt und befördert haben mögen.

Spritzenkandidat

Für Ärzte ist klar: Pragmatismus ist keine Krankheit.

Wer zu spät impft, den bestraft das Virus; sei es durch die primäre Ausbreitung oder aber Mutationen.

In diesem Sinn wird sinnvoll zu Handeln zu Behandeln.

Ein Selbstverständnis in der Medizin, das aber in der Pädagogik wenig durchdringt.

Da ist es nicht wirklich verwunderlich, wenn Lehrende, die ihr Können und ihr Engagement als Mittler für Lerninhalte sehen, sich für Unmittelbares nicht zuständig sehen, unsicher fühlen und / oder unzureichend vorbereitet empfinden.

Lehrer sind keine Professoren; Professio beinhaltet Bekennen, das mit Kennen sowie -im Idealfall- erkennbar mit eigenen Forschungsergebnissen, eigener Erfahrung gespickt ist und nicht allein den Spickzettel des Lehrplans erfüllt.

Glücklicherweise gab und gibt es in der Pandemie zahlreiche Lehrer, die als Lehrkräfte sich nicht nur bemüht, sondern die Situation bei den Hörnern gepackt haben und allen Widrigkeiten zum Trotz das Beste aus dem Dilemma zu formen vermochten und überdies den Kindern Halt geben konnten. Halt für ihre Entwicklung und speed für die Formen des Lernens, die mit ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe irreversibel verbunden sind. Das kann man goldene Jahre nennen, oder, weniger prosaisch, „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“.

Erkennbares Bemühen trifft allerdings nicht flächendeckend zu und gerade in organisatorischen Belangen gab es Gründe für mehr als nur ein unverständliches Kopfschütteln. Nachdem über den Sommer 2020 belegt werden konnte, dass leistungsfähige Luftfilter eine exzellente Viruspartikel-Reduktion in geschlossenen Räumen bewirken, hat sich zwar fast jede Physiotherapiepraxis flux so ein Teil angeschafft, Schulen (außer einzelne Privatschulen) dagegen nicht.

Das ist grundsätzlich logisch, weil ohne Budget und ohne behördliche Verordnung keine Anschaffung erfolgen kann. Eine -logische- Konsequenz war entsprechend auch die medial laute Forderung der „Linken“, alle Klassenräume mit geeigneten Filtergeräten auszustatten, eine andere -sympathische- die erhebliche, dennoch punktförmige Spendenbereitschaft, einzelnen Klassen oder auch ganzen Schulen solche Filter zur Verfügung zu stellen.

Das, allerdings, wurde offensichtlich als unlauter empfunden, wurde es doch durchweg abgewimmelt. Initial mit den fadenscheinigen „Argumenten“ einer ungeklärten „Wartung“, ungeklärter „Versicherung“ oder auch Betriebssicherheit (! von TÜV- und CE- zertifizierten Geräten).

Best supportive care? Womöglich die in Lehrerzimmern vielbeschworene „Achtsamkeit“?

Fehlanzeige.

Ein Dilemma von proklamierter Empathie einerseits und faktischer Inkompetenz in organisatorischem Neuland andererseits sowie ein situatives und / oder systemisches Versagen bei der Bereitschaft, selbst (als Schulträger) und unmittelbar Verantwortung zu übernehmen. Auch ein Dilemma im Geiste.

Wir lernen: wenn nicht klar ist, wer das Zelt abbaut, bauen wir es erst gar nicht auf und bleiben im Regen stehen.

Nachhaltig.

Und wenn ein Unwetter aufzieht, warten wir mal zwecks exakter Messungen, was es so an Regenmenge und Windstärken mit sich bringt und nachdem wir dann ggfs. belastbare, gesicherte und vor allem ausreichend diskutierte Daten und einen mehrheitlich hierüber abgestimmten Beschluss haben, dann können wir uns ja mit den Schutzmaßnahmen befassen. Das ist dann auch einfacher, als die Verwüstungen aufzuräumen, die das Unwetter hinterließ, während es sich über uns ausgetobt hatte*.

*Dieser Absatz wurde im Frühjahr 2021 formuliert; die Formulierung stand daher bei der Textabfassung nicht im Kontext der Unwetterkatastrophe am 15.7.2021, für die die Einschätzung aber in Teilen auch zutreffen mag.

Letztendlich: das kardinale und axiomische Missverständnis sozialistischer Ideologie von Leben, Natürlichkeit und Solidarität: wenn nicht alle überleben, darf keiner überleben?

Merkwürdig nur, dass eine solche „Diskussion“ so viel Raum einnimmt, wo zwar plausibel ist, dass Filtergeräte in Klassenräumen sinnvoll wären, aber ihre Effizienz, ihr Nutzen, Ansteckungen tatsächlich zu verringern oder zu verhindern, kaum belegt sind.

Das, allerdings, gilt ebenso z.B. für das Quer- und Stoßlüften. Einer der Gründe, warum sinnvolles und situativ angemessenes Verhalten weder mit dem Geodreieck, mit dem Zollstock oder dem Laser-Messgerät adäquat erfasst werden kann. Medizin kennt das sehr gut und behilft sich dann mit sogenannten Surrogatmarkern.

Skizzenbuch des Unsichtbaren im Offenkundigen

Im Guardian fand ich neulich einen Artikel zu tolerieren und respektieren, präziser: zu to tolerate und to respect; ein Artikel, der sich den Nuancen und der Notwendigkeit ihrer Differenzierung widmete. Im kontinentalen Diesseits besteht eine weitere, darüber hinausgehende Nuancierung in der Unterscheidung von Toleranz und Respekt. Etwas (englisch) zu respektieren bedeutet Anerkennung auf Augenhöhe, Respekt (deutsch) beinhaltet traditionell auch, zu jemandem aufzublicken. Ein Hauch wilhelminischen Militärdenkens, der heute als Flugrost gedeutet werden wird, was seine Existenz aber nicht beseitigt, überdies -meines Erachtens- auch eine etwas kurz gegriffene Betrachtung, reicht doch der Respekt für Herrscher viel weiter zurück als in das ausgehende 19. Jahrhundert.

Respekt einflößend war „Obrigkeit“ auch schon vor wilhelminischer Überzeichnung. Vermutlich eine Folge von Eroberungen und / oder wechselnder Herrschaft durch transkontinentale Eheschließungen respektive Erbfolge mit der Folge ordnungspolitischer Selbstdarstellung, stringenter Machtausübung, aber eben auch mit der späteren Konsequenz einer Loslösung des bürgerlichen Standes, auch durch revolutionäre Abkehr. Aufzusehen zu jemandem, dem Ansehen gebührt, hat sich als begrifflicher Inhalt für Respekt bis heute erhalten.

Meine Anschauung des Vereinigten Königreichs geht dahin, dass dort feudale Strukturen staatstragend aber eben auch individuell in einer Kontinuität verinnerlicht sind, dass die Formulierung gerechtfertigt wäre, die Obrigkeit thront nicht über sondern sie ist Teil der Bevölkerung.

Nicht deren DNA, aber in beider DNA verinnerlicht.

Entsprechend ist sie nicht überwunden. Damit fällt es zwar leichter, anderen, dem sozialen Umfeld generell Respekt entgegenzubringen, dies impliziert allerdings nicht die explizite Anerkennung eines besonderen Verdienstes oder die Würdigung einer herausragenden Eigenschaft; es ist -so wir nicht von Hooligans reden- eine normale Umgangsform.

Neben dem Respekt mit Blick nach oben und dem Respekt auf Augenhöhe gibt es auch Respekt für Minderheiten, die Akzeptanz von Ideen, Sachverhalten, Institutionen und Personen, die Ziele verfolgen, die wir uns nicht zu eigen machen müssen, aber dennoch als würdig würdigen können. Es ist auch Teil dieses Respekts, hier nicht einen Blick nach unten zu suggerieren. Vermutlich aber pflegen wir Toleranz, um uns nicht mit derartigen Inhalten unmittelbar auseinandersetzen zu müssen. Eher eine Ergänzung als eine Art Outsourcing von Respekt.

Toleranz gegenüber einer Minderheitenreligion respektiert diese Religion. Als Minderheit. Und als Religion.

Eine gleichwertige Religion. Nicht: gleichgewichtig.

Wäre eine Meinung oder Religion gleichgewichtig, im kulturellen Kontext gleich bedeutend, gleichermaßen akzeptiert, also rundweg gleich, würden sich nämlich Begriffe wie Toleranz und Respekt erübrigen. Unser Respekt bezieht sich auf die individuelle Religionsausübung, die Existenzberechtigung der Religion, auch ihre kollektive Bedeutung und die mit jeder Religion verbundenen Würde.

Das Ansinnen auf Gleichgewichtigkeit konterkariert meine Toleranz und meinen Respekt in eine Absurdität. Toleranz und Respekt beruhen auf einer humanistischen Grundüberzeugung mit dem Ziel von Akzeptanz und Funktionalität aller gesellschaftlichen und intellektuellen Individuen, Strömungen und Gruppierungen. Der Anspruch, klein sei ebenso groß wie groß und groß sei ebenso klein wie klein irrt nicht nur, er ist irre und er macht irre, will meinen, er hat den Boden des Respektablen längst verlassen. Verzogen in ein Sfumato von Nirwana und Absurdistan, eine grenzfreie wie auch grenzenlose Region, deren „Bevölkerung“ in den letzten Jahren erkennbar angewachsen ist und die 2 + 4 für gleichbedeutend mit 3 + 7 hält.

Im Netz wie auch in Kommentaren ist viel von Hass die Rede. Und ja, die eruptiv entgleiste Form derartiger Entäußerungen fern eines Niveaus hat Eingang in die Normalität des wahrzunehmenden Spektrums gefunden. Und das kommt weder von ungefähr, noch ist es ungefährlich. Hass hat sich aus einer Gehässigkeit entwickelt, die mal als pointiert, mal als kritisch, mal als klare Kante toleriert, akzeptiert und der sogar applaudiert wurde. Im Verein mit gefühlter Zurücksetzung, dem Empfinden von Erniedrigung (befördert durch eine reiterative Betonung tatsächlicher wie auch vermeintlicher Benachteiligung durch ein Sozialsystem, das tatsächliche Härten objektiv abmildert, aber gleichzeitig die Perpetuierung und Ränderung des Kontrastes zum Selbsterhalt benötigt) hat sich Hass als eine primitive Form rejektiver Verarbeitung, als ein Reflex gegenüber den Erfolgreicheren, weniger Beschädigten, den Anderen schlechthin „bewährt“.

Gedankenlos, zumindest bedenkenlos oder von sich konkret als Neonazis wähnenden Leuten wurden die vier Buchstaben „Hass“ bisweilen als Tattoo auf der Streckseite der Finger verewigt, zumeist dann mit der Runenform der zwei S. Hass erscheint dabei wie ein Axiom in der Mathematik, -hier eine Emotion, die argumentativ nicht zugängig ist.

Das, allerdings, bedeutet auch, dass Hass nicht rational beizukommen ist.

Ein Gefühl eruptiver Expressivität, dem die Erdung abhanden gekommen ist.

Freischwebend und gleichzeitig schwer lastend.

Immer aber inakzeptabel.

Hofgeplauder, bayerisches

So ein Stadtplan ist schon hilfreich. Dennoch waren wir ein wenig stolz, den Bayerischen Hof® in München bereits im ersten Anlauf gefunden zu haben. Merkwürdigerweise standen da etliche junge Leute -für uns, meine Frau und mich, prima vista offenkundig grundlos- ekstatisch gestikulierend auf der Grünfläche vor dem Hotel, die dort die Straßenspuren teilt. Was da los war, kam uns dann aber schlagartig durch die Erinnerung des beherrschenden Themas im Bayerischen Rundfunk während unserer Anfahrt in den Sinn: Michael Jackson sollte ein Konzert in München geben. Und was lag näher, als dass dieser dann wohl im ersten Haus am Platz residieren würde? Zeitgleich mit der so unerwartet durch Vermutung gewonnenen Klarheit erreichten wir also in unserem silberblauen Toyota Tercel Allrad mit dem gelb-blauen Haslbeck-Styling, das den Kleinwagen glatt zwei Kategorien wertiger erscheinen ließ, den Bayerischen Hof.

Also, das mit dem „wertiger“ war mehr unsere Sicht, weniger wohl die des Poitiers.

»Sie wünschen?«

»Wir möchten in die Tiefgarage… .«

»Sicher, aber die ist nur für Hotelgäste.«

»Prima. Sind wir. Zumindest haben wir eine Reservierung.«

Ich kramte den Beleg hervor. Die Situation war amüsant, nur

fühlte sie sich gerade nicht so an. Aber sie klärte sich entspannt, schließlich war der Mann nicht nur gut geschult, sondern geradezu souverän.

Poitiers beherrschen eben nicht nur das Entrée, sondern auch die ihnen zugedachte Noblesse.

Ungewohnt für mich war es allerdings, den Schlüssel für unser -für uns…- kostbares, wenngleich kleines, noch recht neues Autochen dem Portier auszuhändigen, damit dieser es einparken lassen konnte. Dass das eine gute Idee war, bemerkte ich am nächsten Tag, als ich mal kurz nach dem Gefährt sehen wollte. Unser 1,4l-Kleinwagen stand eingezwängt zwischen zwei Rolls Royce, vermutlich händisch eingeschoben, denn da gab es keinen Platz mehr zum Öffnen der Tür, ohne exklusive Lackschäden zu verursachen.

Die Anmeldung an der Rezeption verlief als solche wie in allen Hotels dieser Welt, mithin unspektakulär. Dezidiert ungewohnt und atmosphärisch merkwürdig erschienen uns aber die großen farbigen Männer mit ihren langen schwarzen Mänteln (also people of colour mit Mänteln off colour), die sich da auffällig unauffällig im Foyer verteilten.

Security. Genauer betrachtet, was erziehungsbedingt den Makel des Oberflächlichen beinhaltete, kamen sie mir vor, als wären sie direkt einem Sergio Leone-Western entstiegen, einschließlich des Eindrucks, unter den knöchellangen Mänteln könnte ein ganzes Gewehr verborgen sein. So residierten wir also zeitgleich mit „Jacko“ im Bayerischen Hof.

Die Exzellenz dieses Hotels wurde aber auch in einer anderen Situation deutlich. Es regnete. In Salzburg hätte man wohl von „Schnürdlregen“ gesprochen, „cats and dogs“ wäre allerdings eine britisch-süffisant übertreibende Metapher gewesen. Der Concierge brauchte erst gar nicht gefragt zu werden, er hatte den Schirm für meine Frau schon parat. Ob parat etwas mit parapluie zu tun hat? Sicher nicht, aber dieser weiß-blaue Schirm mit dem Aufdruck „Bayerischer Hof“ hatte nachgerade etwas Magisches, etwas von einem Zauberstab. Wo immer meine Frau einen Laden in der Innenstadt ansteuerte oder auch nur das Schaufenster betrachtete wurde ihr förmlich die Tür aufgerissen. Service; gleichermaßen ungewohnt, so wie das Parkplatz-Ambiente für unser Autochen.

Da ich als Vortragender an einer kleinen Konferenz teilnahm und solche „Meetings“ die Eigenschaft aufweisen, nicht planbar pünktlich zu enden, musste meine Frau für eine gemeinsam vorgesehene Stadterkundung eine Weile auf mich warten. Um bei belegten Sitzgelegenheiten nicht inmitten der Emsigkeit an der Rezeption herumzustehen, hatte sie sich nach einigen Schritten auf und ab im großzügigen Windfang vor dem Foyer auf die Abdeckung der dieses flankierenden Heizung gesetzt, saß doch bereits vis-à-vis ein recht seriöser, bärtiger, älterer Herr ebenfalls dort. Auf mich zu warten konnte überdies erfahrungsgemäß bisweilen geraume Weile dauern. Nicht lange allerdings dauerte es, bis der ältere Herr freundlich ein Gespräch begann. Er sei wegen des Michael Jackson-Konzertes da, beruflich, und pries das musikalische Genie des Stars als auf Augenhöhe mit dem eines Mozarts. Als Herr „alter Schule“ stellte er sich dann vor, er sei Fritz Rau.

In der nachfolgenden, durchaus längeren Pause ohne Reaktion entstand -vermutlich sehr zu Recht- bei meiner Frau der Eindruck, dass er wohl erwartet hatte, dass ihr dieser Name ein Begriff sei, womöglich ein Anlass für überraschte Begeisterung, das Elixier der Prominenz. Dem war bedauerlicherweise nicht so, da die große Welt spektakulärer Konzerte und ihrer Impressarios in unserer kleinen, familiären Welt damals nicht vorkam, und daran hat sich bis heute auch nur wenig geändert. So wirkte er erkennbar enttäuscht, vielleicht auch etwas verstimmt, erkennbar am Verstummen. Mein Erscheinen „just in time“ und unser Aufbruch vermochten die Situation dann -für uns- halbwegs zu retten; eine positive Erinnerung an den freundlichen Herrn (den wohl auch ein Ruf als knallharter Verhandler begleitete und der in den Kulissen der Musikwelt die ganz großen Vorhänge auf- und zuzog) ist aber geblieben.

Faksimile einer Plage

Fuck simile…eines Jahres. Ein gebrauchtes Jahr.

Haben wir das wirklich gebraucht?

Womöglich für neue Ansichten, moderatere oder gar düstere Aussichten, kreativere Absichten? Es ist leicht, einen virtuell deskriptiven Standpunkt außerhalb des tosenden Geschehens einzunehmen. Und ja, es tost. In der Wirklichkeit. Unser aller Wirklichkeit von Gesundheit und Krankheit, Ökonomie und Arbeit, Sicherheit und Unsicherheit, aber auch Interessen und Vorlieben wie unser Miteinander sind durcheinander geraten, mit tiefen Einschnitten in unser gesellschaftliches wie auch das private Leben. Jetzt und für die Zukunft. Kindererziehung, Schwangerschaft, Hochzeit, - kaum ein Aspekt bleibt ausgespart. Was wir als Welle(n) erleben, erscheint wie die Gischt einer der biblischen Plagen in aktualisiertem Gewand.

Dem -für unseren Erfahrungshorizont- unpräzedenten und zugleich unausweichlichen Eindruck begegnen die Meisten besonnen, Einige aber mit Ignoranz, andere mit Spott, auch Überheblichkeit und schließlich Einzelne mit der ihnen eigenen Negation, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, hier: unvorstellbar erscheinen will und nicht erwünscht ist.

Wunschdenken wird da zum blockierenden Antikörper des Denkens. Ansichten stehen im Weg, wenn es an Einsicht mangelt. Übrigens auch, wenn Nachsicht …wünschenswert wird.

In der Medizin kennen wir den Begriff der therapeutischen Breite. Das ist der Raum zwischen dem für eine Wirkung erforderlichen Wirkspiegel (oder einer Dosis) und dem Wirkspiegel, der zu Überdosierungs-Erscheinungen führt, mithin der therapeutisch wirksame Bereich.

Corona hat eine Entwicklung forciert und demaskiert, die sich schon länger abzeichnete, inzwischen aber als ein Manko in Gesellschaft und Politik deutlich hervortritt: der Abstand von gefordert zu überfordert ist sehr, sehr gering. Man könnte auch formulieren: die Resilienz-Breite ist erschreckend klein. Es scheint, dass uns die Reserven fehlen, die situative Compliance, Nachsicht, Toleranz, Coping und Souveränität benötigen und tagtäglich beanspruchen. Reserven, die auf einer behüteten Kindheit, Regeln und Verlässlichkeit, Orientierung, häuslicher und gesellschaftlicher Wärme, auf der Entwicklung eigenständiger, gefestigter Persönlichkeiten beruhen.

Wenn man sich -früher- überfordert fühlte, hat man diskret geschwiegen und sich etwas zurückgenommen. Allerdings: parallel hierzu hat man sich stillschweigend bemüht, das apparente Defizit irgendwie, dabei schnellstmöglich zu kompensieren; intensives Bemühen als eine Selbstverständlichkeit eingeschlossen.

Heute scheint es „in“ zu sein, „überfordert“ zu sein. Nicht das eigene Defizit wird dabei als das Problem gewertet, vielmehr die abstrus anmutende und als solche apostrophierte Anforderung. Und selbstredend muss man darüber „reden“. Je mehr, desto besser. Je weiter und länger die Nachricht verbreitet wird, umso unanfechtbarer verfestigt sich dabei die eigene Einschätzung, die doch nur die egozentrische und zutiefst subjektive Benchmark als Maß der Dinge widerspiegelt.

Mein Können, Wissen und Arbeitspensum sind vollkommen, es ist Euer Anspruch, der den Rahmen sprengt. Auf eine solche Sichtweise muss man erstmal kommen. Pflege? Überfordert. Junge Ärzte? Überfordert. Gesundheitsämter? Überfordert. Lehrer, Schulen? Klar doch. Sehr überfordert.

Vermutlich ein weiterer Beleg für die Richtigkeit des Peter-Prinzips (n. Laurence J. Peter, 1919-1990; The Peter Principle, William Morrow, New York, 1969), das da besagt: „Nach einer gewissen Zeit wird jede Position von einem Mitarbeiter besetzt, der unfähig ist, seine Aufgabe zu erfüllen“.

Die Betonung der Überforderung auf so vielen Seiten und wohl anlässlich jeder neuen „Aufgabe“, die da auch gern Problem oder Herausforderung genannt wird, führt in den Eindruck, wir seien eine fleischgewordener Hilflosigkeit und Überforderung ausgelieferte Gesellschaft.

Gleichzeitig „fordern“ alle möglichen öffentlich wahrnehmbaren Figuren alles Mögliche. Ein Übermaß an Forderungen; auch eine Form von Überforderung.

Der fordert, die fordert, unsere Nachrichten lassen uns nicht im Unklaren, wer seine „Meinung“ ins Schaufenster stellen möchte und unterstützen dies nach Kräften, schließlich ist das ihr Lebenselixier. Gehts auch leiser? Reflektiert? Zum Beispiel in der Redimensionierung, die Professor Dr. Dr.h.c. mult. Bock kurz vor seinem einhundertsten Geburtstag als Antwort auf die Frage formulierte, wie es ihm gehe: „Es gäbe viele Gründe zu klagen, aber wir haben kein Recht dazu“?

Was berechtigt Politiker, Verbände, Singles und Vernetzte dazu, etwas zu fordern? Sie könn(t)en doch ihre Arbeit darauf ausrichten, ihre Wünsche und Vorstellungen zu flankieren oder Realität werden zu lassen. Zu fordern haben sie entsprechend wenig, viel mehr aber zu realisieren.

„Das Recht haben die Rechthaber“ (Johannes Grützke)?

Nö. Sie haben ein Recht auf eine eigene Meinung und vielleicht auf den, ihren Wunsch, gehört zu werden. Das Recht haben sie allerdings in der Form des Rahmens rechtsstaatlicher Demokratie, in dem sie, wir und der Rest der Gesellschaft sich/uns bewegen dürfen.

Blenden und Ausblenden

Den Brexit betrachten wir als Demolierung der Demokratie durch Plebiszitokratie, gelenkt von Junkern und junkern. So unklug, egoman oder kurzsichtig der Coup uns erscheinen mag, so sehr wird man ihn auch als Fortschreibung eines historischen Bewusstseins mit insulatorischen Scheuklappen werten müssen, die den Eindruck vermitteln sollen, es ginge geradewegs geradeaus. Auch eine Ein- bzw. Ausblendung des Gesichtsfeldes. So ganz nebenbei erscheint der Brexit damit auch als ein Lehrstück von -nein, nicht Stolz und Vorurteil, sondern- Blenden und Ausblenden. Blendung und Verblendung in einer Intensität, der der verniedlichende Begriff der junk-, auch der fake-news nicht gerecht werden kann und gewiss auch nicht soll. Dabei könnten wir politisches Blendwerk durchaus wahrnehmen, auch dann, wenn wir nicht über die tiefreichenden Wurzeln ideologischer oder vermeintlich weltanschaulicher Narrative stolpern.

Aber es ist bequemer, derlei Anschauungen zu übernehmen. Dort, wo das Verwirrende von Details in größere Schwierigkeiten für eine Lösung geführt hatte, galt es als eine opportune (und erfolgreiche) Lösung, die Probleme zu bündeln (anstatt sie zu entzerren) und ggfs. mit kompensatorisch erscheinenden Gewicht(ung)en einer „politischen“ Entscheidung zuzuführen. Eine Bündelung von Verknäuelungen als Königsweg sachgerechter Entscheidungen?

Die Toxizität des Schemas hätte man bereits an den Kreditverbindlichkeiten bzw. den gebündelten Schuldverschreibungen erkennen können, deren „Handel“ unter „Banken“ zur Lehmann-Pleite und der Banken-, Vertrauens- und Wirtschaftskrise 2008 führte.

Die aktuelle Krise durch die Sars-CoV-Pandemie, die abermals in eine Vertrauens- und Wirtschaftskrise mündet, beleuchtet erneut die Schwachstellen in unserem gesellschaftlichen Denken und Handeln. Nachdem die Verkarstung infolge des Klimawandels mit dem Abtrag sandig gewordener Oberflächen (für die allzu leicht und glorifizierend ein wind of change verantwortlich gemacht werden wird) einige Wurzeln freigelegt hat, sind diese -im Prinzip- leichter und klarer erkennbar. Eigentlich. Aber nichts hält sich so hartnäckig wie schlechte Angewohnheiten (Bad Habits die Hard).

Das Rechtfertigungs-Credo aller disruptiven Himmelsstürmer. Und sei es in der Bonsai-Variante, einfach mal über den Tellerrand zu denken. Ohne Suppe zu verschütten.

Da werden wir mental in eine vermeintliche Alternativlosigkeit des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs gezwängt, die sich technisch als eine attraktive Herausforderung abzeichnet, aber keineswegs den Charakter einer attraktiven Offerte beinhaltet. Was aber die Protagonisten keineswegs daran hindert, ein solches Blendwerk als geschöntes Zukunftsszenario (ver)zaubernd in ihren Himmel zu projizieren.

In der Fokussierung auf die gewünschten Effekte für die Rettung des weltumspannenden Klimas (deren Notwendigkeit hoffentlich niemand mehr ernsthaft bestreitet) blenden „Aktivisten“ wie „campaigners“ die damit verbundenen Probleme aus. Wenn Sars-CoV-2, SARS und MERS sowieso und NN wie XY in der Zukunft gewiss ebenfalls in der Lage sind, jedweden öffentlichen, gemeint ist: kollektiven Verkehr zu pyknotisieren bzw. implodieren zu lassen, dann ist der ÖPNV offenkundig auf einem Holzweg.

Die ökonomischer Ratio folgende Kondensierung im öffentlichen Raum erscheint denn auch den Strategen bei der Terrorabwehr ein Problem, Epidemiologen bei der Infektions-Prävention und -Bekämpfung und -last wie least- dem liberalhumanistischen Individualisten sowieso. Für ihn gehen hier Blendung und Ausblendung Hand in Hand.

Dabei ist es gerade auch der liberal-humanistische Individualist, der um seines eigenen Vorteils Willen Angehörigen zur „professionellen“ Betreuung den Lebensabend im „Heim“ nahelegt, sobald Einschränkungen ihrer Selbstständigkeit (=Selbstversorgung) eigenes Bemühen erfordern könnten.

Klingt doch gut, -oder?

Schließlich markieren und reflektieren -so könnte/soll(te) man meinen- die hohen Kosten für diese Entscheidung doch ihren Wert. Allerdings kommt dann da ganz unverfroren und jenseits derartiger Wertschätzung ein so gar nicht individuell oder humanistisch agierendes Virus daher und rafft die Wohn- und Lebensgemeinschaft ganzer Heime hinweg, deren Nähe untereinander zum Risiko wurde, weil diese fern der ihnen als nahestehend Zugedachten gelebt wurde.

Rationell. Begründet, auch. Vor allem aber abgewogen in Relation zu den dabei gewonnenen Freiheiten unserer „liberalhumanistischen Individualisten“, dem Outsourcing ehemals als familiärer Verpflichtungen begriffener Inhalte.

Entzerrung hier, Bündelung dort. Klingt böse, -ist böse.

Eine kritische Masse für die Explosion durch eine Infektionsausbreitung. Und gewiss: die Konsequenz wird sein, wie in einem Atomkraftwerk die Zahl und Position der Moderatoren zu verbessern, nicht aber, -analog zur Gefährdung durch Atomkraftwerke- derartige potentielle Gefahrenherde „neu zu denken“ und konsequenterweise abzuschalten. Back to the roots ist offenbar kein akzeptierter Ausweis von Fortschritt; bei der ungezügelten Begeisterung für jede Art von Disruption bleibt ein derartiger Gedanke Restauration, Sinnbild des Rückschritts.

Mit der Stärkung, Förderung und Entwicklung kleiner Einheiten, einer Fokussierung auf unsere gesellschaftlichen Start-ups, die da Familie heißen, werden keine Wahlen gewonnen, auch wenn abgezählte steuerliche Bonbons das vorgeben wollen. Mit der Stärkung, Förderung und Entwicklung von Individuen und Persönlichkeiten und den inhärenten Schwierigkeiten, diese motiviert-konnektiv und integrativ zu einer funktionsfähigen Gesellschaft zu bündeln schon gar nicht.

„Man kann die Menschen zur Vernunft bringen, indem man sie dazu verleitet, dass sie selbst denken“... .

Das, allerdings, klang schon bei Voltaire wie eine Idealvorstellung. Und Idealvorstellungen sind vorwiegend eines nicht: ideal. Mehr eine Vorstellung.

So dominiert das kollektive „Denken“, das da auch Ansichten ohne Über- oder detaillierte Einsicht beinhaltet und sich als eine betreuende Mehrheitsmeinung vom qualifizierten und qualifizierenden individuellen Nachdenken unterscheidet. Da nützt auch das Schwärmen von einer Schwarmintelligenz wenig. Im Kern (und Ergebnis) dürfte dabei die Suche nach dem Gold durch das feinporige Sieben einer großen Grundgesamtheit dem traditionellen Ansatz von Rede, Gegenrede und sich hieraus entwickelndem dialektischen Fortschritt unterlegen sein. Es bedarf der Reibung durch qualifizierte Erörterung, solange der faszinierende, harmonisierende Abstimmungsmodus der Vogelschwarm-Bewegung als Zauber der Natur nicht vollends aufgeklärt und „digital“ gleichermaßen elegant und ruckelfrei nachvollziehbar ist. So lange bleibt „Schwarmintelligenz“ Anmaßung.

Lassen wir uns also nicht blenden und blenden selbst allfälliges Blendwerk aus. Das stählt dann unser Selbst. Und damit lässt sich eine Menge anfangen.

So sehr ich aber ein gefestigtes „Selbst“ schätze und begrüße, so sehe ich doch auch die Gefahren von Selbstüberschätzung.

Ärzte sind nicht nur eine begrenzte Resource, sie sind naturgemäß auch als Individuen nicht dehnbar. Insofern teilen sich ihr Wissen wie Können und Selbstbewusstsein ein Volumen. Wobei früher wohl das Selbstbewusstsein deutlich kleiner war. Inzwischen hat eine 4. Dimension erkennbar expansiv Eingang in diesen dreidimensionalen Raum gefunden: die technischapparative und IT-Seite der Medizin. Wobei das Selbstbewusstsein darunter -gefühlt- keineswegs abgenommen hat. Folglich sind wohl das individuelle Wissen und das persönliche Können arg in die Defensive geraten. Allerdings- und das ist durchaus ein Grund zum Nachdenken- verteidigt auch kaum jemand diese Qualitäten.

Zuviel des Guten

Während in China Zhang Zhan, eine 37jährige Frau, für die Veröffentlichung ihrer kritischen Video-Beobachtungen in Wuhan während der Ausbreitung der Corona-Katastrophe zu 4 Jahren Haft wegen „Unruhestiftung“ verurteilt wird, stolzieren Corona-Leugner, selbsternannte „Reichsbürger“, Aluhutträger, missionarisch geistlos fuchtelnde Impfgegner und andere merkwürdige Erscheinungen durch die freie Welt. Wobei sich „die freie Welt“ einst über die Freiheit des Geistes definierte, die implizit wie explizit Ausdruck in einer verfassungsmäßig garantierten Meinungsfreiheit erfuhr. Eine humanistisch von religiöser wie säkularer Engstirnigkeit, feudaler Ideologie und Willkür befreite und eine rechtsstaatlich geordnete Welt. Diese Mischung hätte sie -eigentlich- von einer freidrehenden Welt unterscheiden sollen.

Aber überdrehte Gewinde drehen nun mal frei. Eine Erfahrung, die in der soliden Mechanik des Handwerks ebenso zuhause ist wie im Sahneschmelz intellektueller Betrachtungen durch die Jahrtausende:

„Aus der Demokratie entwickelt sich, wenn Freiheit im Übermaß bewilligt wird, die Tyrannei“ (Platon) bzw. „In einem Zuviel des Guten steckt der Keim des Bösen, in Patriotismus der bereits immanente Übergang in den Chauvinismus“ (Paul Watzlawick, Lösungen, 1974).

Dieses too much und das overdoing füllen inzwischen den Raum unserer Freiheiten derart aus, dass die Bewegungsfreiheit darin erstarrt scheint. Mehr noch: es entsteht ein Gefühl, als fehle die Luft zum Atmen und Druck auf den Brustkorb beenge dessen Atemexkursionen. Bildung ist daher in erster Linie die Gebrauchsanweisung für Freiheiten, entsprechend auch für unsere Demokratie. Auch ein „MINT“-Fach: die Moralische Introspektion naturgegebener Tatsachen.

Ich vermute da aber neben allfälligen intellektuellen Defiziten auch ein Problem der Wahrnehmung. Eines Erkennens, auf dem Anerkennen fußt. Wir begnügen uns mit flüchtigen Eindrücken, die wir „erkennen“ oder „kennen“, indem wir sie reflektorisch anderen flüchtigen Eindrücken zuordnen. Und dann wundern wir uns, wenn es für eine Anerkennung unserer Lebensumstände oder für unsere Zeitgenossen nicht reicht. Das Erkennen oder Kennen in der Tiefe unter den Schattenrissen unserer flüchtigen Eindrücke benötigt a) Zeit und b) ein durchsiffendes Einsickern impressionistischer Reflektionen als Voraussetzungen aromatisierender Reife.

Das Soufflé

Sars-CoV-2 hat vieles auf den Punkt gebracht. Die Pandemie hat dabei aufgezeigt, welche Schwachstellen, welche Defizite bestehen und was nicht mehr haltbar ist. Ein teilweise verzweifelt anmutender, aber vielfach tatsächlich verzweifelter Ruf nach Lösungen. Gleichzeitig hat die Pandemie aber direkte Lösungen erschwert. Materiell/ökonomisch ebenso wie durch eine Behinderung persönlicher Aktivitäten mit der Reduktion von „manpower“ von gewohnter, gebündelter Kollektivität auf die individuelle Ebene und zusätzlich durch vielfältige Beeinflussung bewährten persönlichen Verhaltens.

Damit tangiert der Gedanke an neue Lösungen, innovative Ansätze und notwendige Konsequenzen aber neben der materiellen Substanz und Ausgestaltung unmittelbar unser Verhalten, unsere Einstellungen, die so gern herumposaunierten „Meinungen“ und die Vielfalt eigener und entsprechend auch verquerer Gedankenwelten. Mit anderen Worten: der zu erwartende Widerstand gegenüber neuen Wegen ist erheblich.

Dabei zeigt sich, dass die bestehenden gesellschaftlichen Veduten unter dem Firnis schon eine Weile bröckeln, während das Bild noch intakt erschien. Das Plus an Beanspruchung durch Sars-CoV-2, ein Stress-Test mit einer bis dato unbekannten, unerwarteten exogenen Noxe, hat etliche Löcher in unser Soufflé gepiekt.

Und wie beim Soufflé sind dabei zwei Dinge gewiss:

1) es kollabiert prompt und 2) die Löcher sind schwer nachvollziehbar. Dass 3) ein Soufflé nicht wieder aufgepustet werden kann, wissen nicht nur Spitzenköche, das weiß jede Hausfrau. Das spricht für einen Neustart. Dafür wären zunächst drei grundsätzliche Fragen zu klären:

1. Von wo aus soll/ kann gestartet werden?

2. Was wäre das Ziel?

3. Was erscheint wiederverwendbar oder unbeschädigt?, -eine Bestandsaufnahme mit einer Bewertung der Substanz.

Eine gewaltige gesellschaftliche Aufgabe. Jede ordentliche Plage -und Sars-CoV-2 ist eine solche Plage- dauert laut Bibel sieben Jahre.

Mal sehen, ob wir da eine verkürzte Form als/durch medizinischen Fortschritt hinkriegen.

Das Problem dabei ist nicht nur der Fortschritt, der per definitionem bestenfalls abgeschätzt werden kann, nicht aber verlässlich kalkulierbar ist; das größere Problem ist das „wir“.

Wenn ich die Zahl der positiven Sars-CoV-2-Befunde in Deutschland in der „2. Welle“ mit denen in England oder Frankreich vergleiche, dann fällt bei uns ein mäßiger Abfall auf, gefolgt von einem weiteren, deutlichen und anhaltenden Anstieg. Diese „Delle der Dummheit“ existiert ebenso in England, nicht aber in Frankreich, weil die getroffenen Maßnahmen dort weder föderal noch opportunistisch-Johnsonesk zerredet, sondern konsequent anstatt (zu) zögerlich umgesetzt wurden. Dem raschen Anstieg der Infektionszahlen folgt dort ein rascher Abfall. Das nennt sich dann wohl timing, -hier: „taming by timing“. Ob eine stärkere Stringenz in der persönlichen Befolgung der verordneten Konsequenzen dahintersteht, bleibt hypothetisch (und durchaus zu bezweifeln). Grundsätzlich, regional, lokal und individuell dürfte dort vermutlich auch nicht weniger schiefgegangen sein, als hierzulande.

Wir können wählen

Wahl oder Entscheidung? Nehme ich heute den schwarzen Hut mit dem gelben Schal oder die rote Mütze mit den grünen Leggins? Wer eine Entscheidung trifft, hat auch (s)eine Wahl getroffen. Wer wählt, unterstützt zwar eine Entscheidung, trifft sie hingegen nicht. Das aber beinhaltet eine gravierende Nebenwirkung: der wählende Bürger ist und fühlt sich auch nicht für die Entscheidung, das Ergebnis dieser Wahl verantwortlich, lediglich für sein eigenes Votum, (s)einen Beitrag, dem entsprechend das Fakultative weitaus stärker innewohnt als das Staatstragende, Definitive.

Eine Entscheidung fällt man. Eine Wahl trifft man.

Auch da wohnt der Entscheidung das Definitive inne, ob es nun gefällt oder nicht.

Politiker betrachten dagegen jede Wahl definitiv als historisch, weltbewegend oder eine Zeitenwende, sind sie doch direkt durch die Entscheidung in ihrem persönlichen Lebensweg betroffen. Daumen hoch, Daumen runter.

Wie in der römischen Arena. Aber der Vergleich hinkt beträchtlich, schließlich sind Politiker kaum noch so etwas wie Gladiatoren. Politiker wollen gestalten. Aber trauen wir Ihnen gestalt-bildende Fähigkeiten zu? Grund genug, sie zu mustern. Da wäre zunächst ihre Gestalt, da sich die Persönlichkeit nicht prima vista erschließt. Schneidig? Apart? Amorph?

Das ist weder Modenschau noch ein Casting und doch dringt hier wie da der gleiche Goldstandard durch: eine Form von Angemessenheit, die zumeist medial als „Authentizität“ geadelt wird. Form vor function. Was aber ist mit ihren tatsächlichen Fähigkeiten? Fachlich, kognitiv, interaktiv, administrativ, menschlich? Und wie steht es um Haltung und Moral?

Wir erkennen: eine Wahl ist weniger eine inhaltliche Entscheidung, sondern ein attributiver Vorschuss an Vertrauen. Und das ist auch gut so, belässt dieses Vertrauen doch der Politik die von ihr benötigten Verhandlungs-, Entscheidungsund Freiräume, die sie benötigt. Für ihr Gestalten.

Der nächste Kanzler*… wird ein Kanzler des Übergangs. Hauptsache, er/sie wird weder ein Übergangskanzler noch ein Kanzler des Untergangs. Aber die Herausforderungen werden ebenso hoch wie die aktuelle Verschuldung und so tief wie die politischen Konflikte, während komplementär die finanziellen Handlungsspielräume und verlässliche politische Mehrheiten geschrumpft sind.

Klingt nach einem Imperativ für Kreativität.

Aber Kreativität inmitten von unabdingbarer Solidität ist ein schwieriges, bisweilen glitschiges Terrain. Da wurden FFP2-Masken zur Pflicht erklärt, bevor genügend lieferbar waren und eine Impfkampagne wird politisch los- und breitgetreten, ohne über die notwendigen Impfstoffmengen annähernd zeitgerecht oder gar in quantitativ vorgegaukeltem Umfang zu verfügen. Das hohe Lied von Wunsch und Wirklichkeit. Dabei geht es um Verlässlichkeit und Gründlichkeit. Einst Charakteristika des uns ritualisiert nachgesagten „deutschen Wesens“ und durch diese schmeichelhafte Berieselung unbewusst -wenngleich längst unberechtigt- verinnerlichte „Eigenschaften“, deren Substanz im Stresstest der Corona-Pandemie so große Defizite offenbart, dass konsternierte Erschütterung, Verzweiflung und Empörung gar nicht wissen, welche Reaktion denn nun dominiert.

Konsequenzen und Spätfolgen zu bedenken wäre Teil politischen und gesellschaftlichen Denkens und Handelns, wohingegen mein Eindruck ist, dass das Denken an sich und insbesondere das positive Denken längst nicht so weit reichen. Was wir brauchen, ist ein positiver Konstruktivismus, easy going all dessen, was den Menschen und gesellschaftlichem Zusammenhalt guttut.

Diesen cut-off oder Schwellenwert nenne ich Niveau.

Sicher, objektiv-technisch und ganz gewiss auch im politischen Handlungsspektrum gibt es ein hohes wie auch ein niedriges Niveau, aber wer in der objektiven Charakterisierung Niveau hat, der erscheint auch als Subjekt auf hohem Niveau. Und dieses Niveau betrachte ich als Schwelle für ein gelungenes Leben. Allerdings auch als Schwelle gelungener Politik.

Erinnern Sie sich noch an die in der Corona-Krise vielfältig medial erfolgten Einblicke in Flure von Altenheimen, Bürogebäuden (oft der öffentlichen Verwaltungen), auch von Kliniken? Spüren Sie noch die Enge dieser Gänge, die den Gang des Alltags beschreiben? Wenn man auf einem Gang nicht einmal 1,5m Abstand halten kann, dann geht die Infektion eben ihren Gang. Wenn auf einem Klinikflur nicht zwei Betten mit einem gewissen Abstand aneinander vorbei geschoben werden können oder die Passage durch Materialständer und -Wagen behindert wird, dann erscheint nicht der Arbeitsablauf reibungslos, sondern womöglich die Übertragungsmöglichkeit.

Die Szene ist überdies nicht neu. Bereits im Mittelalter wurde der Abstand von Betten in den Krankensälen der Spitäler vergrößert, nachdem anhand der beim Patienten im nächsten Bett neu aufgetretenen Flohstiche erkannt wurde, wie weit Flöhe tatsächlich springen können.

Die kontemporären Flure sind nicht nur architektonisch verunglückt, sie sind eine Verunglimpfung der dort Beschäftigten wie auch der sich dort als Patienten oder Bewohner aufhaltenden Menschen und sie sind eine Verhöhnung grundlegender Bausteine der Funktionalität wie der psychischen Gesundheit.

Licht, Luft und eine sich im Raumklima befreit harmonisch ausbreitende Seele erreicht man nicht, indem der schummrige Altenheimflur ein Schild mit der Bezeichnung Seniorenresidenz erhält oder die Rumpelkammer zur Suite umetikettiert wird. Ballung und Verballhornung. Schluss mit derlei Beleidigungen seelischer Ästhetik, menschlicher Bedürfnisse und biologischer Notwendigkeiten!

Asiatische Lebensphilosophie definiert als ein herausragendes Prinzip, keinen anderen Menschen in eine unkomfortable Situation zu bringen. Davon sind wir, auch unsere Architekten und die sie drangsalierenden Sparkommissare der öffentlichen Haushalte offenkundig weiter entfernt, als wir es von Asien sind. Schluss auch mit dem dieses kaschierenden, aber weit darüber hinaus gehenden Etikettenschwindel, den wir kaum noch als solchen realisieren, während wir in ihm ertrinken! Wieviel von einer Sportsendung im Fernsehen ist denn noch Sport? Wieviel ist Werbung, Selbstberauschung und Gedöns?

„Vollwertige Ernährung“? Wär schon gut, wenn wenigstens überall der Teller halb voll wäre. Überall ein wenig einzusparen gilt als „rationell“ oder smart, dabei ist das kumulative Resultat inzwischen allseits erkennbar und überall identisch: es unterschreitet das Niveau des jeweils Angemessenen.

Wobei zwischen angemessen und maßgeschneidert immer noch ein Unterschied besteht.

Voltaire war sich sicher: „wir sind arm, aber mit Niveau“. Ich fürchte, wir sind vergleichsweise wohlhabend, aber dabei überwiegend niveaulos.

Was sich liest wie eine Verzichtserklärung auf Niveau nennt sich wahlweise freier Handel, Marktwirtschaft oder Geschäftssinn. Dumping, nicht nur von Preisen, sondern auch als Austerität gedanklicher Kreativität, und eine Verdummung von Menschen, die nicht einmal mehr Kunden sind, sondern allenfalls Käufer oder „Follower“. Anonymität als Masche.

Splitter. Nicht stilvoll bekleidet, sondern nackt

„Ärzte zweifeln an...“, „Merkel stimmt auf 10 schwere Wochen ein“, „Merkel und Scholz stimmen auf neue Härten ein...“ , Panne hier, Panne da, „Söder fordert...“ .