Wogen der Leidenschaft - Janet Chapman - E-Book

Wogen der Leidenschaft E-Book

Janet Chapman

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Beschreibung

Turbulent, prickelnd, einfach verlockend

Ist der umwerfend attraktive Schiffsmagnat Ben Sinclair tatsächlich der Vater des fünfzehnjährigen Michael, wie ein anonymer Briefeschreiber behauptet? Um der Sache auf den Grund zu gehen, kehrt er nach sechzehn Jahren in die Wälder von Maine zurück. Emma Sands, die Michael nach dem Verschwinden seiner Mutter allein aufgezogen hat, erkennt Ben auf den ersten Blick. Doch niemals wird die temperamentvolle Blondine ihren Neffen dem Mann überlassen, der für den Tod ihres Vaters verantwortlich ist …

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Buch

Ist der umwerfend attraktive Schiffsmagnat Ben Sinclair tatsächlich der Vater des fünfzehnjährigen Michael, wie in dem anonymen Brief behauptet wird, den er eines Tages erhält? Um der Sache auf den Grund zu gehen, übergibt er kurzerhand die Geschäfte an seinen Bruder und kehrt nach sechzehn Jahren in die Wälder von Maine zurück. Emma Sands, Michaels Tante, die ihn nach dem Verschwinden seiner Mutter allein aufgezogen hat, erkennt Ben auf den ersten Blick. Und es ist auch nicht zu bestreiten, dass Michael Ben wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Doch was fällt ihm ein, nach so langer Zeit einfach wiederaufzutauchen, als sei nichts geschehen? Niemals wird die temperamentvolle Blondine ihren Neffen diesem selbstgefälligen Mann überlassen, auch nicht, wenn er ein ungeahntes Feuer der Leidenschaft in ihr entfacht…

Autorin

Seit sie denken kann, hat Janet Chapman sich Geschichten ausgemalt, und daher ist das Schreiben von Romanen– viele davon wurden bereits mit Preisen ausgezeichnet– ihre größte Leidenschaft. Mit ihrer Zeitreise-Saga schrieb sie sich direkt auf die Spitzenplätze der New-York-Times-Bestsellerliste. Janet Chapman lebt mit ihrem Mann, ihren zwei Söhnen, drei Katzen und einem Elchbullen, der sie regelmäßig im Garten besucht, in Maine.

Von Janet Chapman bei Blanvalet bereits erschienen:

Das Herz des Highlanders (36507) · Mit der Liebe eines Highlanders (36508) In den Armen des Schotten (37096) · Mein verräterisches Herz (37424) · Zur Liebe verführt (37466) · Lockruf der Highlands (37637)

Janet Chapman

Wogen der Leidenschaft

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anke Koerten

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Tempt me if you can« bei Pocket Star Books, A Division of Simon & Schuster, Inc., New York

Copyright © 2010 by Janet Chapman

Copyright © 2012 für die deutsche Ausgabe by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und von Franco Accornero via Agentur Schlück GmbH

Redaktion: Sabine Wiermann

LH · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-07232-2V002V001

www.blanvalet.de

Prolog

Benjamin Sinclair blickte zu seinen zwei Brüdern auf, die sich als eindrucksvoll vereinte Front vor seinem Schreibtisch aufgebaut hatten. Seit sie eingetreten waren, hatten sie kein Wort geäußert. Das war auch nicht nötig. Sinclairs blufften niemals und drückten sich nie vor einer Verantwortung.

Wohl wissend, dass er das Büro nicht verlassen konnte, ehe er nicht mit dem Grund für seine miserable Stimmung herausgerückt war, zog Ben wortlos eine Briefkarte aus einem Umschlag auf dem Schreibtisch, schob sie ihnen zu und wartete, seinen Blick unverwandt auf die Wand gegenüber gerichtet, während die beiden die kurze, knappe Nachricht auf der schlichten weißen Karte lasen.

Sam Sinclair griff nach dem Umschlag, warf einen Blick auf den Poststempel und sah dann Ben an.

»Das ist ja schon vor über drei Wochen gekommen.«

»So lange hat es gedauert, bis ich herausgefunden habe, ob es stimmt.«

»Und… stimmt es?«, fragte Jesse.

Ben senkte den Blick auf die anonyme Nachricht, die ihn dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

Mr Sinclair, Sie haben einen Sohn. Er ist fünfzehn und heißt Michael. Es wird Zeit, dass Sie kommen und ihn kennenlernen.

Der Poststempel stammte aus Medicine Gore, Maine.

»Die Ermittler, die ich engagiert habe, halten es für wahr«, gab Ben leise zurück. Der Blick seiner graublauen Augen ruhte wieder auf seinen Brüdern.

»Der Junge heißt Michael Sands. Er lebt bei seiner Tante. Die Zeit stimmt.« Er schob ihnen einen dicken Ordner zu.

»Die Ermittler haben ein Foto beigelegt. Sagt mir, was ihr davon haltet.«

Sam klappte den Ordner auf. Er und Jesse starrten das acht-mal-zehn cm große Foto an.

»Mein Gott«, stieß Jesse mit einem Blick auf Ben heiser hervor.

»Das könnte ein Foto von dir vor neunzehn Jahren sein.« Wieder sah er Ben an.

»Er hat deine Augen.«

Sam, der älteste der drei Sinclairs, ließ sich seufzend auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch sinken. Jesse, der jüngste, griff nach dem Foto, ehe er sich auf dem zweiten Stuhl niederließ.

»All die Jahre, die Bram uns bekniet hat, wir sollten heiraten und Kinder in die Welt setzen…« Sam schüttelte den Kopf, »…und dabei hatte er die ganze Zeit über einen Enkel in Maine.«

»Verdammt, wie ist das möglich? Wieso wusstest du nicht, dass du ein Kind gezeugt hast?«, fragte Jesse.

»Es muss in dem Sommer passiert sein, als du in den Bergen von Maine gegen die großen Abholzungen protestiert hast. Wir haben vermutet, dass du dich dort oben verliebt hättest. Als du zurückgekommen bist, war deine Stimmung dermaßen schlecht, dass du kein Wort gesagt hast.«

»Ich habe gegen den Bau eines Staudammes protestiert«, erläuterte Ben.

»Das Mädchen war Kelly Sands. Ich habe sie gebeten, mit mir nach New York zu kommen, sie aber hat nur gelacht und gesagt, ich solle zum Teufel gehen. Nicht die entfernteste Andeutung, dass sie schwanger sein könnte.«

»Wusste sie, wer du bist?«, fragte Sam.

»Wer dein Großvater war?«

»Ich habe ihr nicht verheimlicht, dass meine Familie vermögend ist, habe daraus aber auch keine große Sache gemacht.« Er zuckte mit den Schultern.

»Ich glaube, sie hat mich nie mit großem Reichtum in Verbindung gebracht.«

Jesse schnaubte.

»Andernfalls hätte sie bei dir angeklopft, als sie ihre Schwangerschaft entdeckt hat, da kannst du sicher sein.«

»Fragt sich nur, warum sie jetzt plötzlich anklopft.« Sam schüttelte den Kopf.

»Fünfzehn Jahre– eine so lange Zeit verstreichen zu lassen, bis man einem Mann eröffnet, dass er einen Sohn hat.«

»Der Brief stammt nicht von ihr«, sagte Ben.

»Die Ermittler haben herausgefunden, dass Kelly Sands vor zehn Jahren verschwunden ist. Ihre jüngere Schwester hat Michael allein großgezogen.«

Schweigen senkte sich über die Brüder. Ben ballte die Hände zu Fäusten, als er den Blick nach innen richtete und sich in Gedanken auf jenen längst vergangenen Sommer konzentrierte, als jugendlicher Idealismus ihn in den Norden gezogen hatte… in die Arme einer schönen, aber letzten Endes harten und unnachgiebigen jungen Frau. Lange verschütteter Schmerz kam an die Oberfläche; Reue, Kummer und Zorn kämpften in Ben, während er abermals versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er einen fünfzehnjährigen Sohn hatte.

»Und was gedenkst du in der Sache zu unternehmen?«, fragte Sam.

Wieder in die Gegenwart zurückversetzt, bedachte Ben seine Brüder mit einem knappen Lächeln.

»Ich habe die Absicht, meinen Sohn kennenzulernen, wie diese Mitteilung es mir rät.«

»Und?«, fragte Jesse.

»Und während meine Ermittler feststellen, wohin Kelly Sands verschwunden ist, bin ich entschlossen, dafür zu sorgen, dass Emma Sands zutiefst bereut, dass sie mich nicht sofort kontaktiert hat, als ihre Schwester Michael in ihrer Obhut gelassen hat. Sobald man Kelly gefunden hat, werde ich dafür sorgen, dass sie noch mehr Grund zur Reue hat– nicht nur weil sie mir meinen Sohn vorenthalten hat, sondern auch weil sie ihn einer Neunzehnjährigen überlassen hat.«

Sam schüttelte den Kopf, noch ehe Ben geendet hatte.

»Das kannst du nicht.« Sich vorbeugend stützte er seine Ellbogen auf die Knie.

»Ich bin sicher, dass der Junge seine Mutter und seine Tante liebt. Wenn du an ihnen Vergeltung übst, ruinierst du jede Chance, mit Michael eine Beziehung aufzubauen.«

»Er hat recht, Ben.« Jesse stand auf und warf das Foto auf den Schreibtisch.

»Vermutlich hat man Michael gesagt, dass sein Vater tot wäre. Lass dein Urteilsvermögen nicht von Zorn trüben, und überlege dir lieber, wie du mit dem Jungen am besten eine Beziehung aufbaust.«

Auch Ben stand auf.

»Das habe ich mir bereits überlegt. Ich reise morgen ab und trete einen zweiwöchigen Urlaub im Emma Sands Sport-Camp an– zur Vogeljagd. In Medicine Creek Camps checke ich unter dem Namen Tom Jenkins ein.«

Nun stand auch der sichtlich beunruhigte Sam auf.

»Du kannst doch nicht einfach unter anderem Namen auftauchen. Die Tante des Jungen wird dich auf den ersten Blick erkennen.«

Ben strich sich über den adrett gepflegten Bart, den er sich seit einer Woche wachsen ließ.

»In sechzehn Jahren habe ich mich ziemlich verändert. In jenem Sommer in Maine war Emma erst vierzehn. Wenn ich Kelly besucht habe, ist Emma immer im Wald verschwunden. Sie kann unmöglich wissen, wer ich bin. Sobald ich mit Michael auf einigermaßen gutem und vertrautem Fuß stehe, werde ich eine Möglichkeit finden, mich zu outen.«

»Das gefällt mir nicht«, brummte Sam.

»Irgendjemand im Ort wird dich sicher erkennen. Hast du vergessen, was an dem Tag passiert ist, als du Medicine Gore verlassen hast? Das FBI mag ja zu dem Schluss gekommen sein, dass du mit dem Anschlag auf den Damm nichts zu tun hattest, doch wurden die Schurken nie gefunden, die ihn in die Luft gejagt haben. Vielleicht sind die Einheimischen noch immer der Meinung, dass du an Charlie Sands’ Tod schuld bist.« Er trat an den Schreibtisch.

»Nimm wenigstens Jesse mit.«

»Jesse wird während meiner Abwesenheit Tidewater International führen. Wir sind dabei, fünf neue Frachtschiffe zu kaufen, und müssen noch die Einzelheiten ausarbeiten.«

»Verdammt, Ben«, entfuhr es Sam, »du solltest dir alles sehr gründlich überlegen.«

»Seit drei Wochen denke ich an nichts anderes.« Ben steckte die Nachricht in den Umschlag und legte ihn und das Foto in den Ordner, den er sich unter den Arm klemmte.

»Entschuldigt mich jetzt, ich muss packen.«

Sam ging um den Schreibtisch herum und vertrat ihm den Weg.

»Dann nimm wenigstens Ronald mit.«

Ben stieß ein kurzes, spöttisches Lachen aus.

»Mit einem Chauffeur aufzukreuzen, der aussieht wie ein Schläger… da macht man gleich den richtigen Eindruck. Nein, das ist mein Problem, das ich auf meine Art lösen werde.« Er berührte Sams Arm.

»Keine Angst, großer Bruder, ich kann selbst auf mich aufpassen.«

Ben hielt auf dem Weg zur Tür inne und drehte sich zu Sam um.

»Ach, da fällt mir unsere kleine Wette ein… es ging darum, ob du Willa zur Ehe überreden könntest und sie zwei Monate nach der Hochzeit schwanger sein würde. Obwohl du in beiden Punkten gewonnen hast, bin ich der Meinung, dass deine und Jesses Millionen in einen Trust für Michael eingebracht werden sollten, da Brams erster Enkel mit einem Abstand von fünfzehn Jahren gewonnen hat.«

Damit trat Ben hinaus auf den Korridor und ging die Treppe hinauf. Sein Lächeln erlosch, als er an die bevorstehende Fahrt in den Norden und in die Wälder Maines dachte.

1

So sicher, wie im Winter Schnee fallen würde, würde Tom Jenkins Ärger machen. Das traf auf die meisten ihrer Gäste aus der Großstadt zu, aber üblicherweise hatten sie so viel Anstand, tatsächlich anzukommen, ehe sie bei ihr alles auf den Kopf stellten. Tom Jenkins aber hatte es nicht mal bis Medicine Creek Camps geschafft, und schon machte er sie rasend.

Der Mann hatte sich verirrt.

Emma war ernsthaft versucht, es dabei zu belassen.

Es blieb beim Vorsatz… in Wahrheit lief sie eine der Forststraßen entlang, die ihren Anteil des Waldes wie ein Spinnennetz durchzogen, und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, warum sie diesen Beruf so liebte. Emma fand sich seufzend mit der Tatsache ab, dass sie, wenn sie Tom Jenkins gefunden hatte, lächelnd erklären würde, es wäre allein ihre Schuld, dass er sich verirrt hatte, worauf sie ihn sicher in seiner Hütte einquartieren würde.

Doch als sie um eine Kurve des Forstweges bog, blieb sie vor Überraschung wie angewurzelt stehen. Vier Männer, die sie für ihre Freunde gehalten hatte, prügelten auf ihren verirrten Gast ein.

Es war eine wüste Schlägerei mit zerfetzter Kleidung, blutigen Gesichtern und aufgewühltem Schotterboden. Das heftige Keuchen der Männer verriet, dass sie schon eine ganze Weile andauerte. Das ungünstige Kräfteverhältnis ließ nur einen Ausgang zu. Ihr verirrter Gast wurde von zwei stämmigen Holzarbeitern festgehalten, während der dritte versuchte, ihn bewusstlos zu schlagen.

Nur war der Mann nicht Tom Jenkins. Emma erkannte sofort, dass sich hinter dem vielen Blut, dem Bart und der Maske des Schmerzes jener Mann verbarg, den zu töten sie sich geschworen hatte, wenn sich jemals die Chance ergab.

Er hätte nicht hier sein dürfen, nicht in ihrem Wald, und er hätte diesen schönen Oktobernachmittag nicht zu einem weiteren schwarzen Tag in ihrem Leben machen sollen. Sogar die Sonne hatte sich hinter einer Wolke verzogen. Das Frösteln, das sie jetzt überlief, hatte nichts mit der Temperatur zu tun.

Er war sechzehn Jahre älter als damals, doch sie hätte ihn mitten in einem Blizzard bei null Sichtweite erkannt. Er war größer, seine Schultern waren breiter, doch er war es. Und selbst in der Gewalt zweier kräftiger Holzfäller wirkte der Mann ihrer Albträume gefährlicher als ein in die Enge getriebener Wolf.

Benjamin Sinclair war wieder da.

Wieder landete ein Hieb auf seinem schutzlosen Oberkörper. Sein dumpfer Schmerzenslaut ließ Emma zusammenzucken.

Emma nahm ihre Flinte von der Schulter, löste die Sicherung und drückte ab.

Ein hallender Schuss, eine Lawine prasselnder Schrotkugeln, und die allgemeine Aufmerksamkeit galt ihr. Drei Männer ließen sich zu Boden fallen, ihr Opfer sank auf die Knie. Der Mann mit den prügelnden Fäusten fuhr mit vor Schreck geweiteten Augen herum. Emma nahm den Moment wahr, als er sie erkannte, weil seine Miene sich verdunkelte und sein Schock sich in einen wilden Blick verwandelte.

»Verdammt, Emma. Warum schießt du auf uns?«

»Durham, ich sorge dafür, dass dein Privatkrieg vertagt wird.«

Durham Bragg spuckte vor Benjamin Sinclair aus, der sie wie benommen anstarrte. Seine blutigen Züge konnten von seinem entsetzten Blick nicht ablenken. Seine übrigen Angreifer lagen wie umgestürzte Kegel um ihn herum und spähten mit aufgerissenen Augen unter ihren Armen hervor, die sie als Deckung über ihre Köpfe hielten. Emma blickte Durham an und wartete mit der Geduld des erfahrenen Jägers.

Ihr alter Freund knurrte einen Fluch, den sie nicht mehr gehört hatte, seit ihr Vater tot war.

»Verdammt, Emma Jean! Wenn du neutral bleiben willst, hältst du dich hier raus. Wir haben mit diesem Baumschützer ein Wörtchen zu reden, ehe wir ihn zu seinen Kumpanen zurückschicken.« Durham wandte sich wieder seinem Opfer zu.

Emma schob eine neue Schrotladung nach und hob den Lauf, als die drei anderen Männer Anstalten machten aufzustehen. Sofort ließen sie sich wieder fallen.

»Er ist kein Umweltschützer, Durham. Er ist einer meiner Gäste. Er hat zwei Wochen Waldhuhnjagd gebucht.«

Durham fuhr blitzschnell herum und sah sie an.

»Emma! Sieh ihn doch an– seine Aufmachung sagt alles. Und ich schwöre, dass ich sein Gesicht schon irgendwo gesehen habe, wahrscheinlich auf einem dieser verdammten Greenpeace-Poster.« Durham deutete auf den Mann, der auf seinen Knien schwankte.

»Der Kerl sieht aus wie aus einem Katalog für Freizeitkleidung.«

»Er heißt Tom Jenkins«, sagte Emma.

»Stanley Bates hat ihn am Painted Rock aussteigen lassen und ihm den Weg nach Medicine Creek Camps beschrieben.«

Durham warf dem knienden Opfer einen zögernden Blick zu.

»Bates könnte nicht mal einer verdammten Brieftaube den Weg beschreiben«, sagte er mit enttäuschtem Knurren. Er strich sich seufzend über die Stirn.

»Der Teufel soll mich holen, aber ich kenne diesen Burschen von irgendwoher.« Er sah Emma nachdenklich an.

»Er könnte sich als dein Gast ausgeben und trotzdem ein Umweltschützer sein. Vogeljagd ist vielleicht nur eine Tarnung.«

»Umweltkämpfer verirren sich nicht im Wald.«

»Verdammt, Emma Jean. Dein Vater hätte nie eine Flinte auf mich gerichtet.«

»Selbst verdammt«, konterte Emma.

»Du hast einen meiner Gäste verprügelt. Geh nach Hause, und lass Mr Jenkins in den nächsten Wochen in Frieden. Ich dulde nicht, dass man meine Gäste belästigt.«

Benjamin Sinclair, dieser Heuchler und Täuscher, regte sich zögernd. Emma ignorierte ihn, bis Durham sich widerstrebend zu einem zustimmenden Nicken herbeiließ. Dann sah sie zu den anderen drei Männern hin, die sich wieder aufgerappelt hatten und sie mit finsteren Blicken bedachten, während sie sich den Schmutz abklopften.

Sie richtete den Flintenlauf auf sie.

»Ich möchte auch Ihr Einverständnis, Gentlemen.«

Sie sahen ihre Flinte an, dann Durham und als Nächstes sie. Schließlich nickten sie. Emma ließ die Sicherung klicken, senkte die Waffe und schaute Benjamin Sinclair an.

Sein rechtes Auge war verschwollen, das linke kaum sichtbar. Seine Lippe war aufgeplatzt, Blut floss in sein dunkles Bartgestrüpp. Und jetzt versuchte er aufzustehen, wobei er seine Rippen umfasste. Schließlich half Durham ihm mit dem Mitgefühl eines hungrigen Bären, der sein Abendessen packt. Benjamin Sinclair stöhnte unter Schmerzen auf und sah Durham mit seinem offenen Auge feindselig an.

»Waidmannsheil, Kamerad«, murmelte Durham und schlug seinem Opfer auf die Schulter, worauf dieses ein paar taumelnde Schritte machte. Durham deutete auf seine Kumpels und ging den Weg entlang. Neben Emma blieb er stehen.

»Gib bloß acht, Mädchen. Der Kerl schlägt zu, wie ich es noch bei keinem Sportsfreund erlebte habe«, brummte er, seinen Kiefer reibend.

Emma riss in gespieltem Erstaunen ihre Augen auf.

»Soll das heißen, dass er wirklich versucht hat, sich zu verteidigen?«

Durham ging nicht darauf ein.

»Emma Jean Sands, du solltest es besser wissen, als rumzulaufen und eine Waffe auf Leute zu richten, geschweige denn das verdammte Ding abzufeuern.«

»Und du weißt, dass Gewalt diesen Krieg nicht beenden wird. Weißt du noch, wie es letztes Mal war? Es hat Tote gegeben.«

Aus Durhams Gesicht wichen alle Anzeichen von Zorn. In seinen Augen stand Schmerz, als er eine große Hand ausstreckte und sie sanft auf ihre Schulter legte.

»Ich weiß, Kleine.« Sie drehte sich um und sah zu Benjamin Sinclair hin.

»Bei dem da könntest du recht haben. Jetzt sieht er eher verloren als bedrohlich aus, oder?«, setzte er mit befriedigtem Lächeln hinzu.

Ohne sich noch einmal umzublicken, gingen Durham und seine Schläger zu seinem zerbeulten Pick-up. Der Wagen startete mit heulendem Motor, die Räder ließen Schotter aufsprühen und schickten eine Staub- und Dreckwolke in die Luft.

Emma begutachtete ihr Opfer. Durham irrte sich gewaltig. Egal wie zerschlagen und zerschrammt Benjamin Sinclair sich jetzt präsentierte, stellte er doch eine Bedrohung dar, wie sie größer nicht sein konnte.

Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und ging langsam auf ihn zu.

»Ich hoffe, Sie sind Tom Jenkins.«

Dieser Lügner sah ihr direkt in die Augen und nickte.

»Also, Mr Jenkins, Medicine Creek Camps liegt sechs Meilen in der Gegenrichtung.«

»Gibt es einen Grund dafür, dass Sie mich heute Morgen nicht am Flughafen abgeholt haben?«, brummte er, wobei er unverkennbar Schmerzen litt, und sah sie aus seinem offenen Auge unfreundlich an.

»Ich war heute weit draußen nördlich der Stadt und musste zwei verirrte Kanufahrer retten, die in meinem Camp Ferien machen.«

»Wurden sie auch zusammengeschlagen, bevor Sie sie gefunden haben?«

»Nein, sie waren nur halb abgesoffen. Ich habe sie auf einer kleinen Insel am nördlichen Ende des Medicine Lake entdeckt. Da haben sie eng aneinandergedrückt gehockt, nachdem ihr Kanu gekentert war.« Emma lächelte gezwungen.

»Aber sie waren auch nicht wie Models aus einem Katalog für Sportbekleidung gestylt.«

Seinem noch finsterer werdenden Blick nach zu schließen, hielt er diese Bemerkung für höchst unpassend. Höchste Zeit, Benjamin Sinclair zusammenzuflicken und aus Medicine Gore– und von Michael– fortzuschaffen, so rasch der nächste stadtauswärts fahrende Lastwagen ihn mitnehmen konnte. Emma klemmte ihre Flinte unter den Arm und ging näher.

»Sie brauchen einen Arzt. Kommen Sie, Mr Jenkins. Mein Wagen steht ein Stück weiter.«

»Holen Sie die Karre.«

Seine Worte wurden mehr geknurrt als gesprochen, und sofort empfand Emma Zerknirschung. Benjamin Sinclair– oder Tom Jenkins, bis sie bereit war, ihm ins Gesicht zu sagen, dass er ein Lügner war– litt große Schmerzen. »Es ist nicht weit, und ich denke, dass man Sie nicht allein lassen darf.«

Sogar vor Schmerzen zusammengesunken war er ein gutes Stück größer als sie. An diesen Mann wollte sie keine zehn Meter heran. Verletzte Tiere waren gefährlich, und im Moment sah Benjamin Sinclair aus, als würde er zum Frühstück Kätzchen verzehren.

Emma hob seinen Rucksack und seinen eleganten Waffenkoffer hoch. Sie rümpfte die Nase, als sie metallischen Blutgeruch vermischt mit Staub roch. Die Sonne schien wieder, die Vögel zwitscherten, doch die Temperatur in ihrem Herzen war permanent gefallen.

Michaels Vater war gekommen.

»Wie weit ist es bis zum Wagen?«

»Mindestens eine gute Meile«, sagte sie und wuchtete seinen Rucksack auf ihre Schulter.

»Tut mir leid, aber es werden noch mehr Holzarbeiter auf der Heimfahrt vorbeikommen. Wir sollten zusammenbleiben, denke ich.«

Er griff nach seinem Waffenkoffer und benutzte ihn als Stütze.

»Eine sehr freundliche Stadt haben Sie da. Gehen Sie voraus, Miss…?«

Der Mann wollte offenbar die Komödie beibehalten. Doch er war schwer zusammengeschlagen und wusste nicht, dass sie wusste, wer er war, und sie hatte eine sehr wirksame Trumpfkarte in der Hand. Sie brauchte nur jemandem in der Stadt zu eröffnen, wer ihr Gast war, und alle würden sich wie eine wilde Meute auf ihn stürzen.

Als Benjamin Sinclair vor sechzehn Jahren die Stadt verlassen hatte, hatte er keine Freunde zurückgelassen– nur ein schwangeres junges Mädchen, eine Stadt voller Bürgerwehrfreiwilliger und einen Toten.

Emma schenkte ihm ein trügerisch freundliches Lächeln.

»Ich bin Emma Sands vom Medicine Creek Camp. Ach, übrigens… willkommen in Maine, Mr Jenkins.«

Benjamin Sinclair ging den Weg entlang, doch schaffte er keine zehn Schritte, als seine Beine nachgaben und er auf ein Knie fiel.

Verdammt. Sie würde ihn stützen müssen, um ihm zu ihrem Wagen zu helfen.

Sie erwartete, dass er sich wie die falsche Schlange anfühlte, die er war; kalt, schleimig und eklig. Doch als Emma ihre Schulter unter seine schob, fühlte sie solide männliche Muskeln. Der elektrische Funke, der sie durchschoss, ließ sie fast zurückzucken.

Offenbar spürte auch er es. Er richtete sich auf und erstarrte. Wieder sah er sie finster an, und Emma fühlte sich wie ein Stück Wild, gefangen im Licht glänzender grauer Augen, die jenen Michaels exakt glichen.

Konnte er sich an sie erinnern?

Natürlich konnte er. Der Mann hätte keinen Aufenthalt in Medicine Creek gebucht, wenn er nicht gewusst hätte, wo sein Sohn lebte.

Der idealistische junge Mann, den sie aus der Zeit vor sechzehn Jahren im Gedächtnis behalten hatte, war gefährlich und intelligent gewesen, wenn auch ein wenig überspannt. Emma, damals erst vierzehn, hatte ihn zum Idol erhoben, da er auch kühn, gut aussehend und charismatisch gewesen war. Ihre ältere Schwester war in ihrer Naivität in sein Bett gehüpft, und das Ergebnis dieser Leichtfertigkeit war Michael. Und jetzt würde der Junge nach all den Jahren dem Mann begegnen, der ihn und seine Mutter ohne einen Blick zurück bedenkenlos verlassen hatte.

»Haben Sie hier Wurzeln geschlagen, Miss Sands, oder warten Sie, bis ich verblute, damit Sie sich die Mühe eines Prozesses ersparen?«

Emma packte ihn hinten am Gürtel und ging los.

»Es ist nicht meine Schuld, dass Sie zusammengeschlagen wurden, Mr Jenkins. Meine Verantwortung beginnt erst im Camp.« Sie schnaubte.

»Wenn Fremde hier wie Naturschützer ausgerüstet herumlaufen, dürfen sie sich nicht wundern, wenn man sie irrtümlich verprügelt.«

Emma sah, dass er nun stirnrunzelnd an seiner Kleidung hinunterblickte, ehe er wieder die Forststraße ins Auge fasste, auf der sie dahinhumpelten. Sein Arm, der um sie lag, wurde fester, und sie verschob seinen Rucksack auf ihrer Schulter, worauf er seinen Griff lockerte.

»Die Kerle haben mich zusammengeschlagen, weil ihnen meine Aufmachung nicht zugesagt hat?«

»Im Moment herrscht hier in der Gegend eine gewisse Spannung. Umweltschützer, meist von außerhalb des Staates, wollen ein Abholzungsverbot in unseren Wäldern durchsetzen. Nun bangen hier alle um ihre Jobs und um ihre Lebensweise.«

Allmächtiger! Und das alles erklärte sie dem größten Umweltschützer, den man sich denken konnte. Bei seinem Aufenthalt vor sechzehn Jahren war Benjamin Sinclair mit Unterstützung des Sierra-Clubs gegen das Aufstauen des Flusses zur Energiegewinnung aufgetreten. Er war seiner Aufgabe still, aber dennoch wirkungsvoll nachgekommen. Der nahezu fertiggestellte Damm war nicht wieder neu errichtet worden, nachdem er in die Luft geflogen war– zusammen mit ihrem Vater.

»Verdammt. Sie haben die Luft aus meinen Reifen gelassen.«

Ben blickte auf und sah einen schmutzigen, roten Pick-up mit einem Kanu auf dem Dachgepäckträger und vier platten Reifen. Jetzt fiel ihm wieder ein, warum er diese Stadt hasste.

»Reizende Freunde haben Sie«, stieß er zähneknirschend hervor.

Die Frau neben ihm seufzte.

»Die Revanche für den Schrotkugelhagel.«

Seine sichtlich widerwillige Retterin öffnete die Tür an der Beifahrerseite, und Ben schob sich stöhnend auf den Sitz. Das Sitzen war eine Erleichterung, eine noch größere Erleichterung aber war es, der beunruhigenden Berührung Emma Sands’ entronnen zu sein. Wortlos sah er zu, als sie seinen Rucksack und den Waffenkoffer auf die Ladefläche warf, um den Wagen herumging und die Tür an der Fahrerseite öffnete. Dann legte sie ihre Flinte vorsichtig auf die Ablage hinter seinem Kopf und fing an, unter seinem Sitz zu kramen.

Limodosen und leere Chipstüten kamen zum Vorschein, gefolgt von Schokoriegelhüllen und einer Taschenlampe, sodann ein Paar Handschuhe, ein schmutziges Handtuch, leere Gewehrbehälter, Schrotkugelpackungen, ein Feldstecher und ein Erste-Hilfe-Koffer. Ohne den Koffer zu beachten, atmete sie erleichtert auf, als sie eine noch ungeöffnete Whiskeyflasche hervorzog. Diese warf sie ihm zu und griff nach dem Handtuch. Ohne ein Wort zu sagen, knallte sie nun die Tür zu und lief los, den Weg entlang.

Es war ihr sichtlich etwas über die Leber gelaufen. Ben hoffte, dass es die vier platten Reifen waren, die ihr die Laune verdarben, und nicht der Umstand, dass sie wusste, wer er war.

Er sah, dass sie an einer kleinen Wasserfläche stehen blieb und den zerschlissenen, dreckigen Lappen eintauchte.

Es hatte ihn fast umgehauen, als Durham sie Emma genannt hatte. Die Emma Sands seiner Erinnerung war ein stilles, schüchternes Ding gewesen, das sich mehr im Wald herumtrieb als unter Menschen.

Diese Frau– dieses schießwütige, Feuer speiende Mannweib war Lichtjahre von dem jungen Mädchen seiner Erinnerung entfernt. Doch was Ben vor allem aus dem Gleichgewicht brachte, war seine Reaktion auf sie. Der elektrische Schlag, den er verspürt hatte, als sie sich unter seine Schulter stemmte, hatte ihn fast umgeworfen.

Emma Sands war sehr hübsch geworden und hatte sich überhaupt gut herausgemacht. Laut seinen Ermittlern hatte sie nie geheiratet und Michael allein großgezogen, seitdem Kelly vor zehn Jahren mit einem Mann durchgebrannt war.

Ben wusste, dass Emma Buschpilotin war, eine Lizenz als Maine Guide besaß und dass sie die Inhaberin von Medicine Creek Camps war. Er wusste auch, dass Michaels Name neben ihrem im Grundbuch erschien und dass ihr Unternehmen, das geführte Touren und Lagerleben anbot, sehr erfolgreich war. Man konnte sehen, dass sie an den Wert guter Ausrüstung glaubte. Ihre Cessna Stationair war nicht eben billig, der Wagen, in dem er jetzt saß, war das neueste Modell, und das Camp selbst stand auf tausend Morgen erstklassigem Waldland.

Leider hatten seine Ermittler Ben aber nicht genau erklären können, wo Medicine Creek Camps wirklich lag. Sie hatten auch verabsäumt, ein Foto Emmas beizulegen, und zu erwähnen vergessen, dass ihre Beine ihr bis in die Achselhöhlen reichten, dass ihr langes Haar im Nacken zu einem armdicken Pferdeschwanz zusammengefasst war und ihre sonnengebräunte, makellose Haut aufregend grüne Augen umrahmte.

Hatte sie ihm den Brief geschrieben?

Und wenn ja, warum jetzt?

Ben glaubte nicht, dass sie ihn erkannt hatte. Er war stärker geworden, auch härter, und sein Bart würde ihn davor schützen, dass ihn im Ort jemand erkannte.

Ben, der beobachtete, wie sie sich vom Wasser aufrichtete, erwartete, sie würde ihm das Gesicht waschen wie einem Vierjährigen. Doch sie stand nur da, starrte über die Wasserfläche und blickte dann zum Himmel hoch. Schließlich drehte sie sich um.

Verdammt… jetzt sah sie noch wütender aus als zuvor.

Ben beobachtete sie, als sie zurück zum Pick-up ging, in Gedanken und offenbar mit einer Entscheidung ringend. An der Fahrertür zögerte sie und blickte zurück zum Wasser, während sie geistesabwesend das Tuch in ihren Händen auswrang.

Plötzlich schien sie einen Entschluss gefasst zu haben.

Was immer es war, Ben sah ihr an, dass ihre Entscheidung ihr nicht gefiel, ihr Entschluss aber feststand. Sie glitt auf den Sitz neben ihm und griff nach dem Mikro des Sprechfunkgerätes, das am Armaturenbrett befestigt war.

»Kommen, Mikey. Melde dich«, sagte sie ins Mikro, »ich brauche einen Flug nach Hause.«

»Wo ist deine Karre?«, kam sofort eine Männerstimme durch das Mikro.

»Hast du sie zu Schanden gefahren, Nemmy?«

Mikey? Konnte diese tiefe männliche Stimme Michael gehören?

Ben stockte beinahe der Atem.

»Nein. Ich habe vier platte Reifen, und mein tragbarer Kompressor ist im Schuppen. Du musst Mr Jenkins und mich holen. Wir sind unten am Smokey Bog.«

»Heiliger Strohsack! Der Sportsfreund hat es so weit geschafft? Zu Fuß?«

»Sieht so aus, Mikey. Also, komm und hole uns. Mr Jenkins braucht einen Arzt.«

Sie hielt das Mikro offen und warf Ben einen dunklen Blick zu.

»Du wirst fliegen müssen, damit wir von hier aus direkt ins Krankenhaus können.«

»So schlimm hat es ihn erwischt?«

Sie sah Ben unverwandt an. Ihre Augen waren wie dunkle, aufgewühlte Jade, die ihn an Gletschereis denken ließ.

»Schlimm genug, aber er wird überleben. Du kannst auf dem kleinen See hier landen.«

»Ausgeschlossen, Boss. Crazy Larry ist zu Hause, und wenn der mich fliegen sieht, wird er wieder beim FAA anrufen. Und auf dem Tümpel kann ich nicht landen. Er ist viel zu klein.«

Ben erstarrte. Wollte sie den Jungen zu einem gefährlichen Unternehmen überreden?

Womöglich zu einem illegalen?

»Michael, hier kannst du mit geschlossenen Augen landen. Setze einfach Alice auf den Pilotensitz. Larry wird nicht erkennen, dass nicht ich es bin.«

»Könnte ich nicht rüberfahren und euch holen? Dann kannst du Mr Jenkins nach Millinocket ausfliegen.«

Emma, die ihre Hand ausstreckte und den nassen Lappen auf Bens Stirn drückte, schüttelte den Kopf.

»Nein. Steig einfach in den verdammten Flieger und starte.«

»Mist.«

»Noch etwas, Mikey.«

»Ja?«

»Wenn ich sehe, dass die Wasserruder beim Anflug ausgefahren sind, wirst du morgen die Maschine blitzblank polieren.«

»Ach, Nemmy, ich habe es nur einmal vergessen.«

»Und es hat dich einen Monatslohn gekostet, wenn ich mich recht erinnere. Jetzt beeile dich, bevor unser Gast das Bewusstsein verliert und wir ihn zur Maschine tragen müssen.«

»Roger, Boss. Ich gehe schon an Bord.«

Emma Sands hängte das Mikro in die Halterung.

»Es dauert nicht mehr lange, Mr Jenkins. Michael wird uns holen. Dann bringen wir Sie zu einem Arzt.« Als sie sich mit müdem Seufzen zurücklehnte, zeigte ihr ein Blick, dass die noch ungeöffnete Whiskeyflasche auf seinem Schoß lag.

»Der Whiskey wird Ihnen guttun, Mr Jenkins.«

»Meine Hände sind unbrauchbar. Ich kann die Flasche nicht öffnen.«

Sie nahm die Flasche und schraubte den Verschluss auf. Er versuchte einen Schluck, konnte aber nicht einmal die Flasche fassen. Verdammt, er hatte sich mit aller Kraft verteidigt. Seine geschwollenen Handknöchel waren der Beweis.

»Sie werden sich neu einkleiden müssen, wenn Sie sich weiterhin auf diesen Waldwegen herumtreiben wollen«, sagte sie, ohne den Blick von seinen nutzlosen Händen zu wenden.

Die leise Belustigung in ihrem Ton ließ ihn jäh aufblicken, doch hatte er nur Zeit, den Mund zu öffnen, ehe sie ihm die Flasche an die Lippen hielt. Der starke Whiskey verbrannte seinen blutigen Mund und floss durch seine Kehle, um sich wie flüssige Glut im Magen zu sammeln. Verdammt, wie gut sich das anfühlte. Sie war trotz ihrer spröden Fürsorge eine großzügige Retterin. Geduldig wartete sie, bis er genug hatte und mit geschlossenen Augen den Kopf an die Kopfstütze lehnte. O Gott, er spürte schon, dass der Whiskey sich in jeden einzelnen schmerzenden Muskel in seinem Körper verteilte. Wund und benommen, wie er war, hatte er gar nicht gemerkt, wie sehr er fror.

Ben öffnete die Augen einen Spaltbreit, sodass er sehen konnte, wie hinter dem Berg, der ihnen am nächsten war, die Sonne unterging. Lange Schatten fielen über den Wald und machten die Oberfläche des kleinen Sees zu einem undurchschaubaren Gemisch aus stillem Wasser, Baumstämmen und Wellengekräusel.

Sein Sohn sollte hier landen? Mit einem Wasserflugzeug?

Lautes Motorengeräusch eines Flugzeuges über ihm ließ Ben zusammenzucken. Verdammt. Eher würde er auf allen vieren ins Krankenaus kriechen, als Michael in Gefahr zu bringen. Das wollte er eben Emma sagen, als er das Funkgerät knistern hörte.

»Hilf mir, Nem.«

»Das deichselst du allein, Mikey.«

Ben wollte nach dem Mikro greifen, um dem Jungen zu sagen, er solle den Landeanflug abbrechen und sich nach Hause trollen, aber Emma entzog es seiner Reichweite und sah ihn ungehalten an.

»Er schafft das«, herrschte sie ihn an.

»Michael ist ein besserer Buschpilot als jeder andere hier in der Gegend. Die Wasserfläche ist groß genug, und er ist so geschickt, dass er im Schlaf hier landen könnte.«

»Wenn ihm etwas passiert, Miss Sands, werde ich Sie mit diesem Funkkabel erdrosseln.«

Sie starrte ihn lange an und schenkte ihm dann ein seltsames Lächeln.

»Versuchen Sie es doch.«

»Geben Sie ihm Anweisungen.«

»Nein.«

»Nem, sag mir alles an«, kam Michaels Stimme wie ein Echo über das Sprechgerät.

»Wenn du an deinem sechzehnten Geburtstag deinen Alleinflug machen möchtest, dann solltest du wissen, wie es geht, Mikey. Ich werde dann nämlich nicht über Funk zu erreichen sein.«

Ben hörte einen enttäuschten Seufzer über das Sprechgerät.

»Ich fliege seit zwei Jahren allein.«

»Und ich musste die Schwimmer nur einmal ersetzen«, gab sie zurück.

»Sieh zu, dass es kein zweites Mal nötig ist. Achte auf die Felsen.«

Sie warf das Mikro auf das Armaturenbrett und stieg aus. Ben spürte, dass jeder Muskel in ihrem Körper auf Aktion lauerte. Ihre Schultern waren gestrafft, ihre Augen wie Laser auf die rasch sinkende Maschine gerichtet, die die Baumwipfel zu streifen schien. Mit geballten Fäusten stand sie fest und unerschütterlich da, scheinbar entschlossen, ihren Neffen allein durch Willenskraft herunterzulotsen.

Die Lady, die so nassforsch Anweisungen gab, hatte Angst?

Ben wollte sie umbringen, ehe das hier vorbei war.

Er konnte zwei Köpfe durch die Windschutzscheibe der Maschine sehen, aber Alice war entweder ein sehr tapferer oder ein sehr dämlicher Passagier. Michael pilotierte und schien sich sehr gut zu machen. Er hatte die Triebwerke gedrosselt, flog aber noch immer schnell wie ein Falke, der auf seine Beute niederstößt. Er zögerte jetzt nicht und bat nicht um Hilfe, bei Gott. Und seine Wasserruder waren eingeklappt.

Michael Sands setzte die Stationair so sanft auf Smokey Bog auf, dass einem Adler die Tränen gekommen wären. Ben wischte das Blut ab, das über seine Wange floss, nur um festzustellen, dass seine zitternde Hand mehr nass als rot war.

Verdammt, er war stolz auf den Jungen. Michael machte etwas, das die meisten Männer nicht konnten, und er machte es großartig. Emmas Stolz auf ihn war gerechtfertigt, wenn dies ein Beispiel für die Reife und das Selbstvertrauen des Jungen war.

Ohne auf seinen protestierenden Körper zu achten, stieg Ben aus und ging langsam auf den Jungen zu. Die erste Begegnung mit seinem Sohn wollte er auf Augenhöhe und in angemessener Haltung hinter sich bringen.

2

Emma beobachtete voller Stolz, wie ihr Neffe die Cessna auf das schlammige Ufer zusteuerte. Sie hatte keinen Moment bezweifelt, dass er hier landen konnte; Mikey war der fähigste junge Mann, den sie kannte.

Er würgte den Motor ab und bedachte sie durch die Windschutzscheibe hindurch mit einem schiefen Lächeln, dann griff er nach Alices Mütze und schob die dunkle Brille über ihre Nase herunter. Sichtlich stolz auf sich, kletterte er aus der Maschine und balancierte über den Schwimmer, um mit katzenhafter Geschmeidigkeit aufs Ufer zu springen. Noch nicht ganz sechzehn, war Mikey schon fast einen Meter achtzig groß.

Plötzlich blieb er stehen und starrte den blutigen Mann an, der auf sie zuhinkte.

Das war nicht gut. Michael Sands war viel zu intelligent, um den Vater nicht zu erkennen, dem er nie begegnet war, über den er aber vermutlich alles wusste. Der Junge besaß einen Computer; wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass seine Neugierde ihn per Internet zu Benjamin Sinclair geführt hatte?

Ihre Schwester hatte mit ihm nie über seinen Vater gesprochen, doch hatte dies den Jungen nicht davon abgehalten, Fragen zu stellen. Und nach Kellys Verschwinden, als Michael fünf gewesen war, hatte Emma jede einzelne dieser Fragen mit aller Sorgfalt und allem Mut, die ihr zu Gebote standen, beantwortet. Sie hatte Benjamin Sinclair nicht als Ungeheuer hingestellt; sie hatte Michael nur gesagt, dass sein Vater jung und verwirrt gewesen war. Und ja, er hatte gut ausgesehen; ja, er war groß; und ja, er war so intelligent wie Mikey.

Das kann ja sehr interessant werden, dachte Emma, als sie sah, wie die beiden einander anstarrten. Sie kannte Mikey und wusste, er würde sich nicht anmerken lassen, dass er wusste, wer Tom Jenkins wirklich war. Und ihr Gast schien ebenso entschlossen, die Täuschung aufrechtzuerhalten.

Mikey streckte mit festem Blick eine Hand aus.

»Willkommen in Maine, Mr Jenkins.«

Benjamin Sinclair, der auf diese Geste mit völliger Sprachlosigkeit reagierte, wich unsicher einen Schritt zurück. Er sah aus, als sähe er sich einem Gespenst gegenüber.

Wie? Der Mann, der ihre Familie auseinanderreißen konnte, bekam es plötzlich mit der Angst zu tun?

Mikey stand noch immer mit ausgestreckter Hand da, und was Emma sah, als sie in sein Gesicht blickte, würde auf ewig in ihrem Gedächtnis eingegraben bleiben. Mikey war nicht verletzt oder wütend oder auch nur erstaunt. Er trat einfach vor, griff nach Bens Hand und legte sie über seine Schulter, während er die Mitte seines Vaters umfasste und ihn stützte.

»Mr Jenkins, Sie sehen einigermaßen katastrophal aus. Meine Tante hat recht. Sie müssen zum Arzt. Kommen Sie. Ich helfe Ihnen in die Maschine. Hol sein Zeug aus dem Wagen, Nem. Ich habe ihn im Griff.«

Emma merkte, dass auch sie einen Schritt zurückgewichen war. Ihr Verstand war wie benebelt und ihr Herz fast gebrochen, beim Anblick des einzigen Menschen auf der Welt, den sie zärtlich liebte und der jenem Menschen zu Hilfe kam, der sie vernichten konnte.

Endlich waren sie wieder in Medicine Creek Camps zurück und ihr Gast in einem der im Erdgeschoss gelegenen Zimmer ihres Hauses untergebracht, bis oben voll mit schmerzstillenden Mitteln. Michael säuberte die Cessna von den Blutspuren, die ihr Passagier hinterlassen hatte, und Emma lag ausgestreckt auf ihrem Ruhesessel, eine eiskalte Bierflasche in der Hand, über den Augen einen heißen, feuchten Waschlappen.

Für einen wortkargen Mann konnte ihr ramponierter Gast eine reiche Auswahl an Worten finden, wenn er wollte– das hatte sie zu spüren bekommen, als Michael Alice aus der Maschine geholt hatte. Benjamin hatte geflucht, dass sie rote Ohren bekommen hatten, als er entdeckte, dass Mikeys Kopilotin eine alte Schaufensterpuppe mit Hut, Perücke und Fliegerbrille war. Er hatte getobt und gefragt, wie man ein Kind in die unvorstellbare Lage bringen konnte, auf einer Pfütze zu landen, die so klein war, dass das Deck eines Flugzeugträgers daneben riesig aussah.

Michael, gesegnet sei sein gutes Herz, hatte Ben seelenruhig erklärt, dass Crazy Larry darauf aus war, ihn der FAA zu melden, ehe er sechzehn wurde und seinen Pilotenschein machen konnte. Daraufhin hatte Ben– sehr wortreich– erwidert, dass man sie beide dem Jugendamt melden sollte. Emma hatte den kleinen Wortwechsel schließlich beendet, indem sie ihrem wütenden Gast mit der Flinte in den Rücken stieß, worauf er sich stumm, aber zornrot auf den Passagiersitz setzte.

Alice trieb nun mit dem Gesicht nach unten im Smokey Bog, in den Ben sie geworfen hatte.

So viel zu ihrem Ruf. Es war zwar nicht so, dass ihr Sport-Camp nicht ein paar Kritiker überstehen konnte, Emma aber war stolz auf ihr Unternehmen, das sie und Mikey aus den roten Zahlen gebracht hatten. Die damals noch sehr junge Emma hatte ihre Schwester überreden können, Medicine Creek Lodge mit dem Geld zu kaufen, das sie von der Versicherung nach dem Tod ihres Vaters bekommen hatten. Sie und Kelly hatten Lodge und Camp gemeinsam gemanagt, bis Kelly Emma ohne Vorwarnung ganz plötzlich mit einer stattlichen Hypothek und einem Fünfjährigen, den es nun großzuziehen galt, im Stich gelassen hatte.

Michael war als alter Mann im Körper eines Säuglings zur Welt gekommen und sah weiser aus als Gottvater persönlich. Zum Glück war er ein braves Baby gewesen– er hatte geschlafen, wenn es Zeit dafür war, hatte pünktlich zu laufen begonnen und mit seinem frühreifem Gebrabbel dafür gesorgt, dass ihnen die Köpfe brummten. Als Mikey fünf war, hatte Emma sich gefragt, ob er die Schule besuchen oder dort unterrichten würde.

Es gab buchstäblich nichts, was der Junge nicht konnte. Emma konnte sich vorstellen, dass er mit dreißig über die Welt gebieten würde. Um Michael war eine so große Ruhe, eine Einfühlungsgabe und Einsicht, so tief, das sie nur ehrfürchtig staunen konnte– und zuweilen fast eingeschüchtert war.

Als Michael zehn wurde, wunderte sie sich nicht mehr und hatte gelernt, sich mit der Tatsache abzufinden, dass sie mit einem erwachsenen, wenn nicht gar alten Mann zusammenlebte. Hatten die Umstände sie zum Familienoberhaupt gemacht, so war Michael so etwas wie ein guter Onkel.

Und jetzt, mit fünfzehn, ließ Mikey ihr großzügig die Illusion, dass sie das Sagen hatte, wenngleich er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, ihr bei Gelegenheit Anweisungen zu geben– meist, wenn sie müde oder frustriert oder ratlos war. Und wie eine gute Tante hörte sie immer auf ihn und ließ sich herumkommandieren oder verwöhnen, was eben im Moment angebracht war.

Emma nahm den Waschlappen von ihren Augen und gönnte sich eben einen Schluck Bier, als sie hörte, dass die Hintertür zugeschlagen wurde.

»Schläft er endlich?«, fragte Mikey, als er das Wohnzimmer betrat.

Emma faltete den Waschlappen sorgfältig zusammen, während sie zusah, wie er schweigend durch den Raum auf sie zukam und sich über sie beugte, groß und schlaksig und doch mit einer gewissen Anmut.

»Unser Patient schläft wie ein Murmeltier.«

Michael schnaubte.

»Ein Murmeltier mit Raubtierfängen. Draußen am Smokey Bog dachte ich schon, du würdest ihm gehörig die Meinung sagen.«

»Hast du seine Klauenabdrücke vom Armaturenbrett wegbekommen?«

»O Gott, Nem. Man möchte meinen, ein erwachsener Mann könnte ein wenig Aufregung verkraften, ohne gleich durchzudrehen– es war zwar knapp, aber du hast uns heil in die Luft gekriegt.«

»Er hatte gerade eine wüste Prügelei überstanden und wollte nicht in zwölf Meter Höhe eine Fichte zieren.«

Michael grinste.

»Du hast ja auch nur einen ganz winzigen Ast gestreift.« Er runzelte die Stirn, als er den Waschlappen sah.

»Wieder Kopfschmerzen?«

»Nein. Ich entspanne mich nur. Sind alle für die Nacht in ihren Hütten untergebracht?«

Er nickte.

»Hütte drei möchte wieder bei Tagesanbruch hinaus. Offenbar hat das kleine Schwimmabenteuer die Typen nicht entmutigt.« Er sah sie mit trügerisch unschuldigem Blick erwartungsvoll an.

»Ich könnte mir den Tag von der Schule frei nehmen und die Vogeljäger aus Hütte fünf führen. Jemand sollte hierbleiben und Mr Jenkins im Auge behalten. Da seine Wortwahl mich verderben könnte, solltest du Krankenschwester spielen.«

Emma schüttelte den Kopf.

»Schule wird nicht geschwänzt. Und wenn ich mit diesem verwundeten… Bären im Haus bleibe, bringe ich ihn wahrscheinlich um. Außerdem habe ich eben angerufen und verabredet, dass Durham morgen Hütte fünf führt. Wenn er für mich arbeitet, wird er vielleicht keinen Unfug machen.«

»Unglaublich, dass diese Abholzungsdebatte in Gewalt ausartet. Es gäbe bessere Möglichkeiten, um das Problem zu lösen. Die Typen hätten Mr Jenkins ernstlich verletzen können.«

»Drei gebrochene Rippen, eine Gehirnerschütterung und eine Kniezerrung sind keine Lappalie.«

Michael ging daran, ein Feuer im Kamin zu machen. Mit dem Rücken zu ihr fragte er:

»Kommt Mr Jenkins dir nicht bekannt vor, Nem?«

»Warum?«

Der Junge zog die Schultern hoch und hielt ein brennendes Streichholz an sein Werk.

»Aus keinem besonderen Grund. Ich dachte nur, er könnte vielleicht schon früher mal hier gewesen sein.«

»Ich kann mit Sicherheit sagen, dass Medicine Creek Camps nie das Vergnügen seiner Anwesenheit hatte.«

»Du willst ihn hier im Haupthaus behalten?«

»Eine Weile. Hast du damit ein Problem?«

Er legte Scheite auf die knisternden Späne.

»Kein Problem. Aber im Moment hast du viel um die Ohren. Und wenn ich in der Schule bin, bist du ganz allein, rennst in alle Richtungen und versuchst, es jedem Sportsfreund recht zu machen, der ein paar Vögel jagen möchte.« Er sah sie besorgt an.

»Und nächste Woche beginnt die Jagd auf Elche.«

Emma warf ihm den Waschlappen zu und stand auf.

»Dann wird es Zeit, dass du mir hilfst, unserem Pitiful ein orangefarbenes Band um den Hals zu legen.«

Er fing den Waschlappen locker auf und richtete sich auch auf.

»Ich werde mich hüten, dem dämlichen Vieh auch nur nahe zu kommen. Eine zielgenaue Kugel wäre ein Segen für ihn. Er schafft es nie über den Winter.«

»Sicher schafft er es. Pitiful ist ja nicht dumm.«

»Nein? Der Dummkopf ist in dich verliebt. Ein zweijähriger Elch sollte den Unterschied zwischen einer Frau und einer Elchkuh kennen. Ihm fehlt es im Oberstübchen, Nemmy.«

»Ich glaube, letzten Herbst hat ihn eine Kugel gestreift. Deshalb ist seine rechte Geweihstange in diesem Jahr nicht nachgewachsen«, brachte sie zur Verteidigung ihres Lieblings vor.

»Und ich glaube, er hat einen Holzlaster gerammt. Nem, finde dich damit ab, dass er zur Landplage wird. Er wühlt in den Mülltonnen und will ständig in die Küche.«

»Ihm schmeckt, was ich koche.«

»Und er hat gestern eines der Boote unter Wasser gedrückt, als er an Bord gehen wollte.«

»Wir müssen Schutzmaßnahmen gegen die dummen Touristen ergreifen, Mikey. Ich mache ihm einen Kuchen aus Hafermehl und Zuckerrübensirup, und während er frisst, kannst du ihm die Schleife um den Hals legen.«

Emma überließ es ihrem Neffen, sich diese angenehme Aufgabe auszumalen, und ging, um nach ihrem Gast zu sehen, ehe sie sich schlafen legte. Tom Jenkins hatte seine Decken in totale Unordnung gebracht und sie weggeschoben, so dass er fast entblößt dalag.

Für einen Städter war der Mann erstaunlich fit. Seine gewölbte Brust wies dunkle Prellungen auf, die einen Schwächeren umgebracht hätten. Lautlos beugte Emma sich über ihn und zog die Decken bis an sein Kinn. Sorgfältig strich sie ihm das Haar aus der Stirn und befühlte seine Stirn nach Fieber, wobei sie einen Verband über der linken Braue freilegte.

Willkommen in Medicine Creek Camps, Sinclair. Na, haben wir das versprochene Abenteuer geboten?

Sie richtete sich auf und drehte sich um, um das Fenster neben seinem Bett einen Spaltbreit zu öffnen und die nach Kiefern duftende Herbstluft einzulassen, in der Hoffnung, die Kühle würde dafür sorgen, dass seine Decken dort blieben, wo sie hingehörten. Der Vollmond schien hell und warf einen Lichtstreifen auf den See so, wie vor zwei Stunden, als sie gelandet waren. Wieder eine Premiere für ihren Gast, eine, gegen die er Einwände vorgebracht hatte. Aber wieder hatte Michael ihm in aller Ruhe erklärt, es bestünde kein Grund zur Besorgnis, seine Tante hätte schon jahrelang Nachtlandungen auf mondhellen Seen bewerkstelligt.

Die Lichter in Hütte drei erloschen. Emma lehnte ihren Kopf an das Glas und sog den Geruch dessen ein, was in den letzten fünfzehn Jahren ihr persönlicher Himmel gewesen war. Sie fragte sich, wie himmlisch Medicine Creek Camps ohne Michael sein würde.

Auch wenn Ben ihn nicht in das neue Leben entführte, das ihm zustand, würde Mikey aufs College gehen und dann weiter, größeren und besseren Zielen entgegen. Und sie würde hier sein, bereit, ihn in die richtige Richtung zu stoßen oder zu ziehen– und auf seine Rückkehr als erwachsener Mann warten.

Heute hatten die Räder sich zu drehen begonnen, alles würde sich verändern.

»Warum nennt der Junge Sie Nemmy?«

Emma drehte sich nicht um, weil er ihre Tränen nicht sehen sollte.

»Weil er als Zweijähriger Tante Emma für zu schwierig befand. Er hat den Namen auf Nemmy verkürzt, und dabei ist es geblieben. Ich hoffe, dass er dies auf meinen Grabstein meißeln lässt.«

»Wo ist seine Mutter?«

»Fort.«

»Und sein Vater?«

»Hoffentlich tot.«

Ein Moment Stille.

»Sie haben ihn allein großgezogen?«

Sie drehte sich zu ihm um.

»Nein, Mr Jenkins. Michael hat mich erzogen.«

»Ein ungewöhnlicher Junge.«

»