Wo das Eichhörnchen über die Burg springt - Thomas Wenig - E-Book

Wo das Eichhörnchen über die Burg springt E-Book

Thomas Wenig

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Beschreibung

Die Geschichte des Fischerjungen Christian im 18. Jahrhundert in Eckernförde. Vom Fischerjungen, über den kleinen Luden bis zum Verwalter des Armenhauses und Mitglied in der Loge "Kraft der aufgehenden Sonne". Sonderbare Verwandtschaftsverhältnisse und geheime Freimaurerlogen lassen uns in eine Zeit des Wandels blicken.

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Buchbeschreibung:

Die Geschichte des Fischerjungen Christian im 18. Jahrhundert in Eckernförde. Vom Fischerjungen, über den kleinen Luden bis zum Verwalter des Armenhauses und Mitglied in der Loge "Kraft der aufgehenden Sonne". Sonderbare Verwandtschaftsverhältnisse und geheime Freimaurerlogen lassen uns in eine Zeit des Wandels blicken.

Über den Autor:

Thomas Wenig, wohnhaft in der Region Hannover.

Inhaltsverzeichnis

Wie alles begann

Elisabeth im Armenhaus

Die Schulfreunde

Die Kinder werden erwachsen

Christians doppelte Arbeit

August der Starke

Phillip und Marianne

Christians Idee und sein Wandel

Die Katakomben von Louisenlund

Wilhelmines große Reise

Sophie-Magdalenes-Tagebuch

Die Königin der Armen kehrt zurück

Wie das Leben verrinnt

Die Geheimnisse der Loge

Eckelenföhrde verändert sich

Nachwort

Wie alles begann.

Wild peitschte die Gischt über die steinerne Kaimauer. Immer wieder musste Christian sich davon stehlen, um nicht gänzlich nass zu werden. Für seine 10 Jahre war er schon recht vernünftig und immerhin schlau genug, an so einem kühlen, windigen Morgen sich richtig zu verhalten.

Er wartete auf seinen Vater, der mit seinem Bruder und Georg zum Fischen auf dem Meer war und bald wieder einlaufen müsste. Ein bisschen neidisch war er auf seinen großen Bruder dabei; denn der durfte, obwohl nur 3 Jahre älter, an schulfreien Tagen mit Vater hinausfahren.

Ein paar von den anderen Booten waren schon vom Fang zurück und Georg war nur froh, dass Mutter nicht hier war, sie würde sich schon wieder furchtbare Sorgen machen. Immer hatte sie Angst, dass irgendwas passieren konnte, dabei wusste Christian genau, dass sein Vater ein guter Seemann und Fischer war.

Endlich, in großer Ferne konnte er die Charlotte erkennen. So hieß das Boot, benannt nach seiner Mutter. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er auch die einzelnen Personen auf dem Boot sehen konnte. Vorn am Bug stand Heinrich, sein älterer Bruder. Bestimmt würde er wieder völlig stolz erzählen, wie aufregend die Fahrt war. Allein schon, um Christian zu ärgern. Da war auch Georg, der fleißige Gehilfe seines Vaters. Erst zum Schluss konnte er seinen Vater bemerken, der das Steuer in den Händen hielt und dafür sorgte, dass alle gesund wieder nach Hause kamen.

Bis zum Anlegen würde es bei dem starken Wind noch eine ganze Weile dauern und Christian versank in Gedanken, wie es denn wäre, wenn er später als Fischer herausfahren würde. Dies war sein größter Zukunftswunsch. Bis dahin, musste aber noch viel Zeit vergehen, er noch lange Jahre die Schulbank drücken und nichts blieb ihm übrig, als beim Heimtragen des Fanges zu helfen.

Endlich lag die Charlotte am Kai und Heinrich sprang sofort an Land mit der Leine in der Hand. Mit geschickten Händen machte er das Boot fest und schon begannen der Vater und Georg, den Fang über die Reling zu reichen.

Klein war die Ausbeute heute, das Meer war zu aufgewühlt, als das es einen größeren Fang erlaubt hätte. Einerseits war der Vater darüber gar nicht so traurig; denn heute war Sonntag und da stand ja nach der Verarbeitung der Fische der gemeinsame Kirchgang an.

Der Kirchgang war eine der Aktivitäten, die Christian nun so überhaupt nicht mochte. Das hieß sich immer ordentlich anziehen, sich nicht schmutzig machen und dann mit der ganzen Familie zur Kirche gehen. Die bestand neben seinen Eltern aus der großen Schwester Anna, 15 Jahre alt und seinem älteren Bruder Heinrich, 13 Jahre alt. Dort saß er dann mit seinen Geschwistern, getrennt von den Eltern und musste sich ewig lange Predigten anhören. Ohnehin verstand er davon nicht viel und wirklich zuhören war ihm auch zu anstrengend. Hinterher nickte er nur mit dem Kopf, wenn die Eltern wieder darüber sprachen, wie schön die Predigt doch heute war.

Leider ging es nach dem Gottesdienst nicht gleich wieder nach Hause. Jede Menge Bekannte und Verwandte der Familie trafen sich auf dem Kirchplatz und es wurde endlos geredet. Über diesen und jenen, meist Namen, die Christian überhaupt nichts sagten oder die er vielleicht nur vom Sehen kannte.

Heute war es nur insofern besser, dass auch Georg sich mit dazugesellte. Aber das hatte einen ganz bestimmten Grund. An Georgs Seite war eine junge Frau, als Elisabeth stellte Georg sie vor. Sie hatte blonde Haare, war von leicht fraulicher Figur und machte einen sehr zurückhaltenden Eindruck. Die beiden schienen sich näher zu stehen, aber davon sagte Georg nicht so direkt etwas. Christian konnte nur feststellen, dass sich Elisabeth immer dicht an Georg drückte und es sah aus, als ob sie förmlich Schutz bei ihm suchen würde. Vaters Gehilfe war nie ein großer Redner gewesen und so war es auch heute, er hörte einfach zu, was die anderen zu erzählen hatte, nickte hin und wieder oder sah manchmal auch nachdenklich aus.

Die Mutter war es dann, die auf den Heimweg drängte; denn neben dem gemeinsamen Essen, hatte sie noch viel weitere Hausarbeit zu erledigen. Wochentags blieb ja vieles liegen, da sie sich zusammen mit Anna immer um die Räucherei und die Vermarktung der Fische kümmerte. Der Sonntagnachmittag, war dann der Part der Woche, an dem Christian endlich einmal Zeit für sich hatte.

Wie so oft verbrachte er diese am Strand oder wieder direkt im Hafen. Das Meer faszinierte ihn einfach sehr. Heute entschied er sich für den Hafen. Ausnahmsweise lungerte diesmal auch nicht der Hafenkrüppel mit seiner Truppe hier herum. Alle nannten ihn den Hafenkrüppel, obwohl er eigentlich Karl hieß. Er hatte nur einen Arm und war von kleinem Wuchs, kaum viel größer als Christian. Aber der Hafenkrüppel war von allen gefürchtet. Er war gehässig, brutal und gemein. Dazu kam auch noch, dass er häufig betrunken war, dann war er ganz besonders aggressiv.

Man munkelte, der Hafenkrüppel habe seinen anderen Arm bei einem Gefecht als Pirat verloren. Aber dies war nur ein Gerücht, das sich schon immer hielt. Christians Vater hatte erzählt, dass er betrunken vor eine Pferdekutsche gefallen wäre und den Arm dabei verloren hätte. Trotzdem war er der Anführer einer ganzen Bande von komischen Gestalten. Viele von ihnen aus dem Armenhaus und sonstige Rumtreiber. Keiner von dieser Bande ging einer geregelten Arbeit nach, sondern alle lebten sie von finsteren Geschäften und natürlich vom Strandgut, das heißt, irgendwelchen Dingen die über Bord gegangen waren und am Ufer angeschwemmt wurden. Das war sicher auch der Grund dafür, dass sie heute nicht im Hafen, sondern irgendwo am Strand waren, um sich nach solchen „Schätzen“ umzusehen. Aber vielleicht lagen sie auch schon wieder völlig betrunken auf dem Marktplatz, wo es mehrere Schenken gab.

Für Christian aber war es die Hauptsache, dass er ungestört am Hafen sein konnte. Seit ein paar Tagen lag mal wieder ein Dreimaster im Hafen. So etwas war immer ein besonderes Ereignis. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er in seine Traumwelt abtauchte. Dort sah er sich am Steuerrad eines Dreimasters und trotze den hohen Wellen auf dem Weg nach Dänemark.

Während der Rest der Besatzung sich zum Schutz vor der Gischt unter Deck befand, war er der Einzige, der sich den Elementen entgegen warf. Nach langer Zeit erst, war es der Kapitän, der an Deck kam, um ihn abzulösen. Er dankte ihm für sein mutiges Verhalten und sagte: „Christian, was wären wir nur ohne dich, es dauert sicher nicht mehr lange, bis du selbst als Kapitän einen Dreimaster fahren darfst“. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit nickte Christian dem Kapitän zu und war sehr stolz auf sich.

Der Wind wehte ihm durch das Haar und Christian konnte kaum noch zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Erst ein paar kichernde Stimmen holten ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

Es war sein großer Bruder mit ein paar Freunden, die sich über ihn lustig machten. Wie so oft wenn sein Bruder mit denen zusammen war, dann war er so anders als sonst. Für gewöhnlich prahlte er zwar von seinen Fischzügen mit Vater, aber trotzdem war er immer nett und freundlich zu Christian. Waren aber seine Freunde dabei, dann tat er sich wichtig und machte sich über ihn lustig. „Na du Träumer, bist du wieder auf hoher See“ hörte er die Stimme von Heinrich. Sein Bruder kannte ihn einfach nur zu gut und wusste oder ahnte zumindest, was oder wovon er so träumte.

Anstatt ihn aber weiter zu necken, zogen die Jungs weiter, offensichtlich hatten sie heute etwas Besseres zu tun. Christian schaute ihnen noch hinterher, immer noch gefangen von seinem Traum. So richtig konnte er sich noch nicht entscheiden, ob er später einmal Fischer oder doch lieber Kapitän eines Dreimasters werden wollte. Das Einzige, was sicher war, es musste etwas mit dem Meer zu tun haben. Das Meer, das war seins. Jeden Tag an dem es ihm irgendwie möglich war, zog es ihn ans Wasser. Oft war sein Platz am Hafen, manchmal aber ging er auch einfach nur am Strand auf und ab, um zu schauen, was das Meer Neues angespült hatte oder um den Sonnenaufgang zu sehen, der immer etwas ganz Besonderes für ihn bedeutete. Wenn die Sonne aufging und der Tag erwachte, war das wie eine neue Welt, die sich auftat. An jedem Tag passierte so viel, er lernte so viel Neues kennen.

Aus diesem Dämmerzustand aufgewacht sah er in einiger Entfernung Georg und Elisabeth. Sie hielten sich an den Händen und schienen sehr vertraut miteinander. Christian versteckte sich ein wenig an der Kaimauer, damit die beiden ihn nicht gleich erblickten, er sie aber gut beobachten konnte. So wie die beiden miteinander turtelten, hätten sie ihn aber wahrscheinlich ohnehin nicht entdeckt. Ebenso wenig bemerkten sie die Personen, die noch ein Stück weiter hinter ihnen kamen. Schon aus großer Entfernung erkannte Christian das es sich um die Bande rund um den Hafenkrüppel handelte. Sein Gefühl sagte ihm sofort, dass dies nur Ärger bedeuten konnte; denn um diese Uhrzeit war die Truppe meist schon sturzbetrunken und dementsprechend auf Krawall eingestimmt.

Wie richtig sein Gefühl war, zeigte sich nur wenige Augenblicke später. Georg und Elisabeth blieben immer mal wieder stehen, umarmten und küssten sich. Daher schloss die Gruppe immer mehr zu ihnen auf und es dauerte nicht mehr lange, da begannen sie auch schon zu grölen und sich über das Paar lächerlich zu machen. Die größte Klappe, wie immer, hatte der Hafenkrüppel selbst. Er musste sich vor seiner Truppe ständig beweisen. „Hey Lisbeth du alte Schlampe“ waren die ersten Worte, die Christian hören und verstehen konnte. „Hast du wieder einen neuen Liebhaber gefunden“, folgte sogleich darauf. Jetzt erst bemerkte das Paar die gefahrenträchtige Situation.

Christian wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er schwankte zwischen Helfen und versteckt bleiben. Schnell versuchte er, zu überlegen, wie sein Vater in so einer Situation handeln würde. Vater würde immer den Schwächeren helfen, das wurde ihm sofort klar. Er kam schnell aus seinem Versteck hervor und lief auf die beiden zu. Inzwischen hatten sich die Trunkenbolde schon dem Paar genähert und es begann ein übler Streit. Elisabeth versuchte sich, hinter Georg zu verstecken, der nun alleine den üblen Gesellen gegenüberstand. Georg und der Hafenkrüppel standen sich nun direkt gegenüber, Nase an Nase. Gestärkt durch seine Gruppe traute sich der Fiesling überhaupt es mit Georg aufzunehmen; denn dieser war muskulös, groß und kräftig. Schnell kam Christian noch der Gedanke, es ist wie bei den Hunden, die kleinsten haben die größte Klappe.

Noch bevor er die Streithähne erreicht hatte, begann der Hafenkrüppel Georg zu schubsen und ein paar seiner Kumpane versuchten Elisabeth zu begrabschen. Da war es dann um Georgs Geduld geschehen, mit einem heftigen Faustschlag streckte er den Hafenkrüppel nieder. Christian befürchtete, dass nun die anderen Georg angreifen würden, aber es kam ganz anders, sie blieben wie angewurzelt und völlig ratlos stehen. Der Niedergeschlagene lag winselnd und schimpfend auf dem Boden und schrie seine Kumpane an, sie sollten endlich eingreifen. Die aber hatten nicht den Mumm; denn die Heftigkeit von Georgs Schlag, hatte sie wohl überrascht.

Elisabeth und Georg nutzten die Gelegenheit und gingen wortlos, eng beieinander davon. Die wilde Horde ließ derweil eine Schnapsflasche kreisen und tröstete sich mit dem Alkohol. Es schien, als wären sie völlig überrascht und beeindruckt davon, dass ihnen mal jemand Gegenwehr geboten hatte.

Die ganze Situation hatte Christian gezeigt, dass Angst ein schlechter Begleiter war und Georgs massive Reaktion die einzig richtige Antwort war. Allerdings war dieser ja auch viel größer und stärker als er und bis er sich so etwas trauen konnte, würde noch viel Zeit vergehen. Mit diesem Gedanken machte sich Christian dann auf den Heimweg, für heute hatte er genug erlebt. Elisabeth und Georg hatten ihn offensichtlich noch nicht einmal bemerkt und dabei sollte es auch bleiben.

Zuhause angekommen, erzählte er dem Rest der Familie von seinem Erlebnis. Vater lächelte sogar und schien ein bisschen Stolz auf seinen Gehilfen zu sein. „Endlich mal einer, der den Lumpen Paroli bietet, richtig so“ waren seine Worte zu diesem Vorfall. Gleich mit dem nächsten Satz warnte er aber Heinrich und Christian vor so einem Verhalten. So etwas konnte sich nur ein kräftiger und mutiger Erwachsener erlauben und immer musste man damit rechnen, dass eine solche Gruppe auch gefährlich werden konnte. Aus Erzählungen wusste er, dass die finsteren Gesellen oft auch ein Messer mit sich führten und keinerlei Hemmungen hatten, dieses auch zu benutzen.

Elisabeth im Armenhaus.

Georg brachte Elisabeth noch nach Hause oder was sich so nennt; denn Elisabeth war zurzeit im Armenhaus untergebracht. Sie lebte dort schon von Kindheit an und war als Baby einfach vor der Tür abgelegt worden. In all den Jahren war nicht herausgekommen, wer ihre Eltern waren. So hatte sich Wilhelmine, die Leiterin des Armenhauses ihrer angenommen und sie aufgezogen.

Es war nie eine leichte Zeit für Elisabeth gewesen; denn die Leiterin war eine herrschsüchtige, eigennützige Person. Solange Elisabeth sich erinnern konnte, wurde sie fast wie eine Sklavin behandelt. Manchmal wusste sie nicht, was schlimmer war, dass Verhalten von Wilhelmine oder die anderen Mitbewohner. Viele von denen die hier hausten, waren der Trunksucht verfallen und hielten sich nur gerade so über Wasser. Immer wieder kam es zu Gewalt, Streit und üblen Geschichten. Leider gehörten auch ein paar von den Gesellen um den Hafenkrüppel zu denen, die hier versorgt wurden. Gerade die waren es, die wenn sie betrunken waren, immer für Ärger sorgten. Oft auch wurden sie übergriffig und schon seit ihrem 13. Lebensjahr musste Elisabeth mehr als nur Gewalt ertragen. Besonders dann, wenn die Leiterin nicht im Hause war, spielten sie sich zu den Herren auf und nutzen die Situation schamlos aus. Es gab Zeiten, da hatte sich ihnen Elisabeth einfach nur noch hingegeben, ohne sich zu wehren. Sie hatte es einfach aufgegeben und ließ alles mit sich geschehen. Sie hatte es als ihr Schicksal angesehen und dieses angenommen.

Anfangs hatte sie noch versucht, sich an die Leiterin zu wenden, und hatte ihr von den Übergriffen erzählt. Die aber tat es als normal ab, dass Männer solche Bedürfnisse hatten und Elisabeth nun nicht in der Position wäre dagegen anzugehen. Eher im Gegenteil, die Leiterin schien fast froh zu sein, dass der Trieb der Trunkenbolde sich so äußerte und nicht in Gewalt gegen die Einrichtung ausartete.

Einmal erzählte ihr die Leiterin sogar: „Oft stelle ich mich sogar selbst zur Verfügung, damit hier nicht alles drunter und drüber geht“. Elisabeth war geschockt von dieser Aussage und konnte sich gar nicht vorstellen, wie die Trunkenbolde über diese dickliche Frau mit ihrem immer roten Kopf herfielen. Schnell verdrängte sie wieder den Gedanken und dachte daran, ob es nicht eher so wäre, dass Wilhelmine mehr auf ihren eigenen Vorteil bedacht war, und ihre eigenen Gelüste befriedigte. Jetzt erst, im Nachhinein, wurde ihr klar, was immer dann geschah, wenn sich Wilhelmine spät abends noch einen oder auch mehrere der Unholde in ihre Kammer holte. Elisabeth war einfach nur angeekelt von diesem Gedanken.

Erst seit sie Georg kennengelernt hatte, fing sie langsam an wieder Vertrauen zu anderen Menschen und ganz besonders zu Männern aufzubauen. Alles war seit dem so anders, sie spürte, wie ihr die Nähe von Georg angenehm war, ganz im Gegensatz zu den Trunkenbolden, die immer nach Alkohol und vielen anderen Dingen stanken und einfach nur ihre Bedürfnisse befriedigen wollten. Die keinerlei Rücksicht auf sie nahmen und sie behandelten wie ein Stück Dreck. Georg hingegen war so ganz anders, er war zwar nicht der schlaueste, aber dafür ehrlich, aufrichtig und immer zärtlich und vorsichtig mit ihr. Sie wünschte sich so sehr, mit ihm eine Familie zu gründen und vor allem, hier aus diesen Verhältnissen heraus zu kommen.

Vor dem heutigen Abend hatte Elisabeth Angst. Sie wusste ja, dass ein paar der Männer, die heute bei der Auseinandersetzung waren, sich hier im Armenhaus befanden. Bestimmt würden sie sie dann wieder bedrängen. Immer mehr wuchs der Gedanke in ihr, einfach abzuhauen und zu Georg zu gehen. Aber sie hatte auch viel Angst, davor ihn zu sehr zu bedrängen und ihn dann vielleicht sogar zu verlieren. Diese Angst war noch größer, als die die Trunkenbolde zu ertragen. Wenn Georg nur erahnen könnte, was sie bereit wa,r für seine Liebe zu ertragen.

Noch war der Abend erstaunlich ruhig, was Elisabeth nur noch mehr Angst machte. Würden sie warten, bis Wilhelmine eingeschlafen war und dann zu ihr kommen? Stunde für Stunde blieb sie wach und lauschte den Schritten auf dem Flur. Aber nichts geschah, was war nur passiert? Hatten die Männer etwa Angst davor, dass Georg sich an ihnen rächen würde? Georg war einfach ihr Held. Wie er sich vor sie gestellt hatte und sie dann gegen die Übermacht verteidigt hatte. Mit nur einem Faustschlag hatte er die ganze Situation bereinigt. Was für ein Mann, dachte sie und schlief mit diesem schönen Gedanken ein.

Ebenfalls noch wach waren die Trunkenbolde. Den ganzen Abend hatten sie die Schnapsflasche kreisen lassen und immer wieder darüber geredet oder besser gesagt gelallt, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Immer mehr schärfte sich der Gedanke, Georg aufzulauern und ihn richtig für die Situation büßen zu lassen. Einer schlug sogar vor, ihn festzubinden und vor seinen Augen sollten alle Elisabeth vergewaltigen. Das wäre sicherlich die Höchststrafe für sein Vorgehen. Diese Strafe schien aber den anderen nun doch etwas gefährlich; denn erstens war Georg sehr stark und in so eine Rage gebracht, könnte es vielleicht sein, dass der eine oder andere von ihnen diese Situation nicht überleben würde. Es war bekannt, dass Georg nicht immer zuerst über sein Handeln nachdachte.

Fast wären sie über ihre Gedanken an die Rache eingeschlafen, da verlagerte sich ihre Wut in Gelüste und sie gaben den Frauen allgemein die Schuld. Eine Flasche Schnaps später, machten sich 3 von ihnen auf den Weg zu Wilhelmines Kammer. Sie klopften erst zaghaft, dann etwas kräftiger. Kaum hatte Wilhelmine die Tür geöffnet, rissen sie diese ganz auf und fielen sogleich über Wilhelmine her. Die aber nahm es mit Gelassenheit, ja fast mit Freude auf und ließ sich von den 3 Rüpeln beglücken. Sonderlich viel bekamen sie durch den Alkohol ohnehin nicht mehr zu Stande. Das größte Problem für Wilhelmine bestand eigentlich nur darin, die besoffene Bande später wieder in ihre eigenen Betten zu bekommen.

Elisabeth hingegen hatte eine ruhige Nacht und freute sich schon auf den nächsten Morgen. Vielleicht würde sie es ja wieder schaffen, Georg zu sehen.

Ganz früh ging sie heute schon aus dem Haus, noch lange bevor Wilhelmine wach wurde und sie gleich wieder zu irgendwelchen Arbeiten einteilen konnte. Als sie an ihrer Kammer vorbeischlich, konnte sie nur ein lautes und tiefes Schnarchen hören. Elisabeth ahnte schon, dass Wilhelmine wieder eine ihrer wilden Nächte hatte und somit noch lange schlafen würde.

Sie schlich trotzdem leise aus dem Haus und ging zum Strand. Direkt zum Hafen machte um diese Zeit noch keinen Sinn, Georg war mit seinem Fischermeister ohnehin noch auf dem Meer. Langsam begann es etwas Heller zu werden, zwar noch kein Sonnenaufgang, aber sie spürte, schon wie langsam der Tag begann. Nur noch wenige Augenblicke würde es dauern, dann würde die Sonne Stück für Stück höher kommen und alles mit ihrem rötlich, goldenen Licht erwärmen. Elisabeth genoss es ganz besonders, wenn sich dann ihr Körper in den ersten Sonnenstrahlen erholte und ihre blonden Haare in eine tief goldene Farbe tauchte. Diese Wärme, diese Kraft war es, die ihr an solchen Tagen ganz besonders viel Energie gab. So wie am Meer dachte sie, kann man nirgends anders den Sonnenaufgang erleben.

Jetzt war es endlich so weit, das Meer spiegelte die rötliche Farbe der Sonne und diese stieg immer höher und erwärmte ihre Seele. Es würde bestimmt ein wunderschöner Tag werden und das größte Glück wäre, dann später noch Georg zu treffen. Klar könnte sie am Hafen auf ihn warten, aber sie wusste darum, dass Georg es nicht mochte, wenn sie ihn zu sehr bedrängte und eigentlich war es ja auch viel schöner, wenn er zu ihr kam und sein Begehren, sie zu sehen, ihr zeigte.

Sie schlenderte langsam durch das erwachende Städtchen zurück. Über den Marktplatz, durch die schmalen Gassen bis hin zum Armenhaus. Überall erwachten die Menschen und die Betriebsamkeit wurde mit jedem Schritt mehr. Auf dem Marktplatz waren schon die ersten Stände aufgebaut und die Händler boten ihre Waren feil. Elisabeth hatte leider kein Geld, sich hier etwas zu kaufen, obwohl ihr Magen schon vor Hunger klagte. Somit blieb ihr nur der Weg zu Wilhelmines Armenhaus, um sich etwas zu Essen zu organisieren und dies dann wieder durch viel Arbeit zu rechtfertigen.

Wilhelmine schlief noch immer, das war schon ungewöhnlich lange, aber sehr zum Vorteil von Elisabeth. So konnte sie nicht gleich wieder meckern, dass sie schon früh aus dem Haus war, ohne etwas zu tun. Wäre es nach Wilhelmine gegangen, hätte Elisabeth den ganzen Tag arbeiten müssen.

Aber auch das war heute wohl anders, als Wilhelmine aufgewacht war, gab sie sich recht friedlich. Sie war heute förmlich ausgeglichen. Den Grund dafür konnte Elisabeth nur erahnen, erfahren würde sie ihn nie. Auch die anderen Bewohner waren heute recht ruhig. Die Trunkenbolde schliefen noch tief und fest in ihrem Schlafsaal, die anderen beiden Frauen, die noch hier hausten, waren schon deutlich älter als Elisabeth und hatten schon ihre Arbeit aufgenommen. Mit den beiden verstand sich Elisabeth zwar ganz gut, aber dennoch blieben die beiden aufgrund ihres Alters immer ein bisschen für sich. Auch hatte Elisabeth nie mitbekommen, dass einer der Männer die beiden bedrängt hatte. Warum war ihr nie klar geworden, sie hatte es einfach auf das Alter der beiden geschoben.

Elisabeth machte sich nun auf ihre Arbeiten zu erledigen. Eine ihrer Hauptaufgaben war es, die täglich anfallende Wäsche zu waschen, später zu trocknen und wieder zu verteilen. Insgeheim war dies ihre liebste Tätigkeit; denn dabei war sie für sich, konnte nach draußen zum Brunnen gehen und später die Wäsche auf der Bleichwiese auslegen. Sie empfand es nicht als störend allein zu sein. Eher fühlte sie sich ja durch die anderen Menschen, mit Ausnahme von Georg, bedrängt. Da noch so viele der anderen Bewohner schliefen, war die Wäschemenge heute überschaubar und zum Glück, war noch nichts von den Trunkenbolden dabei. Da gab es dann häufig Erbrochenes oder sogar Urin und Fäkalien in der Wäsche. Dieses ekelte Elisabeth immer sehr an und manchmal war sie dicht davor sich übergeben zu müssen. Aber all das blieb ihr heute erspart.

So nahm sie ihr Bündel auf und machte sich auf den Weg zum Brunnen. Bis dahin genoss sie jeden Schritt. Wie einen wunderbaren Duft saugte sie die Stimmung der erwachenden Stadt in sich auf. Jeden den sie kannte, grüßte sie freundlich. Unter den anderen Leuten im Ort war sie recht beliebt, da sie immer freundlich und hilfsbereit war. Die meisten von ihnen konnten sich ja nicht vorstellen, welch ein hartes Leben es im Armenhaus war und was sie alles ertragen musste.

Auch einige der Arbeiter- und Fischerfrauen befanden sich heute am Brunnen und waren schon dabei fleißig Wäsche zu waschen. Immer wenn so viele hier waren, wurde auch viel geredet über all die Dinge, die so in der letzten Zeit passiert waren, über die Menschen die verstorben waren und natürlich über die neuesten Liebes- und Betrugsgeschichten. Es war noch gar nicht lange her, da war sie selbst Thema bei den anderen Frauen. Noch lange bevor sie sich öffentlich mit Georg gezeigt hatte, war das Gerede darüber schon heftig. Sie wusste nicht, wer sie, wo gesehen hatte, aber irgendwie funktionierte so etwas in so einer kleinen Stadt wohl immer. Sie hatte es damals ganz schnell bemerkt, denn es war komisch, als sie an diesem Tage zum Brunnen kam, dass alle verstummten und es plötzlich ganz still wurde. Alle schienen auf einmal unheimlich in ihre Arbeit vertieft und wichen ihrem Blick aus.

Nur eine der Arbeiterfrauen war dann doch so neugierig gewesen und hatte sie direkt darauf angesprochen. Elisabeth war das sehr peinlich gewesen, ihr Kopf war rot angelaufen und das war schon Aussage genug für die anderen Frauen. Als es dann aber mehr oder weniger offiziell war, zeigten die anderen Frauen ihre Freude darüber und meinten nur, Elisabeth habe sich das verdient. Nicht alle Frauen waren dieser Meinung, es war ihr sofort aufgefallen, dass sich 2 abgesondert hatten und miteinander tuschelten. Es waren 2 noch sehr junge Frauen. Hinterher erfuhr sie dann von den anderen, dass diese beiden wohl selbst Interesse an Georg hatten und sie rieten ihr, gut aufzupassen auf ihren Freund; denn die beiden waren dafür bekannt, dass sie sich nahmen, was sie wollten.

Seit diesem Tag behielt Elisabeth die beiden immer im Auge. Nicht das sie wirklich ihre Konkurrenz fürchtete, aber bedingt durch ihre Herkunft aus dem Armenhaus hatte sie immer das Gefühl, zweite Wahl zu sein. Würde wenn es darauf ankäme, Georg eine dieser Frauen vorziehen, weil sie aus besserem Hause kamen. Sie wusste es nicht ganz genau.

Einmal hatte sie sich mit einem befreundeten Dienstmädchen aus einem der Kaufmannshäuser darüber unterhalten. Die meinte dann aber nur, dass ein richtiger Mann nicht nach Reichtum und Herkunft entscheidet, sondern nach seinem Herzen. Das hatte sie dann doch sehr beruhigt; denn ihr Gefühl sagte ihr schon, dass Georg sie von ganzem Herzen liebte.

Leider war ihre Freundin heute nicht am Brunnen, wobei ihr auffiel, dass sie sie schon länger nicht gesehen hatte. Elisabeth fragte einige der anderen Frauen nach ihr, aber keine wusste Näheres und vielen fiel es erst jetzt auf, dass auch sie, sie schon länger nicht mehr gesehen hatten. Schnell wurde das ganze zum allgemeinen Gesprächsthema in der Runde. Dann plötzlich stand das Dienstmädchen des Apothekers im Mittelpunkt aller. Es sah so aus, als ob sie mehr über den Verbleib wusste. Alle standen neugierig im Kreis um sie herum und sie schien förmlich die Aufmerksamkeit zu genießen. Auch Elisabeth begab sich nun zu den anderen und lauschte neugierig.

„Neulich war sie mit ihrem Herrn, dem Kaufmann, bei uns in der Apotheke. Sie sah sehr blass aus und hatte einen leicht geschwollenen Bauch. Ich hatte das Gefühl, sie ist schwanger, dabei hat sie doch gar keinen Freund“, sagte das Dienstmädchen. Es war so still plötzlich, man hätte das Fallen einer Stecknadel gehört. Erst nach einer ganzen Weile begann dann der richtige Tratsch. Die ersten Überlegungen gingen zu den verschiedensten Junggesellen des Ortes, dann aber wagte eine der Weiber die Aussage: „Vielleicht ist der Kaufmann ja auch nicht ganz unschuldig daran“. Wieder trat Stille ein. Alle schauten nun gespannt auf das Waschweib mit dem vorlauten Mundwerk.

Dieser war es nun etwas unangenehm, dass sie so vorschnell ihre Meinung geäußert hatte, und sie schaute etwas verlegen auf den Boden. Damit gaben sich die anderen Frauen aber so gar nicht zufrieden. Sofort hakten sie nach, was sie denn wüsste, was sie gesehen hatte. Sie druckste herum und es dauerte eine ganze Zeit, bis sie dann langsam etwas von sich gab. Elisabeths Freundin hatte ihr schon mehr als einmal erzählt, dass der Kaufmann sie hin und wieder bedrängte, ja sogar manchmal des Nachts in ihre Kammer kam. Da lag der Verdacht doch nur nahe, dass es so weit kommen musste.

Seit dem Besuch in der Apotheke hatte sie das andere Dienstmädchen aber auch nicht mehr gesehen, sie hatte aber wiederum von anderen gehört, dass die Frau des Kaufmanns sie aus der Stadt gejagt hätte und wohl ihr, am Fehlverhalten des Kaufmannes, die Schuld gab.

„Typisch mal wieder“, zu dieser Aussage ließ sich nun Elisabeth hinreißen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es ihrer Freundin nun ging. So einfach mit Schimpf und Schande davongejagt, ohne auch nur Schuld daran zu sein. Die Reichen nahmen sich einfach, was sie wollten und wenn sie es nicht mehr gebrauchen konnten, dann warfen sie es einfach weg. Es würde bestimmt sehr hart werden, so schwanger und allein durch die Lande zu kommen. Bestimmt würde sie auch irgendwo in einem Armenhaus landen.

Mit all diesen Gedanken machte Elisabeth sich nun wieder auf den Heimweg zum St. Nicolai Stift. Sie ließ sich dabei gern etwas Zeit; denn sie wusste ja, welch andere, zum Teil unangenehmen Arbeiten, noch auf sie warteten. Das Schlimmste, war immer das Ausleeren der sogenannten Goldeimer. Die selbst hatten wenig mit Gold zu tun, es handelte sich um die Hinterlassenschaften der Bewohner in der Nacht. Oft stank es bestialisch, besonders bei den Trinkern, die es auch nicht immer schafften, alles zielgerecht zu hinterlassen. Zusammen mit einem alten Mann, der hier sein Dasein fristete, brachte Elisabeth die Eimer auf einen Karren und dann später zur Abladestelle in der Nähe des Pferdemarktes. Der Gestank an der Abladestelle überstieg alles nur Vorstellbare. So oft hatte sie sich hier schon übergeben müssen. Nur dem alten Mann schien es wenig zu beeindrucken, entweder er hatte keinen Geruchssinn mehr, oder er war schon so abgestumpft, dass ihm all der Gestank nichts mehr ausmachte. Manchmal beneidete Elisabeth ihn regelrecht dafür.

Nach dieser widerlichen Arbeit musste sie sich gründlich waschen. Dies war nicht nur eine Vorgabe der Leiterin, sondern auch ihr eigener dringlichster Wunsch.

Dann endlich gab es die erste Mahlzeit, einen Brei aus verschiedenen Getreiden. Von Schmecken konnte man nicht sprechen, es war mehr ein Herunterwürgen und satt werden. Nach der Mahlzeit half sie dann noch beim Abräumen und beim Abwasch der einfachen Schalen und Löffel. Mit dieser Tätigkeit endete ihr Arbeitstag und der Rest, der noch übrig blieb, stand ihr zur freien Verfügung.

Die Schulfreunde

Der Montagmorgen war für Christian immer ein Gräuel; denn dann hieß es, nun ist wieder Schule. Zwar lernte er gern, aber die zwanghaften Umstände in der Schule und ganz besonders die Strenge des Lehrers machten ihm zu schaffen. Jede kleine Verfehlung, jede Unaufmerksamkeit wurde getadelt oder mit einem Schlag auf die Hände geahndet. Dazu musste dann der jeweilige Schüler seine Hand auf den Tisch legen und der strenge Lehrer schlug mit einem Lineal auf die Finger. Mit der Begründung, dass diese nicht wieder Unsinn machen und sich mehr auf das Lernen konzentrieren können. Es waren schlimme Schmerzen, die Hand brannte wie Feuer. Christian hasste den Lehrer dafür und somit natürlich auch die Schule.

Das Schöne an der Schule war aber die Zusammenkunft mit Phillip und Joseph, seinen beiden Freunden. Joseph war ja ebenfalls der Sohn eines Fischers und ihm selbst sehr ähnlich. Phillip hingegen der Sohn eines Kaufmanns, der aber als Drittgeborener keinen Hauslehrer gestellt bekam. Dieser Umstand passte Phillip gar nicht und er fühlte sich nicht immer ganz wohl in der „normalen“ Schule. Phillip war hoch gewachsen, sehr schlank und verdammt schlau. Sein Äußeres passte so gar nicht in seine Familie, vielleicht bestand darin auch das schlechte Verhältnis zu seinem Vater.

Die drei Jungs mochten sich vom ersten Tage an und verbrachten auch außerhalb der Schule viel Zeit miteinander. Einer konnte sich auf den anderen verlassen und jeder würde für den anderen einstehen. Es bedurfte dafür keines besonderen Schwures, sie wussten, es ist einfach so.

Das Einzige, was Christian an seinem Lehrer mochte, war dass dieser am liebsten das Rechnen unterrichtete. Rechnen machte Christian ebenfalls am meisten Spaß, viel mehr als Lesen und Schreiben. Der Beste im Rechnen, aber war Phillip, auch wenn nur Drittgeborener eines Kaufmanns, so lag es ihm wohl doch im Blut, oder aber der tägliche Umgang mit Zahlen im Elternhaus befähigten ihn dazu. Das Ungewöhnliche aber war, Phillip konnte gut rechnen, mochte es aber wiederum gar nicht. Für ihn war Lesen und Schreiben und noch mehr die Naturwissenschaften das Größte. Joseph unterschied sich da von beiden, er mochte gar nichts, was mit Schule zu tun hatte. Er wollte einfach nur Fischer werden. So wusste er schon jetzt, da er keine Brüder hatte, dass er einmal das Boot seines Vaters übernehmen würde. Um ein paar Fische und ein paar Mark zu zählen, dafür würden seine Kenntnisse schon ausreichen. Mit dieser Einstellung überstand er einfach die Zeit des Wartens bis zur Konfirmation; denn erst dann durfte er als Lehrling mit seinem Vater das Meer befahren.

Wider Erwarten war es heute ein schöner Schultag, keiner der drei Freunde hatte etwas auf die Finger bekommen. In der Pause, war das Thema des Tages der kurze Schlagabtausch zwischen Georg und dem Hafenkrüppel. Hier konnte Christian ja nur zu gut berichten und alle Details den anderen erzählen. Phillip konnte der ganzen Brutalität nicht viel abgewinnen, ihn widerte jegliche Art von Gewalt an. Joseph hingegen, der derbe Fischerjunge, war völlig angetan von Georgs Verhalten und wusste, auch er würde einmal später so stark und so kräftig wie sein Vater werden und dann könnte ihm auch keiner mehr dumm kommen. Erst als dann Christian erzählte, dass der Hafenkrüppel und sein komisches Gefolge oft ein Messer bei sich trugen und dies auch geneigt waren einzusetzen, wurde auch Joseph etwas bedächtiger. Er wusste nur zu gut, vom Ausnehmen der Fische, was für schlimme Verletzungen ein Messer verursachen konnte.

Noch bevor die Pause zu Ende war, verabredeten sich die Freunde für den Nachmittag. Nach dem gestrigen stürmischen Tag gab es bestimmt einiges an Strandgut. Sie verabredeten sich als Treffpunkt am Hafen und dann würden sie die Küste absuchen. Christian freute sich schon darauf. Zwar saß er auch gern mal alleine am Wasser, aber mit 2 Freunden war das doch noch viel spannender.

Die letzten Schulstunden erschienen für Christian und seine Freunde nun wie eine Ewigkeit. Wenn man sich auf etwas ganz besonders freut, dann dauert die Zeit bis dahin unendlich lange. Hinzu kam auch noch, dass seine Mutter oft noch Aufgaben für ihn hatte. Was er noch nicht wissen konnte, heute würde sie ihn davon verschonen, heute musste sein Bruder Heinrich dran glauben und Mutters Zusatzaufgaben erfüllen.

Die Freunde verabschiedeten sich nach der Schule voneinander und jeder hatte schon so seinen Traum, was er heute als Schatz an der Küste finden würde. Jeder bis auf Phillip.

Was er sich wünschte, konnte er nicht an der Küste finden. Für ihn wäre das größte Glück eine intakte Familie gewesen. Viele glaubten, er als Sohn eines Kaufmanns, wäre sowieso besser gestellt, doch wie gern hätte er mit vielen anderen getauscht. Insbesondere in den letzten Tagen war es zuhause fast unerträglich geworden. Zwischen seinem Vater und seiner Mutter gab es fast nur noch Streit. Ihre Wut, so schien es zumindest, ließen sie dann an Phillip aus. Na ja, ein ganz klein bisschen hatte er schon dazu beigetragen, aber die Schuld wollte er dennoch dafür nicht auf sich nehmen.

Es ging schon eine ganze Zeit, immer wieder war dem sensiblen Phillip aufgefallen, wie sein Vater das Dienstmädchen komisch anschaute. So wie ein Kind, das gerne einen Hund hätte. Das Dienstmädchen hingegen schien eher ängstlich und war stets bemüht, nicht mit seinem Vater allein zu sein. Besonders wenn Phillips Mutter nicht im Hause war, versuchte Emilie, so hieß das Dienstmädchen, immer nahe bei den Kindern zu sein. Sie dienten ihr offensichtlich als Schutzschild gegen den aufdringlichen Vater.

In der letzten Zeit hatte sich Emilie irgendwie verändert. Oft ging es ihr schlecht, sie hatte Kopf- und Bauchschmerzen, aber vor allem Stimmungsschwankungen. So ging das schon einige Wochen. Vor kurzem dann schien sie immer dicker zu werden. Kein Wunder dachte Phillip, sie isst ja auch alles durcheinander und oft übermäßig viel. Als Phillip mit seinen Brüdern darüber sprach, taten die völlig unwissend, aber auch uninteressiert. Die sagten einfach nur: „Sie ist ein Dienstmädchen, soll sie ihre Arbeit machen und dann ist schon gut. Wie sie aussieht ist doch völlig egal, Hauptsache sie ist nicht zu teuer“. Seine Brüder waren schon so richtige Kaufleute, immer zählte nur das Geld. Der Mensch dahinter war für sie nicht von Interesse.

Eines Nachts dann, Phillip konnte nicht so recht schlafen, vernahm er Stöhnen und Gewimmer aus Emilies Kammer. Leise schlich er sich zu ihrer Tür und lauschte. Plötzlich erkannte er die Stimme seines Vaters, er war es, der gestöhnt hatte. Das Wimmern kam von Emilie. Er konnte leider nicht viel verstehen, aber Wortfetzen wie: „Glaubst du etwa ich bezahle dich nur fürs Arbeiten“. Dann kam noch der Satz: „Wenn du irgendetwas sagst, oder gar schwanger sein solltest, jage ich dich zum Teufel. Du hast es schließlich herausgefordert“. Daraufhin veränderte sich das Wimmern von Emilie in ein lautes Heulen. Phillip schlich sich zu seinem Zimmer zurück und gut, das er das getan hatte, denn schon im nächsten Moment hörte er, wie sein Vater aus Emilies Kammer kam. So richtig konnte das Phillip alles nicht verstehen.

Die Bombe platzte dann am nächsten Tag beim gemeinsamen Abendessen. Emilie hatte den Tisch gedeckt und wie es sich gehörte, verließ sie den Raum und ließ die Familie alleine speisen. Als alle fertig waren, sagte Phillip dann zu seinem Vater: „Ich fand das sehr schön von dir, dass du heute Nacht Emilie getröstet hast, als sie so wimmerte. Gerade jetzt wo es ihr nicht so gut geht“. Es herrschte eine grauenvolle Stille am Tisch. Der Kopf seines Vaters lief rot an, seine Mutter schien kaum noch Luft zu bekommen. Nur seine beiden Brüder schienen irgendwie verwirrt und schauten teilnahmslos gegen die Decke. Phillip spürte sofort, jetzt hatte er einen schrecklichen Fehler begangen. Aber es war zu spät, die Worte waren raus und ein zurück gab es nicht mehr.

Seine Mutter sprang auf, rannte aus dem Zimmer. Es dauerte nicht lange, da kam sie mit Emilie im Schlepptau wieder in den Raum. Sie zog sie an den Haaren bis zum Tisch und dann schrie sie los: „Du undankbares Miststück, hast du meinen Mann verführt“? Es folgte noch ein Trommelfeuer von Beschimpfungen und Emilie konnte vor heulen kaum noch Luftholen. Sein Vater war hingegen sehr still und nickte immer nur. „Gleich morgen geht ihr zum Apotheker und fragt ob da noch etwas zu machen ist“, waren die letzten Worte Mutters, bevor sie Emilie aus dem Raum warf.

In der ganzen Hektik hatte sie wohl irgendwie vergessen, dass die Kinder noch im Raum waren. Offensichtlich wurde ihr das erst jetzt bewusst und mit herrschender Stimme sagte sie: „Was ihr hier gehört habt, vergesst ihr sofort wieder. Wehe dem, ich höre davon irgendwo auch nur ein Wort“. Phillip und seine Brüder wussten, was die Stunde geschlagen hatte. Sie kannten es, wenn ihre Mutter so ihre Stimme erhob, dann war allerhöchste Vorsicht angesagt. Keiner von ihnen würde es wagen, dagegen zu verstoßen. Noch als sie den Raum verließen, hörten sie ihre Mutter weiter in der gleichen Tonart mit dem Vater sprechen. Sie konnten nur noch Worte wie alter Hurenbock, Lüstling, Taugenichts und Betrüger hören.

Am nächsten Tag hatte dann eine ganz komische Stimmung geherrscht. Phillip bekam nur mit, wie sein Vater mit Emilie zum Apotheker ging und es lange dauerte, bis sie