Wir sind Gedächtnis - Martin Korte - E-Book
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Wir sind Gedächtnis E-Book

Martin Korte

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Beschreibung

Gedächtnis - der Stoff, aus dem unsere Persönlichkeit gemacht ist

Genau 86 400 Sekunden hat ein Tag, und in jeder einzelnen verarbeiten wir Sinneswahrnehmungen, speichern neues Wissen, erinnern uns an Vergangenes, entwickeln viele kreative Ideen und planen unsere Zukunft. Dabei halten wir es für selbstverständlich, dass wir den Alltag meistern, ohne von der Informationsflut überwältigt zu werden. Dass uns dies gelingt, verdanken wir einer Meisterleistung der Natur: unserem Gedächtnis.

Der Hirnforscher Martin Korte nimmt Sie mit auf eine Reise ins Epizentrum Ihres Ich-Bewusstseins. Er zeigt, wie vielfältig das Gedächtnis unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wandelbar unsere Erinnerungen sind, die bei jedem Abrufen neu konstruiert werden. Er erläutert die unbewussten Seiten des Gedächtnisses, die etwa unsere Intuition und Routinehandlungen steuern, und erklärt, warum Schlaf und Vergessen so essentiell für unsere Gedächtnisprozesse sind. Kortes These ist: Erinnerungen sind nicht nur eine Anhäufung von Wissen und Einzelheiten unserer Autobiographie, sondern der Stoff, aus dem unsere Identität gemacht Anders gesagt: Wir Menschen sind unser Gedächtnis – und unser Gedächtnis sind wir.

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Seitenzahl: 476

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Martin Korte

in Zusammenarbeit mit Gaby Miketta

Wir sind Gedächtnis

Wie unsere Erinnerungen bestimmen, wer wir sind

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2017 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © Lightspring/shutterstock

Gestaltung: DVA/Andrea Mogwitz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Gesetzt aus der Minion Pro

ISBN 978-3-641-16318-1V002

www.dva.de

»Eine große Kraft, ist das Gedächtnis, mein Gott, voll unergründlicher, unzähliger Fälle, und so ist meine Seele und so bin ich selbst.«

Augustinus, Bekenntnisse

Meinen Eltern,

die mir weit mehr für

das Leben mitgegeben haben

als schöne Erinnerungen

an die Kindheit!

Inhaltsverzeichnis

EinleitungIm Kopf die ganze Welt

Kapitel 1Wie wir werden, wer wir glauben zu sein – über das autobiographische Gedächtnis

Wie wir wurden, wer wir sind

256 Gedächtnissysteme und keine singuläre Festplatte

Hirnorganische Grundlagen des autobiographischen Gedächtnisses

Alice im Hippocampus-Land

Gedächtnis ist ein Vorgang, kein Ort

So entsteht aus einer Abfolge von Erinnerungen ein autobiographisches Erlebnis

Tief ist der Brunnen der Vergangenheit: Kindliche Amnesie

Ich-Erzähler im Kopf

Die Schöpfung: Erinnerungen als Produkt der Gedächtniswerkstätten

Jetztzeit und vergangene Zeit sind voneinander untrennbar

Auf der Suche nach den Erinnerungen

Die Tugenden der Gedächtnissünden

Realität, Wirklichkeit und Gedächtnisprozesse

Kapitel 2Gewohnheiten, Routinen und Süchte

Die Macht des Unbewussten, ganz Freud-los erzählt

Gewohnheiten aufdecken

Einteilung des impliziten Gedächtnisses

Unser motorisches Gedächtnis

Priming: Der Autofokus des Gedächtnisses

Wahrnehmungsgedächtnis

Neurobiologie der Gewohnheit

Neuronale Entzauberung der Gewohnheitsbildung im Gehirn

Symphonie der Gewohnheit: Zusammenspiel der Gehirnareale

Intuition: Das Gute im schnellen Gedächtnis

Mustererkennung als Erinnerungsprozess

Vorurteile: Das Verheerende im schnellen Gedächtnis

Wie kann man Vorurteile in ihrer Macht einschränken?

Sucht: Das perfekte Gedächtnis zum schlechten Grund

Drogensucht: Wenn Synapsen nicht vergessen können

Adipositas: Angelernte Sucht unmäßig zu essen

Heimtückische Gewohnheiten überlisten

Fast alles fängt im Kopf an und hört im Kopf auf

Kapitel 3Neuronale Paläste der Erinnerung

Neurone als Gedächtnisagenten

Kontaktbörsen als zelluläre Lernorte

Vom Kurz- zum Langzeitgedächtnis

Der Speicher wächst mit seiner Fülle

Neuronales GPS als Matrize für das autobiographische Gedächtnis

Déjà-vu neuronal beleuchtet

Re-Konsolidierung: Erinnern heißt auch neu abspeichern

Zelluläre Grundlagen einer Sucht – oder von Synapsen in Beton

Kapitel 4Ein Traum wird wahr: Lernen im Schlaf

Warum wir schlafen

Schlafen in Phasen: Der Schlafrhythmus

Im Schlaf lernen

Lernen, schlafen, besser lernen

Speedtraining im Schlaf

Der Schlaf als Lerncoach

So lernen Musiker

Nächtliche Umbauprozesse

Luzide Träume als Lernräume

Vorurteile im Schlaf verändern

Tagträume

Warum wir träumen

Schattenbilder des Gedächtnisses

Gesunder Schlaf steigert die Gedächtniskraft

Kapitel 5Kreativität und Wissen: Geschwister, nicht Feinde!

Brüder im Geiste

Was ist Kreativität?

Experte ist man nicht, Experte wird man

Können alte Menschen noch kreativ sein?

Rechts versus links: Hirnkunde der Kreativität

Kreativität steckt im Zusammenspiel der Netzwerke des Gehirns

Drei kreative Netzwerke

Neuronale Anspannung und Lockerung

Kreativität und Plastizität

Aha-Moment in der neuronalen Momentaufnahme

Vorwissen ist notwendig, aber nicht hinreichend

Heureka-Rufe im Gehirn!

Nicht nur Not, auch Dopamin macht erfinderisch

Kreative Menschen haben unordentliche Gehirne und komplexe Persönlichkeiten

Gefühle beeinflussen Kreativität

Schule und Kreativität

Was tun? Ihr persönliches Training, um kreativ zu werden

Dreizehn Strategien zum kreativen Denken

Kapitel 6Müssen wir noch wissen? Von myMemory zu iMemory

Neuronale Zerwürfnisse in digitalen Zeiten

Was macht das World Wide Web mit dem Gehirn?

Wie viel Multitasking verträgt unser Gedächtnis?

Denken dank neuronaler Melodien

Die Leiden des jungen Arbeitsgedächtnisses

Machen uns digitale Medien klüger?

Wozu (noch) wissen müssen?

Wissen selbst erarbeiten

Informationelle Selbstbestimmung

Filterblasen und Hallräume des Wissens

Wider die kollektive Gedächtnisverformung

Externe Gedächtnisspeicher

Werden wir je einen Backup unseres Gedächtnisses machen können?

Kapitel 7Unzeitgemäße Betrachtungen über die Kunst des Vergessens

Entschlüpftes Vergessen

Wenn man nicht vergessen kann: Hyperthymesie

Vergessen als Spamfilter

Über die Schrecken des Gedächtnismachens

Ein Gedächtnisgefängnis ohne Vergessen: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Therapien der Gedächtniskrankheit: Erinnerung, lass nach!

Gewolltes Vergessen durch Re-Konsolidierung?

Eine Pille gegen das Traumagedächtnis?

Narben der Erinnerung

Kapitel 8Gedächtnisdiebe

Wie von Motten zerfressen

Diebstahl am kollektiven Gedächtnis

Geschichten als Gedächtnisspeicher

Phantasie und Gedächtnis – ein ineinander verflochtenes Band

Alzheimer-Erkrankung

Täterprofil: Wer sind auf molekularer Ebene die Gedächtnisdiebe?

Meine Sicht auf eine persönlichkeitsraubende Erkrankung

Risikofaktoren

Existiert eine Gedächtnis-Diebstahlversicherung?

Hat selbst die Alzheimer-Demenz ein romantisches Herz?

Kapitel 9Training, Tricks, Techniken: So bleibt das Gedächtnis agil

Der Beginn der Gedächtniskunst

Wie man Gedächtnis-Weltmeister wird

Neues aus Lerntopia: Büffeln geht anders!

Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung

Schlaf und Lern-Pausen-Nickerchen

Lernroutinen auch immer wieder ändern

Lernen mit Unterbrechungen

Man kann nur, was man auch tut

Ein gutes Gedächtnis muss auch selektiv sein

Motivation

Neuro-Enhancement: Doping fürs Gedächtnis

Essen statt Büffeln: Warum gesundes Essen allein nicht schlau macht – aber hilft

Literaturhinweise

Rechtenachweis

Einleitung

Im Kopf die ganze Welt

»Wenn eine unserer Gaben noch großartiger als die anderen genannt werden kann, dann ist es, finde ich, das Gedächtnis. Es liegt etwas Verräterisches darin, dass die Stärke, das Versagen, die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses so viel unbegreiflicher sind als die all unserer anderen Geisteskräfte. Das Gedächtnis ist manchmal so verlässlich, so nützlich, so gehorsam und manchmal so verwirrt und so schwach und dann wieder so tyrannisch, so unkontrollierbar! Wir sind zwar in jeder Hinsicht ein Wunder, aber unsere Fähigkeit, zu erinnern oder zu vergessen, erscheint mir ganz besonders unerklärlich.«

Jane Austen, Mansfield Park

Genau 1440 Minuten hat ein Tag, das sind 86400 Sekunden, und in jeder Minute, in jeder Sekunde eines solchen Tages verarbeitet unser Gehirn eine Unmenge an Sinnesinformationen. Wir reden, lachen, weinen; unterhalten uns mit dem Bäcker, mit unseren Kindern oder mit Freunden, wir treiben Sport oder wir denken an Vergangenes und planen die Zukunft. Hierbei machen wir immerzu neue Erfahrungen und lernen auch immer wieder etwas Neues. Selbst wenn wir schlafen, wird am Tage Gelerntes abgespeichert. Von der Schwierigkeit dieser Prozesse merken wir meist nichts. Dabei muss das Gehirn nicht nur einen kontinuierlichen Fluss an Sinneseindrücken verarbeiten, sondern auch gleichzeitig Neues speichern und Altes erinnern, ohne dabei von der Informationsflut der uns umgebenden Welt überwältigt zu werden. Dass uns dies gelingt, verdanken wir einer Meisterleistung unseres Gehirns: unserem Gedächtnis.

Weitere Zahlen helfen, zu belegen, wie riesig die Aufgabe ist, die das Gehirn zu bewältigen hat: Statistisch fahren Menschen 58-mal in ihrem Leben in den Urlaub und lernen 1700 Menschen näher kennen, sie lesen 2100 Bücher und sehen 5800 Filme; wir lernen sprechen, gehen, Auto und Rad fahren, kochen, waschen, neue Sprachen, einen Computer zu bedienen, Kinder zu erziehen und vieles mehr. Hinzu kommen Schul- und Ausbildungswissen sowie Berufserfahrung. All das und noch viel mehr will gespeichert und erinnert werden in unserem Gehirn, das gerade einmal 1350 Gramm wiegt und über eine Energieleistung von 30 Watt verfügt – das entspricht der einer schwach dimmenden alten Glühbirne.

Was wir an unserem Gedächtnis haben, merken wir erst, wenn es uns im Stich lässt. Tatsächlich muss man sich die Fähigkeit des Erinnerns nur einmal ganz konsequent wegdenken, um sich darüber klar zu werden, dass wir, wie Dieter E. Zimmer einmal geschrieben hat, ohne diese magische Fähigkeit des Gehirns, ohne unsere Fähigkeit, das, was gewesen ist und nicht mehr ist, in uns festzuschreiben, nichts anderes wären als Steine.

Immanuel Kant hat den Raum und die Zeit als die Grundsätze des Denkens festgelegt, ohne sie können wir uns unser Dasein nicht denken. Beide sind vor allem Domänen unseres Gedächtnisses: Sich im Raum zu orientieren, überhaupt räumliche Bezüge herstellen zu können, ist eines der ersten Charakteristika unseres Gedächtnisses. Und auch die Fähigkeit, Dinge aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen, macht uns aus. Denn nur so können wir die Zukunft planen.

An irgendeinem Punkt unserer evolutiven Geschichte haben wir die Fertigkeit entwickelt, ein Ereignis zeitlich zu markieren. Sie ermöglicht es uns, zwischen Aktion und Reaktion zu unterscheiden und kausale Bezüge herzustellen. Erst dieser Schritt der kognitiven Entwicklung erlaubte es uns, rückwärts in der Zeit zu reisen ebenso wie Vorhersagen über die Zukunft zu wagen. Fortan vermochte unsere Spezies kulturelle Artefakte zu schaffen, etwa in Form von Höhlenmalereien, die in Spanien, Italien, Frankreich und auch in Deutschland zu finden sind. Sie sind bis zu 40000 Jahre alt. Es sind Zeugnisse, die die Zeit überdauern sollten und die versuchten, die Welt verstehbar zu machen. Ohne Zeitempfinden (dessen Voraussetzung unser Gedächtnis ist) würden wir in einer bedeutungslosen Gegenwart leben. Wir wären Gefangene der Gegenwart und würden eine der zentralen Säulen unserer intellektuellen Orientierung verlieren, die Augustinus so beschrieben hat:

»Das ist nun wohl klar und einleuchtend, dass weder das Zukünftige noch das Vergangene ist. Eigentlich kann man gar nicht sagen: Es gibt drei Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, genau würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber nehme ich sie nicht wahr. Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung. Wenn es uns gestattet ist, so zu sagen, so sehe ich allerdings drei Zeitunterschiede und gestehe, dass es wirklich drei gibt.«

Unser Gedächtnis: Der Stoff, aus dem unser Selbst gemacht ist

Unsere Erinnerungen sind nicht nur eine Akkumulation von Fakten und Schulwissen, nicht nur Datenpunkte auf unserer Lebenslinie oder Einzelheiten unserer Autobiographie. Sie sind viel mehr: Sie sind der Stoff, aus dem unser Selbst gestrickt ist, in dem unsere Erlebnisse und Erfahrungen ebenso verwoben sind wie unsere Gewohnheiten und Gefühle. Das gesunde Gedächtnis ist ein Meister im Spinnen, Weben und Vernetzen. Erst das Gedächtnis stattet uns mit einer individuellen Persönlichkeit und mit einer Ich-Perspektive aus und lässt uns dadurch zu kulturellen Wesen werden mit einer Identität in der Welt, in der wir leben. Anders gesagt: Wir Menschen sind unser Gedächtnis – und unser Gedächtnis sind wir.

Unser Gedächtnis arbeitet dabei meist wie ein verdeckter Ermittler – sozusagen undercover: Es verrichtet seine Arbeit im Verborgenen. Vieles von dem, was wir abspeichern, wie Erinnerungen unsere aktuellen Wahrnehmungen beeinflussen und wie sehr die Gedächtnisprozesse unsere Zukunftsplanung bestimmen, wird uns nicht bewusst. Wir bemerken unser Gedächtnis immer nur dann, wenn es mal nicht funktioniert, und das ist in einem gesunden Gehirn erstaunlich selten der Fall.

Verborgen bleibt auf ewig auch der Beginn unseres eigenen Lebens, denn die ersten dreieinhalb Jahre unseres Lebens gehen uns verloren, wir erinnern sie einfach nicht. Und dies kann ebenso für die letzten Jahre des Lebens gelten, wenn Menschen an Erkrankungen des Gedächtnisses leiden, wie z. B. der Alzheimer-Demenz.

Auch für den Schriftsteller Vladimir Nabokov ist die Erinnerung, unser Gedächtnis, zentral, er macht sie zum Titel seiner Autobiographie: Erinnerung, sprich. Sie beginnt mit den Worten: »Die Wiege schaukelt über einem Abgrund.« Nabokov fährt mit allgemeinen Überlegungen fort, von denen er weiß, dass sie von älteren Menschen gerne ausgeblendet werden: »… und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist. Obschon die beiden eineiige Zwillinge sind, betrachtet man in der Regel den Abgrund vor der Geburt mit größerer Gelassenheit als jenen anderen, dem man (mit etwa viereinhalbtausend Herzschlägen in der Stunde) entgegeneilt.«

Durch die Grenzen des menschlichen Lebens werden die individuellen Augenblicke nicht besonders kostbar, sondern entwertet: »Die Natur erwartet vom erwachsenen Menschen, dass er die schwarze Leere vor sich und hinter sich genauso ungerührt hinnimmt wie die außerordentlichen Visionen dazwischen. Die Vorstellungskraft, die höchste Wonne des Unsterblichen und Unreifen, soll ihre Grenzen haben. Um das Leben zu genießen, dürfen wir es nicht zu sehr genießen.«

Nabokov wird die Erinnerung zum Akt der Auflehnung, zum Streik wider die Natur. Die Vorstellungskraft, auch die Triebfeder aller Künste, wird erst durch die Erinnerung ermöglicht. Nabokov beschreibt diese vorgestellte, erinnerte Welt als einen unschätzbaren Wert – und damit stimme ich vollständig überein.

Jetzige Zeit und vergangene Zeit

Sind vielleicht gegenwärtig in künftiger Zeit

Und die künftige Zeit enthalten in der vergangenen.

Ist alle Zeit auf ewig gegenwärtig

Wird alle Zeit unerlösbar.

Was hätte sein können ist eine Abstraktion

Und bleibt als unentwegte Möglichkeiten bestehn

Nur in einer Welt spekulativen Denkens.

T. S. Eliot, »Vier Quartette«

Anders als bei Nabokov werde ich im Weiteren schildern, dass diese Gedächtnisfähigkeiten des Gehirns nicht wider unsere Natur sind, sondern unser Wesen ausmachen. Vergangenes erinnern zu können ist keine Auflehnung gegen die Natur, sondern es ist ein integraler Bestandteil unserer menschlichen Natur – und gleichzeitig ein Wunderwerk der Evolution: Wo doch der Zeitpfeil der physikalischen Welt nur in eine Richtung zeigt, nämlich in die Zukunft, und der Zeitpfeil für Lebewesen nur in Richtung Vergänglichkeit, können wir mit unserem Gedächtnis in jede beliebige Richtung Zeitreisen unternehmen. Wir brauchen nur die Augen zu schließen, um uns an gestern zu erinnern oder an Erlebnisse, die lange vorüber sind und sich tief in unseren Gedächtnisgräben versteckt haben.

Wir wären nicht wir ohne unser Gedächtnis. Erinnerungen bestimmen, wer und was wir sind, und auch was wir mit anderen teilen. Ohne unser Gedächtnis bleibt nichts von uns als Person übrig – sogar unsere sozialen Bezüge gehen verloren. Entsprechend ist das Gedächtnis ein Schatz, den man hegen und pflegen sollte, und das können wir, je besser wir das Gedächtnis verstehen. Das Problem dabei ist: Das Gedächtnis hat keinen festen Sitz, keinen ihm zugewiesenen Platz im Gehirn. Vielmehr ist unser Gehirn in seiner Gesamtheit ein Gedächtnisspeicher, ein Aufbewahrungsort, der sowohl für den Erwerb von Wissen – und somit Lernen – als auch für den Abruf zuständig ist und dessen Datenprozessierung maßgeblich durch die Erfahrung geprägt ist. Um es in einem Bild zu sagen: Unser Gehirn ist der Acker, um Neues zu lernen, und die Ernte, die es einfährt, ist der Gedächtnisvorrat (Erinnerungen). Dieser Speicher wiederum nährt unser erworbenes Wissen über die Welt, über Abläufe und Wahrnehmungen sowie zukünftige Handlungen – es erwirbt, speichert und ruft ab mit denselben Gehirnstrukturen. Gedächtnis und Gehirn sind untrennbar miteinander verwoben.

Den neuronalen Gedächtnisdschungel durchdringen

Versucht man wissenschaftlich zu verstehen, was in unseren Gehirnen passiert, wenn wir etwas abspeichern oder erinnern, wird es schnell komplex. Selbst für Fachleute ist es schwierig, den neuronalen Dschungel des Gedächtnisses und des Erinnerungsvermögens zu durchdringen. Und doch haben Neurowissenschaftler in den letzten Jahrzehnten hier Ungeheures geleistet. Um diese Fortschritte der Erkenntnis – die eben auch Erkenntnisse über uns als Menschen sind – soll es in diesem Buch gehen.

In dem Bemühen, das Gehirn zu verstehen, zeigt sich: Weder wir als Personen noch die Funktionalität des Gehirns lassen sich ohne das Gedächtnis verstehen – in dem Sinne, dass unsere Erinnerungen mit den neuronalen Prozessen in unseren Gehirnen verwoben sind. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. In der Computersprache würde man sagen, dass man die Hardware von der Software nicht unterscheiden kann, da sich das, was wir erleben und lernen, von den ersten Verschaltungsebenen bis zur höchsten Exekutivebene des Gehirns auswirkt auf die Art, wie das Gehirn mit neuen, alten und zukünftigen Informationen umgeht. Das Gehirn gibt es somit gar nicht, da sich das neuronale Substrat durch Gedächtnisprozesse ständig verändert. Ein individuelles menschliches Gehirn lässt sich nur verstehen, wenn man neben seiner genetischen Veranlagung auch seine individuelle (ontogenetische) Entwicklung berücksichtigt, also all unsere individuellen Erfahrungen und Erlebnisse.

Wenn man einen Computer bauen müsste, der über eine Speicherkapazität verfügt, die dem entspricht, was Menschen über eine Zeitspanne von achtzig oder neunzig Lebensjahren in ihrem Gedächtnis ablegen, so müsste dieser mindestens ein Datenvolumen von einem Petabyte (= 1000 Terabyte bzw. 1000000 Gigabyte, respektive fast 2,5 Millionen CDs) haben, wie Wissenschaftler um den Neuroinformatiker Terry Sejnowsky vom Salk Institute in Kalifornien aktuell im Jahre 2016 errechnet haben.

Dabei ist unser Gedächtnis keineswegs genial, selbst wenn es mächtig ist und mehr kann, als wir gemeinhin merken. Es ist nämlich auch fehleranfällig und fragil. Schon kleinste Ausfälle können dramatische Folgen haben. So jedenfalls zeigt es das Beispiel von David, einem Patienten des berühmten amerikanischen Neurologen Vilayanur Ramachandran. David litt an dem sogenannten Capgras-Syndrom: Normalerweise erkennen wir einen vertrauten Menschen, etwa die Ehefrau oder den Ehemann, in all seinen Wesenszügen und können ihn eindeutig als denjenigen Menschen bestimmen, den wir kennen. Ist aber – etwa infolge eines Schlaganfalls oder einer Viruserkrankung – ein kleines Areal im limbischen System, das Gefühle verarbeitet und generiert, zerstört, verbindet sich die Erinnerung an eine Person nicht mehr mit dem Gefühl des Vertrautseins. So glaubt David, dass seine Frau ein CIA-Agent ist, der sich verkleidet hat wie sie und sie perfekt imitiert. Die Tatsache, dass die Räderwerke des Gedächtnisses nicht perfekt ineinandergreifen, trifft die Betroffenen mit voller Wucht. Eine winzige Stellschraube ist anders – und schon wird uns ein Teil des Lebens wie ein Teppich unter den Füßen weggezogen.

Der Homo sapiens: Keine Tabula rasa, aber durch und durch ein Kulturwesen

Wir sind weder rein biologisch verstehbare Wesen noch sind wir reine Kulturwesen. Wir sind weder genetisch determiniert noch werden wir als unbeschriebenes Blatt (Tabula rasa) geboren. Die Forschung der letzten Jahre zeigt, dass wir viel stärker durch das geprägt werden, was wir erleben, erlernen und abspeichern, als das, was uns die genetische Ausstattung mitgibt. Natürlich gibt es in Form unserer genetischen Ausstattung als Spezies Mensch schon einige »Gedächtniseinträge« im Buch des Lebens. Wer aber die Frage »Was ist der Mensch?« (Ecce homo?) beantworten will, der muss unsere Gedächtnisfähigkeit verstehen, denn es ist das Gedächtnis, welches die Biologie mit der Kultur verknüpft, wenn man so will nature (Natur) mit nurture (Erfahrungen) verkittet. Es ist unser Gedächtnis, das uns als Individuen ausmacht, uns mit anderen Menschen verbindet, Kulturen entstehen lässt, persönliches und kollektives Gedächtnis zu einem Band verwebt, das die Menschheit – und auch ihre Geschichte – darstellt.

Auch der Anthropologe David Bidney stellt unsere Fähigkeit, zu lernen und als Kulturwesen ein überragendes Gedächtnis zu haben, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: »Der Mensch ist von Natur aus ein kulturelles Tier, welches sich selbst kultiviert, reflektiert und sich selbst konditioniert, welches sein volles natürliches Potential nur im kulturellen Kontext entwickelt. Im Unterschied zu anderen Tieren, deren Entwicklung vor allem durch ihre biologische Veranlagung limitiert ist, ist der Mensch ein zu einem großen Teil sich selbst formendes Tier, welches dadurch das größte Spektrum an Fähigkeiten besitzt!«

Eine Reise in die weite Gedächtniswelt

Wie könnte man eine Forschungsreise in die Welt des Gedächtnisses besser beginnen als bei uns selbst. In Kapitel 1 geht es entsprechend um unser autobiographisches Gedächtnis. Wir sind das geworden, was wir sind, durch das, was wir erlebt, erfahren und gelernt haben. Allerdings rufen wir dabei nicht einen Film aus unserer Gedächtnisbibliothek ab, sondern re-konstruieren, was wir einst erlebt haben in dem Moment, in dem wir es erinnern. Das ist extrem effizient, aber auch fehleranfällig – zum einen sind wir viel weniger Herr im Haus, als wir denken, und als »Architekten« unterlaufen uns hier immer wieder Konstruktionsfehler. Können wir unseren Erinnerungen wirklich trauen?

In Kapitel 2 tauchen wir in die Unterwelt unseres unbewussten Gedächtnisses ein, denn auch unsere Gewohnheiten, Routinen, ja auch unsere Bauchgefühle (Intuitionen) gehören in die Gedächtnissphäre, die ebenso Teil von uns ist wie Vorurteile und Süchte. Dieses Kapitel will vor allem die unsichtbare Seite unseres Gedächtnisses ins Licht rücken. Wir sind in einem viel stärkeren Maß in unseren Handlungen, Entscheidungen und in der Art, was wir wahrnehmen und erleben, durch das geprägt, was wir im Gewohnheitsgedächtnis abgelegt haben.

Im 3. Kapitel geht es um das Verbindende zwischen den beiden Welten des unbewussten und des bewussten Gedächtnisses: Es ist die Arbeitsweise der Neurone, die auf wundersame Weise in der Lage sind, Vergangenes festzuhalten, indem die Signalübertragung zwischen Nervenzellen verändert werden kann. Lernen führt zu strukturellen Anpassungen, die den Schaltplan des Gehirns verändern. Lernen bedeutet ein weit größeres Maß an Baumaßnahmen im Gehirn, als man dies bisher vermutet hat, und das Kapitel möchte aufzeigen, nach welchen Mechanismen diese plastischen Veränderungen im Gehirn vonstattengehen.

Und noch etwas verbindet die verschiedenen Gedächtnissysteme, und darum soll es in Kapitel 4 gehen: Wir lernen im Schlaf. Tageserlebnisse und Fakten werden des Nachts dauerhaft gespeichert, ebenso wie Routinen und Gewohnheiten weiter geübt werden. Dieses Kapitel ist nicht zuletzt ein großes Plädoyer für die bisher verkannte und vernachlässigte Seite unseres nächtlichen Lebens: Schlaf ist kein Luxus, sondern essentieller Bestandteil unseres Lebens, und vor allem im Hinblick auf das Gedächtnis sollten wir ihn viel besser pflegen, als wir dies gemeinhin tun.

Oft werden Wissen und Kreativität als Feinde gesehen. Neues kann nur entstehen, wenn man sich von der Last alten Wissens befreit, so ein weit verbreitetes Vorurteil. Das 5. Kapitel wird argumentieren, dass es sich bei Wissen und Kreativität eher um Partner als um Gegner handelt. Keine Kreativität ohne Gedächtnis. Das Kapitel möchte auch zeigen, wie wir mit Hilfe unseres Gedächtnisses unsere Kreativität steigern können.

Was machen die digitalen Medien mit unserem Gedächtnis? Kapitel 6 geht der Frage nach, wie wir digitale Medien optimal nutzen können, um aus ihnen Gewinn zu ziehen. Und das Kapitel beschäftigt sich auch damit, ob wir überhaupt noch etwas »wissen« müssen in Zeiten gigantischer Datenanhäufungen in den unendlichen Welten des Internets. Oder führen die Müllberge an Information eher zu einer globalen Amnesie – Gedächtnisverlust durch eine Informationsüberlast?

Vergessen ist lästig, aber doch ein integraler Bestandteil unseres Gedächtnisses und damit unseres Denkens, ja möglicherweise sogar unserer Kultur. Was ist, wenn man nicht vergessen kann, was man vergessen möchte, vor allem hinsichtlich traumatischer Erfahrungen? Denn auch Traumata sind eine Krankheit des Gedächtnisses, in dem Fall das Nicht-vergessen-Können. Dieses und andere Themen, auch im Zusammenhang mit posttraumatischen Stresssyndromen, werden in Kapitel 7 behandelt.

Noch dramatischer geht es in Kapitel 8 zu: Es versucht aufzuzeigen, was mit einem Menschen passiert, dem »molekulare Diebe« sein Gedächtnis rauben, wie dies bei der Alzheimer-Erkrankung der Fall ist. Das Kapitel versucht auch Antworten auf die Frage zu geben, was wir unternehmen können, um unser Gedächtnis in jeder Lebensphase fit und flexibel zu halten, und die Risikofaktoren für einen »Einbruch« von Gedächtnisdieben in unseren Kopf zu benennen.

Zu guter Letzt soll es eher heiter zugehen. Was kann man tun, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen? Wie müsste man richtig und effektiv lernen? Überraschende Einsichten der neuen Lernforschung könnte man das nennen, die in Kapitel 9 zeigen, warum es sinnvoll sein kann, erst eine Prüfung abzulegen und dann zu lernen, warum man immer an einem anderen Ort lernen und das Lernen abbrechen sollte, bevor es beendet ist. Es geht darum, vom »Lern-Absurdistan« zu einem »Lerntopia« zu gelangen, und das Kapitel hat den Anspruch, hier konkrete Anregungen zu geben.

»Wir leben nicht, um zu glauben, sondern um zu lernen«, lautet eine Weisheit des Dalai Lama. In diesem Sinne freue ich mich, dass Sie mich auf der Reise durch dieses Buch, welches dann auch ein Bestandteil Ihres Gedächtnisses wird, begleiten.