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Das Patriarchat ist kein Mythos. Bestsellerautorin Rebekka Endler macht sich in ihrem neuen Buch auf die Suche nach den Ursachen des Patriarchats und untersucht, welche misogynen Mythen bis heute unser Denken und Handeln bestimmen. Witches, Bitches, It-Girls ist eine anekdotische Spurensuche, die durch die lange Menschheitsgeschichte führt. Rebekka Endler blickt dabei in den Maschinenraum des Patriarchats, beschäftigt sich mit der Kanonisierung in der Kunst, mit der Epoche der Romantik, mit der sogenannten Normalität und mit feministischen Wellen, mit Cancel-Culture und Transfeindlichkeit – und fragt: Was bringt so viele Frauen heute noch dazu, von einem rettenden Märchenprinzen zu träumen? Warum werben sogenannte Tradwives für ein Leben als Hausfrau und Mutter? Was steckt hinter der Mommy-Blogger-Welle, und welche Funktion haben Frauenbilder wie Witches, Bitches und It-Girls? Humorvoll, schlagfertig und kämpferisch zeigt Rebekka Endler, wie wir alle das Patriarchat Tag für Tag am Laufen halten – und wie wir es dennoch verändern können, wenn wir das System dahinter verstehen und angreifen. «Rebekka Endler erzählt […] mit Ironie und Humor von den unhinterfragten Ungerechtigkeiten im Alltag zwischen Frau und Mann.»NDR KULTUR über Das Patriarchat der Dinge
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Seitenzahl: 630
Veröffentlichungsjahr: 2025
Rebekka Endler
Wie patriarchale Mythen uns bis heute prägen
Humorvoll, schlagfertig, kämpferisch – Bestsellerautorin Rebekka Endler wagt sich in ihrem neuen Buch an die große Frage nach den Ursachen des Patriarchats und untersucht misogyne Mythen, die bis heute unser Denken und Handeln bestimmen.
Die Erklärung «Männer und Macht» greift aus Rebekka Endlers Sicht viel zu kurz, und so fragt sie: Was bringt so viele Frauen dazu, auch heute noch von einem rettenden Märchenprinzen zu träumen? Was steckt hinter der Mommy-Blogger-Welle, und welche Funktion haben Frauenbilder wie Witches, Bitches und It-Girls?
Indem sie sich mit der Kanonisierung in der Kunst beschäftigt und mit der Epoche der Romantik, mit sogenannten feministischen Wellen, Cancel-Culture und Transfeindlichkeit, gelingt es ihr zu zeigen, dass es das Patriarchat wirklich gibt, wie wir alle Tag für Tag daran mitwirken, es am Laufen zu halten – und wie man es überwinden kann. «Witches, Bitches, It-Girls» ist eine anekdotische Spurensuche, schlagfertig, humorvoll, kämpferisch und voll unerwarteter Erkenntnisse.
«Rebekka Endler erzählt […] mit Ironie und Humor von den unhinterfragten Ungerechtigkeiten im Alltag zwischen Frau und Mann.» NDR KULTUR über «Das Patriarchat der Dinge»
Rebekka Endler arbeitet als freie Autorin, Journalistin und Podcasterin. 2021 erschien ihr erstes Buch, Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt. Sie lebt mit ihrer Familie in Köln.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Helen von Troja. Gemälde von Anthony Frederick Augustus Sandys, um 1867. Walker Art Gallery, National Museums Liverpool/Bridgeman Images
ISBN 978-3-644-01560-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Pour Lili
Beginnen wir bei den alten Griechen, genauer gesagt mit dem Dichter Hesiod und seinem Lehrgedicht «Werke und Tage». Und mit einer Frau namens Pandora, die dort zum ersten Mal erwähnt wird. Pandora ist eine junge Sterbliche, die auf Geheiß des Göttervaters Zeus von einem männlichen Gott aus Lehm erschaffen wurde, als Mittel zum Zweck der Rache an Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und zu den Menschen brachte. Die Geschichte hat noch eine Vorgeschichte, aber das würde hier zu weit führen, es geht an dieser Stelle um Pandora. Die ist eine echte Granate und bekommt zur Ausübung ihrer Mission noch einen Tonkrug mit auf den Weg, aus dem im Laufe der Zeit eine Schmuckbüchse wurde, aber wie auch immer, dieses Gefäß darf jedenfalls unter keinen Umständen geöffnet werden. Pandora ist nur leider extrem neugierig, das muss sie sein, damit der Plan bzw. die Büchse auch ja aufgeht. Born Sexy Yesterday[*], wie sie ist, katapultiert sie ihr Charme geradewegs in die Arme des treudoofen Titans Epimetheus, der seinen zu den Sterblichen abgewanderten und definitiv smarteren Bruder Prometheus vermisst. Epimetheus schlägt alle Warnungen vom Bruderherz in den Wind, Geschenke von Göttern niemals anzunehmen, und verliebt sich Hals über Kopf in Pandora. Die beiden heiraten, doch die Büchse steht zwischen ihnen, denn Pandora ist verständlicherweise besessen von der Frage, was da eigentlich so Schlimmes drin sein soll. Nur kurz reinlinsen, wird schon klargehen, doch weil sie so eine Chaos-Agentin ist, springt die Büchse sofort auf, und ihr Inhalt entweicht, bis auf eine Ausnahme, für immer in die Welt. Der Rest ist Geschichte, Pandora, die blöde Bitch, ist schuld an allen Übeln dieser Welt – womit sie nicht allein ist, auch Eva und ihre biblischen Nachfahrinnen Bathseba, Delilah, Drusilla, Jezebel und Salome sowie alle Femmes fatales der antiken Mythologie gehören dazu, denn der Autor ist: das Patriarchat.
Springen wir mehrere Tausend Jahre in die Zukunft. 2021 begann ich mit der Recherche für dieses Buch, und seitdem führe ich eine Liste der patriarchalen Beben, die uns ereilen. Hier nur drei Beispiele daraus: Am Samstag, dem 25. Juni 2022, schoss ein rechtsextremer Terrorist in Oslo in einem queeren Club um sich und tötete zwei Menschen, 20 weitere wurden verletzt. Gewalt gegen queere Menschen, der Autor ist: das Patriarchat.
Am Tag zuvor beschloss der Deutsche Bundestag, das Werbeverbot für Abtreibungen aufzuheben, und stimmte mehrheitlich für die Streichung von Paragraf 219a des Strafgesetzbuches, ein kleiner Erfolg. Zeitgleich kippte der Oberste Gerichtshof in den USA die Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht Roe v.Wade, das Menschenrecht auf Abtreibung gehört dort nun der Vergangenheit an, während es hierzulande noch immer nicht im Grundgesetz verankert ist. Fehlende körperliche Selbstbestimmung, der Autor ist: das Patriarchat.
Es geht weiter in die Gegenwart. Am 5. November 2024 wurde Donald Trump erneut zum Präsidenten der USA gewählt, diesmal von der Mehrheit aller Amerikaner*innen. Seit dem 20. Januar 2025 ist er im Amt und hat allein in den ersten zwei Wochen eine komplett vorhersehbare Spur der Verwüstung und Vernichtung angerichtet: Es gibt eine Exekutive mit absolutem Machtanspruch, die über Verfassung und Gesetzen zu stehen scheint, Abschiebelager für Menschen ohne Papiere, Reisebeschränkungen für trans Menschen durch Aberkennung ihrer Reisepässe, und seit Anfang Februar 2025, gerade mal zwei Wochen nach der Amtseinführung, werden wissenschaftliche Datenbanken «gesäubert», bei der NASA löschen Mitarbeiter*innen alle Erwähnungen von Frauen in Führungspositionen, indigenen Menschen sowie jede Erwähnung von Klimagerechtigkeit.[1] Ein Bericht über die Geologin und NASA-Mitarbeiterin Wendy Bohon, die dort Erdbebenforschung betreibt – von einer Sekunde auf die andere nicht mehr auffindbar. Nach ähnlichen Dekreten des US-Präsidenten wird auch versucht, aus anderen wissenschaftlichen Datenbanken Forschung zu löschen, die sich unter anderem mit Themen rund um Gender, Inklusion und Diskriminierung von Minderheiten befasst. Das Ausradieren von Wissen und Geschichte gelingt heute, im digitalen Zeitalter, mit nur wenigen Klicks. Diese Lücken durch KI-generierte, patriarchale Dystopien zu ersetzen, ebenfalls. Der Autor ist: das Patriarchat.
Das Patriarchat ist nicht – wie viele uns glauben machen wollen – längst Geschichte, es lebt in uns allen weiter und bestimmt unsere Wahrnehmung bis heute. Während meiner Arbeit an diesem Buch hat sich die Lage dramatisch verschlechtert. Auch aus diesem Grund habe ich so lange daran geschrieben: Es häuften sich die Erschütterungen, die mir so unfassbar riesig vorkamen, dass ich sie festhalten, analysieren und sezieren wollte, in der Hoffnung, die Einzelteile würden Rückschlüsse auf das derzeitige Gesamtchaos zulassen. Und tatsächlich, was gerade passiert, ist altbekannt, denn das Patriarchat und sein Bruder im Geiste, der rechtskonservative Nationalismus, setzen in ihrer Selbsterzählung immer auf die gleichen giftigen Zutaten: ein biologistisches Geschlechterverständnis, rassistische Überlegenheitsansprüche (beides einhergehend mit der gewaltvollen Unsichtbarmachung ganzer Personengruppen!) und eine Nostalgie für eine Vergangenheit, die es so nie gegeben hat.
Dass die Antwort auf die meisten Herausforderungen unserer Zeit in einer intersektional feministischen Praxis liegt, mit dieser Überzeugung bin ich natürlich nicht alleine. Die Bücher von Annika Brockschmidt (Amerikas Gotteskrieger, Die Brandstifter, 2021 und 2024), Natascha Strobl (Radikalisierter Konservatismus, 2021) sowie Katharina Nocun und Pia Lamberty (Fake Facts, Gefährlicher Glaube, 2020 und 2022) befassen sich damit, was passiert, wenn reaktionäre Kräfte an die Macht kommen und die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen verändern. Sophia Fritz (Toxische Weiblichkeit, 2024) und Sibel Schick (Weißen Feminismus canceln, 2023) untersuchen in ihren jeweiligen Büchern die Fallstricke eines falsch verstandenen Feminismus, der seinen Fokus auf das individuelle Emporkommen legt statt auf ein gesichertes Wohlergehen der Verwundbarsten. Leonie Schöler (Beklaute Frauen, 2024) und Nicole Seifert (Frauenliteratur, Einige Herren sagten etwas dazu, 2021 und 2024) haben darüber geschrieben, welche Mechanismen am Werk sind, wenn es darum geht, weiblich gelesene Personen ihrer jeweiligen Karriere oder schlicht Anerkennung zu berauben und sie aus der Geschichte zu tilgen.
Dieses Buch ist gewissermaßen eine Brücke zwischen all diesen Büchern, nicht in Form einer umfänglichen Enzyklopädie patriarchaler Mythen und Mechanismen, sondern als anekdotischer Streifzug durch die Geschichte des männlichen Dominanz- und Überlegenheitsanspruchs von der angeblichen Steinzeit bis zur gegenwärtigen Politik- und Popkultur.
Vielleicht ziehen Sie bei der Lektüre an der einen oder anderen Stelle andere Rückschlüsse als ich. Das ist selbstverständlich in Ordnung, unterschiedliche Interpretationen und der faire Austausch von Meinungen sind Grundpfeiler eines demokratischen Miteinanders, ebenso wie der Mut zur Differenzierung, die Toleranz sowie das Aushalten von Ambiguitäten – auch diese Themen behandelt das Buch.
Wir werden bei der Ursachenforschung weit ausholen müssen. Sie beginnt bei dem, was ich fast als «das Offensichtliche» bezeichnet hätte, aber das, was uns umgibt, was «normal» ist, ist nicht offensichtlich, sondern das Gegenteil: eine verborgene, oft unhinterfragte Macht und somit eines der wirkungsvollsten Übel, die aus Pandoras Büchse entfleucht sind. Wer oder was ist «normal», und wer oder was ist es angeblich nicht?
Noch am Tag seiner Amtseinführung unterzeichnete Trump auch das Dekret, dass es in den USA nur noch zwei Geschlechter gibt, womit die Rechte von trans, inter und nicht binären Menschen aus dem Gesetz gestrichen werden sollen. «Normal» zu hinterfragen und zu verstehen, dass auch unsere Vorstellungen von Normalität Ursache von Unterdrückung und Gewalt sind, ist deshalb ein erster und gleichzeitig vielleicht aktuell der dringlichste Schritt, den wir gemeinsam gehen können, um patriarchale Muster, die unser Denken und Handeln bis heute bestimmen, irgendwann zu überwinden.
Last, but not least: Aufgrund der Themen, die sich rund um das Patriarchat, seine Mythen und Instrumente ergeben, ist dies auch ein Buch über sexualisierte, physische, psychologische und pädosexuelle Gewalt. Es gibt Erwähnungen von Suiziden, Infantiziden und Femiziden. Auch Transfeindlichkeit, Rassismus und Ableismus kommen als Motiv immer wieder vor, ebenso wie Essstörungen und andere Themen, die für betroffene Menschen triggernd sein könnten. Ich habe mich immer um einen verantwortungsvollen Umgang mit sensiblen Themen bemüht, aber darauf verzichtet, an die einzelnen Kapitel Triggerwarnungen anzubringen, da alles miteinander zu tun hat und kein Kapitel ohne auskommen würde.
Einmal kam nach einer Lesung eine freundliche ältere Frau mit einem bunten Tuch auf mich zu und verwickelte mich in ein Gespräch. Sie habe mein (erstes) Buch gerne gelesen, viel schmunzeln müssen und darin viel gefunden, worüber sie sich auch schon ihr ganzes Leben geärgert habe, deswegen habe es gutgetan, dass es mal jemand aufgeschrieben habe. Aber – und wenn Personen so viel Anlauf mit Komplimenten nehmen, gibt es immer ein Aber – an einem Punkt, da sei sie grundsätzlich ganz anderer Meinung als ich. Noch bevor sie ihren Satz zu Ende geführt hatte, hätte ich mein Lesungshonorar darauf verwetten können, was folgen würde, denn diese Frau war nicht die Einzige, die sich an dieser einen Sache im Buch störte, wenn nicht gar verraten fühlte: Transidentitäten und die Aussage, dass die Rechte von Frauen auch die Rechte von trans Frauen sind.
Ich war, schon wieder, in ein Gespräch über die Legitimität von Transidentitäten verwickelt worden. Sie begann mit einer Geschichte über einen angeblichen Mann, der sich einen Platz auf einer Wahlliste erschlichen habe, indem er eine Perücke angezogen und von einem Tag auf den anderen behauptete, eine Frau zu sein. Dieser «Mann» sei dann über die Frauenquote gewählt worden und ein Beispiel dafür, wie Männern Tür und Tor für den Missbrauch von Maßnahmen geöffnet werde, die dafür gedacht sind, Geschlechterparität in der Politik greifbarer zu machen. Ich habe die Geschichte an diesem Abend gar nicht verstanden, in meinem Kopf entstand spontan eine Art «Some like it hot»-Szenario, in der Tony Curtis in schlechter Verkleidung die Regeln bricht und in ein Frauenorchester eintritt, einfach weil er’s kann und am Ende Marilyn Monroe auf diese Weise rumkriegt. Erst ein paar Monate später, im Frühling 2022, als das Magazin Emma einen transfeindlichen Text über die Grünen-Politikerin Tessa Ganserer publizierte, der die öffentliche Diskussion kurz vor Erscheinen der von Alice Schwarzer mit herausgegebenen Streitschrift Transsexualität: Was ist eine Frau? Was ist ein Mann?[2] noch einmal ordentlich anpeitschen sollte, konnte ich die Fäden der Geschichte zusammenfügen und verstand, was aller Wahrscheinlichkeit nach die Hintergründe der Story von der Frau mit dem Halstuch gewesen waren.[3]
Unser Gespräch nach der Lesung dauerte nicht lang, aber ich habe häufig an diese Begegnung zurückgedacht. Wenn ich an diesem Abend verstanden hätte, worum es ging, hätte ich die Meinung dieser Frau zu trans Frauen ändern können? Mein Eindruck war, ihre Opposition war nichts weiter als das Ergebnis einer andauernden Kampagne mit Fehlinformationen. Denn auch das ist ein Wirkmechanismus des Patriarchats: Im Sinne der alten Redewendung «teile und herrsche» werden mit aller Macht Grabenkämpfe innerhalb feministischer Strömungen aufgemacht, damit sich marginalisierte Gruppen gegenseitig bekriegen, sodass sie diese Kraft nicht für einen solidarischen Schulterschluss und gegenseitiges Emporheben nutzen können.
In der Hoffnung, dass die Frau mit dem bunten Halstuch und andere Personen mit ähnlichen Haltungen doch noch einmal zu einem von mir geschriebenen Text greifen, widme ich dieses Kapitel ihnen.
Im Durchschnitt lag Mitte des 19. Jahrhunderts plötzlich mehr Wahrheit als in den einzelnen Datenpunkten, die für Quetelet Abweichungen, «kleine Fehler der Natur» gewesen waren. Dennoch war es nicht Quetelet selbst, sondern die nächste Generation, namentlich der Brite Sir Francis Galton (1822–1911) und seine Kollegen, die den Durchschnitt instrumentalisierten, um die angebliche Überlegenheit der «Weißen Rasse» zu beweisen und durch die Vermessung des Menschen und die Errechnung des Durchschnitts das neue «Normal» als Wissenschaft zu propagieren. Was bei Quetelet schon problematisch war, nämlich dass das «Normale» als «gesund» und «erstrebenswert» deklariert wurde, wurde von Galton und Co. weiter zugespitzt, indem sie das «Normale» mit dem «Mittelmäßigen» gleichsetzten.[19] Der Durchschnitt galt als etwas, das es auf dem Weg zur Perfektion, also zum «Übermenschen», zu überwinden galt. Eugenik und Dysgenik[20] waren die angesagten Pseudowissenschaften der vorletzten Jahrhundertwende und lieferten dem schwelenden Faschismus in ganz Europa und den USA Scheinargumente für ihre Hierarchien menschlicher Existenzen, an dessen Speerspitze der «Herrenmensch» stand. Die Eugenik war nicht etwa eine randständige Disziplin, die belächelt wurde, sie erfreute sich großer Beliebtheit unter den wissenschaftlich interessierten Eliten westlicher Länder, auch unter Persönlichkeiten, die uns heute nicht unbedingt als problematisch in kollektiver Erinnerung geblieben sind, wie beispielsweise der französische Seefahrer Jacques Cousteau oder die taubblinde Schriftstellerin und Aktivistin Helen Keller. Die Eugenik prägte die Verfolgungsprogramme der Nationalsozialisten maßgeblich und weist zudem leider auch bemerkenswerte Parallelen zur Gegenwart auf, aber dazu später mehr. Aus der Eugenik leiteten sich auch Rechtfertigungen für die Genozide an allen Menschen ab, die den faschistoiden Vorstellungen aufgrund von Glaube, Ethnie, Sexualität, geschlechtlicher Identität, körperlicher oder geistiger Behinderung sowie politischer Gesinnung nicht entsprachen. Dieses neue «Normideal» sollte im Nationalsozialismus durch die brutale Ermordung von 17 Millionen Menschen erreicht werden. Aber auch an anderen Orten verbreitete sich die Idee einer von «Menschenhand gelenkten Auslese», wie sie durch Zwangssterilisierung erreicht werden konnte. Von den 1920er- bis Mitte der 1970er-Jahre wurden in den USA durch staatliche Institutionen Sterilisationen und Hysterektomien[*] an Schwarzen Menschen, Autist*innen, Menschen mit geistiger Behinderung und Sexarbeiter*innen durchgeführt, um sie daran zu hindern, Kinder zu bekommen. Und auch im Nachkriegsdeutschland galt noch bis ins Jahr 2011, dass transgeschlechtliche Menschen, die sich für geschlechtsangleichende Operationen entschieden hatten, dabei zwangssterilisiert werden mussten. Das trifft auf etwa 10000 Menschen in der BRD zu.
Weitere Utensilien in diesem neuen «Normal-Werkzeugkasten» des 19. Jahrhunderts: die Kraniologie, die Vermessung von Schädeln, sowie die Phrenologie, die Vermessung der Seele. Diese beiden Pseudo-Disziplinen entstanden ebenfalls aus dem «Durchschnittseifer» heraus, beide erfreuten sich unter den Eliten großer Beliebtheit und waren das, was man heute Mainstream nennen würde. Weiße Männer brauchten schließlich dringend Argumente, um sich ihrer Überlegenheit gegenüber Frauen und Schwarzen Menschen zu vergewissern, denn diese Gruppen begannen Mitte des 19. Jahrhunderts unabhängig voneinander zu rebellieren und drohten der «natürlichen Ordnung» gefährlich zu werden. Um dem entgegenzuwirken, wurden, gemäß der Lehre von Franz Joseph Gall (1758–1828), fleißig Köpfe und Schädel, die unter zweifelhaften Umständen beschafft worden waren, vermessen und kategorisiert, Gehirne gewogen und kartografiert, aber vor allem auch ohne Ende Daten gefälscht, da die Grundannahme, Weiße Männergehirne seien potenter und müssten somit auch größere Schädel aufweisen, natürlich von vorne bis hinten erstunken und erlogen war.
Irgendwann stand fest, dass die Weißen Männergehirne trotz ihrer angeblichen Allwissenheit nicht wirklich schwerer waren als andere, und so musste wieder ein neues Pseudoinstrument herangezogen werden, um die Stellung des Weißen Mannes an der Spitze aufrechtzuerhalten: der sogenannte Intelligenzquotient (IQ). Eine einfache Zahl, die eine Quantifizierung von Potenzial anstrebt, indem sie bestimmt, wer über, unter oder genau im Durchschnitt liegt. Woran der Eugeniker Francis Galton mit seinen eigenen Bestrebungen, «menschliches Potenzial» auf eine Formel zu bringen, noch gescheitert war, gelang 20 Jahre später, genauer 1905, dem französischen Psychologen Alfred Binet und dem Arzt Théodore Simon. Sie entwickelten einen standardisierten Test, welcher später der IQ-Test werden sollte. Ursprünglich war der Test nur als Index gedacht, um den Förderungsbedarf bei jungen Schüler*innen zu bestimmen, doch verselbstständigte sich das Instrument, ähnlich wie im Fall von Quetelets Durchschnitt, und wurde zu einer Kategorisierung von Menschen, indem er den Anschein erweckte, evidenzbasiert zu sein. Das war er nicht, denn dieser Test stellte je nach Ideologie und Hintergrund der Test-Ersteller*innen immer nur die Überlegenheit der eigenen Gruppe sicher. Kurzum, es ging in der Geschichte der angeblich wissenschaftlich fundierten IQ-Tests immer biased gegen Schwarze, Indigene Menschen, Migrant*innen und lange Zeit auch Frauen zu.
Noch heute werden in Deutschland Menschen mit Uterus, die eine geistige Behinderung haben, teilweise zwangssterilisiert[21], und die Ergebnisse solcher Tests entscheiden über so manche schulische und berufliche Karriere oder medizinische Diagnose.
Der BMI und der IQ sind nur Beispiele. Überall, wo der Durchschnitt regiert, der Wert eines Menschen an eine Zahl gehängt wird, die es erlaubt, Menschen in Kategorien einzuteilen und gegebenenfalls auszuschließen, wird kaum merkbar das vermeintliche Ideal des Heteropaares Norma und Normman angestrebt. Ja, es gibt sie wirklich. Sie sind nackt, ihre Haut ist alabasterfarben, und ihre Körper sind von einer mathematischen Durchschnittlichkeit, wie sie in den 1930er-Jahren nur ein Querschnitt der Weißen amerikanischen Bevölkerung zwischen 21 und 25 Jahren hergeben konnte.
Norma und Normman sind Statuen im Cleveland Health Museum und das Werk des Künstlers Abram Belskie sowie des Gynäkologen Robert Latou Dickinson, die sie in den 1940ern auf Grundlage dieser statistischen Daten modelliert haben. Rassifizierte Menschen wurden ganz bewusst aus den Datensätzen eliminiert, da auch diese beiden überzeugte Eugeniker waren und mit ihren Skulpturen den «wohlgeratenen Status quo» der durchschnittlichen Weißen Amerikanerin und des durchschnittlichen Weißen Amerikaners zeigen wollten. Norma und Normman sollten keine Wirklichkeit abbilden, sie sollten zu einer Gesellschaft inspirieren, eine Richtung vorgeben.[22]
Ein Detail an diesen Skulpturen fand ich dabei besonders bemerkenswert: Normas Vulva lässt sich höchstens erahnen, sie hat da einen vollkommen symmetrischen, glatten Pfirsich zwischen ihren Beinen. Ihre äußeren Labien sind geschlossen, nichts hängt über oder raus, und die Klitoris ist unsichtbar.[*] Schwer zu glauben, dass dies der durchschnittlichen (Weißen) Vulva entsprechen soll, zumal Normman nicht nur einen detaillierteren Penis, sondern auch Haare darüber und am Hoden hat.
Auch das kommt nicht von ungefähr, die Vulva Obscura zieht sich durch die Kunst-, Kultur- und Medizingeschichte, und weil das so ist, ist es auch nicht verwunderlich, dass es ganze Industriezweige gibt, die uns Lösungen für angeblich «unnormale» Vulven anbieten. Von vergleichsweise harmlosen Enthaarungsmethoden bis hin zur Labien-Rekonstruktion via Schönheits-OP ist alles zu finden und zu kaufen.[23] Denn wenn wir nicht lesbisch oder bi sind, regelmäßig schwimmen oder saunieren (wobei da auch eher alle versuchen, nicht zu glotzen) oder beruflich mit nackten Körpern zu tun haben, ist die Anzahl der Vulven, die wir als weiblich gelesene Person zu Gesicht bekommen, nicht besonders groß. Die mögliche Verunsicherung dagegen potenziell schon.[*]
Medizinisch wurde die Vulven-Diversität erstmals 2018 (!) in der Luzerner Vulva-Studie untersucht. 657 cis Frauen und Mädchen (alle Weiß) zwischen 15 und 84 Jahren nahmen teil, die inneren und äußeren Labien wurden vermessen – und herauskam, dass es natürlich eine riesengroße Spannbreite an unterschiedlichen Vulven gibt. Niemand hat versucht, daraus einen Durchschnittswert zu bilden, denn es war absolut klar, dass der keine Aussagekraft über irgendetwas gehabt hätte. Nicht in einer statistischen Normalverteilung, sondern in der Unterschiedlichkeit liegt die Befreiung und die tatsächliche Normalität. Und das, also die Befreiung der Vulva aus ihrer obskuren Ecke, in der die ganze patriarchale Macht steckt, ist auch das Anliegen der bereits erwähnten Künstlerin Lydia Reeves, weshalb es ihr eben wichtig ist, alle Vulven zu zeigen.
Was mich zurück zu Jessica Pin und ihrer Verachtung gegenüber Vulven bringt, die nicht ihrer eigenen Vorstellung entsprechen. Denn wie die Journalistin Kady Ruth Ashcraft in einem Artikel für Jezebel schon korrekt beschrieb, ist die von Pin beanspruchte Deutungshoheit darüber, was eine Vulva ist und was nicht, nichts anderes als «pussy phrenology».[24] Und weil ein Überlegenheitsanspruch selten allein kommt, fanden sich unter ihren alten Tweets weitere pseudowissenschaftlich konstruierte Ansprüche darauf, dass Weiße Menschen die schlausten, die reichsten und die erfolgreichsten sein sollen und warum das alles ganz natürlich und normal sei und nicht etwa Ergebnis von rassistischen Tests, Kolonialisierung, strukturellem Rassismus und Armutsbetroffenheit.
Pin ist nichts Besonderes. Wie ich im Vorwort schon angedeutet habe und in den folgenden Kapiteln weiter ausführen werde, erleben wir gerade, wie die misogynen und rassistischen Rollenbilder des 19. Jahrhunderts sowie die Retro-Pseudowissenschaften der White-Supremacy-Bewegung des 20. Jahrhunderts ein Comeback in den sozialen Medien und auf gesellschaftspolitischen Bühnen feiern. Allein die Vulva dient unterschiedlichen Gruppen, die auf den ersten Blick ideologisch nicht unbedingt auf einer Seite stehen, als Demarkationslinie in Sachen Normalität. Als ich im Herbst 2023 mit einer Freundin, der türkischen Journalistin und Podcasterin Hazal Sipahi[*] über das Thema sprach, erzählte sie mir, dass gerade eine andere Form der Pussy-Phrenology unter türkischen Incels verbreitet ist. In zahlreichen Videos auf den sozialen Medien führten diese Männer «Untersuchungen» anhand von Bildmaterial durch, wobei sich deren Unterscheidung von normal und unnormal vor allem auf die Farbe der Vulva und ihre Behaarung bezieht. Wenig überraschend: je heller und je unbehaarter, desto «normaler» die Vulva.[25] Die primäre Kampfzone der türkischen Incels ist hier also Rassismus, wohingegen es bei Pin in erster Linie Transfeindlichkeit ist. Und auch auf deutschen Instagram-Kanälen von ehrgeizigen Influencer-Wannabes wird unter ominösen Hashtags wie #faceprofiling oder #gesichtlesen Gall’sche Schädellehre betrieben, die jede*n Nazi stolz gemacht hätte. Dass dabei ebenfalls Transfeindlichkeit reproduziert wird, versteht sich von selbst.[*]
Auch die Begeisterung für die Ideen der Eugenik ist in einem leicht modernisierten Gewand zurück. Die sogenannten Pronatalisten, die vor allem in den USA zu finden sind, haben große Pläne: Sie wollen die Menschheit retten, indem sie selbst so viele Babys wie möglich in die Welt setzen und nach ihrer Ideologie erziehen. Was in christlich-fundamentalistischen Kreisen die Quiverfull-Bewegung ist, in der Kinder Pfeile im Köcher Gottes darstellen und die göttliche Armee mit jedem Kind wächst und erstarkt, sind für reiche Eliten und Tech-Milliardäre wie Elon Musk und deren Weltherrschaftspläne die Pronatalisten. Ihre Galionsfiguren sind zurzeit das Ehepaar Collins, die aus Mutter Simone, Vater Malcolm und, wenn dieses Buch erscheint, vier, wenn nicht gar fünf oder sechs Kindern besteht. Doch die Collins-Family ist erst am Anfang ihrer Mission: Wenn es nach ihnen geht, wollen sie und ihre Gleichgesinnten dem Rückgang der Geburtenrate in den Industrieländern entgegenwirken, indem Weiße Akademiker*innen, die sich selbst für die Speerspitze der Menschheit halten, so viele genetische Nachkommen wie möglich auf die Welt bringen. Dies soll den Bestand ihrer eigenen Elite nicht nur gewährleisten, sondern auch die Weiße Vorherrschaft ausbauen. Ihre Babys werden nicht einfach geboren, sie werden im Vorfeld designed, sprich: Embryonen werden im Labor auf Wahrscheinlichkeiten für Krankheiten getestet, körperliche wie psychische, der IQ will schon in der Petrischale bestimmt werden, und sogar Marker für erfolgreiche Karrieren wollen die Labore feststellen können. Nur eine Selektion der «vielversprechendsten Exemplare» bekommt die Chance, in einen Uterus eingepflanzt und (Über-)Mensch zu werden. Das genetische Screening ihrer potenziellen Nachkommen ist also nichts anderes als der Versuch sicherzustellen, dass es nicht nur genug von ihnen gibt, sondern sie auch so «fit» sind, dass sie die menschliche Evolution innerhalb weniger Generationen wirklich «optimieren» können – so viel zum Wunschdenken der Pronatalisten. Und sie wollen darin sogar einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen sehen: «You’re producing healthier people – less expensive», sagt Simone Collins in einem 2024 erschienenen Porträt über ihre Familie im britischen Guardian, in dem ein bizarrer Satz den nächsten jagt.[26] So mögen die Collins-Eltern zum Beispiel keine Kinder, schlagen sie bisweilen und versuchen, die Kindheitsjahre mit möglichst minimalem Aufwand «herumzubekommen», bevor ihre Nachkommen die Gesellschaft dann produktiv neu gestalten sollen. Finanziert werden die Pronatalisten-Bewegung und ihre Propaganda-Events aus erwartbaren Quellen: Leute mit kruden Ideen über Effective Altruism und Kolonien auf dem Mars. Klingt total bescheuert, entspricht aber einer gruseligen Wahrheit. So weit das «normal» der Zukunft, wenn diese Leute ihren Willen bekommen.
Zurück in die Gegenwart, wo die Normalität von Personen wie Pin, Bosbach, Kelle und so vielen anderen namhaften Frauen aufgrund der Existenz von trans Menschen, insbesondere aber von trans Frauen, angeblich bedroht ist. Um auf diese vermeintliche Bedrohungslage aufmerksam zu machen, hat sich in den letzten Jahren unter Feminist*innen die Gruppe der TERFs (trans*exclusionary radical feminist)[27] hervorgetan. TERFs marschieren lieber Schulter an Schulter mit Faschist*innen auf der Straße und werden dabei selbst zu welchen, als den eigenen Überlegenheitsanspruch und seine ideologischen Wurzeln zu überdenken. Denn Transfeindlichkeit – das haben rechte und rechtsextreme Gruppierungen schon vor Jahren erkannt – ist die goldene Eintrittskarte in die sogenannte bürgerliche Mitte und sogar in manche linke Kreise. Mit dem «Kulturkampf» gegen die angebliche «Trans-Ideologie», die in deren Argumentation das Leben und den Fortbestand unserer Kinder und cis Frauen gefährden soll, lässt sich mobilisieren und radikalisieren, auch ausgerechnet dort, wo einst Hopfen und Malz verloren schien – unter Feministinnen. Es gibt Strategiepapiere auf rechtsextremen Plattformen, welche die einzelnen Schritte der Infiltrierung und Radikalisierung von bereits bestehenden (linken) TERF-Gruppen ausführlich darlegen, inklusive Anleitungen zum Nachahmen.[28]
Das Beharren auf einer rigiden Geschlechterbinarität, die auf einem wissenschaftlich widerlegten «biologischen Geschlecht» basiert, sowie einer daraus resultierenden Hierarchie zwischen «Mann» und «Frau», in der alle Männer gewalttätig sind und alle Frauen vor ihnen geschützt werden müssen, ist eine von TERFs gehaltene Überzeugung, welche Tür und Tor für weitere Formen biologischer Hierarchisierung offen hält. Im Stechschritt spazieren nichts anderes als Eugenik und Rassismus herein, tragende Säulen der alten und neuen White-Supremacy-Ordnung. Ein weiterer Aspekt dieses Biologismus und Gender-Essenzialismus ist die Reduktion von «Frausein» auf die reproduktiven Organe (also Uterus, Eierstöcke, Vagina und Vulva), was wiederum deckungsgleich ist mit der rechtsextremen Ideologie, die Natur der Frau sei es, Mutter zu werden und möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen.
Die Wandlung zu einer TERF-Faschistin ist vollbracht, wenn sie dazu gebracht wird, das Patriarchat als «ein System anzuerkennen, in dem die Triebe und Stärken der Männer sich entfalten und in gesunde Bahnen gelenkt werden können, während Frauen für ihre materielle Realität und die Geschenke, die unsere einzigartige Biologie bietet, geschützt und respektiert werden», wie es in einem dieser rechtsextremen Strategiepapiere heißt, das mittlerweile nur noch in Online-Archiven existiert.[29]
«Welch düstere Ironie, dass die TERFs mit ihrem Beharren auf einem ‹Feminismus› ohne trans Frauen genau das Werkzeug konstruiert haben, mit dem die Faschisten den Feminismus insgesamt zerstören wollen», schreibt Autor Jude Ellison S. Doyle in seiner Recherche über die Vernetzungen von TERFs mit dem Faschismus.[30] Die Mär, dass alle Feministinnen in ihrem Kampf um Gleichberechtigung den Antifaschismus hochhalten, ist längst entlarvt. Transfeindlichkeit ist mittlerweile zu einer paranoiden Ideologie geworden, die das ganze Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt zerstört und selbst einst linke Überzeugungen überschreibt.
Wie das funktioniert, davon konnten wir uns alle während der Olympischen Sommerspiele 2024 überzeugen, als nach dem Sieg der algerischen Boxerin Imane Khelif gegen die italienische Boxerin Angela Carini nach 46 Sekunden prominente Anführerinnen der TERFs sich aufschwangen, Khelif, einer cis Frau, ihr Frausein abzusprechen, da sie deren Vorstellung von Weiblichkeit optisch nicht entsprach.[*]
TERFs sind überzeugt, «normale Frauen» zu sein, weshalb sie nicht gegen Faschist*innen kämpfen, da sie ihre Spaltung von «normal» und «unnormal» teilen. Im Gegenteil, TERFs suchen geradezu die Nähe rechter Organisationen, weil dahinter Geld und Macht stehen, deren Einfluss wir uns gerade hier in Deutschland noch kleinzureden versuchen. Es geht um eine gezielt geschürte Angst und den Erhalt des eigenen Opferstatus, und das um jeden Preis. Der EPF-Bericht zeigt auf, dass im Zeitraum 2009 bis 2018 707,2 Mio. USD aus den USA, Russland und Europa für Anti-Gender Kampagnen ausgegeben wurden, gerade in den letzten Jahren des Untersuchungszeitraums haben sich die Ausgaben vervielfacht.[31] In den USA sind es fundamental-christliche Gruppen und White Supremacists, die Anti-trans-Kampagnen finanzieren – mit großem Erfolg. Noch vor Trumps zweiter Präsidentschaft haben 39 der 52 Bundesstaaten mehrere Dutzend Anti-trans-Gesetzesentwürfe vorgeschlagen, die den Menschen beispielsweise Zugang zu Krankenversicherung oder öffentlichen Einrichtungen verbieten sollen[*], 23 Bundesstaaten haben diese schon ins Gesetz verabschiedet.[32] Rechte Vereine wie die fundamental-christliche Alliance Defending Freedom (ADF), die vor allem an juristischen Fronten gegen die Rechte von LGBTQ+-Menschen und das Recht auf Abtreibung kämpfen, haben längst erkannt, dass ihre Kampfzone sich von den USA problemlos nach Europa ausweiten lässt.
Laut einer Correctiv-Recherche hat die ADF ihre Ausgaben in den vergangenen Jahren in Europa vervielfacht, und gerade vor der Europawahl 2024 sind weit mehr als eine halbe Million Euro in die Organisation von Konferenzen, Hintergrundrunden in den EU-Institutionen und Briefings geflossen. Dabei sind sowohl die Geldgeber als auch die meisten der Geldempfänger unklar, Kontakte gab es zu CDU/CSU sowie zur AfD.[33] Auch Russland mischt heftig mit und finanziert Kampagnen im Ausland, da nicht nur Putin selbst ein Feind von LGBTQ+-Menschen ist, sondern der Kreml insgesamt erkannt hat, dass dieses Thema in anderen demokratischen Ländern Zündstoff bietet und das Potenzial hat, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schwächen. Hierzulande sind es rechtsextreme Stiftungen und Initiativen deutscher Adliger, wie die der Familie von AfD-Politikerin Beatrix von Storch, die seit Jahren Millionen in Anti-trans-Propaganda pumpen, weil es sich lohnt.[34]
Wie Autor*in Masha Gessen, selbst trans und nicht binär, im Oktober 2023 in dem New York Times-Podcast The Ezra Klein Show erklärte, brauchen Autokrat*innen und solche, die es werden wollen, weltweit einen effektiven Weg, um ein einfaches Versprechen unters Volk zu bringen, das da lautet: «Ich kann dich zurückführen in eine eingebildete Vergangenheit.»[35] In eine eingebildete Vergangenheit, in der Frauen noch Frauen waren, Männer noch Männer und Familien noch Familien – normal halt. Rollen waren vorgeschrieben, alles war vorhersehbar, und das Leben verlief innerhalb einer bürgerlichen Komfortzone, in der niemand gezwungen war, sich mit etwas außerhalb dieser Zone beschäftigen zu müssen, geschweige denn, es zu akzeptieren. In dieser fiktiven Vergangenheit, so Gessen, kam zwischen Eltern und Kind kein Blatt, nichts konnte dazu führen, dass Eltern ihr Kind nicht mehr verstehen und eine Familie daran zu zerbrechen drohte. Diese Gefahr, die dank der Anti-trans-Propaganda jetzt als allgegenwärtig wahrgenommen wird, beruht allein auf der irrigen Annahme, dass die Existenz von trans, inter und nicht binären Menschen eine Gefahr für dieses «Ideal» darstellt. Die Tatsache, dass es diese beschworene Vergangenheit nie und queere Menschen hingegen schon immer gegeben hat, auch wenn sie lange Zeit weniger sichtbar waren, interessiert diese Leute nicht.[*] Schließlich geht es nicht um historische Fakten, sondern um ein nostalgisches Gefühl.
Längst schon werden Menschen im Namen dieser Ideologie ermordet. Der Amoklauf im LGBTQ+-Club Q in Colorado Springs in der Nacht vom 19. auf den 20. November 2022, bei dem fünf Menschen getötet wurden, darunter der trans Mann Daniel Aston und die trans Frau Kelly Loving, ereignete sich am Abend vor dem International Transgender Day of Rememberance. Die 15-jährige Brianna Ghey wurde im Februar 2023 aus transfeindlichen Motiven in Großbritannien ermordet. Und auch bei uns in Deutschland wurde im März 2022 in Herne ein trans Mädchen aus Transfeindlichkeit fast zu Tode geprügelt.[36] Am 4. März 2023 erntete der rechte Host Michael Knowles auf der Conservative Political Action Conference (CPAC) tosenden Applaus für die Aussage: «Zum Wohle der Menschheit: Transgenderismus muss vollständig aus dem öffentlichen Leben ausgemerzt werden – die ganze abartige Ideologie, auf jeder Stufe.»[37]
Klare Aufrufe zum Genozid sind längst kein Tabu mehr und auch kein Einzelfall, und sie zeigen ihre Wirkung. Am 18. März 2023 marschierten in Australien mehrere Dutzend Neonazis, den Hitlergruß zeigend und NS-Abzeichen tragend, durch die Straßen Melbournes, um ihre Solidarität mit der britischen TERF Kellie-Jay Keen zu zeigen und sie vor etwaigen Gegendemonstrant*innen zu «beschützen».[38] Keen hatte zwei Wochen zuvor Neonazis als ihre «friends» bezeichnet und dazu aufgefordert zu erscheinen.[39] Im September 2024 wurde in der georgischen Hauptstadt Tiflis das Model Kesaria Abramidze, eine junge trans Frau, mit 50 Messerstichen brutal in ihrer Wohnung ermordet. Nur einen Tag zuvor hatte das georgische Parlament sein «Anti-LGBTQ-Propaganda»-Gesetzespaket verabschiedet.
Diese Liste könnte täglich erweitert werden, und während ich diesen Text vor seiner Veröffentlichung noch einmal lese, müssten die Beispiele bereits durch Vorfälle ersetzt werden, die sich gestern und vorgestern ereignet haben. Angesichts der Allgegenwart faschistischer Rhetorik in den Medien, auf Social Media und ganz allgemein in den Köpfen kann ich nur unterschreiben, was der amerikanische Journalist Michael Hobbes kürzlich in Bezug auf die zahlreichen transfeindlichen Artikel in der New York Times sagte: «Die Zeiten des ‹Man wird ja wohl noch fragen dürfen› sind längst vorbei.»[40] Für «Wehret den Anfängen» ist es bereits zu spät, wir sind schon mittendrin, der Faschismus klopft nicht mehr bloß an die Tür, er ist mitten unter uns. Menschen publizieren Streitschriften, organisieren «Friedensmärsche» und rufen zur Verdrängung unserer trans Geschwister unter dem Deckmantel von «Frauenschutz» und einer «Rückkehr zur Normalität» auf.
Aber, und das ist an dieser Stelle kein kleines, sondern ein großes ABER, über das ich in den vergangenen Jahren viel nachgedacht habe: Meine Einschätzung rund um das Thema TERFs soll zur Vorsicht mahnen und nicht spalten. Das ist ein Drahtseilakt, der mir zugegebenermaßen in letzter Zeit immer schwerer fällt. Im Herbst 2023, während der Arbeit an diesem Kapitel, habe ich einen offenen Brief gegen einen Auftritt von Alice Schwarzer und ihrem Verleger Helge Malchow beim Leipziger Literaturfestival «Literarischer Herbst» in Leipzig unterzeichnet, da im Rahmen eines Literaturfestivals keine Bühne für Hetzer*innen geboten werden sollte. Ob ein offener Brief nun ein Mahnen oder ein Spalten ist, kann ich nicht beurteilen, aber ich bin für mich zu dem Schluss gekommen, dass Schwarzer in den letzten Jahren alles darangesetzt hat, ihr großes feministisches Lebenswerk zu untergraben, indem sie den Fokus ständig weg von ihren Errungenschaften – oder den realen feministischen Problemen unserer Zeit – hin zu Hetze gegen Muslim*innen, trans Menschen und andere marginalisierte Gruppen lenkt und dazu populistische Aussagen publiziert. Aus diesem Grund ist es meiner Meinung nach gerechtfertigt, Kritik an solchen Veranstaltungen zu äußern.
Schwerer fällt mir die Kritik an Personen des nichtöffentlichen Lebens, die durch eine solche Positionierung weder Macht noch Einfluss oder Geld gewinnen, sondern populistischer Propaganda auf den Leim gegangen sind. So wie die Frau mit dem bunten Halstuch gab es einige Personen, meist etwas älter als ich, die mich nach Veranstaltungen in Gespräche über ihre Vorbehalte gegenüber etwa dem Selbstbestimmungsgesetz verwickelt haben. Die Sache ist aber die: Es ist nicht wirklich kompliziert, auch wenn Akteur*innen mit ihrer rechten Agenda gegen Transrechte uns das weismachen wollen.
«Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte» nennt der Soziologe Steffen Mau diese Themenbereiche, die von rechten Akteur*innen emotional derart überladen werden, dass Stellung bezogen werden muss. «Die greifen ein Unbehagen gegenüber bestimmten Veränderungen der Gesellschaft auf und stellen es so zentral, dass die Menschen ihre ganze politische Position daran ausrichten. Das ist eine große Gefahr», sagte Mau 2024 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.[41] Seine Forschungen haben ergeben, dass es in den vergangenen 30 bis 40 Jahren nicht mehr Menschen mit rechten Einstellungen gegeben hat, sondern die Positionen an den rechten Rändern an Reichweite bis hin zur Mitte hinzugewonnen haben. Und diese Mitte sei wiederum beweglicher geworden, da sie nicht mehr, wie in den 1980er- und 1990er-Jahren, ideologisch an eine Partei gebunden ist – was dazu führt, dass große politische Akteure, wie beispielsweise Parteivorsitzende von CDU/CSU und SPD, dem öffentlichen Diskurs hinterherlaufen und bei dem Versuch, relevante Positionen zu beziehen, nicht selten wie provokante Edgelords[*] rüberkommen.
So zum Beispiel Friedrich Merz, der behauptete, Geflüchtete würden sich auf Kosten der Bundesrepublik Deutschland hier bloß die Zähne erneuern lassen.[42] «Unter ihm, der mit rechten Äußerungen polarisiert und die CDU als ‹Alternative mit Substanz› darstellt, erodiert in der CDU die Abgrenzung nach rechts außen. Davon profitiert Rechtsaußen in der Normalisierung ihres Neofaschismus (der rechtsextreme Vordenker Götz Kubitschek spricht auf rechten Plattformen von ‹Normalisierungspatriotismus›)», schreibt der Soziologe Matthias Quent im Schweizer Magazin Republik.[43] Oder auch Julia Klöckner, ebenfalls CDU, die Unwahrheiten über Migrant*innen und Zahnarztkosten oder auch Covid in den Äther ballert, wohl wissend, dass dies Nährboden für rechte Hetze ist.[44] Und Thüringens CDU-Chef Mario Voigt spricht über Robert Habecks Pläne für ein Heizungsgesetz im Herbst 2023 von «Heizungs-Stasi», eine Formulierung, die ihn ebenfalls prominent in den Medien platziert hat und vom rechten Rand mit Beifall belohnt wurde.
Auf diese Weise ist man jedoch nicht nur der Aufhänger rassistischer Kampagnen von rechten Medien und Steigbügelhalter für Faschos, sondern auch auf verlorenem Posten, wenn es darum geht, möglicherweise eigene Inhalte in der Gesellschaft zu platzieren. Gleichzeitig wird über bestimmte Themen, wie eben Migration oder die Rechte von trans Menschen, Mobilisierungspotenzial in der Wähler*innenschaft frei, die in Bezug auf diese Themen von ihren Gefühlen geleitet werden, auch wenn sie ansonsten kein rechtsnationales Weltbild haben. «Die Mitte ist akustisch abgedimmt, und die Ränder, vor allem der rechte, sind lauter geworden», so Mau in der Süddeutschen Zeitung.[45] Was wahrscheinlich die Erklärung dafür ist, dass ich in den letzten Jahren einen rasanten Anstieg an transfeindlichen Akteur*innen in feministischen Kreisen wahrgenommen habe. Gleichzeitig warnt Mau auch vor der Gefahr, aus diesen Beobachtungen etwas Grundsätzliches für die eigene Positionierung abzuleiten. Denn was wir gerade erleben, sei eine gefühlte Spaltung der Gesellschaft, die der tatsächlichen Spaltung vorausgeht und sie erst möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich macht. Anders gesagt, wenn wir davon ausgehen, gespalten zu sein, verhalten wir uns gespalten und werden gespalten – die selbsterfüllende Prophezeiung.
Und noch etwas anderes ist in diesem Zusammenhang wichtig: Die «Polarisierung» sowie das Lamentieren über eine angeblich auseinanderdriftende Gesellschaft mit einer sich auflösenden Mitte wird gerade von rechten Akteur*innen und Instanzen als Nebelkerze gezündet, um von der Tatsache abzulenken, dass es sie und ihre extremistischen Ideen sind, die diese Risse absichtlich provozieren. Der Politikwissenschaftler und USA-Experte Thomas Zimmer beschreibt, wie auf diese Weise die Verantwortung für die Spaltung auf andere, also Linke verlagert werden soll und so getan wird, als würde man selbst die Spaltung beunruhigend und bedauerlich finden – der Konflikt der Spaltung ist nicht nur ein Problem, sondern auch das Instrument[46], indem er als Thema gesetzt und ins Zentrum gerückt wird. So finanziert beispielsweise Multimilliardär Charles Koch, der letzte Vertreter der Koch-Brüder[47], das «Polarization Research Lab», ein Thinktank, der laut eigener Aussage «Amerikas toxisches Auseinanderdriften» lösen möchte, ideologisch jedoch rechtslibertäre bis rechtsextreme Positionen mainstreamfähig machen will.[48]
Das Gleiche in Grün, eher gesagt in Antigrün, sehen wir auch in Deutschland: «Das wichtigste Instrument sozialer Gerechtigkeit bleibt die Steuerpolitik. Doch von der Politik der AfD profitieren nicht die Mittel- und Unterschichten, deren Sorgen die Rechten radikalisieren, sondern die Reichsten. Die Klassenposition der Vermögenden wird von Kulturkampf- und Verschwörungserzählungen verschleiert und geschützt. Denn das ist die tragische Ironie: Antigrüne und antiökologische Narrative sind weit über das Milieu der von Armut betroffenen Menschen zustimmungsfähig, weil sie letztlich Ungleichheiten, Gewohnheiten und Privilegien als ‹Normalität› gegen ‹übergriffige grüne Ideologie› verteidigen», so noch mal Quent.[49] Da haben wir es: Eines der bestgehüteten Geheimnisse von Macht besteht in der Deutungshoheit über die «Normalität»!
Der Glaube an ein Auseinanderdriften ist also selbst zum Werkzeug ebendieses Auseinanderdriftens geworden, aber das heißt im Umkehrschluss natürlich (leider!) nicht, dass der Rechtsruck Einbildung ist. Im Gegenteil, der Rechtsruck in Deutschland ist eine Tatsache. Seit 2023 haben wir zum ersten Mal einen AfD-Bürgermeister und einen AfD-Landrat. Die so oft heraufbeschworene Brandmauer gegen rechts hat sich als Wohlfühlmärchen entpuppt, denn in der Realität kooperieren CDU/CSU und FDP auf Landesebene sehr wohl mit Stimmen der AfD, wenn es darum geht, Mehrheiten bei Gesetzen gegen linke Landesregierungen durchzusetzen. «Die Empörung über dieses Vorgehen blieb überschaubar – die Normalisierung ist fortgeschritten», schreibt Quent.[50] Gerade dort, wo die rechtsextremistischsten Köpfe der Partei regieren, fährt die AfD die besten Ergebnisse ein. Das macht unmissverständlich klar, dass es nicht Protestwähler sind, sondern Menschen, die rechtsextreme Ansichten teilen und von diesen auch regiert werden wollen.
Was mich zu einem Dilemma bringt, für das ich keine Lösung habe. Ich frage mich häufig, inwiefern mein Gefühl einer auseinanderdriftenden Gesellschaft meine Arbeit beeinflusst und ich so Einstellungen produziere, die selbst spalten. Denn eine rigorose Sprache, wie zum Beispiel die klare Benennung faschistischer Einstellungen, ist für mich eine Form des Widerstands und des Aktivismus. Grauzonen sind, was universelle Menschenrechte angeht, nicht angebracht. Dass dies in seiner Radikalität aber einige Menschen abschreckt, die auf der Schwelle stehen – unsicher, ob sie gedanklich bis zum Schluss mitgehen wollen –, ist mir durch zahlreiches Feedback klar geworden. Und auch wenn ich es eine Zeit lang versucht habe, kann ich nicht mit jeder Person, die eine Lesung besucht oder mir in den sozialen Medien schreibt, eine Diskussion über den Ursprung ihrer transfeindlichen Einstellungen führen und versuchen, sie zu beeinflussen, anders über das Thema zu denken. In manchen Fällen wäre das sicherlich sinnvoll, da die Grenzen hin und wieder gar nicht so verhärtet sind, wie es ursprünglich den Anschein hat. Das gilt insbesondere dann, wenn wir erkennen, woher unsere Vorbehalte und Ängste kommen und wie sie gegen uns eingesetzt werden – und wenn wir uns gegenseitig den Raum geben, zu verstehen und daran zu wachsen. Aber diese Gratwanderung zwischen klaren Worten für das, was sich direkt vor unserer Nase zuträgt, und gleichzeitig die Tür nicht für all jene zu verschließen, die im Spagat über der Kluft hängen, ist eine riesige Herausforderung.
Diejenigen, die tatsächlich am Hebel sitzen und der Spaltung etwas entgegensetzen müssen, sowohl der gefühlten als auch der realen, sind Politiker*innen. Aber gerade in der Politik bereitet mir der gegenwärtige Zustand einer intersektionalen, solidarischen Linken so manch schlaflose Nacht.
Deshalb ist es umso wichtiger, Lichtblicke hervorzuheben. «They are weird», so bezeichnete Tim Walz, Gouverneur von Minnesota und Running Mate von Kamala Harris die führenden republikanischen Politiker*innen und ihre faschistischen Pläne mit Blick auf die Zukunft der USA. Ein kleiner, auf den ersten Blick vielleicht unscheinbarer Satz, dessen politische Brisanz sich allerdings in den Tagen, Wochen und Monaten nach diesem Fernsehauftritt entfaltete, denn mit «they are weird» verschob sich mit drei kleinen Wörtern das «Normal» zurück in das Lager der demokratischen Kräfte. «They are weird» ist ein Fingerzeig auf all die totalitären, faschistischen Pläne, die mit Blick auf 2025 festgelegt und jetzt schon in die Wege geleitet werden (namentlich Project 2025). Walz, und infolgedessen die demokratische Harris/Walz-Wahlkampagne, hat damit gezeigt, dass man nicht nur die «Kampfzone Normalität» als solche erkannt hat, sondern die Deutungshoheit über das, was «normal» ist, endlich nicht mehr kampflos den rechten Akteur*innen überlassen will. «They are weird» ist die einfachste Art zu sagen: «Ihr behauptet, die Normalen zu sein, ihr behauptet, die zu schützende Klasse, die seit den späten 1960er-Jahren von Nixon heraufbeschworene ‹Silent Majority› zu sein, die aus hetero Weißen Christen der Mittelkasse besteht, aber in Wirklichkeit seid ihr nichts weiter als Rassist*innen, Sexist*innen und homophobe Trolle, die einen totalitären Staat anstreben.»
Dieser kleine Satz entlarvte Trump und Co. mitsamt ihrem White-Supremacy-Anspruch, für «die normalen Menschen» zu stehen. Insbesondere, weil derjenige, der ihn gesagt hat, Tim Walz, ebenfalls cis männlich, Weiß, hetero und Christ ist.[51] Mehr als 50 Jahre lang konnten die Republikaner also unwidersprochen für sich beanspruchen, für das «normale Amerika» zu stehen, bis endlich ein «Normaler» kam und sagte: Nein, ihr seid gruselig!
Genützt hat es trotzdem nichts, wie wir nun wissen. Entlarven reicht nicht mehr, ein großer Teil der Menschen will faschistische Politik, und das nicht nur in den USA. Doch die Linie, an der entlang die gesellschaftliche Spaltung verläuft, ist flexibel, und wir müssen aktiv daran arbeiten, dass wir die Deutungshoheit über das, was «normal» ist, so inklusiv und demokratisch wie möglich gestalten (wenn wir schon damit leben müssen, dass «normal» nicht verschwindet)!
White Supremacists werden nie aufhören, allen anderen zu erklären, wer oder was «normal» ist, denn diese Deutungshoheit ist ihr wichtigstes Instrument. Das sind die Machtwerkzeuge, die unsere Vorfahren in Europa und den USA in den letzten 150 Jahren installiert und die uns bis heute im Griff haben. «Normalität» als Idee werden wir so schnell also nicht los, aber wir können ihr die Macht nehmen, indem wir uns immer wieder klarmachen, woher sie kommt. Und wenn wir sie, so gut es geht, dekonstruieren.
Das Ganze ist sehr viel weniger abstrakt, als es sich anhört. Wir können bei den Dingen anfangen, die uns umgeben. So ist es zum Beispiel kein Zufall, dass Weiße Menschen zwar sehr genau zu wissen meinen, was typisch für andere Ethnien und Kulturkreise ist, dass bestimmte Muster, Farben und Formen sofort ein Gefühl dafür wecken, woher diese Dinge kommen und dass ihnen, egal ob Schmuck, Textilien oder Hairstyles, immer ein Hauch von «Exotik» anhängt. Doch wie sieht es umgekehrt aus? Was ist stereotyp Weiß? Das zu beantworten, ist sehr viel schwieriger, was daran liegt, dass in den letzten 200 Jahren einiges dafür getan wurde, westliche Kulturen einander anzugleichen und ihre Eigenheiten und Unterschiede zugunsten einer allgemeinen, Weißen und bürgerlichen Normalität zu minimieren.
Weiß-Sein ist genauso ein soziales Konstrukt wie Schwarz-Sein.[*] Das heißt, ob jemand als Weiß oder Schwarz gelesen wird, hängt nicht nur von der Farbe der Haut ab, sondern auch von kulturellen und historischen Bedingungen – context matters! Auch die körperlichen Eigenschaften, die wir heute mit Weiß-Sein verbinden, sind im Laufe der Zeit absichtlich durch besagte Pseudowissenschaften mit Macht und Privilegien ausgestattet worden, um die Herrschaft dieser Gruppe aufrechtzuerhalten. Die Autorin und Aktivistin Jacqueline Battalora spricht in ihrem Buch Birth of a White Nation[52] von der «Erfindung Weißer Menschen», da es bis Ende des 17. Jahrhunderts keine Weißen Menschen gab, weder als Kategorie noch als Ethnie. Indem Weiße Menschen sich ab dem Zeitpunkt als eine Gruppe konstruierten[53] und allen anderen gegenüber einen globalen Überlegenheitsanspruch entwickelten, wurden koloniale Ansprüche und die Versklavung von Schwarzen Menschen gerechtfertigt sowie eine Konzentration von Macht – der Beginn einer herrschenden Klasse, bedingt durch Weiß-Sein als Standard.
Die Theorie der Critical Whiteness