Wohin rollst du, Äpfelchen ... - Leo Perutz - E-Book

Wohin rollst du, Äpfelchen ... E-Book

Leo Perutz

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Beschreibung

Wien 1918/1919: Der einstige Offizier Georg Vittorin kann die Demütigungen nicht vergessen, die er als Kriegsgefangener von dem russischen Lagerkommandanten Seljukow erdulden musste, und beschließt, als Rächer zurückzukehren. Eine dramatische Verfolgungsjagd beginnt, die ihn durch die Sowjetunion, nach Konstantinopel, Rom, Mailand, Paris und weiter treibt, bis es schließlich in Wien zu dem erhofften "Duell ohne Zeugen" kommt. Diese Geschichte eines Kriegsheimkehrers erschien zuerst im Jahr 1928 als Fortsetzungsroman in der "Berliner Illustrierten Zeitung" und gehörte am Ende der Weimarer Republik zu den bekanntesten Büchern seiner Zeit.

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Über das Buch

Wien 1918/1919: Der einstige Offizier Georg Vittorin kann die Demütigungen nicht vergessen, die er als Kriegsgefangener von dem russischen Lagerkommandanten Seljukow erdulden musste, und beschließt, als Rächer zurückzukehren. Eine dramatische Verfolgungsjagd beginnt, die ihn durch die Sowjetunion, nach Konstantinopel, Rom, Mailand, Paris und weiter treibt, bis es schließlich in Wien zu dem erhofften »Duell ohne Zeugen« kommt. Diese Geschichte eines Kriegsheimkehrers erschien zuerst im Jahr 1928 als Fortsetzungsroman in der »Berliner Illustrierten Zeitung« und gehörte am Ende der Weimarer Republik zu den bekanntesten Büchern seiner Zeit.

Leo Perutz

Wohin rollst du, Äpfelchen …

ROMAN

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller

Paul Zsolnay Verlag

Inhalt

Es kommt der Tag

Gespensterzeit

Alarm

Die Grenze

La Furiosa

Befehl zum Stürmen

Wohin rollst du …

Seljukow

Nachwort

Es kommt der Tag

Die unerwartete Kontrolle in der großen Lazaretthalle des Bahnhofes war das letzte aufregende Ereignis gewesen. Von Moskau an verlief die Reise ohne irgendeinen Zwischenfall. Als Kohout die abgerissenen Spielkarten aus der Tasche zog und mit der Bemerkung, man sei ihm Revanche schuldig, eine Partie Einundzwanzig vorschlug, waren alle dabei, auch Feuerstein, der auf dem Bahnhofe während der Verlesung der Namen einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte.

In Tula stieg Dr. Emperger, der die Reisekasse führte, aus und kaufte Brot, Eier und heißes Teewasser, sogar zwei Tafeln Schokolade trieb er auf. Als er zurückkam, sagte er, nun habe er von Rußland Abschied genommen, endgültig und für alle Zeiten, zum letzten Male in diesem Leben habe er russische Erde betreten. Denn er befände sich jetzt eigentlich schon auf neutralem Boden, den Sanitätszug könne er nicht als zu Rußland gehörig betrachten.

Vittorins Miene verfinsterte sich. — So, also Dr. Emperger wollte auf keinen Fall mehr nach Rußland zurück? Und wenn die Wahl auf ihn fiel, was dann? Lag hinter seinen Worten irgendeine Absicht verborgen? Wollte er am Ende vorbauen, auf geschickte und unauffällige Art andeuten, daß er sich an das Übereinkommen nicht gebunden fühle?

Er blickte von den Karten auf. Doch er fand in Doktor Empergers Gesicht mit den hervortretenden, völlig ausdruckslosen Augen nichts, was seinen Argwohn bestätigen konnte.

Unmöglich! Sie hatten alle fünf feierlich ihr Ehrenwort verpfändet. Ich schwöre als Offizier und Mann von Ehre — das war die Formel gewesen. Es gab kein Zurück mehr. Vielleicht war sich Doktor Emperger der Tragweite seiner Bemerkung gar nicht bewußt, vielleicht hatte er einfach ohne jede Überlegung gesprochen. In diesem Falle war ein Verweis, der ja im freundschaftlichen Ton gehalten sein konnte, durchaus am Platz.

Vittorin legte die Karten aus der Hand und knöpfte seinen Rock zu. Aber während er noch überlegte, kam ihm der Leutnant Kohout zuvor.

»Du, mein Lieber«, sagte er zu Emperger, »mir scheint, du willst dich drücken. Einer von uns muß zurück, das weißt du. Wer sagt dir, daß du nicht derjenige sein wirst?«

»Du hast mich mißverstanden, Kohout«, erklärte Doktor Emperger. »Natürlich, einer von uns geht zurück. Aber als Kriegsgefangenen sieht mich das heilige Rußland nicht mehr. Wenn ich wiederkomm’, bin ich ein freier Mann, das ist dann etwas anderes, das wirst du doch zugeben?«

»Den Namen Seljukow werd’ ich mir merken«, sagte Feuerstein. »Den Namen vergeß’ ich bis an mein Lebensende nicht. Auf mich könnt ihr zählen.«

»Die Sache ist längst erledigt«, rief vom Fenster her der Professor Junker. »Wer hat denn wieder damit begonnen? Sollen wir uns wirklich die schöne Fahrt in diesem sauberen, beinahe wieder europäischen Waggon durch die Erinnerung an den Stabskapitän vergällen lassen?«

Vittorin schloß die Augen. — Gar nicht daran zu denken, daß man solch eine ernste Sache dem Doktor Emperger anvertrauen kann. Ein Muttersöhnchen, verweichlicht, verzogen, in keiner Hinsicht verläßlich. Ein netter Mensch sonst, ein guter Kamerad, vielleicht auch couragiert, zugegeben, er hat die kleine Silberne, aber die Weibergeschichten! Der Mensch hat nichts als seine Liebesabenteuer im Kopf. Die Fritzi, die Hansi, die Frieda vom Eislaufverein, hundertmal hab’ ich mir seine Weibergeschichten anhören müssen. Abend für Abend, wenn die Schachpartie zu Ende war —— ja, wo sind die Zeiten! —— das ist immer die Einleitungsphrase gewesen. Und dann kam die Hansi und die schöne Frau des Ministerialrats und die Lilly aus der Kaiserbar, die ihn immer in die Lippen gebissen hat. — Er hält sich für unwiderstehlich. Und mit seiner Courage ist’s auch nicht weit her, trotz der Silbernen. Er wollte anfangs gar nicht mit, Tag und Nacht ist er uns in den Ohren gelegen: Ihr werdet sehen, wir kommen über Omsk nicht hinaus, in Omsk bleiben wir stecken. Jetzt auf einmal ist er der große Herr, hier im Sanitätszug spielt er sich als Transportkommandant auf. Nein, daß er die Stimmen bekommt, das werd’ ich zu verhindern wissen. Der Professor kommt auch nicht in Betracht, der war nie Offizier. Für die Wissenschaft unentbehrlich, werd’ ich sagen, wenn sie den Professor vorschlagen sollten. Kohout? Mit seinem steifen Arm? Bleibt nur noch Feuerstein. Mit dem muß ich freilich rechnen. Feuerstein ist schlau, gerissen ist er, der kommt überall durch, der erreicht alles, was er will. Den Ohnmachtsanfall in der Lazaretthalle, den hat er sicher nur simuliert, er hat keine Papiere, nicht einmal ein ärztliches Zeugnis hat er. Ob er so ohne weiteres zu meinen Gunsten verzichten wird, das ist fraglich. Und Geld hat er auch, soll sogar sehr vermögend sein, Industrieller. Das spricht aber eher gegen ihn, das Geld und der Beruf. Ich werd’ jedenfalls darauf hinweisen, daß einer, der eine solche Sache auf sich nimmt, durch nichts gebunden sein darf. Feuerstein wird immer nur an seine Fabrik denken und an die Geschäfte, die ihm möglicherweise entgehen. Nein, das werd’ ich lieber doch nicht sagen, sonst wird er am Ende — er soll ja das Geld zur Verfügung stellen, wir brauchen ihn, vor den Kopf stoßen darf ich ihn nicht. Es wird nicht leicht sein, ihn dazu zu bringen, daß er zurücktritt. Kohout stimmt sicher für mich, auf den kann ich mich verlassen. —

»Zum Teufel, was ist denn mit dem Zug los? Bleiben wir ewig hier stehen?« rief Kohout. »Wo ist denn der Emperger? Professor, schließen Sie doch das Fenster, es zieht bestialisch.«

Der Professor vertrieb sich die Zeit damit, daß er den Bäuerinnen, die vor dem Stationsgebäude standen, »Doswisdanja« zurief, »Auf Wiedersehen«. Doktor Emperger kam zurück und brachte Neuigkeiten.

»Nur ein kleiner Maschinendefekt, belanglos, in einer halben Stunde kann er behoben sein. Wißt ihr, wer der alte Herr im Nebenabteil ist? Ein zaristischer Adelsmarschall, Schwiegersohn eines Großfürsten, mit Lebensgefahr aus Petersburg geflüchtet. Er hat nichts als die Kleider, die er trägt, alles andere haben ihm die Bolschewiken weggenommen. Der Oberleutnant, der dem dänischen Roten Kreuz zugeteilt ist, hat es mir gesagt. Wer will Bier, wer will Zigaretten? In einer Stunde sind wir auf ukrainischem Gebiet. Jeder von uns hat Anspruch auf fünf Wochen Urlaub, sagt der Oberleutnant, beim Kader anzufordern.«

»Daß wir Urlaub bekommen müssen, das versteht sich doch von selbst«, brummte Kohout. »Dazu brauch’ ich deinen Oberleutnant nicht. Spielen wir weiter. Wer hält die Bank?«

»Ja, aber vorher drei Wochen Quarantäne«, fuhr Doktor Emperger fort. »In irgendeinem podolischen Nest, nicht zu umgehen, keine Formalität. Eine nette Überraschung, wie? Was sagen Sie dazu, Professor?«

Der Professor zuckte die Achseln. Kohout mischte, ließ abheben, teilte die Karten aus und sagte:

»Werden sich deine Pupperln halt noch die drei Wochen gedulden müssen. Setz’ dich inzwischen.«

»Wann, sagst du, sind wir über der Grenze?« fragte Vittorin.

»In einer Stunde, spätestens.«

»Kohout, höchste Zeit! Wir müssen unser Gepäck in Ordnung bringen.«

Kohout stand auf, streckte sich und holte den hölzernen Militärkoffer, der seine und Vittorins Habseligkeiten enthielt, vom Gepäckbrett herunter.

»So, und jetzt mach’ Ordnung!« sagte er, indem er nach seiner Gewohnheit von einem Fuß auf den andern trat und die Hände in den Gelenken drehte, »reinliche Scheidung. Schluß mit der Gütergemeinschaft.«

Vittorin öffnete den Koffer und legte seine Sachen auf die Bank. Das Waschzeug, die russische Hemdbluse, die Wäsche, den Pelzrock mit dem Krimmerkragen. Die hohen Filzstiefel, daheim nicht zu verwenden, aber eine schöne Erinnerung an die sibirische Zeit. Die kunstvoll gearbeitete Kette aus Roßhaar mit den vier durchbrochenen chinesischen Silbermünzen. Dann die Briefe des Vaters und der Schwestern, die Vally hatte nur selten geschrieben, die Lola hingegen, die ältere, pünktlich an jedem Ersten und an jedem Fünfzehnten Nachricht geschickt. Ein verschnürtes Päckchen, das waren die Briefe von Franzi Kroneis, »Mein lieber Bub«, so begann sie alle, er brauchte gar nicht hineinzusehen. Dieses Schreiben mit den ungelenken Schriftzügen, das zuoberst lag, das war von seinem Bruder Oskar. Er entfaltete den Brief und begann zu lesen.

»Lieber Bruder! Es ist schon lange her, daß ich an Dich, lieber Bruder, kein Schreiben gerichtet habe, und bitte ich Dich, mir wegen meiner Unaufmerksamkeit gegen Dich, lieber Bruder, nicht böse zu sein. Nun will ich Dir von meiner Beschäftigung Näheres mitteilen. Ich nehme seit einiger Zeit bei einem Professor der Handelsschule Unterricht in Deutsch, Stenographie, Korrespondenz und Französisch, vier Stunden wöchentlich, für welche ich pro Stunde 2 Kronen bezahle. Auch in meiner freien Zeit, welche zwar sehr kurz ist, übe ich schriftliche Arbeiten sowie Klavier. Hoffentlich endet der langdauernde Krieg bald und Du, lieber Bruder, wirst in das Vaterhaus zurückkehren können. Deinen lieben Brief vom 16.1. haben wir erhalten, aus welchem wir erfahren, daß Du unter den dortigen Verhältnissen leidest, worüber wir sehr besorgt sind. Teile Dir ferner mit, daß ich das Theater besuche und sogar zu Fasching bei Vergnügungen meiner Kollegen war. Nun habe ich Dir in diesem Brief bereits über so manches Mitteilung gemacht, wodurch Du, lieber Bruder, zufriedengestellt sein wirst, und schließe nunmehr dieses Schreiben mit Gruß Dein Bruder Oskar.«

Vittorin lächelte. Sein kleiner Bruder, der bei Kriegsausbruch noch mit dem Lasso und mit Pfeil und Bogen gespielt hatte, der war nun auch bald ein erwachsener Mensch.

Weiter! Das rote Heft mit den russischen Vokabeln. Eine Anzahl Nummern der hektographierten Lagerzeitung. Ein Block buntbemalten, chinesischen Briefpapiers. Die Lederweste, die englische Grammatik, die Tungusenmütze. Eine hölzerne Aschenschale, die ein kriegsgefangener Dragoner geschnitzt hatte. Eine Schachtel Zigaretten, und ganz zuunterst lagen, sorgfältig verpackt, die beiden Fayencevasen mit den Vogelkopfhenkeln und den weißen Drachen auf blauem Grund und die grünglasierte Porzellanschale, alles kostbare Stücke, wahrscheinlich aus der Mingperiode, hatte Doktor Emperger, der sich auf diese Dinge verstand, erklärt, für ganz billiges Geld erstanden, und die Porzellanschale allein war mindestens fünfhundert Rubel wert.

Aus all diesen Sachen machte sich Vittorin mit Zuhilfenahme seines Pelzrockes und eines Riemens eine Plaidrolle zurecht. Dann steckte er sich eine Zigarette an.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Der Professor winkte mit dem Taschentuch und rief »Doswisdanja«. Feuerstein gestand, er habe an den Maschinendefekt nicht recht geglaubt. Er sei überzeugt gewesen, daß ein Telegramm aus Moskau in der Station eingetroffen sei und daß man ihn noch im letzten Augenblick aus dem Zug herausholen werde. Das sei eine böse halbe Stunde für ihn gewesen. Ob ihm das jemand angemerkt habe?

»Ich schon«, sagte Kohout. »Du warst ja käsweiß im Gesicht.«

Doktor Emperger begann abzurechnen. Gemeinsame Ausgaben waren nicht mehr zu erwarten. Er freute sich, mitteilen zu können, daß die Reisekasse infolge sparsamer Wirtschaftsführung in der Lage sei, jedem ihrer Kommittenten den Betrag von siebzehneinhalb Rubel zurückzuerstatten. Quittung sei nicht erforderlich.

Nun aber war der feierliche Augenblick gekommen. Vittorin zog sein Notizbuch und bat die Reisegefährten, die zwei Jahre hindurch seine Stubengenossen im Lager Tschernawjensk gewesen waren, um ihre Adressen.

Doktor Emperger, das wußte er, wohnte natürlich im elegantesten Viertel, Prinz-Eugen-Straße. Im Telephonbuch stand er auch. Kohout hatte derzeit keine ständige Adresse. Aber man könne ihm in das Café Splendid schreiben, sagte er und drehte die Hände in den Gelenken. Café Splendid in der Praterstraße. Das sei sein Stammcafé; wenn er in Wien sei, schaue er täglich ein-, zweimal hin.

Vittorin schrieb die vier Namen in sein Notizbuch, und neben jedem vermerkte er den militärischen Rang, den Zivilberuf, die Straße und die Hausnummer. Und darunter schrieb er mit großen deutlichen Buchstaben: Michael Michajlowitsch Seljukow, Stabskapitän im Semjenowschen Regiment.

Damit war der erste Schritt getan. Schwarz auf weiß war alles niedergelegt. Michael Michajlowitsch Seljukow gegenüber stand nun eine festgefügte Organisation, ein Bund von fünf Menschen, die ihr Ziel vor sich sahen und bereit waren, jedes Opfer zu bringen, um dieses Ziel zu erreichen. Nun mußte die Sache ihren Lauf nehmen.

Der Zug fuhr in Rjechowo ein. Die Reise war zu Ende. Zwei Bolschewiken-Offiziere mit dem Sowjetstern auf den Tellermützen gingen zwischen den hochgetürmten Holzstößen auf und nieder. Auf der anderen Seite des Stationsgebäudes, neben dem Wasserturm, stand ein österreichischer Posten mit geschultertem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett. Ein großer, brauner Hund trieb sich zwischen den Güterwagen umher, zwei Bauern schleppten eine Hühnersteige über das Gleis. Aus der offenen Tür des Bahnhofkommandos trat ein Honvedmajor mit graumeliertem Backenbart, und der Oberleutnant vom Sanitätszug ging auf ihn zu und erstattete die Meldung.

Als Vittorin im Restaurationssaal des Krakauer Bahnhofs auf den Wiener Schnellzug wartete, winkte ihm vom Büfett her ein Leutnant, der die Achselschnur und die schwarzen Samtaufschläge eines Dragonerregimentes trug, auf kameradschaftliche und vertrauliche Weise zu. Vittorin erwiderte den Gruß unsicher und ein wenig steif. Da kam der Dragoneroffizier auch schon an seinen Tisch.

»Na, was ist?« fragte er, und jetzt erkannte Vittorin den Doktor Emperger. »Soll ich mich vielleicht vorstellen? Starrt mich an und weiß nicht, wohin er mich tun soll. Mir scheint, du kennst mich nur, wenn ich in der Rubaschka oder mit den Pelzstiefeln herumlauf’, wenn ich wie ein Mensch ausschau’, kennst du mich nicht. Nein, mein Lieber, meine Eskimoperiode ist, Gott sei Dank, vorüber. Und du, was machst du, wie geht’s dir? Schon zurück vom Kader?«

Er wartete Vittorins Antwort nicht ab, sondern begann sogleich von sich selbst zu erzählen.

»Bei mir ist das alles sehr rasch gegangen, ich hab’ mir’s gerichtet. Fünf Tage in Brest-Litowsk unter Beobachtung, dann neue Montur und fort nach Wien. Jetzt bin ich auf dem Weg zum Ersatzbataillon, du weißt ja, Urlaub. In Wien sieht’s schön aus, du wirst Augen machen, wenn du nach Wien kommst. Triste. Grippe, abends in den Straßen stockfinster, nichts zu essen, in den Lokalen, auch in den besseren, nichts zu bekommen, um ein Stückel Rindfleisch stellen sich die Leut’ an. Ja, mein Lieber, das waren noch andere Zeiten damals, wie ich beim Weide in Hietzing gespicktes Haselhuhn und Wildente, in Rotwein gedünstet, bekommen hab’. Gar nicht daran denken darf man. Die Oper, das ist noch das einzige. Magst eine gute Zigarette? Cercle du Bosphore, prima Marke, ich hab’ sie von einem Teppichhändler, der vorige Woche aus Konstantinopel zurückgekommen ist. In Wien heißt’s, daß die ganze bulgarische Armee zur Entente übergelaufen ist; Bundesgenossen, wie? Was daran wahr ist, weiß ich nicht.«

Eine Rote-Kreuz-Schwester, die am Arm eines Husaren-Rittmeisters den Restaurationssaal verließ, nickte ihm zu. Doktor Emperger schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich.

»Das ist Vicky Fröhlich, weißt, die Nichte von dem Kohlenbaron, die pflegt jetzt in Neusandec«, flüsterte er Vittorin zu. »Ich möcht’ wissen, wie der Rittmeister Nadherny dazu kommt, sich ihr zu attachieren? Kennst du ihn? Er hat ein Glasaug’. Jeden Vormittag sitzt er im Café Fenstergucker.«

Der Bahnhofsvorsteher rief von der Tür her den Personenzug Jordanow-Neusandec-Gorlice-Sanok aus.

»Bist du noch mit einem von den Kameraden zusammen gewesen?« fragte Vittorin.

Doktor Emperger sah der Schwester vom Roten Kreuz nach.

»Sollt’ ich dem Nadherny nicht bissel ins Kraut steigen?« meinte er. »Viel zu gut für ihn, das Mädel. Chancen hätt’ ich ja.«

»Hast du etwas von den anderen gehört?« wiederholte Vittorin seine Frage.

»Der Professor ist schon in Wien«, berichtete Doktor Emperger. »In allen Zeitungen ist es gestanden: Professor Junker aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Der hat es natürlich gut, Zivilinternierter, braucht sich um kein Kader zu kümmern. Den Kohout hab’ ich in Brest-Litowsk im Monturdepot getroffen. Unmöglicher Mensch, direkt kompromittierend, fraternisiert mit der Mannschaft, der wird noch mal bös’ reinfallen, sag’ ich dir.«

»Und Feuerstein?«

»Den Feuerstein hat sein Bruder in Kiew erwartet, schon mit dem Enthebungsbescheid in der Tasche. Meine Angelegenheiten sind auch in bester Ordnung. Sowie der Krieg aus ist, tret’ ich als Rechtskonsulent in die Kreditanstalt ein. Der Posten wartet schon auf mich.«

Vittorin hörte nur mit halbem Ohr zu. Die ganze Zeit über hatte er darauf gewartet, daß nun endlich die Sache zur Sprache kommen werde, die ihn unaufhörlich, Tag und Nacht, beschäftigte. Aber Doktor Emperger sprach nur von gleichgültigen und unwichtigen Dingen. War das am Ende ein wohlüberlegter Plan? Ein Versuch, das Übereinkommen von Tschernawjensk zu bagatellisieren? Darüber mußte volle Klarheit geschaffen werden.

»Gibt es etwas Neues in der bewußten Sache?« fragte Vittorin geradeheraus. »Hast du vielleicht mit dem Kohout darüber gesprochen?«

»Worüber?«

»Worüber?« wiederholte Vittorin gereizt. »Wegen des Stabskapitäns natürlich.«

»Wegen des Stabskapitäns? Was soll es denn da Neues geben? Jetzt, vorläufig, ist ja nichts zu machen. Aufrichtig gestanden, ich hab’ an den Stabskapitän überhaupt nicht gedacht, auch nicht an Tschernawjensk, wie wenn ich nie dort gewesen wär’. Es wird dir auch nicht anders gehen, wenn du erst einmal wieder in Wien bist. Nur am ersten Tag, weißt, wie ich zu Haus in meinem Bett aufwach’ — ich schau’ auf die Uhr: Dreiviertel sechs. Herrgott, denk’ ich mir, dreiviertel sechs, jetzt heißt’s rasch aufstehen, gleich wird Morgenröte geblasen. Und dann bin ich natürlich liegen geblieben, kannst dir denken, mit einem Wohlbehagen, das läßt sich nicht schildern, und wie ich so lieg’, hab’ ich mich an die Lagerordnung erinnert, Paragraph 2: Nach gegebenem Signal Morgenröte alle Kriegsgefangenen stehen auf, ordnen sich ihre Betten, machen Toilette, bringen ihr Logement in Reinigkeit. Weiteres bis acht Uhr morgens Tee ist erlaubt zu trinken. — Na, alles geht vorüber, denk’ ich mir, und jetzt Tee ist erlaubt zu trinken, wann’s mir paßt.«

Vittorin sah auf die Uhr, rief den Kellner und zahlte. In fünf Minuten mußte der Wiener Schnellzug da sein. Doktor Emperger ließ es sich nicht nehmen, den Freund und Zimmergenossen aus dem Lager Tschernawjensk auf den Perron hinaus zu begleiten. In aller Eile gab er ihm noch einige nützliche Winke für Wien:

»Du kannst, wenn du Lust hast, ruhig in Zivil gehen, kein Mensch kümmert sich drum. Wenn du dir mal was zu essen kaufen willst, geh’ zum Nordwestbahnhof. Dort in der Näh’ bekommst du alles, Fleisch, Butter, Eier, Nullermehl, weißt, von den Urlaubern aus Galizien. Natürlich, Preise verlangen die! In den Kaffeehäusern — das Zeug, das sie dort Mokka nennen, das rühr’ nicht an. Wenn du mal einen richtigen Mokka trinken willst, dann geh’ ins Café Pucher und sprich mit dem Ober, beruf dich auf mich. Dort gibt’s noch einen echten Türkischen, aber eben nur für besondere Gäste.«

»Ich denke, wir werden so gegen Weihnachten unsere erste Besprechung halten«, sagte Vittorin. »Wir müssen es nur mit dem Urlaub so einrichten, daß wir alle zugleich in Wien sind.«

»Ich glaub’, wir werden bald überhaupt alle auf Urlaub gehen«, sagte Doktor Emperger. »Es liegt sowas in der Luft. Servus, Vittorin, auf Wiedersehen, laß dir’s gut gehen.«

Der Zug war überfüllt. Vittorin kauerte in einem Winkel des schlecht erleuchteten Ganges neben seiner Plaidrolle. Er wollte schlafen. Aber immer wieder riß ihn eine Stimme, die er haßte, aus seinem Halbschlummer.

»Ssdrawstwujte«, sagte die Stimme in singendem Tonfall. »Seid gegrüßt«, sagte sie, und Vittorin fuhr auf und sah einen Augenblick das fremdartig geschnittene Profil, die hochgewölbte, ein wenig vorspringende Stirn, den leicht geöffneten Mund mit dem hochmütigen Zug um die Lippen, die schmale, gebräunte Hand, die die Zigarette hielt. Hatte er jemals Michael Michajlowitsch Seljukow ohne Zigarette gesehen? Einmal doch, ja, ganz richtig — dem Przemysler Generalstabshauptmann hatte ein betrunkener Kosak einen Hieb mit der Nagaika versetzt, und der Stabskapitän Seljukow war selbst in den Fünferpavillon gekommen, um dem Generalstäbler sein Bedauern auszusprechen. In großer Uniform, mit dem Wladimirorden und dem Georgskreuz — »Der Mann wird zur Rechenschaft gezogen mit größter Strengigkeit, Sie wissen, welche Strafe nach russischem Gesetz — ein Kosak, ein Bauer — glauben mir, Herr Kamerad, daß ich bin bestürzt —« Dann hatte er dem Herrn Kameraden mit einer leichten Verbeugung die Hand gereicht — o ja, Michael Michajlowitsch Seljukow wußte sich zu benehmen, er war kein Bauer, kein Kosak, er konnte charmant sein, wenn er wollte. Um so schlimmer.

Der Zug stand. Vittorin trat ans Fenster und blickte hinaus. Hier in dieser Gegend hatte er einmal seine Ferien verbracht, zwölf, nein, vierzehn Jahre war es her. Damals hatte der Onkel noch die Mühle gehabt, jetzt fährt er in die Dörfer und verkauft Dreschmaschinen.

Wie rasch die Zeit vergeht. Vierzehn Jahre. Und diese Nacht will kein Ende nehmen, kein Ende will sie nehmen. Dreiviertel eins erst. Morgen bin ich in Wien. Ob sie mein Telegramm bekommen haben? Wer wird am Bahnhof sein? Der Vater, die Schwestern, vielleicht die Franzi. Schlafen, wenn ich nur schlafen könnte.

Er schloß die Augen. Aber statt des Schlafes kam ein Bild aus der Vergangenheit, eine Erinnerung, die ihn unerbittlich verfolgte. Wieder war er in Tschernawjensk, er stand vor der Tür der Kanzlei. Er hatte eine Bitte vorzubringen. — Seljukow kann auch charmant sein. »Tragen Sie Ihr Anliegen vor, Herr Leutnant«, wird er sagen, »ich höre, ce qui est dans mon pouvoir de faire pour les prisonniers de guerre —«

Vittorins Finger sind steif vor Kälte. Der Starschi, der russische Unteroffizier, der ihn begleitet, streift sich den Schnee vom Mantel, stampft mit den Füßen, rückt seine Mütze zurecht und klopft an.

Der Stabskapitän Seljukow sitzt an seinem Schreibtisch. Er blickt nicht auf, er blättert in einem Buch, er raucht und schreibt. Er hat eine lässig-elegante Art, während des Schreibens die Zigarette zu halten. Mit der Spitze des kleinen Fingers der linken Hand drückt er sie an den Ringfinger. Auf dem Schreibtisch liegen militärische Bücher, Drucksorten und französische Romane.

Der Diener Grischa blickt zur Tür herein, er sieht seinen Herrn beschäftigt und verschwindet. Im Zimmer ist ein leiser, feiner Geruch, das ist das Aroma der Zigarette, chinesischer Tabak. Und noch etwas ist da, ein fremdartiges Parfüm — natürlich, manchmal bekommt er auch Damenbesuch. Wenn sie im Zimmer ist, die Frau mit dem schmalen Gesicht und den unruhig blickenden Augen, deren Namen niemand im Lager kennt, wenn sie im Zimmer ist, so kann sie sich nur hinter dem Wandschirm versteckt haben. Vittorin horcht, ob ihre Atemzüge zu vernehmen sind.

Fünf Minuten. Noch immer blickt Seljukow nicht auf. Manchmal kommt, während er schreibt, zwischen seinen Zähnen die Zunge zum Vorschein, sie streicht über seine Oberlippe und verschwindet, und Vittorin sieht dieses lautlose Spiel mit einem sonderbaren Wohlbehagen, für das er keine Erklärung finden kann. Acht Minuten. Das weiße Emailkreuz am gelben Band, das ist das Georgskreuz. Seljukow hat auch den Wladimirorden und den Georgssäbel, aber die trägt er nur bei besonderem Anlaß.

Jetzt hat er seine Arbeit beendet. Der russische Unteroffizier steht mit den Händen an der Hosennaht und sagt ein paar Worte in russischer Sprache.

Michael Michajlowitsch Seljukow stützt die Stirn in die Hand und sieht mit halbgeschlossenen Augen an Vittorin vorbei.

»Sie haben Ihr Anliegen zu melden dem Unteroffizier du jour«, sagt er langsam und in gleichgültigem Ton, als spräche er zu dem Mantel, der dort an der Wand hängt. »Meine Arbeit ist nicht, zu hören Beschwerde von Kriegsgefangene. Sie kennen russische Gesetz. Sie stellen sich mit Opposition gegen Lagerordnung. Sie kommen zum drittenmal, mich belästigen mit Bitte und Beschwerde.«

Vittorin wird blutrot und starrt auf den Wandschirm.

»Das ist nicht Benehmen von Offizier«, fährt Seljukow fort. »In Frankreich nennt man das Bochisme. Sie haben zehn Tage Zimmerarrest, damit Sie sich merken russische Gesetz. Sie können gehen.«

Vittorin geht nicht. Er will sprechen, sich rechtfertigen, er legt es sich auf französisch zurecht, was er zu sagen hat, Seljukow soll sehen, daß er es mit einem Menschen von Bildung und Erziehung zu tun hat, dem die französische Sprache geläufig ist. — Mon Capitain, c’est cruel, c’est inhumain, vous comprenez, d’interrompre l’expedition des lettres pendant trois semaines, parceque deux lampes étaient encore allumées à onze heures de la nuit. Mes camarades —

Er bringt kein Wort heraus, er ist dem Augenblick nicht gewachsen. Der Stabskapitän streift die Asche seiner Zigarette ab. Dann winkt er dem Unteroffizier.

»Pascholl.«

Er sagt das ganz ruhig, es klingt, als hieße es nicht »Hinaus«, sondern etwa: Warten Sie einen Augenblick. Oder: Gedulden Sie sich ein wenig. Pascholl! Der Unteroffizier macht kehrt, faßt den Leutnant Vittorin an der Schulter und stößt ihn zur Tür hinaus.

Der Tiroler Landsturmgefreite vom Mannschaftslager drüben hat den Militärarzt, der ihn ins Gesicht geschlagen hat, mit den Händen erwürgt, jawohl, und sich tags darauf, ohne mit der Wimper zu zucken, füsilieren lassen. Und ich? Und ich?

Gut, Michael Michajlowitsch Seljukow. Es hat Ihnen beliebt, mich à la canaille zu behandeln. Pascholl. Gut. In Frankreich nennt man das Bochisme. Ganz wie Sie meinen. Für alles kommt der Tag. Wir sprechen noch darüber, Michael Michajlowitsch Seljukow. Sie denken, ich werde vergessen! Sie irren sich, Herr Stabskapitän. Es gibt Dinge, die man nie vergißt. Das ist nicht Benehmen von Offizier, sagten Sie? In Frankreich nennt man das Bochisme? Geduld, nur Geduld, Herr Stabskapitän, die Stunde der Abrechnung wird kommen, ich vergesse nicht.

Pascholl. — Ob sie das gehört hat, die Frau hinter dem Wandschirm? Eine Französin, hieß es im Lager, die Frau eines Gutsbesitzers, jung verheiratet, sie fährt vier Stunden im Schlitten, um Seljukow zu sehen. Pascholl. Ob sie das verstanden hat? O ja, das hat sie sicher verstanden, es mag ihr Spaß gemacht haben, vielleicht hat sie gelacht, vielleicht hat sie, hinter dem Wandschirm versteckt, unhörbar, lautlos vor sich hin gelacht.

Vittorin biß sich in die Lippen. Scham und Zorn trieben ihm das Blut ins Gesicht, er preßte die Stirne an die kalte Fensterscheibe. Seinen Kameraden hatte er kein Wort von dem, was in Seljukows Zimmer vorgefallen war, gesagt, aber die Erinnerung an die schmachvolle Stunde brannte wie ätzendes Gift in seiner verstörten Seele.

Er stand nicht allein. Auch seine Freunde hatten mit Seljukow abzurechnen. Ein Schwur verpflichtete sie und hielt sie fest, ein Eid, den sie in feierlicher Stunde an dem offenen Grabe eines Kameraden abgelegt hatten.

Vittorin richtete sich auf. Eine Welle von Entschlossenheit durchflutete ihn.

Gleich nach Friedensschluß, wenn wir alle wieder in Wien sind, wird die Sache in Angriff genommen, flüsterte er. Der Professor führt den Vorsitz bei den Besprechungen, er ist der Älteste von uns. Feuerstein stellt das Geld zur Verfügung, und ich bekomme den Auftrag, nach Rußland zu fahren. Ich, jawohl, denn dieses Recht lasse ich mir von keinem streitig machen.

Da bin ich, erkennen Sie mich, Herr Stabskapitän? Leutnant Vittorin aus dem Lager Tschernawjensk, Pavillon Nr. 4. Ganz richtig, in Frankreich nennt man das Bochisme. Warum werden Sie so blaß, Euer Hochwohlgeboren? Sie haben mich nicht erwartet? Sie dachten, ich werde vergessen? O nein, ich habe nicht vergessen. Wie? Pascholl? Nein, Herr Stabskapitän, ich bleibe, ich habe mit Ihnen zu sprechen. Erinnern Sie sich an den Fliegerleutnant, dem Sie die Offiziersbehandlung entzogen haben, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren? Denken Sie nur nach, ich lasse Ihnen Zeit. Weil er sich geweigert hat, die Arbeit in der Mannschaftsküche zu verrichten, haben Sie ihn in den Kellerraum der C-Baracke gesperrt. Er war krank, Rückfallfieber, schwere Malaria, aber Sie ließen ihn auf seiner Sträflingspritsche in dem schmutzigen Kellerloch, bis er … Er simuliert, wie? Der Lagerarzt ist nicht da für Launen von Kriegsgefangene, sagten Sie. Il feint, il fait le malade. Il se trouve en parfaite santé. — An dem Tag, an dem man ihn begraben hat, haben wir einen Eid geschworen, wir fünf, und nun, sehen Sie, ist der Tag der Abrechnung gekommen. Sie erinnern sich nicht? Aber an mich erinnern Sie sich, wie? Das ist nicht Benehmen von Offizier, in Frankreich nennt man das — da! Das ist für den Bochisme. Und das für die Briefsperre und das für die Leibesvisitationen und das — Halt! Was suchen Sie? Den Revolver? Daraus wird nichts, Herr Stabskapitän. Ah, Grischa ist auch hier. Ssdrawstwujte, Grischa! Sagen Sie Ihrem Diener, Herr Stabskapitän, daß ich ihn niederschieße, wenn er sich rührt. Jawohl, ich habe mich vorgesehen. Sie wollen sich mit mir schlagen? Gut. Darüber läßt sich reden. Sie haben die Wahl der Waffen. Meine Vertreter …

Der Schaffner, der mit der Laterne in der Hand den Zug abging, sah sich plötzlich einem Infanterieleutnant gegenüber, der totenbleich, mit erhobenem Arm und geballter Faust, mitten im Korridor stand. Er ging weiter, schüttelte den Kopf, wendete sich bei der Tür noch einmal um und verschwand achselzuckend im nächsten Waggon. Mit einem leichten Anflug von Ärger und Beschämung zog sich Vittorin in seinen Winkel zurück. Halb zwei. Ich sollte versuchen, einzuschlafen. Was sich der Schaffner, der Idiot, gedacht haben mag. Ich bin todmüde. Starrt mich an. Was hat er mich anzustarren? Unverschämtheit. Grischa, der Offiziersdiener heißt Grischa. Grigorij Ossypowitsch Kedrin oder Kadrin aus Staromjena im Charkower Gouvernement. Oft genug hat er dem Professor seine Briefe diktiert. Für alle Fälle schreib’ ich es dazu.

Er zog sein Notizbuch hervor und vermerkte unter dem Namen des Stabskapitäns:

Grischa, Seljukows Ordonnanz, Grigorij Ossypowitsch Kedrin (Kadrin?) aus dem Dorfe Staromjena, Bahnstation Glawjask, Charkower Gouvernement.

Gespensterzeit

Vom Fenster des Waggons aus erkannte er in der wartenden Menge seine Schwestern, Lola und Vally, beide waren sie also gekommen. Vally war hübsch geworden, neunzehn Jahre alt, kein Kind mehr, schlank, große Augen, leichte, anmutige Bewegungen. Drei Jahre, das will etwas heißen. Und dort stand auch sein Vater, hochaufgerichtet, in der Haltung noch immer ganz der ehemalige Offizier, aber doch ein wenig gealtert.

Vittorin stieg die Stufen des Waggons hinunter. Der junge Mann mit den fremden, eckigen Gesichtszügen, dem Schnurrbärtchen und den braunen Glacés, der ihm die Plaidrolle aus der Hand nahm, war sein Bruder Oskar. Damals, vor drei Jahren, hatte er noch einen blauen Matrosenanzug getragen. In der freundschaftlichen, aber doch gemessenen Art, in der er dem älteren Bruder die Hand bot, lag die mit allem Nachdruck erhobene Forderung, von dem Heimgekehrten als völlig erwachsen anerkannt zu werden.

Hundert Fragen: Wie er die Reise überstanden habe, ob es in Moskau um diese Zeit schon kalt sei, was er von der Revolution gesehen habe, ob er froh sei, wieder in Wien zu sein. — »Laß dich doch anschauen, Georg, wie du aussiehst. Na, passabel, ein bißchen schmal im Gesicht.« — »Die Franzi Kroneis ist täglich zu uns gekommen, fragen, ob Nachricht da ist, und gestern, kaum daß sie fort war, kam das Telegramm.« — »Was stehen wir denn da! Avanti, avanti! Gehen wir.« — Ob er hungrig sei, ob er müde sei, ob er den Beinschuß noch manchmal spüre. — »Dieser Lenin muß ein fabelhafter Mensch sein, mir imponiert er«, sagte Oskar und bot dem Bruder eine selbstgestopfte Zigarette an.

Langsam näherte man sich dem Ausgang des Perrons. Dort stand die Franzi Kroneis, strahlend, voll Erregung und erhitzt vom raschen Gehen.

»Gar nicht hast du dich verändert«, sagte sie. »Nicht im mindesten.«

Dann nahm sie, als wäre dies etwas ganz Selbstverständliches, seinen Arm. Das war jetzt ganz anders als in den früheren Zeiten. Damals, vor drei Jahren, hatten sie ihr Einverständnis vor den anderen als ein Geheimnis gehütet.

Auf der endlosen Reise durch Sibirien und Transbaikalien hatte Vittorin mit der Stunde der Ankunft, die so unerreichbar fern schien, immer wieder die Vorstellung verbunden, daß er in einem offenen Wagen, lässig zurückgelehnt, durch die menschenbelebten Gassen nach Hause fahren werde, an einem schönen, warmen Spätsommertag. Besonders lebhaft war diese Vorstellung in der Station Mandschuria gewesen, damals, als sie, mit ihrem Gepäck beladen, in Staubwolken gehüllt, den Weg längs des zerstörten Bahngleises und über die hölzerne Notbrücke zu Fuß hatten zurücklegen müssen. Nun war die ersehnte Stunde da, aber man benutzte die Straßenbahn.

Bei der Haltestelle verabschiedete sich die Franzi. Sie hatte sich für eine halbe Stunde vom Büro freigemacht, um ihn am Bahnhof begrüßen zu können. Nun mußte sie zurück. Sie zog ihn beiseite — Ob er sie am Abend vom Büro abholen wolle. Noch immer Seilerstätte 17, jawohl. — »Aber nein, heute gehst du wohl nicht mehr aus, wirst müde sein, wie? Also auf morgen, du kannst mich auch anrufen. Und schlaf gut und träum’ nicht so viel von den — wie heißen die Mädels in Rußland? Sonja, wie? Natascha? Marfa?«

»Anjuta, Ssofia, Jelena«, sagte Vittorin.

»So viele? Also morgen um sieben Uhr. Hast du überhaupt manchmal an mich gedacht?« —

In der Elektrischen wurde nicht viel gesprochen. In der Absicht, ihrem Bruder eine Freude zu machen, sagte Lola, die Franzi sei ein reizendes Geschöpf und so anhänglich. Oskar bestand darauf, seine Fahrkarte selbst zu bezahlen. Der Vater zog eine kurze Meerschaumpfeife aus der Tasche und sagte, der Krieg werde nun bald zu Ende sein, lange könne es nicht mehr dauern. Die Entscheidung werde aller Voraussicht nach im Westen fallen, in der Champagne. Die Stimmung sei gut, auch an den anderen Fronten. Ein Oberleutnant, der von der Piave gekommen ist, habe ihm auch gesagt, die Stimmung sei gut. Er stopfte die Pfeife mit einem Tabak, dem er Waldmeister und gebeizte Kürbisblätter zugesetzt hatte, um ihn zu strecken.

»Er raucht sich ganz gut«, erklärte er. »Im Tagblatt hat eine ärztliche Kapazität, der Name ist mir entfallen, auch geschrieben, daß diese Mischung sehr anregend auf die Lungentätigkeit einwirkt. Allerdings, der Herr Rechnungsrat in unserem Amt, der raucht heute noch seine Trabukos. Wo der das Geld her hat? — Na! ich will lieber nichts reden.«

Nach dem Abendessen schlug der Vater eine Schachpartie vor, aber die Schwestern protestierten, nein, heute dürfe nicht gespielt werden, spielen könne man ein anderes Mal, Georg müsse erzählen.

»Also, jetzt endlich einmal der Reihe nach«, sagte die jüngere, »von dem Tag an, an dem sie dich gefangengenommen haben, am Dunajec, das weiß ich ja, das hast du ja geschrieben. Aber die näheren Umstände, sag’ einmal, wie war dir zumut, wie dich die Kosaken auf den Leiterwagen gelegt haben? Und wann hast du den ersten Verband bekommen? Der Ella ihr Bruder ist auch verwundet, Lungenschuß, der liegt aber noch immer im Spital. Du, richtig, ja, den Prokuristen aus deinem Büro hab’ ich vor vierzehn Tagen getroffen, ganz zufällig, auf der Straße. Den mit den Sommersprossen. Er ist mit einer sehr großen, rotblonden Dame gegangen, eingehängt, seine Frau war es nicht. Wenn er allein gewesen wär’, hätt’ er sich bestimmt nach dir erkundigt.«

»Du mußt zu ihm hinaufgehen, es gehört sich«, meinte der Vater. »Er könnt’ es dir übelnehmen, daß du dich nicht bei ihm gezeigt hast. Er wird es sicher erfahren, daß du wieder in Wien bist. Das spricht sich bald herum.«

»Wenn du Lust hast, nächste Woche mal ins Theater zu gehen«, sagte Oskar, »ich kann dir Freikarten verschaffen. Ich verkehre jetzt nämlich viel in Schauspielerkreisen.«

Georg Vittorin fühlte ein schmerzhaftes Unbehagen, als stünde er vor einer schweren Krankheit. Sein Geheimnis bedrückte ihn. Aus jedem Wort des Vaters und der Schwestern war es zu hören, wie glücklich sie darüber waren, daß er sich nun bald wieder in das alte, gleichmäßig geregelte Leben einfügen werde. Sollte er ihnen diesen Glauben nehmen, heute schon, am ersten Tag? Wem konnte er sich anvertrauen? Dem Vater? Vielleicht, ja, Vater war in seiner Jugend Offizier gewesen, aktiver Oberleutnant, dort an der Wand, unter dem Porträt der verstorbenen Mutter, hing sein Säbel und das Gruppenbild, die verblichene Photographie, die ihn im Kreise seiner Regimentskameraden zeigte. Sollte er aufstehen und ihn beiseite rufen? »Auf ein Wort, Vater, ich hab’ dir was zu sagen.« — Nein. Seit siebzehn Jahren war der Vater Beamter im Fachrechnungsdepartement des Finanzministeriums. Jeden Morgen um neun Uhr ins Amt, pünktlich um halb vier das Mittagessen, dann die Zeitung, dann der tägliche Spaziergang, Sonntags der »große«, hinaus nach Dornbach, wochentags der »kleine«, quer durch die innere Stadt, abends der Stammtisch oder das Glas Bier über die Gasse — das war Vaters Welt, so lebte er seit siebzehn Jahren. Nein. Der Vater durfte es nicht erfahren.

Es läutete. Lola blickte von ihrer Handarbeit auf und horchte. Vally lief hinaus, kam zurück, steckte den Kopf durch den Türspalt und schnitt eine Grimasse.

»Freu’ dich Lola!« flüsterte sie. »Etsch, der Herr Ebenseder.«

»Oh, der Herr Oberrevident!« rief der Vater. »Beehrt uns auch wieder einmal. Nur herein, nur herein, Herr Oberrevident!«

Oskar stand auf, knöpfte sich den Rock zu und sagte, zu Georg gewendet, es täte ihm wirklich leid, er würde gern noch eine Weile bleiben, aber leider, höchste Zeit, er habe eine Verabredung mit einigen Freunden.

»Ein Kollege aus dem Amt«, sagte der Vater. »Der einzige, der wirklich zu mir hält, die anderen sind alle mehr oder weniger Streberseelen und Intriganten. Ein hochintelligenter Mensch, du wirst dich gut mit ihm verstehen, ein leidenschaftlicher Sammler übrigens, er kauft alles, was irgendwie mit dem Theater zusammenhängt, hat auch das Geld dazu, vierfacher Hausherr. Porträts von Schauspielern sammelt er, Regiebücher, Szenenbilder, alte Theaterzettel, Ansichten vom Ringtheater und vom Kärntnertortheater, sogar Garderobenzettel, überhaupt — Habe die Ehre, Herr Oberrevident. Gestatten, daß ich vorstelle: Mein Sohn Georg, der lang’ Erwartete, eben aus Sibirien zurückgekehrt — Herr Oberrevident Ebenseder.«

»Freut mich, ein Mitglied dieses werten Familienkreises kennenzulernen. Hab’ schon viel von Ihnen gehört. Also heute angekommen! Freut mich. Freut mich aufrichtig«, sagte der Herr Ebenseder, ein kleiner, untersetzter, rundlicher Herr mit einem Kaiserbart, einer großen Glatze und fettgepolsterten Händen.

Er näherte sich Lola und küßte ihr feierlich und mit Andacht die Hand.

»Meine Verehrung, Fräulein Lola, Ihr Ergebenster. Wieder mal fleißig, wie ich seh’. Wie geschickt die Fingerln sind, immer in Bewegung, ein Vergnügen, Ihnen zuzuschauen.«

Der Vater brachte eine Flasche Wein und wartete dem Gast mit einem Glas Gumpoldskirchner auf. Herr Ebenseder ließ sich, wie es die gute Sitte verlangte, ein wenig nötigen.

»Aber wozu die Umständ’ meinethalben, Herr Kollege, ist doch wirklich nicht nötig, bei die teuern Zeiten. Ein Schalerl Tee, da sag’ ich nichts, den Zucker bringt sich ein jeder selbst mit. Aber ein echter Gumpoldskirchner! Na, also, wenn’s durchaus sein muß. — Auf Ihr Spezielles, Herr Kollega. Siebzehner, was? Das spür’ ich gleich, das ist ein Jahrgang! Eine Passion.«

Er gab einen schnalzenden Laut von sich. Lola zuckte nervös zusammen. Herr Ebenseder holte ein schwarzes Lüsterkäppchen aus der Tasche und stülpte es über seine Glatze, denn man war ja leider nirgends vor Zugluft sicher. Dann rückte er näher an Lola heran.

Vally gab Georg ein Zeichen mit den Augen, daß sie nun zur Attacke übergehen werde. Mit unschuldiger Miene machte sie sich an Herrn Ebenseder heran:

»Ist das wirklich wahr, Herr von Ebenseder«, fragte sie, »daß Sie noch einer von denjenigen sind, die den Nestroy persönlich gekannt haben?«

»Aber Tschapperl!« rief Herr Ebenseder mit einem breiten und behaglichen Lachen. »Was du heut’ wieder zusammenredst! Den Nestroy, wie soll ich denn den Nestroy gekannt haben, der ist doch schon in die sechziger Jahr gestorben. Aber den Matras hab’ ich noch gesehen, als Bub im Carltheater, und den Knaack und die Katharina Herzog, die noch in der Uraufführung vom ›Verschwender‹ mitgewirkt hat, seinerzeit.«

»Seit wann sind wir denn per du miteinander, Herr von Ebenseder? Das Neueste! Ich kann mich nicht erinnern, daß wir miteinander Brüderschaft getrunken haben.«

»Na, was nicht ist, kann ja noch werden«, meinte Herr Ebenseder beziehungsvoll.

»Oha! Da gehören aber zwei dazu«, rief Vally. »Morgen um zwölf bis zu Mittag dürfen Sie ›du‹ zu mir sagen.«

Der Vater warf Vally einen bösen Blick zu und suchte abzulenken. Er habe dieser Tage im Schaufenster der Feldmayerschen Buchhandlung ein Aquarell gesehen, berichtete er, die Wolter, als Zigeunerin kostümiert, im Gespräch mit einem älteren Herrn, der sie durch sein Lorgnon fixiere. Er habe sich gedacht, das sei etwas für die Sammlung des Herrn Oberrevidenten.

Sogleich erwachte Herrn Ebenseders Interesse.

»Der Herr mit dem Lorgnon, das ist zweifelsohne der Laube, der Burgtheaterdirektor«, erklärte er. »Natürlich interessiert mich das Bild, sogar sehr. Feldmayersche Buchhandlung, gleich morgen schau ich hin. Die Wolter als Zigeunerin. Was kann das für ein Stück gewesen sein?«

Er zählte an den Fingern die Rollen auf, in denen er die große Tragödin des Burgtheaters bewundert hatte. Als Phädra hatte er sie gesehen, als Maria Stuart, als Lady Milford, als Sappho, als Medea, als Iphigenie, dann in einem modernen Drama, dessen Namen er vergessen hatte, und zum letztenmal, ein Jahr vor ihrem Tode, als Adelheid, im »Götz von Berlichingen«.