Wofür es lohnte, das Leben zu wagen - Hans Machemer - E-Book

Wofür es lohnte, das Leben zu wagen E-Book

Hans Machemer

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Beschreibung

Im Morgengrauen des 22. Juni 1941 fallen über drei Millionen deutsche Soldaten ohne Kriegserklärung in die Sowjetunion ein. Auch Helmut Machemer ist darunter, als Unterarzt in einer Panzer-Aufklärungs-Abteilung. Bei Kriegsausbruch hat er sich freiwillig gemeldet, obwohl der 36-jährige Facharzt für Augenheilkunde aufgrund seines Alters und Berufsstandes vom Frontdienst freigestellt worden wäre. Sein Schicksal hängt mit dem Rassenwahn der Nationalsozialisten und den Nürnberger Gesetzen zusammen, nach denen seine Ehefrau Erna als "Halbjüdin" und seine drei kleinen Söhne als "Vierteljuden" eingestuft werden – eine gesellschaftliche Diskriminierung, unter der er tief leidet. Da er sich von seiner Familie nicht trennen will, bleibt ihm nur ein Ausweg: Als "arischer Reichsbürger" kann er durch besondere Tapferkeitsauszeichnungen eine Begnadigung und "Arisierung" seiner Familie erhoffen. Und so zieht er als Unterarzt in den Krieg gegen die Sowjetunion. Helmut Machemer hat seine Kriegserlebnisse detailliert dokumentiert: in über 160 Briefen, über 2000 Fotos und mehreren Stunden Filmmaterial schildert er den deutschen Vormarsch in der Südukraine 1941 und die russische Gegenoffensive zu Beginn des Jahres 1942. Sein Sohn Hans Machemer und der Historiker Christian Hardinghaus haben diese Dokumente ausgewertet, gesichtet und zusammengefasst. Herausgekommen ist ein erschütterndes Bild über das Leben, Kämpfen und Sterben einfacher Soldaten, über das namenlose Leiden der Landser auf deutscher wie auf russischer Seite, die durch eine verbrecherische Führung in einem sinnlosen Krieg starben – ein einzigartiges Zeitdokument, das 73 Jahre nach Ende des Krieges endlich zugänglich ist.

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HRSG. VON HANS MACHEMER &CHRISTIAN HARDINGHAUS

WOFÜR ESLOHNTEDAS LEBENZU WAGEN

Briefe, Fotos und Dokumente einesTruppenarztes von der Ostfront 1941/42

»Das Leiden kann einen Sinn haben, wenn es unsso tief erschüttert, dass wir erkennen, dass der Andere,jeder Andere, ist so wie ich selbst.«

Jehuda Bacon (*1929), 3Sat-Interview, 27. Januar 2017

1. eBook-Ausgabe 2018© 2018 Europa Verlag GmbH & Co. KG,Berlin · München · Zürich · WienUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung eines Fotos von © Helmut Machemer sr.Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95890-214-5ePDF-ISBN: 978-3-95890-215-2

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.www.europa-verlag.com

INHALT

Vorwort von Hans Machemer

Von der Arztpraxis an die Ostfront – eine historische Beurteilung von Christian Hardinghaus

Vorgeschichte: Gefährliche Liebe unterm Hakenkreuz – eine Einleitung von Christian Hardinghaus

Briefe I – Vormarsch

05. Oktober 1941 – Tödliches Taktieren: Sanitäter nach vorne!

06. Oktober 1941 – Zerstörungswahn: Der Russe verbrennt alles

08. Oktober 1941 – Todesernte: Ein Bild des Grauens

10. Oktober 1941 – Gefangene: Vorsicht Handgranate!

11. Oktober 1941 – Vertreibung: Ukrainer nach Sibirien!

14. Oktober 1941 – Marsch durchs Verderben: Sie erschießen die Pferde

16. Oktober 1941 – Es geht mir gut

18. Oktober 1941 – Sinnlos: Die Infanterie greift mt Säbeln an

19. Oktober 1941 – Ukrainische Häuser: Wo Liebe, da Glaube

21. Oktober 1941 – Resignation: Entwaffnet und zurückgeschickt

23. Oktober 1941 – Ungeziefer: Sie stechen, wann immer sie Hunger haben

23. Oktober 1941 – Menschenleere: Nur tote Kühe und Schweine

23. Oktober 1941 – Sowjet-Propaganda: Morde und Vergewaltigungen

27. Oktober 1941 – Im Trommelfeuer: Brücke halten und sichern!

30. Oktober 1941 – Kameradengräber: Einer nach dem anderen geht

01. November 1941 – Todesfahrt: Vier gute Kameraden gehen drauf

03. November 1941 – Fliegerangriffe: Es kommen immer Neue

07. November 1941 – Totalverlust: Wo ist Leutnant Credi?

Briefe II – Stellungskrieg und Rückzug

09. November 1941 – Ein Brief an die Kinder

10. November 1941 – Beute-Schallplatten: Eine schlechter als die andere

13. November 1941 – Eiseskälte: Niemand hat an einen Winterkrieg geglaubt

15. November 1941 – Verwirrter Soldat: Wo ist eigentlich die Front?

18. November 1941 – Einkaufszettel in die Heimat

21. November 1941 – Morgenröte: Der Russe pflegt früh anzugreifen

24. November 1941 – Strategie der Vernichtung: Häuser abfackeln

25. November 1941 – Ein Brief von Sohn Robert

29. November 1941 – Erdquartiere: Zu kalt zum Kämpfen

29. November 1941 – Ein Brief von Sohn Hans

30. November 1941 – Eine Madonna für Erna

04. Dezember 1941 – Befreiung: Stukas greifen an

12. Dezember 1941 – Weihnachtsgrüße nach Deutschland

12. Dezember 1941 – Norka: Mädchenseele in Hundegestalt

12. Dezember 1941 – Opferbereit: Es geht um die Kinder

18. Dezember 1941 – Stillstand: Ist der Feind erschöpft?

28. Dezember 1941 – Weihnachtsfeier: Gedenken an gefallene Kameraden

01. Januar 1942 – Durchhalten: Auch das neue Jahr wird uns Krieg bringen!

02. Januar 1942 – Die Wende? Der Führer hat das Oberkommando

19. Januar 1942 – Kopfkissen und Stahlhelm: Soldat auf Abruf

Briefe III – Drei Monate Kampf um ein Dorf

22. Januar 1942 – Kugelhagel: Arzt muss selbst klarkommen

26. Januar 1942 – Heckenschütze: Er sucht sich seine Opfer aus

26. Januar 1942 – Würdelos: Wer liegen bleibt, wird erschlagen!

26. Januar 1942 – Landser: Die stillen Helden des Krieges

29. Januar 1942 – Arzt verwundet: Weitermachen

30. Januar 1942 – Hilferuf: Frau kaputt, Kind kaputt

30. Januar 1942 – 300 Tote: Der Feind ist stinkbesoffen

30. Januar 1942 – Mut der Verzweiflung: Kämpfen bis zum letzten Mann

04. Februar 1942 – Blick auf die Gräber: Wann werden wir folgen?

07. Februar 1942 – Hansi vermisst seinen Vater

15. Februar 1942 – Krieg ist nichts für Frauen

17. Februar 1942 – Härte: Im Ertragen von Leid ist der Russe beispiellos!

17. Februar 1942 – Willy: Ein treuer und unheroischer Bursche

19. Februar 1942 – Erschöpfung: Schlafen Sie sich lieber mal aus!

20. Februar 1942 – Danke für die Skier!

22. Februar 1942 – Skispende? Der Frontsoldat opfert schon genug!

23. Februar 1942 – Erna voll Bewunderung

26. Februar 1942 – Verhör: Warum sind die so mutlos?

27. Februar 1942 – Kostbarkeiten und Vatergefühle

01. März 1942 – Möge ein gütiger Gott Dich weiter schützen

01. März 1942 – Höllenlärm: Schießt da Freund oder Feind?

06. März 1942 – Propaganda: Panzer verbrennen für die Kamera

07. März 1942 – Kommandeurskrankheit: Zahnbehandlung in der Heimat

11. März 1942 – Ostergrüße an die Kinder

11. März 1942 – Erna und der Behördenkrieg

– Ein Gnadengesuch an den Führer

15. März 1942 – Menschlichkeit: Operationen im sowjetischen Lazarett

23. März 1942 – Probleme in der Truppe

– Wütender Hauptmann: Stellung halten oder Kriegsgericht!

– Unter Kollegen: Auch Ärzte müssen weiterkämpfen

– Mut antrinken und Nerven behalten!

24. März 1942 – Feiertag: Wenn der Postschlitten kommt

25. März 1942 – Fotos für die Kinder

28. März 1942 – Urlauber Anton – Eine Satire

– Antons Urlaubsreise vom Osten

29. März 1942 – Stilkritik

01. April 1942 – Feindhumor: Sie schießen Ehrensalven

02. April 1942 – Leichtsinn: Falscher Heldenmut mit dem Tode bestraft

Briefe IV – Ahnungen

02. April 1942 – Ernas Traum

03. April 1942 – Nachruf: Haben Hunde eine Seele?

05. April 1942 – Osterspaziergang: Hoffnung Menschlichkeit

06. April 1942 – Zukunftsfragen: Können die Kinder arisiert werden?

06. April 1942 – Es ist etwas einsam

12. April 1942 – Glückwünsche

– Einen Tag später

13. April 1942 – Robert und der Osterhase

13. April 1942 – Hans und die Rollschuhe

16. April 1942 – Luftschutzbunker und blühender Garten

16. April 1942 – Der Jüngste schreibt an Vati

30. April 1942 – Die Sorgen der Ehefrau

03. Mai 1942 – Abstammungserklärung

04. Mai 1942 – Brief an die Brüder: Gnadengesuch nicht vorschriftsgemäß

05. Mai 1942 – Du und ich: Vertrauen

07. Mai 1942 – Geburtstagsgedanken: Den Vorhang der Weltbühne lüften

10. Mai 1942 – Der General: Nehmt euch ein Beispiel an diesen Männern!

14. Mai 1942 – EK I: Geschafft! Auf baldiges Wiedersehen!

15. Mai 1942 – Feierstimmung: Mir geht es ausgezeichnet!

17. und 18. Mai 1942 – Die letzten Notizen

05. Mai 1942 – Frühlingsgrüße von Hans

07. Mai 1942 – Geburtstagsgrüße von Robert

28. Mai 1942 – Ernas Angst

01. Juni 1942 – Unser Soldaten-Vater

Heldentod

21. Mai 1942 – Ein guter Kamerad

31. Mai 1942 – Die letzte Flasche Schampus

01. Juli 1942 – Die todbringende Granate

03. Juni 1942 – Todesanzeige

15. März 1943 – Beliebte Familie

17. März 1943 – Der Führer hat entschieden

10. April 1943 – Reichssippenamt bescheinigt »Deutschblütigkeit«

Zu diesem Buch

Ein Nachwort von Hans Machemer

Anhang

Register

VORWORT

von Hans Machemer

Können Briefe als Brücke zu der mehr als 75 Jahre zurückliegenden nationalsozialistischen Vergangenheit dienen? Eine Vergangenheit, die wir am liebsten unter einem Mantel aus Trauer und Scham verbergen möchten?

Meine Mutter Erna überlebte den Krieg um 25 Jahre, erzählte aber kaum etwas von ihrer persönlichen Geschichte. Sie war Kriegerwitwe wie viele andere Frauen auch. Ihr Schweigen hat uns drei Söhne ahnen lassen, dass sie eine schwere Last mit sich trug. Nur einmal hatte sie uns auf einen sorgfältig aufbewahrten Briefwechsel zwischen ihr und unserem Vater aus der Zeit von 1929 bis 1942 hingewiesen.

Erst spät entschloss ich mich, für die Familie die bis dahin nur auszugsweise gelesenen Briefe abzuschreiben und zusammen mit Bildern und Urkunden in eine digitale Form zu übertragen. Zwangsläufig führte dies zu einem intimen Kontakt mit den Inhalten und letztlich mit dem Leben meiner Eltern. In ihren Briefen begegnete ich ihnen als Menschen, nicht als Widerstandskämpfern, Helden, Fanatikern oder Verbrechern.

Mein Vater Helmut war ein engagierter junger Wissenschaftler und Arzt, der sich um Politik wenig kümmerte. Dennoch war auch er vom Zeitgeist der Weimarer Republik, insbesondere vom damals herrschenden Patriotismus geprägt. Nach der Machtergreifung der Nazis vertraute er dem Führer, war von 1933 bis 1937 Mitglied der SA, jedoch nicht der NSDAP. Gegen den Angriffskrieg Deutschlands auf seine Nachbarn erhob er keine Einwände. Für uns Heutige reicht allein dieser Umstand oft schon aus, um einen Menschen zu verurteilen.

Die Rassenideologie der Nationalsozialisten hatte aber auch für meinen Vater Folgen. Sein hochgeschätzter jüdischer Chef der Augenklinik in Münster, Professor Aurel von Szily, dem er als Assistent diente, wurde zwangsentlassen. Diesem hatten weder Auszeichnungen im Ersten Weltkrieg1, noch sein »Atlas der Kriegsaugenheilkunde«, eines der Standardwerke, helfen können. Helmut zog daraufhin 1935 mit seiner »halbjüdischen« Ehefrau ins Münsterland und wurde Assistent eines angesehenen Augenarztes in Stadtlohn. Nachdem dieser seinen Ruhestand angetreten hatte, wurde meinem Vater wegen seiner Frau und der Mitunterzeichnung einer Ehrenerklärung für seinen Münsteraner Chef, Professor Aurel von Szily, die Kassenzulassung verweigert. Seine beruflichen und privaten Schwierigkeiten gipfelten schließlich in dem Angebot meiner Mutter, sich scheiden zu lassen.

In diesem Dilemma meldete sich Helmut freiwillig zur Wehrmacht. Er wollte sich als Arzt und Soldat auszeichnen, seine Familie aus der gesellschaftlichen Isolation befreien und seinen Kindern eine Zukunft schenken.

Helmuts Fronteinsatz war offiziell aufgrund seiner »jüdischen Versippung« nicht zulässig – und wegen seiner Qualifikation als Facharzt auch nicht erforderlich, doch hatten Wehrmachtsstellen diese Verordnungen nicht beachtet. Mein Vater fühlte sich von seinen Kameraden an der Front gebraucht und menschlich geschätzt.

Das vorliegende Sachbuch umfasst den Briefwechsel meiner Eltern zwischen Front und Heimat über etwa 30 Kriegswochen, von Herbst 1941 bis Frühjahr 1942. Der deutsch-sowjetische Krieg hat bereits einen Wendepunkt erreicht. Wir erleben Helmut als Arzt in einer Panzer-Aufklärungs-Abteilung in der Südukraine. Als Chronist bindet der Historiker Christian Hardinghaus die Dokumente einleitend in den geschichtlichen Kontext ein.

Über diese Generation der Eltern und Großeltern im Dritten Reich wurde bereits viel geschrieben. Die Betroffenen selbst aber sind verstummt. Viele waren vom NS-Regime überzeugt oder zumindest Mitläufer, sind zu Millionen unter oft unsäglichen Umständen gestorben oder als Überlebende des Krieges als sogenannte Mittäter zum Schweigen in Schande verurteilt.

Wir, die Herausgeber, lassen meine Eltern in ihrem Briefwechsel selbst zu Wort kommen. Die Dokumente offenbaren die Verstrickung von Lebens- und Zeitgeschichte. Sie erschüttern durch ihre Nähe zum Geschehen. Aus der historischen Distanz betrachtet, klingt in ihnen ein ewiges Thema an – eine Strophe im immer wieder neu gesungenen Klagelied von Liebe, Schuldigwerden und Sterben des Menschen.

Ich möchte hoffen, dass die vorliegenden Briefe nicht nur mir als Sohn, sondern auch anderen Lesern zu einem ebenso schmerzlichen wie demütigen Verständnis dieser Kriegsgeneration dienen. Richard von Weizsäcker deutet in seiner Rede vom 8. Mai 1985 an, dass Erinnerung Erlösung bedeuten kann. Wenn wir uns im Blick auf das Dritte Reich nicht nur der Verbrechen, sondern auch der betroffenen Menschen erinnern, geben wir diesen ihre Würde zurück.

Hans Machemer, im Januar 2018

1Badisches Kriegsverdienstkreuz (1916); EK II am schwarz-weißen Band (1920).

VON DER ARZTPRAXIS AN DIE OSTFRONT

Eine historische Beurteilung von Christian Hardinghaus

Im Morgengrauen des 22. Juni 1941 brachen über drei Millionen deutsche Soldaten in 121 Divisionen auf, um ohne Kriegserklärung in die Sowjetunion einzurücken. Adolf Hitler hatte den längsten und grausamsten Feldzug des Zweiten Weltkrieges ausgelöst, der erst mit der Kapitulation Deutschlands am 8./9. Mai 1945 endete und mehr als die Hälfte der insgesamt über 60 Millionen Kriegstoten einforderte.

Auch Helmut Machemer marschierte als Arzt einer Sanitätskompanie in Russland ein. Bei Kriegsausbruch, am 1. September 1939, hatte er sich freiwillig zum Heeresdienst gemeldet. Warum aber wollte ein 36-jähriger Facharzt für Augenheilkunde überhaupt kämpfen, wenn er aufgrund seines Alters und Berufsstandes doch gar nicht hätte müssen? War Helmut ein glühender Nationalsozialist, ein Waffenfanatiker oder war er gar lebensmüde?

All das war er nicht!

Helmuts Schicksal nahm spätestens mit den Nürnberger Rassengesetzen vom 15. September 1935, nach denen seine Ehefrau Erna als Halbjüdin eingestuft wurde, eine dramatische Wendung. Vom bürgerlichen Werdegang ausgeschlossen und gesellschaftlich geächtet, drohte auch den drei kleinen Söhnen Robert, Hans und Dieter2 als Vierteljuden das gleiche Schicksal. Das wollte Helmut nicht hinnehmen.

Der junge Augenarzt litt schmerzlich unter der gesellschaftlichen Diskriminierung seiner Familie, war er doch selbst Patriot und seiner Heimat tief verbunden. Seine berufliche Laufbahn war durch die Mischehe gefährdet. Sich jedoch von seiner Frau zu trennen, schloss er aus.

Eine Ausnahmeregelung in der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung sollte ihm aus der Not helfen. Als arischer Reichsbürger konnte er sich durch besondere Tapferkeitsauszeichnungen eine Arisierung seiner Familie erkämpfen.

So zog Helmut als Unterarzt in den Krieg gegen die Sowjetunion. Ihm war von Anfang an klar, dass er, um seine Ziele zu erreichen, immer an vorderster Linie würde stehen müssen. Und er war bereit, diese Herausforderung anzunehmen. Für Frau und Vaterland und ganz besonders für das Leben seiner Kinder.

Dass der Krieg jedoch ein derart barbarisches Ausmaß annehmen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Das verheißungsvolle Morgenrot des russischen Himmels sollte sich schneller als erwartet auf den schneebedeckten Schlachtfeldern widerspiegeln.

Helmut hat seine Kriegserlebnisse detailliert dokumentiert. Sie ruhen seit Kriegsende in über 160 Briefen, über 2000 Fotos und umfangreichem Filmmaterial in den Händen seiner Nachkommen. Sein Sohn Hans Machemer hat diese Dokumente übertragen und gemeinsam mit mir ausgewertet. Wir legen sie jetzt erstmals der Öffentlichkeit vor.

Helmuts bildhaft verfasste und historisch bedeutsame Feldpost offenbart in dieser Form das Schicksal eines Akademikers und seiner jüdisch versippten Familie im Zeitgeist des Dritten Reiches. Zugleich dokumentiert sie das Leben und Leiden des einfachen Soldaten, des Landsers, an der verheerenden Ostfront – authentisch und ebenso erschütternd wie schockierend. Das plakative Bild des bösen Deutschen im Russlandfeldzug, wie es manche Geschichtsbücher zeichnen, entspricht nicht dem, was Helmut und viele andere Soldaten in dieser Zeit erfahren haben.

Nach den anfänglichen Blitzsiegen in der Sowjetunion erlebte Helmut gegen Ende des Jahres 1941 die erste große Gegenoffensive in der Südukraine. Zu einer Zeit, in der nach Hitlers Vorstellungen die Sowjetunion hätte kapitulieren sollen. Doch selbst wenn die Wehrmacht in den ersten Monaten des Krieges strategisch überlegen war, so hatte Hitler einen entscheidenden Feind ignoriert: den russischen Winter.

Gegen Ende 1941 kam der deutsche Vormarsch zum Stehen. Hitler rechnete fest damit, dass seine Soldaten das Weihnachtsfest bereits in Moskauer Wohnhäusern feiern würden. Die Wehrmacht war jedoch keineswegs auf extreme Minustemperaturen von bis zu 50 Grad vorbereitet. Die Heeresführung hatte ihre Soldaten mit Sommeruniformen in den Krieg geschickt. Tausende deutsche Soldaten erfroren schon in ihrem ersten russischen Winter. Erschöpft gruben sie sich zum Schutz gegen den eisigen Wind in Erdlöcher ein, aus denen sie mit Maschinengewehren russische Angriffe abwehrten. Das kommende Frühjahr brachte kaum Erleichterung, denn die Rote Armee hatte den deutschen Stillstand dazu genutzt, um massiv aufzurüsten. Es folgten blutige Panzer- und Kesselschlachten um ukrainische Städte, in denen Helmut, mit Arzttasche und Pistole bewaffnet, für und um das Leben seiner Kameraden kämpfte.

Deutsche wie sowjetische Truppen wurden in diesem Krieg zu Spielbällen der Ideologien ihrer tyrannischen Führer – Adolf Hitler und Josef Stalin.

Hitler verfolgte von Anfang an beharrlich drei strategische Ziele. Er wusste, dass sein Heer für einen langen Krieg auf die Rohstoffe, die in der Ukraine lagen, angewiesen sein würde. Mit der Einverleibung der bedeutenden Ölquellen wollte er letztendlich auch die Engländer beeindrucken und zum Frieden zwingen. Darüber hinaus forderte er eine totale Germanisierung des Ostens. Nach seinen Vorstellungen brauchte die arische Herrenrasse deutlich mehr Lebensraum, den er im Riesenreich der Sowjetunion zu finden glaubte. Schließlich sollten die minderwertigen Rassen, zu denen er die Russen zählte, vernichtet oder unterjocht werden, um den Deutschen zu dienen.

Auf beiden Seiten wurden Soldaten perfide getäuscht. Die deutsche Propaganda hämmerte den Ihren unentwegt ein, dass der Bolschewismus ihr Vaterland vernichten wolle; die russische Propaganda behauptete dasselbe vom Kapitalismus.

Ungefähr 3,5 Millionen Soldaten der Wehrmacht mussten ihr Leben auf dem Schlachtfeld oder in Gefangenschaft lassen und mehr als 11 Millionen Soldaten der Roten Armee. In Deutschland pflegen wir eine Erinnerungskultur, besonders die sechs Millionen jüdischen Opfer des Holocausts betreffend, die in Vernichtungslagern oder durch Erschießungskommandos der Einsatzgruppen der SiPo3 und des SD4 ermordet wurden. Als zu grausam haben sich diese und andere Untaten des NS-Regimes herausgestellt, als dass wir – wie es andere Kriegsparteien des Zweiten Weltkrieges mit ihren Veteranen tun – des Schicksals gefallener deutscher Soldaten gedenken, sogar kaum darüber erfahren. Unbestritten ist, dass sowohl Teile der Wehrmacht als auch der Roten Armee in schwere Kriegsverbrechen verwickelt waren. In diesem Buch soll an die Geschichten jener vielen einfachen Soldaten erinnert werden, die selbst zu Opfern der barbarischen NS-Ideologie wurden und an der Front rücksichtslos gegeneinander gehetzt wurden.

Helmut war ein neugieriger Mensch, kontaktfreudig zu seinen Kameraden und unvoreingenommen gegenüber dem Feind. Zugleich war er ein aufmerksamer Beobachter und Berichterstatter, der seine Gedanken mühelos dem Papier anvertraute. Seine Feldpost gliedert sich in Briefe an seine Familie und in Frontberichte, die Erna und die Verwandtschaft für eine spätere private Veröffentlichung bewahren sollten. Wir haben für dieses Buch 35 Kriegswochen zwischen Oktober 1941 und Juni 1942 mit an die 100 Briefen aus Helmuts Russlandfeldzug samt Antwortschreiben seiner Frau und Kinder ausgewählt und in chronologischer Reihenfolge angeordnet.

Inhaltlich im Original belassen, wurden lediglich die Rechtschreibung aktualisiert und Interpunktionen angepasst. An einigen wenigen Stellen, wo es für den Lesefluss erforderlich schien, haben wir sprachliche Ergänzungen vorgenommen und durch eckige Einklammerung kenntlich gemacht. Fakten und historische Kontexte wurden bei der Auswertung sorgfältig geprüft, Fachbegriffe aus dem Militärjargon und bedeutende historische Ereignisse werden in Fußnoten erklärt.

Von Anfang an wollte Helmut seinen Angehörigen die Realität des Krieges schildern. Das haben sich nicht viele Soldaten getraut. Es ist wohl nur dem Schicksal zu verdanken, dass die meisten Feldpostbriefe und Filmnegative die Heimat auch erreichten und dort den Krieg überdauerten. Und dass jene Heimaturlauber, welche die Dokumente in ihrem Gepäck verstauten, nicht gefilzt wurden. Nach über 75 Jahren steht dieses Material heute den Leserinnen und Lesern zur Verfügung.

Christian Hardinghaus, im Januar 2018

2Name des Letztgenannten geändert.

3SiPo: Sicherheitspolizei. Zusammenschluss der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und Kriminalpolizei (Kripo). Unterstellt dem »Reichsführer SS« Heinrich Himmler.

4SD: Sicherheitsdienst des »Reichsführers SS«. 1931 als Geheimdienst der SS aufgebaut und Reinhard Heydrich unterstellt.

VORGESCHICHTE:GEFÄHRLICHE LIEBEUNTERM HAKENKREUZ

Eine Einleitung von Christian Hardinghaus

Was mich kränkt und was ich auf die Dauer nicht ertrage, ist, dass ich ausgestoßen bin aus meinem Volk. Ich merke es ja immer deutlicher. Wo ich hinkomme, verschließt man die Türen und – schlimmer – die Herzen. Meine Frau ist Halbjüdin, meine Kinder sind Mischlinge. Wie soll man mich da ernst nehmen können?

Am 12. September 1937 verfasst der Augenarzt Helmut Machemer diese Zeilen in einem Brief an seinen Bruder Robert. Er beschreibt damit die ausweglose Lage eines Mannes, der im nationalsozialistischen Deutschland mit einem Mischling ersten Grades verheiratet ist, im Volksmund auch als Halbjude bezeichnet. Nach den Nürnberger Rassengesetzen vom 15. September 1935 gehören dieser geächteten Gruppe jene Menschen an, die mindestens zwei jüdische Großelternteile haben.

Schon am Anfang seiner Beziehung zu Erna machten Familie und Freunde Helmut Machemer darauf aufmerksam, dass seine Freundin doch recht jüdisch aussehe. Helmut bittet sie im Juni 1932, nach dreijähriger Beziehung, um Auskunft. Die damals 23-jährige Erna ist zutiefst erschrocken und fragt ihre Eltern. Ihr Vater verfasst einen langen Brief, in dem er seiner Tochter bestätigt, dass ihre Mutter jüdischer Herkunft ist. Er habe ihr nichts davon gesagt, um ihr das Leben nicht unnötig schwer zu machen – wohl wissend um den seit Beginn des 20. Jahrhunderts wachsenden Antisemitismus in Deutschland. Zugleich versucht er, sie zu ermutigen:

Wenn Du Dir gedemütigt vorkommst durch das Judenblut in Deinen Adern, so kannst Du ja auf die immerhin 400 Jahre alte väterliche Familie pochen, die doch in gewissem Sinne in der Wertgeltung einen Ausgleich bietet.

Für Erna, die zu dieser Zeit in Kiel Medizin studiert, bricht eine Welt zusammen. Die Aufmärsche der Nationalsozialisten in der Ostseestadt, die offen eine radikale Judenfeindschaft propagieren, sieht sie nun mit anderen, ängstlichen Augen. Ihr wird bewusst, dass sie selbst Schwierigkeiten bekommen werden wird, ihren angestrebten Beruf als Ärztin jemals ausüben zu können. Auch fürchtet sie, dass die Karriere ihres Freundes, der nach bestandener Promotion und Approbation in der Münsteraner Universitäts-Augenklinik arbeitet, in Gefahr ist. Verzweifelt schreibt sie ihm:

Mein lieber Helmut, ich habe nur den einen Wunsch, noch einmal bei Dir zu sein. Der Du mein größtes Glück warst. Komm bald, dann will ich Abschied nehmen, so war’s ein Stücklein Leben mit Freude und Leid. Ohne Unrecht, wenn‘s ein Herrgott betrachtet. Bis dahin will ich versuchen, tapfer zu sein. Leb wohl, Geliebter! Deine Erna.

Doch es sollte nicht das letzte Treffen werden. Helmut bekennt sich zu seiner Erna. Dass sein Wunsch nach einem unbeschwerten Familienleben bedroht ist, nimmt er in Kauf und zugleich den Kampf um die Familie an.

Dass ich Dich immer lieb habe, daran zweifle nicht,

schreibt er und macht ihr einen Heiratsantrag. Der kleine Robert wird zwei Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten (30. Januar 1933) geboren. Zunächst erkennt Helmut die drohende Gefahr nicht.

Nach dem Versailler Friedensvertrag von 1919 hatten die Siegermächte Großbritannien, Frankreich, Italien und die USA dem Deutschen Reich die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg zugesprochen. Die Alliierten bürdeten der jungen Weimarer Republik unerfüllbare Reparationszahlungen auf. Deutschland musste das Gros seiner Goldreserven, seiner Handelsflotte und seiner Erträge aus Kohle- und Eisenerzförderung an die Sieger abtreten. Die deutsche Wirtschaft sollte auf diese Weise dauerhaft geschwächt bleiben. Auch die massiven Gebietsabtretungen und die Entmilitarisierung führten zu großem Unmut in der Bevölkerung. Die Deutschen fühlten sich gedemütigt, diskriminiert und ihres Vaterlandes beraubt.

Erna und Helmut heiraten am 29. Oktober 1932.

Durch die Weltwirtschaftskrise kamen ab 1930 Massenarbeitslosigkeit und Hungersnöte hinzu. Die Stunde der Nationalsozialisten hatte geschlagen. Hitler und seine Parteikollegen erhielten wachsenden Zuspruch und versprachen, den Versailler Vertrag nicht länger anzuerkennen. Die Nazis gelobten, Deutschland aus der Krise zu führen, für Arbeit und Wohlstand zu sorgen und den Deutschen vor allem ihren Nationalstolz zurückzugeben.

Auch Helmut sieht im Nationalsozialismus die Chance einer Wiedergeburt des Patriotismus, den er in sich trägt. Er hält den Nationalsozialismus aber weder für originell, noch erkennt er früh genug die Bedrohung für sein Land. An seinen Bruder schreibt er über die neue Bewegung und ihren Führer:

Dieser neue Geist der Anständigkeit, Ehrlichkeit und Herzenswärme, den wir als Nationalsozialismus bezeichnen, er ist im Schützengraben geboren, groß geworden und ausgeprägt. Die Männer, die ihr Leben für ihr Vaterland gelassen haben, sie haben ihn gezeugt. Gewiss, es gab nur einen Mann, der das konnte, und es ist eine sonderbare Tatsache, dass dieser Mann da war, als man ihn brauchte. Aber das, was dieser Mann zu sagen hatte, war nicht neu, das wusste jeder schon vorher.

Die ersten antijüdischen Gesetze treffen die Familie noch nicht. Der zweite Sohn Hans wird 1934 geboren, und die Familie zieht ins ländliche Stadtlohn im Münsterland. Helmut nimmt dort eine Assistentenstelle in einer Augenarztpraxis an und träumt davon, sie einst selbstständig führen zu können.

Spätestens die Nürnberger Rassengesetze lassen das junge Ehepaar aber um die Zukunft ihrer Kinder bangen. Nach dem dort formulierten sogenannten Blutschutzgesetz sind fortan Eheschließungen und Geschlechtsverkehr zwischen Nichtjuden und Juden verboten, um die deutsche Rasse reinzuhalten. Von Anfang an ist der Antisemitismus Kernbestandteil der nationalsozialistischen Ideologie, die Juden als Untermenschen und Arier als Herrenmenschen betrachtet.

Bereits vollzogene Ehen dürfen zunächst bestehen bleiben, doch die jüdischen Ehepartner werden zunehmend vom beruflichen und gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Viele Ehen werden auf Wunsch des arischen Ehepartners oder dessen Familie annulliert. Mischlingen wie Erna wird, sofern sie sich zum Christentum und zu deutschen Werten bekennen, die vorläufige Reichsbürgerschaft zugestanden. Doch auch sie treffen Restriktionen wie beispielsweise das Verbot, einen akademischen Beruf auszuüben.

Als Mischling ersten Grades darf Erna ihr Medizinstudium nicht abschließen5. Als Ärztin würde sie nie arbeiten können. Eine Härteprobe für die junge Familie, die durch die Mischehe gesellschaftliche Ausgrenzungen über sich ergehen lassen muss. Die dem Volk von Joseph Goebbels, dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, eingehämmerte Ideologie macht keinen Unterschied zwischen Halbjuden und Volljuden oder sogenannten Geltungsjuden, das heißt Mischlingen, die sich dem Judentum zugehörig fühlten.

Dadurch, dass radikale nationalsozialistische Stimmen immer wieder fordern, alle Halbjuden als Geltungsjuden einzustufen und sie somit ebenso zu Opfern von Deportationen in Gettos und Konzentrationslager zu machen, könnte Ernas Situation schnell lebensbedrohlich werden.

Die Zukunft der Kinder Robert und Hans, die nach der nationalsozialistischen Rassentheorie fortan als Vierteljuden bezeichnet werden, ist ebenso bedroht. Auch sie würden unter staatliche Vormundschaft gestellt, werden berufliche Einschränkungen erleiden müssen und gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt sein.

Erna bringt 1937 ihren dritten Sohn Dieter zur Welt. Helmut wird aufgrund seiner jüdischen Versippung aus der SA6 ausgeschlossen, der er seit 1933 ohne Parteimitgliedschaft angehört hatte. Aus vaterländischen Gefühlen und der Hoffnung auf eine unangefochtene gesellschaftliche Stellung ist er der Organisation zu einer Zeit beigetreten, als diese im nationalsozialistischen Herrschaftssystem kaum noch eine Rolle spielte. In die SA einzutreten galt vielen Akademikern als willkommene, da weniger politische Alternative zur NSDAP-Mitgliedschaft, die ihnen von staatlicher Seite angeraten wurde. Wer sich nicht im NS-System organisierte, der hatte mit Repressalien zu rechnen.

Spätestens nach der Enttäuschung über seinen SA-Ausschluss erkennt Helmut deutlich, welche Bedrohung der Nationalsozialismus als politisches System für die Gesellschaft darstellt. Die Familie beschäftigt sich mit der Möglichkeit einer Auswanderung nach Brasilien. Doch Helmut gerät in einen Identifikationskonflikt und will nicht akzeptieren, mit seiner Familie vom Vaterland ausgestoßen zu sein.

In deutlicher Distanz zur Parteiideologie schreibt er 1937 an seinen Bruder Robert:

Wir werden einmal sehen, ob die Theorie des Nationalsozialismus zu Recht besteht, dass Mischlinge notgedrungen minderwertig sind!

Es kommt noch schlimmer. Die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands verwehrt Helmut die Zulassung wegen seiner Ehe mit einem Mischling7. Sein Traum von einer eigenen Praxis scheint damit zerronnen zu sein. Dennoch will Helmut mit Erna und den Kindern in Deutschland bleiben und zu seiner Liebe stehen. Er schreibt weiter:

Die Treue in meinem Leben ist mir stets oberster Grundsatz gewesen.

Helmut meint die Treue zum Vaterland ebenso wie die Treue zu Frau und Familie. Da Adolf Hitler fortwährend von der Wichtigkeit der Treue spricht und den Wahlspruch Meine Ehre heißt Treue selbst der SS8 vorgibt, hofft Helmut sogar auf ein Verständnis der Partei für seine Lage. Er schreibt 1937 an seinen Bruder Robert:

Meinst Du nicht, dass vielleicht sogar ein Adolf Hitler in einer schwachen Stunde für ein solches Handeln ein gewisses Verständnis aufbringen könnte?

Damit spricht Helmut den Gedanken einer tatsächlich existierenden, doch nicht öffentlich kommunizierten Ausnahmeregelung der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung an. Ein rein arischer Mann hat danach die theoretische Möglichkeit zu erwirken, dass seiner halbjüdischen Frau deutsches Blut zugesprochen wird, sofern er sich durch besonders hohe Verdienste fürs Vaterland auszeichnet. Das Recht auf die Entscheidung darüber behält sich Adolf Hitler persönlich vor. Obwohl die Aussichten darauf von Anfang an gering sind, klammert sich Helmut an eben diese Hoffnung.

Sein nun erklärtes Lebensziel soll es sein, durch Auszeichnungen für das Vaterland Erna und die Kinder für deutschblütig erklären zu lassen. Doch zunächst findet sich dazu keine Möglichkeit. Es zeugt von einer Ironie des Schicksals, dass ihm der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 die Chance dazu bieten sollte. Helmut meldet sich freiwillig zum Heeresdienst9. Durch Frontbewährungen und den Erwerb von Tapferkeitsauszeichnungen im Krieg sieht er die einzige und letzte Möglichkeit, seine Familie vor den Folgen der Rassengesetze zu schützen.

Zugleich bittet er seine Brüder Robert und Hans, die über politische Beziehungen verfügen, um Unterstützung bei seinen eingeplanten Gesuchen, die Deutschblütigkeitserklärung seiner Frau zu erwirken. Er will seine Kriegserlebnisse dokumentieren und regelmäßig Berichte, Fotos und Filme an seine Familie schicken. Ein nicht ungefährliches Unterfangen, denn Helmut wird als geschulter Naturwissenschaftler die Realität des Krieges ungeschönt aufzeichnen. Seine nächsten Kameraden und Vorgesetzten unterstützen ihn dabei. In Feldpostbriefen und über Heimaturlauber gelangen die Briefe, Fotos und Schmalfilme fast vollständig nach Hause. Trotz seiner Distanz zum Nationalsozialismus mit dessen rassenideologischen Grundsätzen ist Helmut Patriot und fühlt sich dazu verpflichtet, sein Land zu schützen. Nach seiner Grundausbildung wird er zum Unterarzt befördert; bei Kriegsausbruch meldet er sich zum Heeresdienst. Seit dem 25. Mai 1940 nimmt er am Frankreichfeldzug teil und operiert als Hilfsarzt Verwundete in einem Feldlazarett des Infanterie-Regimentes 60 der 16. Infanterie-Division. Am Soldatenleben findet er zunehmend Gefallen und will seine Aufgaben gewissenhaft angehen.

Helmut glaubt – wie so viele seiner Kameraden – an einen kurzen und erfolgreichen Krieg. Deutlich wird das auch in einem Brief, den er an seine Söhne in kindlich erklärender Sprache kurz nach der Kapitulation Frankreichs am 30. Juni 1940 schreibt:

Ich bin mit meinen Soldaten mitten in Frankreich, wo die Leute nicht Deutsch sprechen, sondern Französisch, auch die kleinen Kinder. Wir haben schon viele Franzosen gefangen, deshalb ist auch der Krieg schon aus. Ich kann aber noch nicht nach Hause kommen, denn wir müssen erst noch England besiegen. Die Engländer werfen wir alle ins Wasser, weil sie mit den Fliegern Bomben auf Euch geworfen haben. Sie treffen aber meistens nicht. Vati hat jetzt auch ein Pferd von den Soldaten bekommen, auf dem er reitet, wenn er zu den kranken Soldaten will, um sie wieder gesund zu machen. Wenn Ihr groß seid, müsst Ihr auch Soldaten werden, denn das ist sehr schön.

Während des Aufmarsches im Osten und Aufenthalts im verbündeten Bulgarien denkt Helmut sogar an eine zügige Wiederaufnahme seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Am 18. April 1941 schreibt er an Erna:

Wir genießen bulgarischen Wein und türkischen Kaffee, pilgern durch das romantische Nest, von den freundlichen Einwohnern herzlich mit »Guten Tag« und »Heil Hitler« begrüßt, steigen auf das alpine Gebirge und fotografieren und filmen im Übrigen nach Herzenslust. Ich bin nun endgültig von der Truppe zu einer Sanitätskompanie versetzt, habe es hier sehr gut getroffen, nette Kameraden, Ärzte, die Verständnis auch für wissenschaftliche Leistungen haben, darunter zwei Herren, die sich nach dem Kriege ebenfalls habilitieren wollen.10

Auch zu Beginn des Russlandfeldzugs, an dem Helmut ab Juli 1941 als Unterarzt der 2. Sanitätskompanie der 16. Panzer-Division und ab Oktober 1941 des Kradschützen-Bataillons 16 teilnimmt, scheint er sich eines deutschen Blitzsieges über Russland gewiss. Die deutsche Panzerwaffe überrollt russische Landstriche, und die Rote Armee leistet kaum Widerstand. Helmut eifert weiter seinen Auszeichnungen entgegen, immer aber auch in dem Bewusstsein, dass er sich dafür an vorderster Frontlinie bewegen muss. Am 22. Juni 1941 schreibt er an seine Frau:

Die Würfel sind also jetzt gefallen, eine große Aufgabe steht vor uns. Wo wir uns befinden, kannst Du Dir wohl vorstellen. Alles ist gepackt und abmarschbereit, wir werden diesmal mittendrin sein. Das war schon immer mein Wunsch, und vielleicht gelingt es mir, durch meinen persönlichen Einsatz das wichtigste Streben zu erfüllen, für unsere Kinder die volle Anerkennung doch noch zu erreichen. Diesmal geht es, das ist offensichtlich, in einen rücksichtslosen Kampf, der auch das Letzte fordert, ums Ganze, Sowjetstern gegen Hakenkreuz.

Mehr als um sein eigenes Leben macht Helmut sich Gedanken um die Bombenangriffe in der Heimat, welche die Engländer vermehrt fliegen und die sich ab Sommer 1941 in flächendeckenden Bombardements gegen die Zivilbevölkerung niederschlagen. Dennoch glaubt er an einen baldigen Frieden mit England, um den sich auch die Nationalsozialisten und Hitler immer wieder auf politischer Ebene bemühen. Mit Russland will man einen gemeinsamen Feind und eine Bedrohung für Europa ausgemacht haben. Helmut notiert:

Der Krieg sieht sich von der Nähe sehr viel gelassener an, nicht so viel Pathos und überschwängliche Gefühle, wie man es in der Heimat darstellt. Meist ist es ganz ruhig und gemütlich. Die Gefahr kommt, wenn sie kommt, ganz plötzlich und ist ebenso schnell wieder vorbei.

Wir haben von den letzten, schweren Bombardierungen gehört, die auch vor allem Münster trafen. Mit Ingrimm muss man sich sagen, dass man vorerst solche Verluste nicht verhindern kann. Wenn erst der Feldzug hier zu Ende ist, der sehr viel Luftwaffe bindet, wird sich der Engländer umsehen müssen. Ich bin allerdings der Meinung, ganz privat, dass wir nach dem Feldzug mit Russland eine Verständigung mit England suchen und auch finden werden. Aber wie lange noch wird er dauern?

Helmut mit dem EK II im September 1941

Helmut ahnt nicht, wie lange der Krieg noch dauern und wie er zu Ende gehen wird. Nach seiner ersten Tapferkeitsauszeichnung mit dem EK II11 für den furchtlosen Einsatz für Verwundete sieht er sich seinem Ziel, die Familie aus der Ächtung zu befreien, ein Stück näher gekommen. Doch erst nach seiner Versetzung im September 1941 zur Panzer-Aufklärungs-Abteilung 16 erfährt er hautnah die unvorstellbaren Belastungen und Grausamkeiten eines Winterkrieges in vorderster Linie. Helmut arbeitet nun nicht mehr in der Verwundetenversorgung an den Truppen- und Hauptverbandsplätzen, die mehrere Kilometer hinter der Frontlinie liegen, sondern als Truppenarzt der zweiten Kompanie der Panzer-Aufklärungs-Abteilung 16 mitten in der Schusslinie. Zusammen mit ausgebildeten Sanitätssoldaten obliegt ihm die Aufgabe, Verwundete zu bergen und ihnen Erstversorgung zu leisten, bevor sie über Verwundetennester von Krankenträgern der Sanitätskompanie abgeholt werden können. Es wird nicht nur ein Kampf um das Leben seiner Kameraden, sondern auch einer ums eigene Überleben.

5Siehe Dokument im Anhang, S. 445.

6SA: Sturmabteilung der Nationalsozialisten. Seit 1934 nach dem sog. Röhm-Putsch politisch entmachtet.

7Siehe Dokument im Anhang Seite 444.

8SS: Schutzstaffel der NSDAP.

9Siehe Helmuts militärischen Lebenslauf, Anhang, S. 443.

10Einen in eine friedliche Zukunft gerichteten Plan Helmuts enthüllt auch ein Brief vom 15. Jan. 1942 an seine Stationsschwester der Augenabteilung im Stadtlohner Krankenhaus (siehe Anhang, S. 450).

11EK II: Eisernes Kreuz 2. Klasse.

BRIEFE IVORMARSCH

05. Oktober 1941

TÖDLICHESTAKTIEREN: SANITÄTERNACH VORNE

Die weiten Räume Russlands bieten nicht nur dem Angreifer Schwierigkeiten. Auch die Verteidigung wird erschwert. Ein Abwehrkampf auf Tuchfühlung ist gar nicht möglich. Immer wieder bieten sich dem Angreifer Lücken, durch die er hindurchstoßen, die befestigten Stellungen umgehen und von rückwärts angreifen oder abriegeln kann. Das macht sich dann besonders bemerkbar, wenn das Verteidigungssystem ins Wanken gerät. Es bilden sich dann einzelne isolierte Gruppen, die sich wohl tapfer wehren können, aber keine Aussicht auf einen taktischen Erfolg haben und früher oder später liquidiert werden.

Das Widerstandsnest von vorvorgestern haben wir einer nachrückenden Division überlassen, und vorgestern und gestern ging der Vormarsch mit erfreulicher Frische vonstatten. Morgens früh auf und fast den ganzen Tag gefahren, auf guten Straßen, bei trockener Witterung, ohne Störung. Mit ungeheurem Schwung drangen die Abteilungen nach Süden vor. Wieder sahen wir Feldbefestigungen von erheblichem Ausmaß, Panzergräben vor den Ortschaften, quer über die Straßen, lang ausgedehnt. Aber auch diese Werke waren noch nicht fertig. Sogar die Holzbrücken, neu erbaut, die die Straße über die Gräben führen, standen noch. Was wollten wir mehr? Hier ist der Gegner völlig überrascht worden.

In dichten Scharen, wie bei einem Sonntagsausflug, kilometerweit strömten die Männer zurück, die gestern noch mit den Arbeiten beschäftigt waren. Der russische »Arbeitsdienst«. Es sind meist ältere Männer, die aus der näheren und weiteren Umgebung zusammengetrieben wurden. In zerlumpter Kleidung, verschmutzt und abgemagert. Soldaten darunter gemengt. Sie machten fröhliche Gesichter, schwatzten und lachten, grüßten wohl auch herüber. Man sah: Die Furcht vor den deutschen Soldaten war gewichen. Überläufer erzählten uns, dass es sich rundgesprochen habe, die Männer würden bei uns weder erschossen noch misshandelt, sondern sogar bald entlassen, soweit sie aus der Ukraine sind. Sie haben es erfahren von Männern, die in die Heimat zurückgekehrt sind. Da war kein Halten mehr. Bei der ersten Gelegenheit entwichen sie ihren Kommissaren12. Es sind viele Deutsche unter ihnen, deren Eltern oder Großeltern aus Deutschland zugewandert sind, mit Verwandten noch in Deutschland. Sie kommen und bieten sich als Dolmetscher an, um den Feldzug mitzumachen. Wollte man ihnen Gewehre geben, sie würden mitkämpfen. Aber wir brauchen sie nicht. Sie sollen nach Hause und das Feld bestellen. So gibt es hier in der Gegend ganze Dörfer mit fast nur Deutschen. Man erkennt sie daran, dass es Dörfer ohne Männer sind. Nur Frauen und Kinder stehen an den Häusern und winken schüchtern. Alle Männer von 16 bis 60 Jahren hat man entfernt. Nicht zum Militär, sondern in diese Arbeitskolonnen gesteckt, zum Teil weit weg verschleppt. Sie sind natürlich schlecht verpflegt. Als Monatslohn erhielten sie, wenn überhaupt, 9 Rubel und 8 Kopeken. 1 Rubel sind 10 Pfennige.

Kradschützentruppe und neugierige Ukrainer

Jetzt geht es ostwärts der Vormarschstraße ab, zu einer Sicherung des Ortes H13. Vom Feind ist nichts bekannt. Wir durchfahren einen kleinen Ort. Neugierig stehen die Bewohner vor ihren Häusern, die Kinder winken den Soldaten zu. Auch hier haben die Kinder eine Vorliebe für Soldaten. Nun, hier ist kein Russe. Und wären die Russen da, ließe sich niemand der Bewohner blicken. Das ist das erste, fast immer zutreffende Mahnzeichen. Wir durchfahren eine Mulde, dann die Mulde entlang zum nächsten Dorf. Unterwegs steht rechts ein brennender russischer Lkw. Also hier waren Russen, denn deutsche Truppen sind hier noch nicht gefahren.

Eine Kompanie fährt rechts ab. Die Kompanie von Hauptmann H., der ich zugeteilt bin, fährt in das Dorf ein. Ich hänge mich dem Kompanietrupp an, der die Spitze fährt. Vorweg eine Pak, dann der Wagen des Hauptmanns, einige Meldekräder14, dann mein Wagen, die Kompanie folgend. So ist gewöhnlich die Marschfolge. Nur, wenn es brenzlig ist, fährt eine Sicherung voraus.

In der Mitte des Dorfes hält der Hauptmann an und lässt rechts ranfahren. Rechts führt ein Weg herunter in eine kleine Mulde und der Damm über diese hinweg zu einem Waldstück. Die Adleraugen des Hauptmanns haben hier einen Wagen mit MG entdeckt und drüben im Waldstück Lastwagen oder Ähnliches. Und nun spielt sich mit Windes Schnelle ein Kampf ab, der zu einem ganz außergewöhnlichen Erfolg führt – so ein rechtes Husarenstück unseres Hauptmanns.

Pak15 fährt an der Wegegabelung in Stellung und feuert in das Waldstück. Die Züge sitzen ab und gehen in Stellung, langsam nach dem Dorfrand vorziehend. Schützenfeuer, Maschinengewehrfeuer, Kugeln pfeifen über das Haus hinweg, hinter dem ich stehe, kaum begreifend, um was es sich handelt. Das lebhafte Spiel reizt mich, meinen Filmapparat zu holen und einige Szenen zu filmen. Als ich mich an die Kreuzung stelle, ruft man mir zu: »Vorsicht Feindfeuer!« Und ich ziehe mich wieder zurück zu meinem Wagen in Deckung.

Die Schützen sind jetzt wohl bis zum Dorfrand vorgedrungen, als man von vorne ruft: »Sanitäter nach vorne!« Der Sanitäter ist natürlich nicht zu finden, also packe ich meine Tasche und pirsche mich, wie ich das von den Anderen gesehen habe, Deckung suchend von Haus zu Haus nach vorne. Dort finde ich auch einige Kameraden und, hinter einem Strohschober kauernd, meinen Sanitäter. Wo jemand verwundet sei, weiß aber niemand.

»Wo ist denn der Hauptmann?«, frage ich. Der sei mit einigen Schützen bereits vorne im Wiesengrund. Ich beschließe, vorerst einmal hier zu bleiben. Es wird eifrig geschossen. Ganz deutlich unterscheidet man den dumpfen Klang unserer Gewehre von dem hellen Bellen der russischen Karabiner. Gefolgt von dem singenden »Ssss« weiter vorbeiziehender Geschosse oder dem bösartigen »Tet!« von Kugeln, die dicht an uns vorbeisausen. Ich überlege noch, was ich jetzt tun soll, als ein Melder kommt: »Unterarzt nach vorne, Befehl vom Hauptmann! Sie sollen aber ein Krad nehmen, zu Fuß ist es zu gefährlich.«

Ich schwinge mich also auf ein nahe stehendes Krad, und es geht zum Bach hinunter. Jetzt erst erkenne ich die Lage. Jenseits des Baches auf der Wiese hinter einem Schilfwald steht der Hauptmann. Rechts und links von ihm, nach beiden Seiten schießend, seine Schützen. Am Waldrand, keine 50 Meter weiter, der Feind, im Waldstück eine Anzahl Geschütze. Na, viel Vergnügen! Wir müssen über den lang gestreckten Damm hinweg. Jetzt knallt es drüben recht heftig, der Fahrer zögert.

»Gib Gas, Mensch«, schreie ich ihn an, »damit wir hier herauskommen.« Denn ich weiß, wie schwer schnell bewegliche Fahrzeuge zu treffen sind. Die Maschine macht auf dem holprigen Weg richtige Bocksprünge. Ich halte mich mit aller Kraft fest, um nicht heruntergeschleudert zu werden. Schon sind wir beim Hauptmann. Ich sehe sofort: hier ein Toter. Dort, auf freier Wiese: einer schwer verwundet, ein Dritter leicht verwundet. Der Hauptmann empfängt mich barsch wie immer: »Wo stecken Sie nur? Ich brauche Sie. Sie sehen ja!«

Ich erwidere, dass ich jetzt erst erfahren habe, wohin ich soll. Etwas sanfter fügte er hinzu: »Hier ist es mulmig. Der Russe will uns von zwei Seiten fassen. Ich lasse aber eine Gruppe von oben durch das Dorf gehen. Außerdem habe ich die Panzerspähwagen angefordert. Wo diese verdammten Spähwagen nur bleiben?«

Ärgerlich über den Empfang denke ich: Die Lage ist mir scheißegal. Und verbinde seelenruhig meine Verwundeten. Noch einer ist hinzugekommen. Zu dem auf der Wiese kann ich vorerst nicht heran. Erst als das Geschieße nachlässt, klettere ich hinüber und verbinde auch ihn, allerdings unter erheblichen Schwierigkeiten. Bauchschuss leider. Ihm ist doch nicht zu helfen, muss ich feststellen. Traurig klettere ich jetzt wieder zurück, verfolgt von den flehenden Bitten des Verwundeten, ihn mitzunehmen. Was aber jetzt unmöglich und auch sinnlos wäre.

Helmut verarztet einen Verwundeten im Feld.

Als ich zurückkomme, finde ich den Hauptmann unruhig, fast nervös, worüber ich mich wundere, denn so kenne ich ihn gar nicht. »Doktor«, ruft er mir zu, »wir müssen hier weg, wenn nicht die Spähwagen kommen. Der Russe hat sich auch da unten festgesetzt.«

Ich blicke zurück und male mir gerade aus, was es geben wird, wenn wir über diese freie Fläche zurückmüssen. Da der Ruf: »Spähwagen oben rechts!«

»Eigener oder Russe?«, ruft der Hauptmann zurück. Ein Augenblick höchster Spannung! Auch der Russe hat gepanzerte Spähwagen, und aus dieser Richtung erwarten wir die eigenen nicht.

»Eigener«, tönt es zurück. »Vorsicht, eigener Spähwagen von rechts«, wird durch die Reihen gegeben.

»Nicht schießen!«

Kurz darauf ein tolles Geknatter von Maschinengewehren und 2cm-Kanonen, die unsere Spähwagen tragen, im Rücken der Russen. Der Russe weicht. Vor Freude heulten wir auf! Gewonnen, entschieden, raus aus der Scheiße!

Nur noch hie und da ein Schuss, dann Ruhe. Wir gehen mit entsicherter Waffe auf den Wald zu, in diesen hinein: Staunen! Was wir da sahen, haben wir nun doch nicht erwartet. Hier steht, dicht beieinander, teilweise schon angespannt an laufende Traktoren, Geschütz an Geschütz. Langrohrgeschütze modernster Bauart, 15 cm, also schweres Kaliber. Zwölf Stück im Ganzen, also vier Batterien, das heißt die Artillerie eines Regiments. Daneben Munition in Mengen, und überall, wo man hinsieht, tote Russen. Hingemäht von unseren MGs16, zerfetzt von den Pak-Granaten, oder auch sich selbst erschossen. Und nun der Clou vom Ganzen: Ein Geschütz, also 15cm-Kanone, kaum 100 Meter von unserem Standort entfernt, war bereits in Stellung gebracht. Genau dorthin gerichtet, wo wir hinter dem Schilf lagen. Granate stak bereits im Rohr, und die Kartusche lag bereits daneben!

Dabei auch der tote Kanonier. Hätte der Spähwagen nur wenige Sekunden später eingegriffen, so hätte uns alle vermutlich dieser Schuss in Atome zersprengt. Zumindest aber eine Panik ausgelöst, aus der wohl kaum jemand herausgekommen wäre. 15 cm in direktem Beschuss sprengt die stärksten Panzer, allein der Luftdruck kann Bäume umreißen. Müßig darüber nachzudenken. Das ist Kriegsglück. Ich aber kann mir jetzt die Unruhe des Hauptmanns in jener kritischen Minute erklären. Er hat doch einen sechsten Sinn, mit dem er eine Gefahr wittert, ohne sie zu kennen!

Dieser Handstreich war ein großer Erfolg. Wie hätten diese Geschütze unseren Vormarsch stören können, wenn sie wirklich in Stellung gebracht worden wären! Aber nicht das allein. Wir haben anschließend noch das Gelände durchkämmt, und am Abend steht eine Kolonne von nicht weniger als 896 Gefangenen vor uns, die ihren Weg zu dem Dorf antreten, wo wir von der Vormarschstraße abgebogen waren.

Toter Kanonier neben eroberter 152mm-Haubitze ML 20

Mit herzlichen Grüßen,

Helmut.

12Kommissar: Sozialistischer Politoffizier zur ideologischen Erziehung von Soldaten.

13Vermutlich Husarka.

14Krad: Militärjargon für Kraftrad/Motorrad.

15Pak: Panzerabwehrkanone. Geschütz mit panzerbrechender Munition.

16MG: Maschinengewehr.

06. Oktober 1941

ZERSTÖRUNGSWAHN:DER RUSSE VERBRENNTALLES

Wir stehen auf einer der letzten Hügelketten des Südens, Meeresluft witternd. Ein herrlicher Tag, schon herbstlich klar, weit schweift das Auge. Auf verschiedenen Wegen ziehen von Norden her unsere Truppenverbände. Man erkennt sie an den wirbelnden Staubfahnen der Kolonnen. Wolkenhohe Rauchsäulen steigen auf, der Russe verbrennt, was er noch verbrennen kann. Wie Stecknadeln auf der Landkarte bezeichnen sie die Linie der russischen Front. Sinnlose Zerstörungswut! Was kümmern uns die Strohschober, an denen er besonders gern seine Wut auslässt? Nicht einmal die brennenden Fabriken schmerzen uns, man wird hier ohnehin zukünftig nur deutsche Industriewaren verbrauchen. Und die Öllager für die Traktoren? Bis zum nächsten Frühjahr werden sie ersetzt sein. Ist es doch auch bisher gelungen, unseren jetzigen großen Spritbedarf ausnahmslos zu stillen. Unaufhörlich ziehen die Versorgungskolonnen, und sogar die Eisenbahn zieht bis dicht hinter unsere Front nach.

Die vor uns liegende Stadt A.17 wird gerade von den Russen geräumt. Am einen Ende stoßen unsere Panzer in die Stadt, am anderen sperren wir den Ausgang. Mit Pak und MG wird jeder Wagen, der es dennoch wagt, herauszukommen, unter Feuer genommen. Wir erbeuten einen interessanten Lkw mit einer neuen Waffe, die wir hier in diesem Ostkriege zuerst angewendet haben. Jetzt hat sie also auch schon der Russe. Aber er kam nicht dazu, sie anzuwenden. Die Wirkung, jedenfalls unserer Waffe, soll verheerend sein. Wir melden der Division.

Panzer und Aufklärungs-Abteilung sind getrennt marschiert. Pünktlich zur gleichen Stunde stehen sie vor dem befohlenen Ziel: Das ist das Geheimnis des Erfolges. Wir quartieren uns im Dorfe ein. Aber wir wissen, harte Kämpfe stehen uns noch bevor. Der Kessel18 ist nach Westen geschlossen. Jetzt heißt es, den Kessel zu halten. Südlich von uns ist nur noch unwegsamer Sumpf.

Herzliche Grüße,

Helmut.

17Andrijewka.

18Kessel: von feindlichen Truppen eingeschlossenes Gebiet.

08. Oktober 1941

TODESERNTE: EIN BILDDES GRAUENS

Was dieser Krieg von seinen Soldaten verlangt, kann nur der ermessen, der Tage und Nächte lang mit ihnen auf den weiten Feldern Russlands gestanden und in den Schützenlöchern gelegen hat. Im Schneegestöber und eisigen Wind, frierend und hungrig, jeden Augenblick den Angriff erwartend. Die Nächte im Halbschlaf durchwachend, um bei Tagesanbruch zu marschieren, zu fahren und zu kämpfen. Wenn es einmal so weit ist, dass einem ein paar warme Füße, eine heiße Tasse Tee und ein warmer Raum als das höchste Glück auf Erden erscheinen, dann ist es so weit, man kennt, was das heißt: Krieg!

Seit drei Tagen und Nächten heißt es für uns: morgens Marsch, mittags und abends Angriff und über Nacht Sicherung. Es ist nicht anders möglich. Höchste Anforderungen an jeden Mann. Wir ertragen es, denn jeder weiß, es kommt jetzt darauf an. Es gilt, die Erfolge unseres Durchstoßes und der damit zustande gebrachten Einkesselung zu ernten. Es ist eine Probe des Willens, wie sie härter nicht gedacht werden kann. Wir wissen: Wir sind abgeschnitten, keine Verbindung nach rückwärts, keine nach seitlich. Ringsum der Feind, der verzweifelt versucht, durchzustoßen, herauszukommen, seine Armee oder wenigstens sein nacktes Leben zu retten.

»Eine verfluchte Schweinerei«, so hört man von den Soldaten. Aber keiner ist mutlos. Die Waffen, die sich diesmal bei uns konzentrieren, sind unüberwindlich.

Ein Feld von etwa 20 Kilometern hat unsere kleine Einheit zu halten. Unmöglich, eine geschlossene Linie zu bilden. So fahren wir des Tags hin und her, erscheinen bald hier, bald dort, um die feindlichen Kolonnen, die immer wieder am Horizont erscheinen, zurückzutreiben. Am schlimmsten aber ist die Nacht. Wir beziehen abends einen Hügel und bilden dort eine Art Igel. Ringsum eingegrabene Schützen und MG-Nester19, Wagen in der Mitte, so gut es geht, gegen die Kugeln der feindlichen MGs geschützt. Von hier aus werden die Kolonnen, die vorbeiziehenden, beschossen. Einige Wagen gehen in Flammen auf und erleuchten das Feld, sodass ein weiteres Durchkommen nicht mehr möglich ist. Es gelingt aber immer noch einigen Wagen zu entschlüpfen.

Fahrzeugverluste durch feindliches Feuer

Kaum 100 Meter von uns liegen bei Tagesanbruch die Wracks. Aber sogar bei Anbruch der Dämmerung versuchen die Russen noch, an uns vorbeizukommen. Unsere gepanzerten Spähwagen stoßen vor. Vernichtung, wo sie hinfahren. Viele zerstörte und ausgebrannte Lkws rings im Gelände sprechen von ihrem Wirken, die toten Russen liegen noch dabei. Bei Tagesanbruch versucht eine Schwadron Reiter, von Westen nach Osten durchzubrechen. Im Galopp, weit ausgeschwärmt, jagen sie über die Ebene, die bespannten Panjewagen20 hinterher. Zwei Panzerwagen lösen sich aus unserem Verband, eine Sperre von Schützen tut das Übrige. Nur vereinzelten Reitern ist es gelungen, hier durchzukommen. Sich zu retten?

Nein, denn hinter uns liegt eine zweite Sperre einer anderen Division. Das Feld ist übersät von toten Pferden und Russen. Herden lediger Pferde grasen auf den Feldern. Das ist die wirkliche Vernichtung einer Armee! Ich bin am Nachmittag durch dieses Gebiet mit dem Krad gefahren, weil ich zu einer Augenoperation in die nächste Stadt gerufen wurde: ein Bild des Grauens ringsum. Niemand bekümmert sich um die Leichen der Russen und um deren Verwundete. Wir haben dazu noch keine Zeit.

Die vorherige Nacht lagen wir in langer Kette zur Sicherung mit anderen Einheiten. Wir erwarteten einen russischen Gegenangriff großen Stils, der aber nicht kam. Dagegen konnten wir nicht verhindern, dass im Schutze der dunklen Nacht eine Kolonne von über 100 Lkws zwischen unseren Linien durchgefahren ist. Etwa um 3 Uhr wurde eine Gruppe links neben uns von Russen überfallen. Wir hörten im Halbschlaf das heisere »Horräh« der Russen, wickelten uns aus unseren Decken, griffen zu den Waffen und sprangen aus den Wagen. Doch alles totenstill, nur noch vereinzelte Schüsse, dann nichts mehr. Beim Hellwerden fanden wir die Kameraden der vorderen Sicherung erstochen, zum Teil tot oder schwer verwundet. Offenbar waren sie aus Übermüdung eingeschlafen, von den Russen überrascht und niedergemacht worden. Die Erbitterung der Kameraden ist groß. Wir fangen in der Gegend noch einige Russen am Morgen, sie werden mit Gewehrkolben erschlagen und dann erschossen.

Verwüstung: Ein deutscher Panzerkampfwagen III passiert russischen Tross.

Am Vormittag kommt Befehl, das nördlich liegende Dorf A.21 anzugreifen. Das Dorf liegt in einer Senke lang ausgestreckt. Unbemerkt gelangen wir an den Dorfrand. Dann stoßen zwei Panzer, die uns begleiten, an den Rand der Höhe vor und schießen in das Tal. Dort Brände, Explosionen. Unsere Schützen schwärmen aus und greifen von zwei Seiten an. Die Russen haben eine hervorragende Verteidigung in den Gräben des Ortes und des bewaldeten Wiesengrundes. Ich ziehe mit den Schützen über den Grund zum gegenseitigen Hang hinauf. Nach einer halben Stunde ist der Kampf beendet. Wieder ein großer Erfolg. Neun schwere moderne Geschütze sind erbeutet mitsamt Munition und Traktoren. Ihr Ausfall wird sich im weiteren Kampf bemerkbar machen. Nördlich des Ortes treffen wir auf die Vorposten der nachrückenden Division: Die Verbindung ist hergestellt. Das Tal aber ist übersät von toten Russen. Wir haben zwei Kameraden verloren, zwei der besten Unteroffiziere.

Heute Nachmittag war ein weiterer Angriff gegen den Feind, diesmal in westlicher Richtung. Mehrere Regimenter haben sich beteiligt. Ein deutscher Flieger zeigte uns die Stellung des Feindes, indem er dort mehrfach kreiste, von unten lebhaft beschossen. Auch Flak22 war dabei. So verrieten die Russen ihre Stellung und Bewaffnung. Unsere Artillerie setzte ein und legte ihr Feuer in den Talkessel, der von hier nicht einzusehen war. In breitester Front griffen die Regimenter an. Wir standen bereit, wurden aber nicht mehr benötigt und haben uns daher wieder auf unseren Igel zurückgezogen. Noch lange war Kampfeslärm, dann wurde es ruhig. Die Regimenter gingen aufrecht über das Feld zurück. Der Feind war niedergekämpft. Geflohen ist niemand.

Wir glaubten, nunmehr eine Ruhe im Quartier verdient zu haben. Aber der Befehl heißt: Sicherung für die Nacht. Da muss man Spaß verstehen! Aber wir sehen den Erfolg vor Augen, es kann nicht mehr lange dauern. Also nochmals ins Schützenloch oder sitzend im zugigen Wagen geschlafen!

Es grüßt Euch herzlich

Helmut.

19MG-Nest (Maschinengewehrnest): Militärjargon für eine Stellung mit Maschinengewehr.

20Panjepferd: Osteuropäische Pferderasse, die im Zweiten Weltkrieg in Landwirtschaft und Militär eingesetzt wurde.

21Vermutlich Anadol.

22Flak: Flug(zeug)abwehrkanone.

10. Oktober 1941

GEFANGENE: VORSICHTHANDGRANATE!

Die Sonne sinkt, und es wird ruhig auf dem Felde, das vier Tage hindurch ein Schlachtfeld gewesen war. Schlachtfeld ist eigentlich nicht ganz richtig, denn die letzten beiden Tage war es mehr ein Kesseltreiben, wo, wie bei einer Treibjagd, das Wild hin und her gejagt wird, bis es irgendwo verendet. Einigen Kolonnen ist es gelungen, nach Osten zu entkommen, aber viele, viele sind hier gescheitert.

Ein hinterlassenes Schlachtfeld

Ich setze mich auf das Krad, während sich unsere Abteilung sammelt, und sehe mir die Bescherung an. Lastwagen stehen herum, mit und ohne Beuteinhalt, Panjewagen mit angeschirrten toten oder noch lebenden Pferden. Ledige Reitpferde – eine ganze Herde – und vor unseren MG-Nestern tote Reiter so dicht, dass man vorsichtig hindurchfahren muss. Hier ist das Tal, über das unser Aufklärer kreuzte, um uns den Stand der Russen zu zeigen. Ein kleiner Bach, kaum einen Meter breit, aber auch einen halben Meter tief eingeschnitten und mit versumpftem Grund, ist hier den Russen zum Verhängnis geworden. Sie konnten den Bach nicht umfahren, weil wir an der Höhe lagen, und hinübergekommen sind nur wenige. Ein kleines Dünkirchen23! Mit der Nase im Dreck, umgekippt, zerbrochen, gerammt stehen sie dicht aneinandergereiht.

Mit großer Hartnäckigkeit hat man immer wieder versucht, über tote Pferde und zerbrochene Wagen, über Kisten, Artilleriemunition und Gerät einen Steg zu schlagen. Selbst schwerste Traktoren stehen hier. Und rings herum tief eingegrabene Stellungen. Man wollte den Ort verteidigen, aber es kam nicht mehr dazu. Mit einer bewundernswerten Präzision hat unsere Artillerie hier hineingeschossen, die Einschläge liegen mitten unter dem Gedränge. In dem Chaos ist der Russe anscheinend stiften gegangen.

Immer noch kommen lange Reihen russischer Gefangener. Sie kommen ohne Begleitung. Aber man muss vorsichtig sein. Erst gestern geschah es, dass, als einer unserer Panzerspähwagen einen Trupp Gefangener machte und sich zur Rückfahrt anschickte, einer der Gefangenen plötzlich in die Tasche griff, eine Handgranate zog und diese durch die Turmluke in den Spähwagen warf. Ein Offizier wurde schwer verwundet, der Spähwagen brannte aus. Die Kampfweise des Russen ist hinterlistig. Ich fahre daher nie ohne meine Maschinenpistole, eine gefährliche Waffe!

Herzlichen Gruß,

Helmut.

23Im Frühsommer 1940 konnten die Briten aus der nordfranzösischen Stadt Dünkirchen 330.000 ihrer eingeschlossenen Soldaten evakuieren.

11. Oktober 1941

VERTREIBUNG:UKRAINER NACHSIBIRIEN!