Wirtschaftsspionage - Herbert E, Große - E-Book

Wirtschaftsspionage E-Book

Herbert E. Große

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Beschreibung

Erwin ist ein emeritierter Professor für Maschinenbau mit dem Schwerpunkt Obsoleszenz. Er hilft seiner ehemaligen Assistentin, die in Radebeul bei Dresden eine eigenen Firma betreibt, nach der Suche eines "Maulwurfes", also eines Wirtschaftssaboteurs. Dabei erfährt er, wie in der ehemaligen DDR gearbeitet wurde und stellt fest, dass die "sozialistischen Ökonomen" durch wirtschaftliche Sabotage im eigentlichen Sinne die DDR zum Zusammenbruch gebracht haben. In Bad Schandau lernt er eine Frau kennen und es entwickelt sich eine tiefe Liebe zwischen zwei reiferen Menschen. Wieder zu Hause muss er zusammen mit dem MAD einen "modernen" Wirtschaftssaboteur, der das Leben einiger Soldaten auf dem Gewissen hat, finden.

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Seitenzahl: 228

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1. Kapitel

Das war nun wirklich nicht Erwins Tag.

Zunächst hatte er nächtens von seiner kürzlich verstorbenen Ehefrau Karin geträumt und sie nicht die „Meinige“ oder die „Mutter meiner Kinder“ genannt, sondern nur ihren Vornamen gebraucht, obwohl sie zu Lebzeiten in solchen Situationen immer behauptete, dass er Streit mit ihr suchen würde.

In der fast fünfunddreißigjährigen Ehe hatte es sich eingebürgert, dass er sie nur als die „Meinige“ oder - wie gesagt- als die Mutter seiner Kinder benamte. Immer dann, wenn er sie mit ihrem Vornamen ansprach, drohte ein Konflikt; sie beschwerte sich und behauptete, dass er sie nicht mehr lieben würde.

Für diesen „traumhaften“ Faux-pas wollte er sich an ihrem Grab entschuldigen, was aber nicht möglich war, weil in unmittelbarer Nähe eine aktuelle Beerdigung stattfand.

Also entschuldigte sich Erwin mit himmelgerichtetem Blick am Friedhofstor in der Hoffnung, dass die Seinige seine Entschuldigung auch von hieraus annehmen würde.

Als er ein paar Schritte auf der Friedhofszufahrt gegangen war, musste er sich mit seinem Sacktuch die Tränen abwischen. Die „Seinige“ war die einzige ihm nahestehende Person, die ihn nicht als Loser oder Trottel bezeichnet hatte. Jetzt nahm ihn niemand mehr in Schutz und außerdem machte das Leben ohne die Mutter seiner Kinder gar keinen richtigen Spaß mehr. Früher lenkten ihn die jungen Leute ab. Seit er im Ruhestand war, fehlten ihm diese Jugend und auch seine Arbeit.

Die Seinige hatte sich um alles gekümmert und ihn von allen alltäglichen Sorgen ferngehalten. Seit ihrem Tode musste er sich um alles selbst kümmern, was er aber sehr schnell lernte. Er machte im Haushalt alles so, wie er es wollte. Wenn seine Tochter ihn besuchte, verbrachte sie die meiste Zeit damit, aufzuräumen und alles so herzurichten, wie sie es für angemessen hielt. Dabei merkte sie gar nicht, dass ihr Vater damit nicht einverstanden war und sich bevormundet fühlte. Sie war eben Tochter und Erwin der Vater, obwohl diese Art von Entmündigung für ihn nur schwer zu ertragen war.

Wenn sein Sohn sich ansagte, versuchte er, den Besuch zu verhindern. Erst nach dem Tode der Seinigen hatte er realisiert, dass sein Sohn und dessen blondierte Ehefrau sich als Nabel der Welt empfanden und alles das, was Erwin machte, als nicht angemessen ansahen.

„So etwas macht man nicht; oder es ist nicht so, wie es sich gehört“, sagten sie stets. Erwin hatte es längst aufgegeben, zu widersprechen oder zu sagen, dass er es aber gerade so wolle und nicht anders.

Seit er im Ruhestand war, kam sein Sohn mit Ehefrau nur noch selten. Seine Tochter hingegen fühlte sich verpflichtet, oft nach ihm zu schauen.

Weil er nun keine beruflichen Verpflichtungen mehr hatte, war er tags sehr oft außer Haus und entging so den lieb gemeinten Bevormundungen seiner Tochter. Doch manchmal musste er sich richtig Mühe geben, die Zeit totzuschlagen.

So in Gedanken versunken fand er sich vor dem Haus seiner Tochter wieder.

Das Gartentor stand offen und er trat - ohne zu klingeln - ein. Offenbar hatte ein Gärtner oder Gartenarchitekt, wie ihn sein Schwiegersohn nannte, die Wegeinfassung zum Haus neugestaltet. Erwin fand es gekünstelt und hässlich.

Als er so nach rechts und links schauend an der Terrasse ankam, hörte er seine Tochter telefonieren. Weil er ein dienstliches Gespräch vermutete, hielt er sich zurück und betrat die Terrasse nicht.

Anette, seine Tochter, wurde immer zorniger. Sie wurde so laut, dass er nicht mehr weghören konnte und feststellte, dass sie mit ihrem Bruder Heinrich sprach.

Wie die berüchtigten Kesselflicker stritten beide darüber, wer Erwins Geburtstag in der kommenden Woche ausrichten und organisieren sollte. Anette war es leid, immer diejenige zu sein, die sich um den immer wunderlicher werdenden Vater kümmern müsste. Heinrich sei dieses Mal an der Reihe, das Geburtstagsfest zu veranstalten. Offenbar konnte er aber aus terminlichen Gründen nicht und Anette wurde immer zorniger.

„Wenn Du keine Zeit hast, muss es eben Deine blondierte Ehefrau machen“, schrie sie ins Telefon und legte auf, um sofort ins Haus zu gehen.

Wäre Erwin ihr jetzt ins Haus gefolgt, hätte er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu hören bekommen, dass es schön sei, dass er wieder einmal zu Besuch käme und sie sich darüber ganz toll freuen würde. Und dann hätte sie führsorglich und ganz lieb gefragt: „Was wollen wir dieses Jahr zu Deinem Geburtstag Schönes machen?“

Weil Erwin das genau wusste, sagte er seiner Tochter nur kurz, dass er übermorgen für mehrere Tage verreisen würde und an seinem Geburtstag leider nicht da sei, man aber das übliche schöne Fest, dass sie immer so nett und auch gern organisieren würde, nachholen könne.

Erwin sah die Erleichterung im Gesicht seiner Tochter und verabschiedete sich mit den Worten, dass er sich in zehn Minuten im Park verabredet habe und deshalb jetzt keine Zeit mehr hätte.

Die Enttäuschungen dieses Tages nahmen kein Ende.

Erwin hatte in einem Fischrestaurant sein Lieblingsgericht gegessen - Bismarckhering mit Salzkartoffeln -, was ihm nicht gut bekommen war. Er musste ständig aufstoßen und ihm war leicht übel. „Bestimmt war der Hering nicht mehr frisch“, dachte er und versuchte das Essen zu vergessen.

Seit fast sechs Wochen war es seine Gewohnheit geworden, dass er im Stadtpark am Weiher eine alleinerziehende Mutter namens Helga mit ihrer sechsjährigen Tochter Maria traf.

Für Maria hatte Erwin stets ein einzeln verpacktes Gummibärchen in der Tasche. Sie freute sich riesig darüber und wenn Erwin das Gummibärchen nicht sogleich herausrückte, fragte sie mit kindlicher Aufdringlichkeit danach. Das Kind sprach ihn mit seinem Vornamen an, und auch ihre Mutter kannte nur diesen Namen. Eine förmliche Vorstellung hatten die beiden Erwachsenen bislang noch nicht vorgenommen.

Helga las meist in der Zeit, in der sich Erwin und Maria wie zwei Kinder unterhielten oder herumalberten, in einem Buch oder die Tageszeitung.

Offenbar betrachtete Helga ihn auch als Trottel und leicht dementen alten Mann, was nicht unbedingt Voraussetzung für eine anregende Unterhaltung sein konnte.

„Erwin, wo hast Du das Gummibärchen?“, fragte Maria ganz eigenartig.

„Maria, verzeih mir, aber heute habe ich Dein Gummibärchen vergessen.“

„Du hast mich einfach vergessen?“

„Heute ist nicht mein Tag. Alles läuft schief“, gab Erwin dem Kind zur Antwort.

„Du siehst heute auch sehr traurig aus. Macht nichts, dass Du das Gummibärchen vergessen hast. Ich wollte Dir ohnehin sagen, dass ich Maoam und Smarties lieber mag.“

Erwin legte ganz sanft die Hand auf den Kopf des Kindes und fragte, ob man Steine im Weiher hüpfen lassen wolle. Bevor sie loslaufen konnten, fragte Helga: „Herr Erwin, leider kenne ich Ihren Nachnamen nicht. Trotzdem habe ich heute eine besondere Bitte an Sie. Wäre es möglich, dass ich Maria für zwei Stunden mit Ihnen allein lassen könnte?“

„Aber selbstverständlich. Das ist doch gar kein Problem.“

„Wissen Sie, ich habe gleich ein Vorstellungsgespräch und noch keine Betreuung für Maria gefunden. Vielleicht klappt es dieses Mal mit einer Anstellung; ich bin schon längere Zeit arbeitslos.“

„Gehen Sie nur ganz unbesorgt. Wo werden wir Sie nach dem Vorstellungsgespräch finden?“, fragte Erwin und erhielt zur Antwort, dass man sich in ungefähr zwei Stunden gegenüber dem Rathaus in der Eisdiele treffen könnte.

Maria hüpfte vor Freude und sagte: „Wenn Du kein Geld hast, lade ich Dich ein. Mama hat mir zehn Euro gegeben.“

Helga verließ beide mit keinem guten Gefühl und Erwin versuchte sie zu beruhigen, was ihm irgendwie aber nicht richtig gelang. Schließlich drehte sich Helga entschlossen um und ging, ohne sich nochmals umzusehen.

Maria war ausgelassen und konnte es kaum erwarten, in die Eisdiele zu kommen.

Erwin trank nur einen Kaffee und das Kind wunderte sich, dass jemand kein Eis essen will.

„Wie alt bist Du?“, fragte Erwin das Kind.

„Ich werde bald sechs Jahre und dann bin ich so groß, dass ich in die Schule kann“, antwortete Maria und man sah ihr an, dass sie sich freute, älter zu werden.

Erwin sah es und wurde nachdenklich.

„Das Kind freut sich, älter zu werden. Seine alleinerziehende Mutter ist mit Sicherheit bereits über dreißig Jahre alt und hat bestimmt Angst, ohne vollständige Familie älter zu werden“, überlegte Erwin und dachte daran, dass seine Kinder ungern seinen Geburtstag ausrichten wollten. Dabei hatte er keine Angst vor dem Älterwerden; nur davor, bevormundet zu werden. Besonders sein Sohn, der sich als viel intelligenter und lebenserfahrener als Erwin ansah, betrachtete ihn als senilen alten Mann, der eigentlich in einem Altersheim am besten aufgehoben wäre.

„Das wird bestimmt nicht passieren. Vorher verschwinde ich aus eurem Leben“, sagte er halblaut vor sich hin und Maria schaute ihn überrascht an.

„Was ist verschwinden?“, fragte sie und Erwin erklärte ihr den Begriff, ohne seine Probleme und Ängste zu erwähnen.

Noch vor der verabredeten Zeit erschien Helga enttäuscht in der Eisdiele und sagte: „Wie immer: überqualifiziert. Es ist zum Heulen.“

„Darf ich fragen, welche Qualifikation Sie haben, mein Kind?“

Helga hatte offenbar überhört, dass Erwin sie mit „mein Kind“ angesprochen hatte und erklärte wie geistesabwesend: „Ich bin promovierte Volkswirtin und habe als alleinerziehende Mutter keine Chance. Nicht einmal als Bankangestellte will man mich beschäftigen.“

Erwin hörte traurig zu und sagte schließlich: „Ich werde heute Nacht nachdenken. Vielleicht fällt mir etwas für Sie ein.“

Auch Maria versuchte ihre Mutter zu trösten, was mehr als rührend war.

Beim Verlassen der Eisdiele dachte Helga: „Das fehlt mir nun auch noch, dass sich dieser alte Trottel um mich kümmert und mir Vorschläge macht.“

Erst zu Hause gab Maria ihr die zehn Euro mit dem Bemerken zurück, dass Erwin beleidigt gewesen sei, als sie bezahlen wollte, er hätte richtig geschimpft.

Eigentlich war Erwin solche Tage, an denen aber auch alles schiefgeht, gewöhnt. Die Seinige, hatte zu solchen Tagen immer gesagt, dass heute die Scheiße wieder einmal bergauf liefe. Erwin solle daran denken, dass seine Probleme doch relativ klein seien. Er möge immer an seinen Kollegen Hubertus denken. Den habe es viel schlimmer getroffen.

„Du hast ja wie immer recht“, sagte Erwin gedankenverloren und dachte an die Seinige und seinen Kollegen Hubertus, den er als genialen Ingenieur kennengelernt hatte.

Nachdem 1982 Manfred Sommer seine Sinuspumpe entwickelt hatte, erkannte Hubertus deren vielseitige Einsatzfähigkeit und baute eine Sinuspumpe für besonders aggressive Medien mit Feststoffanteilen. Hubertus hatte in der Entwicklungsphase oft mit Erwin diskutiert und beraten und schließlich herausgefunden, dass man den Edelstahlrotor mit einer Goldlegierung beschichten musste. Wegen der aggressiven Medien war es auch erforderlich, die Gleitringdichtungen aus einem besonderen Kunststoff herzustellen und den Spannstift zu ändern.

Erwin war von dieser Idee begeistert und half Hubertus, wo er nur konnte.

Nachdem dessen spezielle Sinuspumpe fertig war, wollte dieser ein Unternehmen gründen und die Pumpe vermarkten.

Erwin konnte sich noch genau an die Diskussionen erinnern und hatte all seine Bedenken geäußert, aber Hubertus nicht mehr davon abhalten können.

Zunächst entwickelte sich das junge Unternehmen recht gut und Hubertus war dazu übergegangen, seine Pumpen den Wünschen und Erfordernissen der Kunden anzupassen.

Erwin hatte seinen Kollegen bald aus den Augen verloren und nur noch gehört, dass über dessen Unternehmen das Insolvenzverfahren eröffnet worden sei.

Rein zufällig - Erwins Ehefrau lebte noch - traf Erwin einen Techniker, der in Hubertus Unternehmen gearbeitet hatte. Erwin war gerade auf dem Weg zum Mittagessen bei der Seinigen, also bei ihm zu Hause. Wie es seine Art war, lud er diesen Techniker einfach zum Essen ein, ohne der Seinigen Bescheid zu sagen. Erwins Ehefrau war solche Einladungen gewöhnt. Wenn sie nicht ausreichend gekocht hatte, behauptete sie, dass sie heute Magenprobleme habe und nur ganz wenig essen könne. Erst am Abend sagte sie, dass er doch wenigstens Bescheid sagen möge, was er versprach, aber bis zur nächsten Einladung wieder vergessen hatte.

Gleich nachdem sich der Techniker an den Tisch gesetzt hatte, berichtete er: „Es war die reinste Tragödie mit unserer Firma. Zum Anfang lief alles wunderbar. Der Chef hatte zwei Techniker, also neben mir noch einen anderen, beschäftigt. Wir fuhren zu den Kunden, erfragten deren Wünsche und erstellten dann ein Konzept nach deren Bedürfnissen. Aus verschiedenen Komponenten bauten wir die ganz individuellen Pumpen. Es waren nicht nur Sinuspumpen, sondern je nach Bedarf auch andere Typen und Modelle. Wir waren fast zu 100 Prozent ausgelastet.“

An dieser Stelle des Berichtes wollte Erwin wissen, warum das alles eine Tragödie gewesen sei und der Techniker fuhr fort: „Wie gesagt, lief alles problemlos. Der Chef hatte für bestimmte aggressive Medien zusätzlich besondere Legierungen auf den Rotoren der Sinuspumpen aufgebracht und auch noch Gleitringdichtungen aus besonderen Kunststoffen entwickelt.“

„Na gut und schön, aber nun kommen Sie endlich zur Tragödie“, sagte Erwin schon etwas gelangweilt.

„Die Tragödie begann, als unser Chef eine Rumänin kennenlernte. Sie sah so aus, wie die Zigeunerin auf den Bildern, die manche Leute über ihren Betten hängen haben. Weiße halb offene Bluse und lange schwarze Haare. Der Chef war ihr völlig ergeben und machte, was sie wollte. Es dauerte nicht lange und die „Zigeunerin“ schlug vor, die Gleitringdichtungen in Rumänien für einen Bruchteil der in Deutschland anfallenden Kosten produzieren zu lassen“, fuhr der Techniker fort.

„Also die Tragödie war die Rumänin“, warf Erwins Ehefrau ein und der Techniker nickte.

„So, nun erzählen Sie weiter, sonst ist die Mittagspause rum“, sagte Erwin und der Techniker beeilte sich mit der weiteren Schilderung der Ereignisse.

„Was soll ich weiter groß erzählen? Der Chef war mit der Produktion in Rumänien einverstanden. Anfangs lief alles ganz normal mit den rumänischen Gleitringdichtungen. Bald reklamierten aber einige Kunden und wir mussten die Dichtungen austauschen. Dabei war es aber nicht so, dass alle rumänischen Dichtungen schlecht waren. Merkwürdigerweise war das nur bei ganz bestimmten Kunden der Fall und mein Technikerkollege stellte fest, dass dies Kunden mit einer besonders sensiblen Produktion waren. Der Chef tat unsere Feststellung nur mit einer Handbewegung und der Bemerkung ab, dass dies Quatsch sei. Es dauerte nicht lange, bis sich unsere Probleme unter den Kunden herumsprachen und es kamen die ersten Schadensersatzforderungen auf unsere Firma zu.“

„Und dann kam die Insolvenz?“, fragte Erwin.

„Nein, noch nicht. Da ich etwas rumänisch konnte, bin ich während meines Urlaubs eigenmächtig nach Rumänien gereist und habe in Bukarest den Hersteller der Gleitringdichtungen aufgesucht, weil mein Kollege und ich Angst um unsere schönen Jobs hatten. Unser Geschäftspartner war eine sogenannte Briefkastenfirma. Ich ahnte Schreckliches und forschte nach. Es dauerte nicht lange und ich fand heraus, dass möglicherweise die Dichtungen in Tulcea, nahe der Grenze zur Ukraine hergestellt wurden. Also fuhr ich dorthin und kam auch nicht weiter. Ein Taxifahrer weigerte sich, in Tulcea an die von mir genannte Adresse zu fahren. Der Taxifahrer sagte immer nur KGB, KGB.“

„Oh, das ist ja wie in einem Krimi“, bemerkte Erwins Frau ganz aufgeregt und der Techniker gab ihr recht und sagte dann, dass er seine Nachforschungen an dieser Stelle eiligst eingestellt und nach Deutschland zurückgekehrt sei.

„Und wie ging der Krimi weiter?“, wollte Erwin wissen.

„Es dauerte nicht mehr lange und die Firmen, bei denen es mit den Pumpen Schwierigkeiten gab, machten Schadensersatz wegen ihrer Produktionsausfälle geltend. Der Chef weigerte sich, meine Feststellungen in Rumänien anzuhören und vertraute seiner Bekannten blind weiter. Und dann war es soweit und es wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Und jetzt kommt es knüppeldick“, sagte der Techniker und trank einen Schluck und fuhr dann fort: „Die Rumänin hatte sich von unserem Chef getrennt und für ein paar Euro vom Insolvenzverwalter unser Pumpenunternehmen erworben. Es kam ihr nicht auf die Fortführung des Betriebes, sondern nur auf die Konstruktionspläne der von uns entwickelten Pumpen und die Kundenprofile an.“

„Und wie ging es weiter?“ fragte Erwin und erhielt zur Antwort, dass die Rumänin sehr schnell verschwunden sei und der Chef dem Alkohol verfiel.

„Mein Technikerkollege und ich fanden einen anderen Job; der Chef verkam vollkommen und wurde eine Art Penner. Ich habe dann noch den Bundesnachrichtendienst von meinen Feststellungen in Rumänien informiert, aber nie mehr etwas vom BND gehört.“

Erwin sagte nur noch zum Schluss, dass Hubertus der brillanteste Ingenieur gewesen sei, den er kannte und sinnierte kurz: „Ja, die Weiber und der Suff, die reiben auch den Besten uff.“

2. Kapitel

Erwin lag die halbe Nacht wach. Es wollte und wollte ihm keine Lösung für diese junge Frau einfallen.

Am Vormittag ging er in den Supermarkt und fragte eine Verkäuferin, was Maoams seien. Die nicht gerade intelligent aussehende und sich ebenso verhaltende Verkäuferin ließ ihn einfach stehen und schüttelte nur mit dem Kopf.

Zum Glück war ein Kind in der Nähe, das Erwin ganz selbstverständlich und hilfsbereit zu dem Regal mit den Maoams führte. Noch bevor er sich bedanken konnte, war das Kind wieder verschwunden. Erwin hätte gern auch diesem Kind Maoams gekauft, aber es war unauffindbar.

Nach dem Einkauf konnte Erwin sich nicht entschließen, die Maoams zu probieren. Es hätte ihm zu viel Überwindung gekostet.

Am Nachmittag war er überpünktlich im Park. Helga und Maria erwarteten ihn schon.

„Erwin, Du bist einfach ein richtig cooler Typ“, sagte Maria und nahm hocherfreut die Maoams und zog Erwin zum Steinehüpfen.

„Kannst Du mir erklären, warum die Steine über das Wasser hüpfen und nicht einfach untergehen? Mama konnte es mir nicht erklären; die hat keine Ahnung.“

„Natürlich kann ich das erklären, ich bin ja schließlich...“ Erwin stockte einen Moment und fuhr dann fort: „Fachmann für Steinehüpfen.“

„Dann erkläre es mir bitte.“

„Also, das ist ganz einfach. Man braucht einen ganz flachen Stein, der aussieht wie eine Scheibe eines gekochten Eis.“

„He? Ein gekochtes Ei?“

„Eigentlich muss der Stein wie eine Ellipse aussehen, damit er die richtige Rotation erhält.“

„Sag das doch gleich, dass Du eine Ellipse meinst. Ich weiß, was das ist. Sieht aus wie ein gequetschter Kreis. Aber was ist eine Rotation?“

„Du bist ja ein ganz kluges Mädchen. Rotation ist eine Drehbewegung. Wenn der elliptische Stein die richtige Drehbewegung erhält, hüpft er umso öfter über das Wasser.“

„Und wie machen wir, dass der Stein rotatiert?“

„Wenn man dem Stein beim Werfen mit dem Zeigefinger zuletzt loslässt, rotiert er.“

„Er rotiert und rotatiert also nicht?“, fragte Maria.

„Genauso ist es!“

Beide brauchten fast eine halbe Stunde, bis Maria es schaffte, die Steine über das Wasser hüpfen zu lassen.

Helga hatte beiden zugesehen und war erstaunt, wie Erwin, der ihrer Meinung nach schon etwas dement war und sich stets wie ein Trottel verhielt, solche kindgerechten Erklärungen abgeben konnte.

„Erwin, ich wollte mich für meinen gestrigen Überfall bezüglich der Betreuung von Maria entschuldigen.“

„Warum wollen Sie sich denn entschuldigen. Es war einer meiner schönsten Nachmittage der letzten Zeit.“

„Ich heiße Helga Meister. Wir kennen unsere Nachnamen gar nicht, obwohl wir uns seit sechs Wochen fast täglich sehen.“

„Erwin Schminke, aber lassen wir es bitte bei den Vornamen; ich finde das schöner und persönlicher und für Maria viel angenehmer.“

„Einverstanden! Entschuldigung, aber der Name Erwin Schminke kommt mir sehr bekannt vor. Es gab hier an der Uni einen Professor Schminke, bei dem hat der Vater von Maria promoviert.“

„Ja, davon habe ich auch schon gehört. Bitte erlauben Sie mir die Frage, was aus Marias Vater geworden ist.“

„Nachdem er seinen Doktorhut hatte, ist er sofort nach Amerika gegangen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.“

„Sie sagten doch gestern, dass Sie eine promovierte Volkswirtin seien. Schminke lehrte doch aber an der TU Maschinenbau mit Schwerpunkt Obsoleszenz.“

„Ja, das weiß ich. Marias Vater hat an der TU studiert und ich habe in Frankfurt studiert.“

„Ach so. Ich war schon ganz durcheinander. Aber erzählen Sie mir bitte noch einmal, warum man Sie auf der Bank nicht genommen hat.“

„Das können Sie doch nicht verstehen, lieber guter Erwin. Mit meiner Qualifikation haben die Chefs Angst, dass ich mehr weiß als sie; das kann kein Chef ertragen.“

„Also ich wäre früher glücklich gewesen, wenn mal einer mehr als ich gewusst hätte.“

„Na, lassen wir das Ganze. Ich will noch eine Freundin besuchen. Wir sehen uns ja bestimmt morgen wieder hier im Park“, sagte Helga und verließ Erwin und die Parkbank am Weiher.

Auf dem Nachhauseweg erinnerte sich Erwin an eine seiner früheren Assistentinnen. Sie hatte den Uni-Betrieb verlassen und mit einem Partner in der Nähe von Dresden ein Beratungsunternehmen gegründet. Das Letzte, was er von ihr gehört hatte, war, dass der Laden recht gut laufen würde.

Am frühen Abend hatte Erwin die Telefonnummer seiner ehemaligen Assistentin gefunden und rief sie an.

„Hallo Monika, hier spricht Erwin Schminke. Ich wollte nur einmal hören, wie es Ihnen geht.“

Nach diesen Worten herrschte auf der anderen Seite der Leitung Funkstille.

„Hallo Monika, sind Sie es und vor allen Dingen noch am Apparat?“

„Das glaube ich einfach nicht. Sie rufen mich an, Herr Professor?“

„Ja, warum denn nicht?“

Jetzt sprudelte Monika ohne Punkt und Komma hocherfreut los und freute sich ehrlich über Erwins Anruf.

Im Laufe des Telefonates erfuhr Erwin, dass ihre Beratungsfirma einen kräftigen geschäftlichen Rückschlag erlitten hätte, weil Monikas Partner sich von ihr getrennt und eine Konkurrenzfirma aufgemacht hatte. Er habe die meisten Kunden mitgenommen und mache ihr mit Firmenspionage das Leben schwer. Außerdem war der Partner für die kaufmännischen Angelegenheiten zuständig und sie, Monika, für die fachlichen Dinge. Von den geschäftlichen Notwendigkeiten der Führung ihres Unternehmens habe sie recht wenig Ahnung und noch keinen zuverlässigen neuen Geschäftspartner gefunden.

„Monika, ich werde nächste Woche Dresden besuchen und wenn Sie möchten, bei Ihnen reinschauen. Vielleicht habe ich auch eine passende neue Partnerin für Sie.“

„Herr Professor, das wäre wunderschön, wenn Sie mich hier in Radebeul besuchen würden. Ich kann es gar nicht erwarten.“

Erwin beendete das Gespräch mit den Worten: „Also dann bis in ein paar Tagen bei Ihnen. Ich rufe kurz vorher an. Machen Sie es bis dahin gut und Wiederhören.“

Vor dem Schlafengehen las Erwin noch eine Stunde in „Eichendorfs Taugenichts“ und freute sich über die romantische Sprache. Er fand eine früher angebrachte Markierung fast am Ende des dritten Kapitels: ... und alles ists gleich, ob ich noch da bin, oder in der Fremde, oder gestorben.Da kam mir die Welt auf einmal so entsetzlich groß und weit vor und ich so ganz allein darin, daß ich aus Herzensgrunde hätte weinen können.

Er fühlte sich wie Eichendorffs Taugenichts und dachte daran, wer denn wohl überhaupt richtig Notiz davon nehmen würde, wenn er jetzt stürbe. Seine Kinder würden vielleicht kurz trauern und sich aber alsbald darüber beschweren, dass sie mit seiner Beerdigung und allem Drum und Dran so viel Arbeit hätten.

Diese Gedanken machten ihn sonderbarerweise gar nicht traurig.

„Die Kinder wissen ja nicht, dass ihre Mutter alle meine Beraterhonorare gespart und gut angelegt hat, damit wir uns später ein Ferienhaus in Dänemark kaufen könnten“, redete er mit sich selbst und fuhr fort, dass er aber ohne die Seinige nicht mehr nach Dänemark gehen würde.

Bevor er einschlief, dachte er wieder an das Kind Maria und daran, dass sie die Einzige wäre, die ihn vermissen würde, weil es ja nun keine Maoams mehr gebe.

3. Kapitel

Am nächsten Tag war Erwin bereits eine Stunde vor der üblichen Zeit im Park. Er freute sich darauf, Helga und Monika eventuell als Geschäftspartner zusammenbringen zu können.

Es nieselte leicht und er musste wieder an Eichendorfs Schilderung des Waldes denken. Parallelen konnte er in diesem Park bei Nieselregen nicht entdecken und er befürchtete, dass Helga und Maria nicht kommen würden. Dabei hatte er heute zwei Maoams in seiner Tasche.

Endlich, mit einer halbstündigen Verspätung kamen beide.

„Zwei Maoams für mich? Ich habe Dich ganz fest lieb“, sagte Maria und wollte sofort wieder Steine hüpfen lassen. Erwin begleitete sie zum Ufer des Weihers.

Helga war anders als sonst.

Nach einigen Wurfversuchen trat Helga von hinten zu ihnen und sagte: „Herr Professor?“

Erwin drehte sich um und sah eine erschrockene Helga.

„Gestern Abend habe ich die Unterlagen von Marias Vater durchgesehen und dabei ein Foto gefunden, auf dem er mit Ihnen abgebildet ist. Da konnte ich Ihren Namen wieder in meinem Kopf unterbringen. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie so respektlos behandelt habe.“

„Warum haben Sie mich denn respektlos behandelt?“

„Darf ich ehrlich sein?“

„Natürlich, ich bitte sogar darum. Aber wenn Sie sagen wollen, dass ich wie ein Loser und Depp herumlaufe, haben Sie recht. Das war schon mein ganzes Leben so. Schon als Kind war ich das schwarze Schaf der Familie und keiner hat mir etwas zugetraut, weil ich alles hinterfragte und dann mangels der erwünschten Auskünfte aufsässig wurde. Selbst als ich im Zenit meiner beruflichen Karriere stand, haben mich meine Geschwister nur hochmütig belächelt. Lediglich die Meinige, meine verstorbene Ehefrau, hat mich immer anders gesehen.“

„Doch Ihre höhersemestrigen Studenten und Doktoranden hatten unheimlichen Respekt vor Ihnen. Werner, Marias Vater, hatte mir erzählt, wie er sich bei Ihnen vorgestellt hat.“

„So, was hat er denn erzählt, der untreue Geselle?“

„Sie haben ihn mit den Worten begrüßt, dass er lieber zu den Medizinern oder Politologen gehen solle, wenn es ihm nur auf den Doktortitel ankäme. Bei Ihnen müsse er der Wissenschaft einen wahren Dienst erbringen und seine Doktorarbeit müsse mindestens 500 Seiten umfassen.“

„Na, ich weiß zwar nicht mehr, wer er war, aber nach Ihrer Schilderung muss er wohl mit seiner Dissertation der Wissenschaft gedient haben.“

„Herr Professor, ich schäme mich ja so, Sie falsch eingeschätzt zu haben.“

„So, mein Kind! Jetzt wollen wir einmal etwas klarstellen. Ich bin für Sie und Maria weiterhin der Erwin und ich erlaube mir, Sie einfach Helga zu nennen. Wollen wir das so machen?“

Man konnte hören, wie der alleinerziehenden Mutter dieses reizenden Kindes der große Stein vom Herzen fiel.

Maria versuchte noch immer, Steine hüpfen zu lassen, schaffte es aber nicht allein, sodass Erwin helfen musste.

Ganz nebenbei sagte er: „Helga, vielleicht habe ich einen Job für Sie. Könnten Sie notfalls auch nach Dresden ziehen?“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, berichtete er von seinem Telefonat mit seiner früheren Assistentin.

Helga hörte aufmerksam zu und man sah ihr an, dass sie froh über diese vage Möglichkeit war. Verlegen suchte sie nach einer Antwort und Erwin sagte in der ihm eigenen unbeholfenen Art ganz direkt, dass er sie und Maria zu der Reise und einem Kurzurlaub in Dresden einladen würde.

„Keine Widerrede, am Montag fahren wir!“

Was Dresden wäre, wollte Maria wissen. Nachdem sie erfahren hatte, dass Dresden eine sehr schöne Stadt weit weg von hier sei, wollte sie sofort losfahren.

„Kann man dort auch Steine hüpfen lassen?“

„In Dresden ist das Steinehüpfen erfunden worden mein Kind“, antwortete Erwin. „Man nennt es dort Fedbemmen-Schießen.“

„War Homer damals in Dresden, als er das Steinehüpfen erstmals beschrieb?“, wollte Helga lächelnd wissen und Erwin erwiderte, dass er sie auch als Assistentin beschäftigt hätte.

In seinem Arbeitszimmer dachte Erwin daran, wie seine Kinder reagieren werden, wenn sie ihre Pflicht erfüllend, am Mittwoch zum Geburtstag gratulieren kämen und feststellten, dass er gar nicht zu Hause sei. Er lächelte selbstzufrieden.

4. Kapitel

Auf der Fahrt nach Dresden schlief Maria gegen Mittag ein und Erwin konnte sich ganz intensiv und allgemein mit Helga über die Obsoleszenz unterhalten.

Für Helga als Volkswirtin war die geplante psychologische Obsoleszenz eines der wichtigsten Marketinginstrumente überhaupt. Ohne Obsoleszenz sei eine moderne Volkswirtschaft überhaupt nicht mehr vorstellbar. Sie wies auch darauf hin, dass insbesondere der Wohlstand westlicher Industriegesellschaften auf bestimmten Obsoleszenzgraden beruhe, was für die Planwirtschaften -wie damals in der DDR- allerdings nicht gelte, weil diese Wirtschaftssysteme im Grunde nur einen ständigen Mangel verwalten beziehungsweise verplanen mussten. Ohne geplante Obsoleszenz gebe es kaum genügend Beschäftigungsverhältnisse.

„Na, Sie kennen ja Vance Packard recht gut“, stellte Erwin fest und Helga beteuerte, dass sie im Grunde noch nie Packards Werke richtig gelesen habe. Verlegen lächelnd fügte sie aber sogleich - mehr entschuldigend - hinzu, dass sie trotzdem wisse, dass Obsoleszenz vom lateinischen Verb „obsolescere“ käme und eigentlich nur die natürliche oder künstlich beeinflusste Abnutzung eines Produktes bedeuten würde.