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1040 Griechen, Geschäftsleute, Arbeiter, Taxifahrer, Studenten, zwischen 14 und 60 Jahre alt, meist aus den 'roten' Stadtvierteln Athens, Dourguti und Vyronas, wurden am 7. und 9. August 1944 bei blutigen Razzien von der SS und griechischen kollaborationistischen Sicherheitsbataillonen aufgegriffen und in das im Herbst 1943 eingerichtete KZ Chaidari bei Athen verschleppt. Am 16.8.1944 wurden sie ins Deutsche Reich transportiert. 382 Zwangsarbeiter aus diesem Transport kamen auf den Nachtjägerflugplatz Hailfingen und von dort auf andere Militärflugplätze. Eine Gruppe von etwa 200 kam in das Untertageprojekt Hecht/Rubin in Geislingen an der Steige, andere sollten im Raum Mannheim Anlagen der Reichsbahn in Stand halten und reparieren. Die Verfasser haben vier Tagebücher griechischer Zwangsarbeiter ausfindig gemacht und ausgewertet. Sie enthalten eine ausführliche Beschreibung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in diesen NS-Projekten und informieren - durch aufwendige Recherchen ergänzt - über die Geschichte der griechischen Zwangsarbeiter, einer nationalen Gruppe, die weitgehend unerforscht ist.
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Seitenzahl: 846
Veröffentlichungsjahr: 2022
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VORWORT
VON GÖRLITZ BIS GEISLINGEN Griechische Arbeiter im Deutschen Krieg, 1917-18 und 1941-45
von Hagen Fleischer
DIE DEPORTIERTEN Widerstandsbekämpfung und Deportation von Arbeitskräften im besetzten Griechenland im Sommer 1944
Dr. Iason Chandrinos, Habilitand, Universität Regensburg
ΙΆΚΩΒΟΣ ΖΆΚΆΡΙΆΝ / IAKOVOS ZAKARIAN / JACQUES ZACKARIAN
Aus dem Tagebuch des Iakovos Zakarian
Übersetzung von Dennis Püllmann und Ourania Kougioumtzidou
EΔΟΥΆΡΔΟΣ ΡΟΚ-ΤΆΜΠΆΡΟΦΣΚΗ / EDUARD ROCK-TABAROWSKI
Wir hatten nur drei Tote
ΠΆΥΛΟΣ ΜΩΤΟΣ / PAVLOS MOTOS
Übersetzung Iasonas Chandrinos, Ourania Kougioumtzidou
ΘΕΟΦΆΝΗΣ ΟΡΦΆΝΟΣ / THEOFANIS ORFANOS
Videointerview mit Theofanis Orfanos, transkribiert und übersetzt von Johanna Rost
ΙΩΆΝΝΗΣ ΓΚΟΥΤΆΣ / IOANNIS GOUTAS Die Odyssee des Ioannis Goutas
Übersetzung Theodora Thomas-Tsoka, Ourania Kougioumtzidou und Theo Susso
ΝΙΚΟΛΆΟΣ ΠΆΠΆΔΟΠΟΥΛΟΣ / NIKOLAOS PAPADOPOULOS
Das Tagebuch des Nikolaos Papadopoulos
Übersetzung von Dennis Püllmann
ΝΙΚΟΛΆΟΣ ΣΚΆΛΤΣΆΣ / NIKOLAOS SKALTSAS
ΠΆΝΆΓΙΩΤΗΣ ΆΔΆΜΆΚΟΠΟΥΛΟΣ / PANAGIOTIS ADAMAKOPOULOS
DIE „MANNHEIMER GRUPPE“
BIBERACH / OGGELSHAUSEN
REPATRIIERUNG
DIE TOTEN
DIE FLUGPLÄTZE
Hailfingen
Deckenpfronn
Mötzingen
Neuhausen ob Eck
Mengen
DIE RÜSTUNGSPROJEKTE
Das Projekt Steinbutt
Projekt Hecht/Rubin im Eybachertal bei Geislingen
NAMENSLISTE DES TRANSPORTS VOM 16. AUGUST 1944
PERSONENREGISTER
QUELLEN
LITERATUR
DANK
Die Recherchen zum Militärflugplatz Hailfingen begannen vor 20 Jahren. In dem Lagerkomplex Hailfingen/Tailfingen waren insgesamt etwa 2000 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter untergebracht. Im November 1944 wurde ein Natzweiler zugeordnetes KZ-Außenlager eingerichtet. Die im Staatsarchiv Ludwigsburg in den Akten des Hechinger Prozesses gefundene Namensliste der 600 jüdischen Häftlinge im sog. Natzweiler-Nummernbuch1 stellte die Basis für alle weiteren personenbezogenen Recherchen der letzten Jahre dar. Zunächst standen diese Recherchen im Vordergrund.
Die Suche nach Informationen zu den nichtjüdischen Häftlingen war schwierig, da zu diesen zunächst keinerlei Namenslisten auffindbar waren und die Quellenlage sehr schlecht war.
Über die 80 bis 100 sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Herbst 1944 nach Hailfingen kamen, konnte erst etwas herausgefunden werden, nachdem 2019 einer der in Hailfingen getöteten Häftlinge identifiziert werden konnte.2
Ähnlich war es mit den etwa 300 „indischen“ Kriegsgefangenen der British Army, die im März 1945 auf den Flugplatz kamen. Auch hier war eine 2017 entdeckte Sterbemeldung die Spur.3
Etwas mehr Informationen hatten wir über die griechischen Zwangsarbeiter. Eduard Rock-Tabarowski/Edouard Tambaroskis (1928 bis 2013) war von August 1944 bis April 1945 mit seinem Halbbruder Jakob/Jakovos Zackarian (geboren 1920) auf dem Flugplatz. Er kam nach seiner Repatriierung zurück nach Deutschland, wohnte in Herrenberg und später in Leonberg-Gebersheim und sprach perfekt deutsch. Er machte schon bei den Vorermittlungen zum Tatkomplex Hailfingen4 1967 eine erste Aussage, konnte auch danach immer wieder zu Flugplatz und Lager befragt werden und war einer der wichtigsten Zeugen.
Bis vor einigen Jahren ließen wir es dabei bewenden. Erst nachdem Iasonas Chandrinos mitgeteilt hatte, dass er 2017 eine Liste aller 1040 im August nach Deutschland deportierten Griechen gefunden habe, kam wieder Bewegung in die Recherche.
2018 luden wir Nikos Skaltsas, einen der griechischen Zwangsarbeiter, den wir durch Chandrinos' Vermittlung gefunden hatten, ins Gäu ein und die Zusammenarbeit mit Iasonas Chandrinos begann.
In der immer wachsenden Literatur über die Themenkomplexe „Konzentrationslager“ und „Zwangsarbeit“ sind die Griechen bis auf sporadische statistische Hinweise praktisch unauffindbar.5 „Griechenland“ wird in den Ortsregistern von einschlägigen Studien weit seltener genannt als jedes andere vom Krieg betroffene Land Europas, wobei Probleme der Sprache bzw. Begrifflichkeit die Einbeziehung des griechischen Falls in die europäische Forschungsdebatte erschweren.6 Genauso bemerkenswert und verblüffend ist diese Nicht-Erwähnung auch in Quellen aus demselben lokalen Referenzrahmen, auch in Orten, die eine hohe Konzentration an griechischen Zwangsarbeitern aufweisen. So tauchen in keinem der insgesamt sieben Tagebücher französischer Zwangsarbeiter in der Umgebung von Mannheim deren griechischen Kameraden auf, obwohl sie z.T. auf den gleichen Baustellen waren.7 Christian Peters erwähnt die Griechen in seinem Bericht über DPs in Mannheim nicht.8 Eines der wenigen Beispiele einer forschungsmäßigen Beschäftigung mit den Griechen im Kontext „Zwangsarbeit“ stellt die Arbeit von Joannes Krämer dar.9
Unsere Recherche war äußerst mühsam und oft ergebnislos. In nahezu allen Archiven, die wir angeschrieben haben, kommen die griechischen Zwangsarbeiter nicht vor, manche Ortshistoriker haben sogar bestritten, dass „die Griechen“ bei ihnen waren.10
Die Bedeutung der Tagebücher als Quelle liegt demnach auf der Hand. Neben der ausführlichen Beschreibung der Lebens-, und Arbeitsbedingungen geben sie Informationen zur Geschichte der Deportation der 1040 griechischen Zwangsarbeiter, einer nationalen Gruppe, die weitgehend unerforscht ist.11
Auch die NS-Rüstungsprojekte Steinbutt und Hecht/Rubin, auf die wir durch den Bericht von Nikos Skaltsas, das Tagebuch von Pavlos Motos und das Interview mit Orfanos gestoßen sind, waren weitgehend unbekannt.
1 Original im Französischen Nationalarchiv Paris 72 AJ 2171. Kopien des Nummernbuches gibt es u.a. beim StAL: EL 317 II, Bü.131, und beim ITS/Arch/KL Natzweiler, Ordner 12. Die Suche nach Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen ist deshalb so schwierig, da sie meist an ihrem Einsatzort nicht gemeldet wurden und es nach der Befreiung keine förmliche Abmeldung gab.
2 StASig: Wü 65/36 T7, Acc. Nr. 88/12: Gräberliste Hailfingen, … vom 2.9.1946 an das Landratsamt Tübingen. Tarapet Ossipian, 8.8.1908, Russland.
3 Einer der indischen Kriegsgefangenen, Mardan Desil alias Mir Akbar kam in Hailfingen am 31.3.1945 bei einem Fliegerangriff ums Leben und wurde in Tailfingen beerdigt. Die „Inder“ kamen 1942 in Nordafrika in italienische Kriegsgefangenschaft und nach Italiens Kapitulation in deutsche Lager. Von September 1944 bis März 1945 waren sie im Stalag 5C in Offenburg, dann auf dem Hailfinger Flugplatz. Mall/Roth/Kuhn: Der Flugplatz Hailfingen war die Hölle, Gäufelden 2´, 2017/2018, S.6 ff.
4 ZStL: Ermittlungsakten IV/ 419 AR-Z 174/ 1969. Bericht der Kriminalhauptstelle Tübingen vom 24.11.1967.
5 Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart/München 2001, S. 16-17, 152. Für einen statistischen Überblick auf den Einsatz von Griechen in Österreich, siehe: Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939-1945, Wien 2004.
6 Die einzige Ausnahme ist bis heute der Aufsatz eines griechischen Historikers (Christos Hadziiosif, Griechen in der deutschen Kriegsproduktion, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Berlin 1991, S. 210-233), der als Überblick dient und natürlich keine Ansprüche auf Vollständigkeit erhebt. Uns ist nur eine deutsche Veröffentlichung bekannt, in der griechische Häftlinge namentlich aufgelistet wurden, nämlich das Gedenkbuch für die Opfer des KZs Mauthausen: Florian Freund, Die Toten von Ebensee. Analyse und Dokumentation der im KZ Ebensee umgekommenen Häftlinge 1943-1945. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2010; Vgl. auch Verein für Gedenken und Geschichtsforschung in österreichischen KZ-Gedenkstätten (Hrsg.), Gedenkbuch für die Toten des KZ Mauthausen, 3 Bände, Wien 2016.
7http://www.zwangsarbeit.igmh.de/Zwangsarbeit%20Rhein-Neckar-Raum/ortederzwangsarbeit/index.htmlVgl. dazu Tagebuch Papadopoulos 23.2.1945, S.393.
8 Christian Peters: Vom nationalsozialistischen Zwangsarbeiter zur Außenseiterexistenz als „Displaced Person“, in: Mannheimer Hefte, H1 (1987), S. 13-27. In den von der UNRRA betreuten Lagern in Mannheim nennt er Polen, Letten, Russen, Litauer, Franzosen, Belgier, Tschechen, Spanier und Staatenlose, keine Griechen. (S.20)
9 Johannes Krämer, … und dass wir Acht geben auf die nächste Generation. Geschichte der griechischen Zwangsarbeiter in Bensheim-Auerbach, Bensheim 2008. 129 Griechen aus der Razzia in Kokkinia (Nikaea) wurden am 19. August von Athen (Chaidari) nach Bensheim verschleppt. Im Marmorbergwerk bei Hochstädten sollten sie eine unterirdische Halle für die geplante Rüstungsproduktion der Darmstädter Firma Hans Heymann ausbauen. Diese Produktionsstätte wurde dann das Außenlager Bensheim-Auerbach des KZ Natzweiler-Struthof.
10 „Tatsache ist, dass es in vielen Städten und Gemeinden zum Thema Zwangsarbeit wenig Verwertbares gibt. Dies hängt ursächlich mit der völlig missratenen politischen Säuberung zusammen, da lediglich 0,9 % der Firmen bzw. Fabrikanten usw. überhaupt entnazifiziert wurden. Dabei ist es heute noch so, dass von Firmenleitungen behauptet wird, dass es bei ihnen mit Fremdarbeitern keine Probleme geben konnte, da keine Zwangsarbeiter beschäftigt waren! Dabei weiß doch jeder einfache Ortschronist, dass es nicht nur Kriegsgefangene auf Bauernhöfen gab, sondern selbst in kleineren Handwerksbetrieben, Gärtnereien und kleinen Firmen. Am Kriegsende lag der Anteil der Fremdarbeiter in den Betrieben weit über 50 Prozent.“ (Ludwig Zimmermann an die Verfasser 2021)
11 In griechischer Sprache sind seit 1945 insgesamt etwa 40 bis 50 Erinnerungsberichte von ehemaligen KZ-Häftlingen bzw. Zwangsarbeitern erschienen, die meisten von ihnen nichtkommerziell veröffentlicht.
Griechische Arbeiter im Deutschen Krieg, 1917-18 und 1941-45
von Hagen Fleischer
In dem gewaltigen Schicksalskampf Europas ist das Großdeutsche Reich darauf angewiesen, zur Sicherstellung seiner Rüstung und Ernährung eine gewaltige Anzahl nichtdeutscher (ausländischer) Arbeiter und Arbeiterinnen ins Reich hereinzunehmen. Alle diese Arbeiter und Arbeiterinnen, darunter auch die Kriegsgefangenen, werden, wie es den ältesten Traditionen des deutschen Volkes und unserer Rasse entspricht, korrekt, anständig und menschlich behandelt.
Die Anwerbung der ausländischen Arbeitskräfte erfolgt grundsätzlich auf der Grundlage der Freiwilligkeit. Dort jedoch, wo in besetzten Gebieten der Appell der Freiwilligkeit nicht ausreicht, müssen unter allen Umständen Dienstverpflichtungen und Aushebungen vorgenommen werden. Es ist dies ein undiskutierbares [sic] Erfordernis unserer Arbeitslage. […] Die Durchführung der Anwerbung hat in einer Weise zu erfolgen, die dem Ansehen des Großdeutschen Reiches und dem Willen des Führers entspricht. […] Jüdische Methoden der Menschenfängerei, wie sie aus dem kapitalistischen Zeitalter gerade in den demokratischen Staaten üblich gewesen sind, sind des nationalsozialistischen Großdeutschen Reiches unwürdig.
Anordnung des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, 7.5.194212… Das Insel-Land ist eingesprenkelt in ein anderes, das Mutterland. Kreuz und quer durchsetzt es seine Landschaft, bohrt sich in seine Städte, überschattet seine Straßen – und trotzdem haben manche nichts geahnt, viele nur vage etwas gehört, bloß die dort Gewesenen alles gewusst. Doch, als ob sie auf den Inseln des Archipels die Sprache verloren hätten, hüllten sie sich in Schweigen.
Alexander Solschenizyn, Der Archipel Gulag, Prolog12 N. Moczarski u.a. (Hg.): Zwangsarbeit in Thüringen 1940-1945, Erfurt 2002, S. 48 f.
Im Epochenjahr 1968 – konkret im Rahmen einer Berliner Demo gegen die Athener Militärjunta – traf ich Eleni, eine griechische Biochemikerin. Silvester verlobten wir uns, im August ‘69 tauschten wir die Ringe. Bald darauf informierte ich meinen (entsetzten) Doktorvater, ich wolle das Thema meiner Dissertation über die deutsche Okkupation Dänemarks „etwas weiter nach Süden“ verlegen – nach Griechenland. Tatsächlich war die wohl einzige „positive“ Konsequenz des mörderischen Nazi-Tsunami quer über den Kontinent dessen historiographischer Epilog: Künftigen Zeitgeschichtlern öffnete sich eine Plethora alternativer – damals noch weitgehend unerforschter geographischer Spezialisierungen: sie brauchten nur zuzugreifen. Ich tat es zweimal. Im Fall Griechenland kam allerdings erschwerend hinzu, dass die siebenjährige faschistoide Obristen-Diktatur ein miserabler Abklatsch faschistischer Vorgängerregime war: Umständehalber zwar ohne Massenmord, dennoch brutal zementiert mittels Psychoterrors und Brachialgewalt. Propaganda, Zensur, Bespitzelung, Verrat, Repression, Folter, Verbannung u.v.a. kontaminierten die politische und kulturelle Landschaft. Das Regime kontrollierte und blockierte den Zugang zu Archiven, „filtrierte“ die Bibliotheken. Doch Sucher fanden Auswege: Schleichwege zu authentischen Quellen – auch jenseits der partiell geöffneten ausländischen Archive. Deren dürrer bürokratischer Sprache konnte nämlich der lebendige und somit oft verwirrende Atem der Zeitgeschichte eingehaucht werden – mit Hilfe supplementärer oral history. Diese wiederum inspirierte durch fruchtbare Widersprüchlichkeit zu neuer Suche.
Im Kontext dieser Einführung rekurriere ich auf meine vielstündige Kommunikation im Januar 1971 mit Generalleutnant Panagiotis Dedes, der im Mai 1943 unter dem ehemaligen Oberbefehlshaber Alexandros Papagos die elitäre Widerstandsorganisation „Militärische Hierarchie“ mitbegründete. Doch das „konservativ-subversive“ Generalsquintett wurde bereits Ende Juli verhaftet und ins Nazi-Reich abtransportiert. Es folgte eine Odyssee durch die „Prominenten-Sektionen“ verschiedener Konzentrationslager, bis zur Befreiung der letzten Station (Dachau) durch US-Truppen Ende April 1945.13Dedes erzählte mir einleitend, er sei im Ersten Weltkrieg „Görlitzer“ gewesen und deswegen 1919, bei seiner Rückkehr ins „venizelistisch“ regierte Griechenland, sogleich verhaftet und verbannt worden. Dann erst realisierte ich, dass der General auf eine in der traditionell ruhmsüchtigen griechischen Militärgeschichte weitgehend verschwiegene – und mir bis dahin unbekannte – Episode aus dem Großen Krieg zurückgriff.
Unter Verletzung der von König Konstantin, Schwager des deutschen Kaisers, gegen seinen Premier Venizelos durchgesetzten hellenischen Neutralität waren 1915/16 Truppen der Entente sowie Bulgariens (mit deutscher Zustimmung und Verbindungsoffizieren) von zwei Seiten in Mazedonien einmarschiert. Daraufhin proklamierten die Venizelisten eine Gegenregierung der „Nationalen Verteidigung“ in Saloniki, womit sie die schwelende ideologische und geographische14 Spaltung (Dichasmos) Griechenlands verfestigten. Das im Norden eingekesselte mehrheitlich königstreue IV. Griechische Armeekorps mit „provisorischem“ Kommandeur Oberst Ioannis Chatzopoulos versuchte über das Meer nach Süden durchzubrechen, doch die vor Kavalla liegende britische Flotte gestattete nur jenen die Einschiffung, die sich mit den Venizelisten solidarisierten. Um eine Kapitulation gegenüber dem überlegenen bulgarischen „Erbfeind“ zu vermeiden, akzeptierte Chatzopoulos als einzigen Ausweg das (von ihm erbetene) deutsche Angebot einer ehrenvollen und verpflichtungsfreien Internierung als „Gäste“ im Reich. So wurden im September 1916 über 6.400 Griechen (darunter 430 Offiziere, 93 Offiziersfrauen und 5 Kinder) in zehn Sonderzügen ins schlesische Görlitz überführt, wo sie als “Gäste der Reichsregierung für die Dauer des Krieges“ mit griechischer Nationalhymne, deutscher Marschmusik, „soldatischer Suppe“ und Willkommens-Girlanden empfangen wurden: ΧΆΙΡΕΤΕ!15 Tatsächlich hielten die Gastgeber ihr Versprechen. Das Korps unterstand weiterhin seinem Kommandeur und eigener Gerichtsbarkeit. Deutsche Ministerien sorgten für Besoldung und Verpflegung, ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager mit 16 Groß- und 48 Kleinbaracken auf dem Görlitzer Rabenberg wurde wohnlich eingerichtet mit eigener Kirche und Sporthalle, sanitären Anlagen sowie Krankenstationen mit griechischem Personal. Auch Heizungen wurden installiert, dennoch froren die wärmebedürftigen Hellenen im ungewöhnlich rauen Winter. Die Soldaten konnten sich in der Stadt frei bewegen und hatten Stammlokale wie „Rübezahl“ – mit Klavier und emotional gräzisierter Pianistin. Die finanziell gut ausgestatteten Offiziere mieteten Zimmer in Privatwohnungen und waren begehrte Kunden nicht nur für die Görlitzer Geschäftsleute, sondern auch für die kriegsbedingt vereinsamte Damenwelt. Doch auch die vor mediterraner Virilität strotzenden Mannschaften konnten Erfolge verzeichnen. Da die meisten einheimischen Männer an verschiedenen Fronten dienten oder bereits gefallen waren, verzeichnen die Annalen zahlreiche binationale Idylle, Verlobungen, Heiraten und uneheliche „Ausrutscher“.16 Andererseits figurierten in den Jahresrapporten der Lazarett-Abteilung der Kommandantur Görlitz die venerischen Krankheiten mit Abstand an erster Stelle.17
Unterdessen erkannten deutsche Gräzisten, Ethnologen und Professoren anderer affiner Disziplinen „die Notwendigkeit, diese ungewöhnliche Gelegenheit für die Ausbreitung der deutschen Sprache unter den Griechen systematisch auszunutzen.“ Gemeinsam mit sprachkundigen von der Entente vertriebenen deutschen Konsuln und Kaufleuten sowie mit finanzieller Unterstützung des VDA (Vereins für das Deutschtum im Ausland) und interessierter Firmen, Gesellschaften und Banken initiierten sie ab Frühjahr 1917 Sprachkurse zunächst für Offiziere und dann auch für 700 Mannschaften.18 Im Juli wurden im Auftrag der Königlich-Preußischen Phonographischen Kommission siebzig Schellackplatten mit Sprach- und Musikaufnahmen von ausgezeichneter Qualität aufgenommen: einzigartige Dokumente zur griechischen Musikkultur, darunter die wohl weltweit erste Rembetiko-Aufnahme mit Bouzouki-Begleitung. Dieser verschollene Schatz wurde zu Beginn unseres Jahrtausends im Musikwissenschaftlichen Lautarchiv der Humboldt-Universität vom Bochumer Griechen Konstantin Andrikopoulos entdeckt. Weniger sensationell doch ebenfalls von eminenter Wichtigkeit sind die posthum erschienenen Dialektstudien des Münchner Professors für mittel- und neugriechische Philologie August Heisenberg – in Görlitz als Sprachlehrer und Verbindungsoffizier des Preußischen Kriegsministeriums. Sein nach Kriegsende publiziertes Buch Neugriechenland widmete er den Männern des IV. AK!19
Doch angesichts fortschreitender Hungersnot im „Steckrübenwinter“ 1916/17 und danach provozierten die Tausende griechischer „Bummelanten“ und insbesondere die großzügig besoldeten Offiziere das Missfallen vieler Einheimischer. Vorsichtige deutsche „Anregungen“ die Gast-Gefangenen „in irgendeiner Form“ zu beschäftigen, wurden von Chatzopoulos und dem griechischen Gesandten in Berlin monatelang abgelehnt. Erst im Juli, „als von deutscher Seite ein gelinder Druck“ ausgeübt wurde, erklärte die griechische Korpsleitung ihr Einverständnis, alle Mannschaften, die sich auf Anfrage freiwillig melden würden, der unter Arbeitermangel leidenden Landwirtschaft und Industrie zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich meldeten sich 5.837 Arbeitswillige mit Spezialisierung bzw. Vorliebe für 103 verschiedene Sparten, lediglich 481 lehnten „zunächst“ ab. Helmut Scheffel, aus Volos vertriebener – zeitlebens philhellenischer – Konsul und Geschäftsmann mit Zivilcourage20 resümierte:
„Die deutsche Verwaltung ist in dieser Frage immer für die Wünsche der Mannschaften eingetreten, die sich mit den deutschen Interessen deckten. Sie hielten es für außerordentlich schädlich, tausende junge arbeitsfrohe Menschen jahrelang so gut wie unbeschäftigt zu lassen, zumal in jener Zeit großer Arbeitermangel herrschte. Die Gelegenheit, gut zu verdienen und dabei oft etwas Tüchtiges zu lernen, war für die Gäste günstig“ – zumal sie unter der Aufsicht griechischer Offiziere „in den Werken genauso behandelt und bezahlt [wurden] wie deutsche Arbeiter“ bzw. Schwerstarbeiter; darüber hinaus standen ihnen die deutsche Krankenversicherung und andere soziale Einrichtungen zur Verfügung.
„So ist es vielen Soldaten möglich gewesen, sich ziemlich bedeutende Summen zu ersparen und sich außerdem das Leben in Deutschland ganz anders zu gestalten, als es ihnen mit der schmalen Löhnung möglich war.“ Doch ihr Gewinn sei „nicht in Mark und Pfennigen auszudrücken, er liegt meist auf anderen Gebieten; Hunderte der betreffenden Mannschaften werden der deutschen Verwaltung für ihr Eintreten wohl lebenslang dankbar sein!“
Aufschlussreich ist Scheffels Fazit zum Sprachunterricht. Bei den Offizierskursen ließ „die anfangs sehr starke Beteiligung und der rege Lerneifer nach, als die Mehrzahl der Offiziere eine für die tägliche Verständigung ausreichende Kenntnis des Deutschen erlangt hatte. […] Schließlich blieb nur ein kleiner Kreis von 12 Offizieren aller Dienstgrade zusammen, die getreulich bis zur Revolution ausharrten [November 1918] und mit ihrem Lehrer neben den Tageszeitungen die deutsche Dienstvorschrift für die Infanterie und Theodor Storm lasen.“ Die Einrichtung der Mannschaftskurse war „auf einige Herren zurückzuführen, [darunter Scheffel], die in Griechenland als Dolmetscher tätig waren“ und darüber hinaus freiwillig die Lehrtätigkeit übernahmen. „Sie kannten die Sehnsucht unter den Mannschaften nach gründlicher Erlernung der deutschen Sprache, das Sprachtalent der Griechen, und glaubten eine so treffliche Gelegenheit dem eigenen Lande und Griechenland zu nützen – das sie in einem langjährigen Aufenthalt lieben gelernt hatten – nicht vorübergehen lassen zu sollen. Es gelang ihnen die nötigen Mittel durch Schenkungen privater Seite zusammenzubringen, die zuständigen amtlichen deutschen Stellen zu interessieren und die Zustimmung der Korpsleitung zu erhalten. Der Unterricht begann Ende April 1917 und wurde erst im November 1918 nach Eintritt der Revolution in Deutschland abgebrochen. […] Die Zahl der Schüler ging im Laufe der Monate langsam zurück, da viele Schüler auf Arbeitskommando gingen, wo ihnen die erworbenen Kenntnisse unserer Sprache gute Dienste taten. Manche wollten gewiss ihr Leben lang besonders gern und vielleicht mit Dank an die schweren Kriegsmonate zurückdenken…“21
Zunächst aber wurden viele „Görlitzer“, namentlich die Offiziere, bei ihrer Rückkehr in die venizelistisch regierte Heimat als „Verräter“ beschimpft und in Verbannung geschickt. Polychronis Karakolos, Nachfolger des am 17.4.1918 verstorbenen Chatzopoulos, wurde sogar zum Tode verurteilt, obschon die Strafe schließlich umgewandelt wurde. Angesichts solch widriger Umstände versuchten Repatriierte nach Görlitz zurückzukehren, „teils, um zu studieren, teils um zu heiraten, teils um einen Gewerbebetrieb zu eröffnen.“ Doch angesichts der dort mittlerweile „herrschenden Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit ist der Zuzug der Griechen sehr unerwünscht“ und die lokalen Behörden drängten das AA, Maßnahmen zu treffen, um jenen „das Überschreiten der Grenze zu verwehren“.22 Ebenso wurden Anträge auf Einbürgerung abgelehnt,23 doch manche Verschmähte suchten und fanden Schlupflöcher. Nicht wenige Bräute in spe wagten sogar den Sprung ins kalte Wasser: ins unbekannte „Paradies“ Griechenland, wo aber das Klima bald erneut umschlug – als Folge von Venizelos’ überraschender Wahlniederlage am 1.11.1920 und der triumphalen Rückkehr König Konstantins aus dem Exil. Posthum wurde der verfemte Chatzopoulos zum General befördert und der schimpflich aus der Armee verstoßene Karakolos zum Kommandeur der „Archipel-Division“ ernannt! Auch prominente deutsche Kulturexponenten getrauten sich unverzüglich wieder nach Hellas. Paul Jacobsthal, Ordinarius für Klassische Archäologie in Marburg und ehemaliger Sprachlehrer auf dem Rabenberg, eruierte drei Monate lang „die Möglichkeiten für weitere deutsche Sprachpropaganda“. Als Betriebskapital diente vorerst der Rest des Görlitzer Fonds. In einem Bericht an den VDA vom 1.2.1921 resümierte er optimistisch, „so wenig wir auch noch für den Augenblick an eine aktive Orientpolitik in früherem Stil denken dürfen, so können wir doch für eine fernere Zukunft vorsorgen“: Denn die Präsenz tausender deutschsprachiger und deutschfreundlicher Ex-Görlitzer sowie das verbreitete Streben nach Erlernen der deutschen Sprache gebe „uns hier eine machtvolle Waffe in die Hand“ – nicht nur gegen die durch ihre Gewaltpolitik diskreditierten Franzosen, sondern auch „gegenüber der gewaltigen englischen Konkurrenz.“24 Derartige Visionen trösteten die Kulturstrategen über die raue Gegenwart hinweg, denn englische und französische Geheimdienstler kontrollierten argwöhnisch alle Visumanträge. Ein Athener Minister warnte das AA sogar, die neue Regierung Gounaris empfinde zwar „größte Sympathien für Deutschland“, sei jedoch gezwungen diese „nach außen hin zu verbergen“. Dieses Versteckspiel konnte jedoch die Entente-Fraktion nicht täuschen, und 1922 – nach der Kleinasiatischen Katastrophe, die den Royalisten aufs Schuldkonto geschrieben wurde – exekutierten venizelistische Putschisten nach einem Schauprozess Gounaris und fünf andere Spitzenrepräsentanten des gestürzten Regimes. Doch unabhängig von der Staatsform entwickelten viele Görlitzer Veteranen eine sentimentale Affinität zu Deutschland.25
13 Hagen Fleischer: Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland 1941-1944 (Okkupation – Resistance – Kollaboration). Frankfurt u.a., 1986, S. 252 ff, 651, 805.
14 In “Altgriechenland” überwogen “konstantinische” Sympathien, hingegen dominierten die Venizelisten in den durch die Balkankriege hinzugewonnenen „Neuen Territorien“.
15 Zu dieser „sonderbarsten Reise von der Welt“: Görlitzer Illustrierte Zeitung, 14./21.7.1918. Vgl: Gerassimos Alexatos, „Χαίρετε“: Ein griechisches Armeekorps in Görlitz, in: W. Schultheiss, E. Chrysos (Hg.): Meilensteine deutschgriechischer Beziehungen. Athen 2010, S. 185-199.
16 Bemerkenswert ist etwa eine Annonce in Νέα του [Nachrichten aus] Görlitz, Nr. 90: „Gutmöbliertes Zimmer bei alleinstehender junger Frau zu vermieten.“ (zit. nach einem Aufsatz des DDR-Historikers Johannes Irmscher, der nur in stark gekürzter Form 1993 in einer polnischen Zeitschrift veröffentlicht wurde.)
17 PAAA, Pol. Abt. II-GRI, Po 13 (nunmehr: R 72678).
18 H. Fleischer: Europas Rückkehr nach Griechenland. Kulturpolitik der Großmächte in einem Staat der Peripherie. In: H. Heppner, O. Katsiardi-Hering (Hg.): Die Griechen und Europa, Wien u.a. 1998, S. 125-191, hier: S. 136.
19 H. Fleischer: Krieg und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert. Wien u.a., 2020, S. 205 f.
20 Ebd., S. 181. Bereits 1933 kritisierte Scheffel gegenüber dem AA (Auswärtigen Amt) die antijüdischen Maßnahmen, während der Okkupation unterhielt er Beziehungen zum Widerstand und entging nur knapp der Verhaftung durch den SD.
21 PAAA, P 73, Helmut A. Scheffel, Das IV. griechische Armee-Korps in Deutschland, (Görlitz 15.7.1920). – Zu Scheffel vgl. Fleischer: Krieg und Nachkrieg, S. 181.
22 BArch, AA 42879 (alte Signatur), Regierungspräsident Schlesien, 9.8.1920. – Tatsächlich leben noch heute Nachfahren des IV. Armeekorps in vierter und fünfter Generation in Görlitz; hinzu kamen 1949 Landsleute diametral entgegengesetzter Provenienz: 14.000 griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, ehemalige ELAS-Partisanen und deren Angehörige fanden in Polen Zuflucht und wurden von den dortigen Behörden zum größten Teil im mittlerweile polnischen Stadtteil Zgorzelec jenseits der Oder angesiedelt – in der „Republika Grecka“, wo es mehr Griechen als Polen gab! (Vgl. Christiane Schlötzer, Als die Griechen nach Görlitz kamen, Süddeutsche Zeitung, 1.1.2017).
23 Hierzu gab es Präzedenzfälle. 1907 war das entsprechende Gesuch eines Kaufmanns aus Smyrna abgelehnt worden, da dieses offensichtlich aus geschäftlichen Motiven erfolgt sei und der Antragsteller „als Orientale keinen Hang zur Sesshaftigkeit“ habe sowie „keineswegs die Absicht […], seine griechische Nationalität völlig abzustreifen und ein tüchtiger Bürger des Deutschen Reiches, des neuen Vaterlandes zu werden.“ (Oliver Trevisiol: Die Einbürgerungs-praxis im Deutschen Reich 1871-1945. Konstanz 2004, S. 156 f.)
24 Fleischer: Europas Rückkehr, S. 137.
25 Interview Dedes, Januar 1971.
Letztere wurde jedoch zwanzig Jahre später, in der Frühphase der nazistischen Okkupation, schmerzlichen Zerreißproben unterworfen. Nach dem Angriff der Wehrmacht am 6. April 1941, der Kapitulation unter „ritterlichen“ Bedingungen zwei Wochen später, Hitlers Anerkennung der griechischen Tapferkeit im Reichstag sowie der daraus resultierenden privilegierten Behandlung der Kriegsgefangenen, die im Gegensatz zu allen anderen besetzten Ländern unverzüglich freigelassen wurden, blieben positive Erinnerungen bzw. Denkschablonen vom Rabenberg zunächst intakt: Die „alten Freunde“ aus dem Norden hatten den Einmarsch nicht gewollt, und man hatte Verständnis, dass jene ihrem leichtfertigen Achsenpartner aus der Patsche helfen und die angelandeten britischen Streitkräfte „vertreiben mussten“. Erst die „Operation Merkur“ (Hermes) mit den erbitterten Kämpfen auf Kreta trübte das Idyll. Dennoch fanden die Anfang 1942 einsetzenden Aufrufe zu freiwilliger Arbeitsverpflichtung im Reich zunächst nicht unbeträchtlichen Widerhall, zumal Hoffnung bestand, auf diesem Weg der im ersten Besatzungswinter katastrophalen Hungersnot zu entkommen. Zudem erschienen in den zensierten Zeitungen – offensichtlich authentische – Briefe, in denen die Neuankömmlinge von den Verhältnissen in Deutschland schwärmten:
„Die Griechen äußern ihre Zufriedenheit über die Reise, über die Verpflegung während derselben, über die Aufnahme in Deutschland, über ihre neuen Arbeitsstätten, über Unterkunft und Verpflegung, über die ihnen zugeteilte Arbeit und über die Entlohnung. Es ist nicht nur Lob, sondern geradezu Begeisterung, die aus ihren Briefen spricht. Die Verhältnisse in Deutschland muten sie an wie ein Märchenland […]. Die Briefe dieser Griechen sind einer wie der andere geeignet, beste propagandistische Wirkung in Griechenland zu üben und nicht nur der feindlichen Propaganda entgegenzuwirken, sondern auch Freundschaft für das Deutsche Reich und das deutsche Volk zu werben.“
Diese Passage aus dem ersten “Stimmungsbericht über Gastarbeiter im Reich“ der Auslandsbriefprüfstelle Wien an die Zentralauswertungsstelle für den Auslandsbriefund Telegrammverkehr vom 14. April 194226 ist aufschlussreich nicht nur auf Grund der zitierten Dithyramben, sondern auch wegen der Wortwahl der „Prüfstelle“: Der euphemistische Terminus Gastarbeiter wurde demnach nicht – wie zumeist angenommen – Anfang der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik geprägt, sondern konnte bereits Jahrzehnte früher anstelle segregierender Bezeichnungen (“Fremdarbeiter“ u. ä.) in offizieller Korrespondenz benutzt werden, zumindest von untypisch konzilianten Vertretern des Regimes. Im Sommer 1943 startete dann ausgerechnet der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel, Herr über Millionen Arbeitssklaven, eine verbale „Goodwill“-Offensive gegenüber seinen Opfern, indem er den Begriff angeblich neu einführte.27 Doch Hermann Westermeyer, Leiter der nach ihm benannten „Arbeitseinsatzstelle“ im besetzten Athen, verkörperte die Überlappung der Zeithorizonte, als er 1960 auf Grund seiner „Vorkenntnisse“ zum Chef der Deutschen Kommission zur Vermittlung griechischer Arbeiter in die BRD ernannt wurde.28
Dedes erinnerte sich lebhaft, dass angesichts der medialen Jubelkampagne er und andere „Görlitzer“ von jüngeren Interessenten aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis um „Expertisen“ gebeten wurden. Diese seien dann negativ ausgefallen, da die damals in Berlin Regierenden anders geartet waren als ihre Vorgänger im Ersten Großen Krieg. So war er stolz, dazu beigetragen zu haben, dass die Erwartungen für den „Reichseinsatz“ auch nicht annähernd erfüllt wurden. Dennoch war 1942 in dieser Hinsicht das erfolgreichste Jahr, da die Resistance mit ihrer explizit ablehnenden Haltung in vielen Landsteilen sich noch in embryonalem Stadium befand. Hemmend wirkte jedoch die Präferenz der meisten Kommandobehörden und Dienststellen für den Inlandsbedarf, insbesondere an qualifizierten Arbeitern für die „kriegswichtige“ Produktion. So hielt sich die Werbung des „Arbeitsfindungsbüros“ im Zentrum Athens (Stournara 33) unter dem Titel „Arbeiter für Deutschland“ in bescheidenem Rahmen – mit einer halben bzw. 1943/44 weiter schrumpfenden Zeitungsspalte – und beschränkte sich auf technische Informationen.29
Am 30.1.1943, dem 10. Jahrestag der nazistischen „Machtergreifung“, verordnete der Oberbefehlshaber Südost Alexander Löhr:
„Jeder Einwohner Griechenlands im Alter von 16-45 Jahren ist, wenn die Umstände es erfordern, verpflichtet, eine ihm zugewiesene Arbeit für deutsche oder italienische Dienststellen aufzunehmen. […] Männliche Arbeitskräfte sind verpflichtet, auch außerhalb ihres ständigen Wohnsitzes, erforderlichenfalls in Lagergemeinschaften zusammengefasst, zu arbeiten.“
Den letzten Satz dieser „Zivilmobilmachung“ verstanden – in dieser Phase irrtümlich – viele Griechen als Direktive zum Zwangseinsatz auch außerhalb ihres Landes, was gewalttätige Proteste auslöste: Am 5. März demonstrierten zum zweiten Mal binnen weniger Tage weit über 100.000 Athener. Um einem allgemeinen Aufstand zuvorzukommen, ließen die Besatzer das Kollaborationsregime versichern, ein Auslandseinsatz habe stets außer Frage gestanden. Intern konstatierten sie jedoch erbost: „Dieses Nachlassen der Zügel bedeutet aber unsererseits keine Weichheit, da wir keineswegs die Faulheit der Griechen unterstützen wollen.“30 So wurden von den „mindestens 50.000“ für 1942 anvisierten Arbeitern nur knapp 12.00031 ins Reich transportiert; zugleich war es das letzte Jahr, in dem es sich tatsächlich um „echte“ (bzw. notgedrungene) Freiwillige handelte, allerdings mit unterschiedlicher und oft nicht respektabler Motivation, wie sich zeigen wird. 1944 resümierte jedenfalls die deutsche Führung, sogar für den Binneneinsatz sei die Aufstellung von Arbeiterbataillonen „auf Grundlage der Freiwilligkeit“ endgültig gescheitert, da sich im gesamten Hauptstadtbereich lediglich 21 Mann gemeldet hatten.32 Damit fiel endgültig der Startschuss für Arbeitskräftegewinnung mittels arischer „Menschenfängerei“[vgl. S. 13] im Rahmen von „Blocco“-Razzien, wobei deren Organisatoren oft hämisch „passende“ Codenamen wählten.33 Unbekannt ist bislang dass der letzte (ab April 1944) Militärbefehlshaber Griechenland Heinz Scheurlen sowie der Sonderbeauftragte des AA Hermann Neubacher in Übereinstimmung mit dem Höheren SS- und Polizeiführer Walter Schimana Bedenken gegen die Anwendung des von Walter Blume, dem Chef der SiPo und des SD, initiierten wahllosen Blocco-Systems in den „roten“ Athener Bezirken äußerten, da dann eine Massenflucht in die „Bandengebiete“ drohe.34 Dessen ungeachtet setzten Blume und seine griechischen Kohorten im August ihren blutigen Schlussakkord in Moll.
Alle Tagebuchschreiber interessierten sich primär – kaum überraschend – ob bzw. inwieweit die jeweilige Lagersituation elementarste Voraussetzungen für ihr einigermaßen intaktes Überleben von Leib und Seele gewährleistete: Unterkunft, Behandlung, Ernährung, Schlaf, „menschliche“ Arbeitsbedingungen möglichst ohne Hunger, Kälte und Prügel. Geprügelt wurde als Strafe für „Faulheit und Ungehorsam“, für „Diebstahl“ – zumeist in der Form von Mundraub – oder auch ohne konkreten Anlass. Gefürchtet waren zudem die „Klauen der Gestapo“ sowie ihrer miserablen Zuträger und Handlanger. Die parallele psychische Gefangenschaft wurde im „Fremdarbeitslager“ Geislingen mit physischer SS-Präsenz am stärksten wahrgenommen. Doch gab es eklatante Unterschiede im „Bio-Klima“ der Lager und Nebenlager. So registrierten die Häftlinge am eigenen Leib, ob bei Dauerregen und ohne elementare Bekleidung gearbeitet werden musste, ob Krankheit und Arbeitsunfälle als Befreiungsgrund akzeptiert wurden und wie sich die Machthaber bei Todesfällen35 oder an Festtagen verhielten. Die generellen Direktiven wurden in Berlin von der nur Hitler unterstehenden „Organisation Todt“36 vorgegeben, oft modifiziert bzw. abgeschwächt durch die als Arbeitgeber fungierenden privatwirtschaftlichen Unternehmen, von denen die etwas „Kulanteren“ sogar eine bescheidene, aber einigermaßen regelmäßige Löhnung in Reichsmark oder Naturalien auszahlten. Zu den übelsten Plätzen gehörte Geislingen, wohin am 27. August sieben Waggons des Deportationszugs abgezweigt wurden und wo „das einzige Positive“ die sporadischen Nachrichten vom alliierten Vormarsch an allen Fronten waren. Ebenbürtig war die „schwarze Hölle“ Tailfingen, ein „perfekter Ort zum Sterben“:
„Eine Flugzeughalle, umzäunt mit zwei Reihen Stacheldraht. Der Platz darin war ohne jede Einrichtung, ohne Möbel, kein Wasser, keine Toiletten, keine Betten, keine Matratzen, keine Heizung, gar nichts. Auf dem Boden war lediglich ein wenig Stroh, und darauf schliefen wir wie eine Horde von Tieren mit lediglich einer Decke, die fast immer durchnässt war.“
So herrschte Jubelstimmung bei den Griechen, die von diesem „Alptraum“ nach Mengen verlagert wurden, das sie nicht kannten, das aber nur besser sein konnte – was sich tatsächlich bewahrheitete.37 Dennoch gab es Negativfaktoren, die allen Lagern im Nazi-‚Archipel‘ mehr oder weniger gemein waren, zuvörderst die fast schon biblische Läuseplage. Dauerthema aller Chronisten waren die nur bedingt erfolgreichen Schlachten gegen die allgegenwärtigen, blutrünstigen und schlafraubenden „Monster“3838, zumal die „genialen deutschen Läuse“ leider der widerstandsfähigen arischen Rasse zugerechnet werden mussten! Auskochen der verseuchten Wäsche und Einreibung mit Petroleum – sofern vorhanden – brachten nur ephemere Linderung. Denn der Feind kam immer wieder, augenscheinlich in der Absicht „bis zum Endsieg zu kämpfen“. Die an der Ungezieferfront liquidierten Aggressoren wurden geschätzt oder – handverlesen – sogar genau gezählt. Auch hier brachte erst die alliierte Intervention zu guter Letzt die Entscheidung: mit besseren hygienischen Bedingungen und Unmengen von Läusepulver. Ein anderer unerbittlicher Feind war die beißende Winterkälte39 mit Lungenentzündung als häufiger Folge, denn allzu oft wurden die Fronenden selbst bei strömendem Regen im Schlamm, halbnackt und mit Fußlappen40 zum „Weitermachen“ gezwungen. Stets schwelte auch die Angst vor dem Diebstahl verbliebener Wertgegenstände durch gierige Wächter oder unsolidarische Genossen. Als letzten Ausweg vor dem Hungertod wurden sogar besagte Wertgegenstände verramscht: von der Uhr bis zu den eigenen Goldzähnen, aber auch Reliquien wie der Ehering, wobei der Truppführer gelegentlich den Reibach einsteckte! Tauschhandel betrieben auch süchtige Raucher, die ihre kärglichen Brotrationen bzw. Lebensmittelmarken gegen das Objekt ihrer Begierde eintauschten. Für gelegentlich an die Arbeiter verteilte Zigaretten beging Goutas sogar die „riesige Dummheit“ nach mit Müh und Not erzielter Krankschreibung am Arbeitsplatz zu erscheinen!
Objekt kollektiven Hasses war zuallererst die doppelte Degradierung: zur anonymen „Nummer“ – sowie zum „Steinzeitmenschen“ infolge des Fehlens selbst primitivster hygienischer Utensilien. Dann das zermürbende Warten auf das karge Essen – oft in strömendem Regen; das Stakkato der schrillen Pfeifen; die Tritte der Wachleute, die oft aus älteren Jahrgängen (um die 60) sowie aus „Hiwis“ (Hilfswilligen) unterworfener Völker rekrutiert waren.41 Manche dieser „Beute-Deutschen“ tobten inhärenten Sadismus an den Gefangenen aus342, wohl um neugewonnene rassische Superiorität zu demonstrieren. Doch im Gegensatz zu Chaidari – ganz zu schweigen von den Todeslagern im „Osten“ – fehlten nicht sporadische Lichtblicke, welche die düstere Atmosphäre aufhellten: Im Gulag des Nazi-Reichs gereichten selbst homöopathische Unterbrechungen der eiseskalten Routine zum erquickenden Trost. Sogar der zunächst nur im Telegrammstil berichtende Papadopoulos widmete seinen Strümpfen sukzessive Einträge. Am 26.9, dass er keine besaß; am 29.9., dass er welche geschenkt bekam. Diese trugen dazu bei, dass der 30.9. ein „guter Tag“ wurde: Trotz „4 Uhr Wecken“, intensiver Arbeit, vierfachem Alarm, Regen und Kälte notierte er „gute Laune“ – zumal nachts eine harmonische Abrundung erfolgte: mit dem Wechsel der Schlafstätte vom ofenlosen Eisenbahnwaggon in einen mit „großer Wärme“! Am 8.11. vermerkte er Löcher in der strapazierten Fußkleidung, die er 11 Tage später stopfen konnte. Kurz vor Weihnachten musste er jedoch neue gegen Tabak eintauschen. Diese behielt er in der Silvesternacht an, um es bei den Minustemperaturen „etwas wärmer“ zu haben. Papadopoulos war auch der Einzige der allnächtlich träumte, wiederholt weinend aufwachte und stets im Tagebuch einen Abriss gab – oft auch gegenüber Mitgefangenen43. Alle Chronisten skizzierten dankbar eine Palette freudiger Intermezzos: einen Extrateller warmes Essen; 3 geschenkte Butterbrote; eine Mußestunde oder gar einen unerwarteten ganzen Ruhetag; seltene Rotkreuz-Pakete; Besuche in Restaurants, Gottesdienst und sogar Kinos – mit oder ohne Erlaubnis. Erinnerungsrelevant waren auch richtiges Ausschlafen – „süß wie Halva“; ein richtiges Bad; eine gründliche „weihnachtliche Entlausung“! Aber auch der unverhoffte Genuss herrlicher klassischer Musik ließ zumindest die Musenfreunde „für ein paar Stunden den Kummer vergessen, den wir in uns tragen.“ Zudem fanden manche Häftlinge Zugang zu unzensierten Informationen, zu alliierten Rundfunksendern. Doch ausgerechnet von einem Deutschen erhielten sie die lang ersehnte Nachricht vom Abzug der Wehrmacht aus Hellas, wobei sich aber Freude und Kummer vermischten, da sie nicht selbst am Athener Befreiungsjubel teilnehmen konnten.44