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Der Titel des Buches Wohlstand für Alle ist zu einem verbreiteten Slogan geworden. Von Sahra Wagenknecht bis Friedrich Merz berufen sich noch heute viele unterschiedliche Politiker auf Ludwig Erhards Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. In der Tat sind seine beiden Kernideen bis heute aktuell und gültig: Die freie Wirtschaft muss vor staatlichen Eingriffen sowie vor Kartellen und Monopolen geschützt werden, und die überkommene Situation einer dünnen Oberschicht, die einer breiten Unterschicht gegenübersteht, muss durch Wettbewerb überwunden werden. Ludwig Erhard ging es vor allem um den Zweiklang und das Wechselspiel von Freiheit und Verantwortung des Einzelnen: Freiheit gilt es zu schützen, Verantwortung gilt es zu übernehmen. Für jeden wirtschaftlich und politisch Interessierten, der die Formulierungen "Wohlstand für Alle", "soziale Marktwirtschaft" und "Soziale Gerechtigkeit" benutzen möchte, ist die vorherige Lektüre der ursprünglichen Quelle eingehend zu empfehlen.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Das Buch
Der Titel des Buches „Wohlstand für Alle“ ist zu einem verbreiteten Slogan geworden. Von Sahra Wagenknecht bis Friedrich Merz berufen sich noch heute Politiker jeglicher Couleur auf Ludwig Erhards Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Allen, die an der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft interessiert sind und die über „Wohlstand für Alle“, „Soziale Marktwirtschaft“ und „soziale Gerechtigkeit“ fundiert diskutieren möchten, sei die Lektüre dieses grundlegenden Buches dringend empfohlen.
Mit einem Vorwort von Lars P. Feld, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Der Autor
Ludwig Erhard (1897 bis 1977) war von 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister, von 1957 bis 1963 Vizekanzler und von 1963 bis 1966 der zweite Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er gilt als Vater des deutschen „Wirtschaftswunders“ und Begründer der als Soziale Marktwirtschaft bezeichneten Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik.
LUDWIG ERHARD
WOHLSTAND FÜR ALLE
BEARBEITET VON WOLFRAM LANGER
ECON
Entwurf des Titelblattes: Werner Rebhuhn
Die Originalausgabe erschien im Februar 1957 im Econ-Verlag. Textgrundlage dieser Ausgabe ist die 8. Auflage von 1964, die letzte von Ludwig Erhard autorisierte Fassung.
Ludwig-Erhard-Stiftung e. V.Johanniterstraße 853113 BonnTelefon: 02 28 / 5 39 88 – 0Telefax: 02 28 / 5 39 88 – [email protected]
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ISBN 978-3-8437-2443-2
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Gesetzt aus der New Century SchoolbookE-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
INHALTSVERZEICHNIS
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
ANMERKUNG DES AUTORS
WOHLSTAND FÜR ALLE – WAS DIESES VERSPRECHEN HEUTE BEDEUTET
Ein Vorwort
Einleitung
Die Wirtschaftsentwicklung
Arbeitslosigkeit und Beschäftigung
Verteilung der Einkommen
Solide öffentliche Finanzen
Fazit
VORWORT ZUR 8. AUFLAGE
1. Kapitel
Konjunkturzyklus überwunden
Wettbewerb contra Egoismus
Der Schlüssel zur Steuersenkung
Die wirtschaftlichen Grundrechte
Kostspielige Pyrrhussiege
2. Kapitel
Preisgestoppte Inflation lähmt die Wirtschaft
Die große Chance
Generalstreik gegen die Marktwirtschaft
Der Kampf um die guten Nerven
Falsche Weichenstellung für die Steuerpolitik
Die Preise sinken
Der „Schwarze Peter“ geht um
Preisspiegel und Jedermann-Programm
Die zweite Phase
Inthronisierung des Kunden
Das Erbe der trügerischen Vollbeschäftigung
Kreditausweitung als Allheilmittel?
Medizin gegen Rezession
Es hätte des Korea-Konflikts nicht bedurft …
3. Kapitel
In Bonn ging es hoch her
Produktionssteigerung führt zu Engpässen
Die Handelsbilanz wieder passiv
Rüstung auch ohne Inflation?
Beruhigung – aber keine Krise
Rückkehr zur Liberalisierung
Der ideale Dreiklang
Steigerung der Masseneinkommen
Der Irrtum des Planwirtschaftlers
Der „Durchbruch nach vorne“
Pessimisten am Werk
4. Kapitel
Kopfjäger am Werk
Erhöhung der Löhne und Gehälter
Schnelle Reaktion des Sparers
Preisstabilität oberstes Gebot
Unpopuläre Wahrheiten
Kein Zweifel über die Preisverantwortung
5. Kapitel
Völlig verschiedene Auffassungen
Der Sprung ins kalte Wasser
Dem Kommunismus in die Arme?
Der sinnlose Generalstreik
Arbeitslosigkeit macht Sorgen
Vom Pfad der Tugend abweichen?
Patentrezepte helfen nicht
Dilettantismus und Tatsachen
Der neue versöhnliche Ton
6. Kapitel
Unternehmer müssen verantwortungsbewußt sein
Die Freiheit oberstes Ziel
Arbeitsteilung zwischen Staat und Wirtschaft
Umfangreiches Sündenregister
Gefährliche Sonderinteressen
Das Märchen von den guten Ordnungen
Vom Bürger zum Untertan
Auseinandersetzung mit dem Handel
Die Hamburger Erklärung
Gewerbliche Erbhöfe unzeitgemäß
Deutsches Wunder?
7. Kapitel
Frühzeitige Ablehnung
Keine amerikanischen Befehle
Verbotsgrundsatz erneut bestätigt
Konsumentenschutzgesetz
Alle müssen am Erfolg teilhaben
Das Geheimnis der Marktwirtschaft
Die Grundformen wirtschaftlicher Macht
Ausnahmen möglich und notwendig
Grundsatzstreit geht am Kern vorbei
Unersetzliches Barometer
Kartelle zur Überwindung von Krisen
Das Märchen vom Mittelstandsschutz
Kein neuer Dirigismus
Ein Wort an die Unternehmer
8. Kapitel
Um die Zukunft der Demokratie
Nicht jeder Ärger ist begründet
Von Brasilien, Büttenpapier und Goldmünzen
9. Kapitel
Gesetz des Handelns beim Unternehmer
An die Zukunft denken
Autonomie und Verantwortung
Der Kuchen muß größer werden
10. Kapitel
Der Wille zum Verbrauch
Keine deutsche Austerity-Politik
Gegen falsche Unduldsamkeit
Geist läßt sich nicht befehlen
Die besondere deutsche Situation
Die letzten Ziele
11. Kapitel
Beständige Hochkonjunktur
Nachtwächterstaat gehört der Vergangenheit an
Preisbewußtsein contra Inflationsgefahr
12. Kapitel
Die Hand in der Tasche des Nachbarn
Illusion des Sicherheitsbedürfnisses
Am Ende steht der soziale „Untertan“
Grenzen der Sozialversicherung
Absage an anachronistische Lösungen
Gute Sozialpolitik erfordert Währungsstabilität
13. Kapitel
Handelspolitik im neuen Stil
Den Fluch der Vergangenheit überwinden
Interesse des Auslandes
Von London bis New York …
Das Vertrauen zur Marktwirtschaft
Eckstein der europäischen Wirtschaft
Doctor Caligaris Wunderkabinett
14. Kapitel
Das Ziel: umfassende Integration
Sizilien liegt nicht an der Ruhr
Gegen ein bürokratisch manipuliertes Europa
Ordnung auf leisen Sohlen
Die Erfolge der EZU
„Stability begins at home“
Vom Unsinn des Bilateralismus
Europa – Insel der Desintegration?
Die Freiheit ist unteilbar
Liberalisierung die beste Arznei
Wer ist ein guter Europäer?
15. Kapitel
Die Weichenstellung zum Erfolg
Liberalisierung nach allen Seiten
Einheitliche Spielregeln
Die beste Exportförderung
Die letzten Prozente entscheiden
Das Symbol des Bösen
Nicht um Lösungen herumdrücken!
Überragende Bedeutung des Außenhandels
16. Kapitel
REGIERUNGSERKLÄRUNG VOM 18. OKTOBER 1963
DIE NACHWIRKUNGSMACHT VON WOHLSTAND FÜR ALLE
Ludwig Erhard – Biographische Eckdaten
Schriften Ludwig Erhards
Erläuterungen zu den Karikaturen
ANHANG
QUELLENHINWEISE
Literatur zum Vorwort von Lars P. Feld
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
„Das Jahr 1957 wird für das deutsche Schicksal großes Gewicht haben. Dieses Buch, dem ich den Titel ‚Wohlstand für Alle‘ gab, soll Rechenschaft ablegen über unsere Arbeit in den letzten Jahren und Wege weisen für eine glückliche Zukunft.In diesem Sinne hoffe ich, daß es ein gutes Rüstzeug ist in den Auseinandersetzungen unserer Zeit.“
WOHLSTAND FÜR ALLE – WAS DIESES VERSPRECHEN HEUTE BEDEUTET
Ein Vorwortvon Lars P. Feld, Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Einleitung
Der Titel dieses Buches ist heute noch Provokation, zumindest lädt er zu Missverständnissen ein. Provokation ist er für diejenigen, die mit Ludwig Erhard die Realpolitik seit der Währungsreform des Jahres 1948 verbinden, ihn als Protagonisten christdemokratischer, quasi regierungsamtlicher Wirtschaftspolitik sehen und dem programmatischen Wohlstand für Alle die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verbesserungspotenziale der heutigen Zeit entgegenhalten – frei nach der Devise, der Wohlstand für alle sei eine Schimäre. Missverstehen würde man Erhard, wenn man ihn als Vertreter einer Sozialpolitik wahrnähme, der stärker umverteilen wolle, sodass die wirtschaftlich Schwächeren einen größeren Wohlstand erreichen können. Missverstehen würde man ihn außerdem, wenn man ihn als plumpen Ökonomisten einordnete, als jemanden, für den Wirtschaftswachstum das wichtigste aller Ziele sei.
Als Wohlstand für Alle im Jahr 1957 erschien, war die Erhard’sche Wirtschaftspolitik keine Provokation mehr. Erhard wurde vielmehr als Vater des deutschen Wirtschaftswunders und Begründer des deutschen Wirtschaftsmodells, der Sozialen Marktwirtschaft, gefeiert. Er hatte als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes noch vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1948 die Währungsreform mit der Einführung der D-Mark umgesetzt. Angesichts der Rolle, welche die amerikanische Besatzungsmacht bei der Einführung der neuen Währung spielte, rückt die eigentliche Leistung Erhards in den Mittelpunkt, nämlich die Verabschiedung des „Gesetzes über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“, des sogenannten Leitsätzegesetzes, mit dem die öffentliche Warenbewirtschaftung weitgehend beseitigt wurde. Dadurch konnten sich Marktpreise für eine Vielzahl von Produkten frei bilden. Von heute auf morgen konnten die Deutschen, die sich zuvor einer Mangelwirtschaft gegenübersahen, volle Schaufenster mit Waren bewundern. Die Preisfreigabe ohne Währungsreform hätte vermutlich nur Inflation zur Folge gehabt. Die Währungsreform ohne marktwirtschaftliche Preisbildung hätte die Mangelwirtschaft nicht beendet. Das Zusammentreffen beider Maßnahmen war entscheidend (Giersch et al. 1992).
Dabei setzte Erhard diese Reform gegen Widerstände aus den Reihen seiner Berater, nicht zuletzt aber gegen die amerikanische Besatzungsmacht durch. Regelmäßig wird eine Anekdote kolportiert, die Erhard dem Vernehmen nach selbst zum Besten gab (Sigler 2016). Als er sich wegen der weitgehenden Aufhebung der Warenbewirtschaftung gegen den Vorwurf des amerikanischen Militärgouverneurs Lucius D. Clay rechtfertigen musste, die Besatzungsvorschriften eigenmächtig abgeändert zu haben, soll Erhard geantwortet haben: „Herr General, ich habe die Vorschriften nicht abgeändert, ich habe sie abgeschafft.“ Allerdings warnten Erhard nicht alle seine Berater vor der Preisfreigabe durch das Leitsätzegesetz. Dessen Referentenentwurf stammte von Leonhard Miksch, einem Schüler Walter Euckens (Berndt und Goldschmidt 2000, Feld und Köhler 2015). Liest man Mikschs Tagebuch (Goldschmidt 2015), so werden die Auseinandersetzungen in der Verwaltung für Wirtschaft plastisch, und es wird deutlich, wie Erhard sich im Rückgriff auf die marktwirtschaftlichen Überzeugungen der Freiburger Schule durchsetzen konnte. Zudem waren die Reformen anfangs kein Selbstläufer. Erhard sah sich einem Generalstreik gegenüber, den er überstand, ohne in der Hauptsache zurückweichen zu müssen. Bis ins Jahr 1957 war diese Episode verblasst.
Der entscheidende Beitrag der Erhard’schen Reform und zugleich wesentlicher Teil seiner weiteren Wirtschaftspolitik war der damit eingeleitete Übergang zu einer Wettbewerbswirtschaft. Erhard erschien dieser Übergang, ganz im Sinne der Freiburger Schule, als das Soziale an der Marktwirtschaft, als grundlegendes Element des sozialen Ausgleichs. Weil die Wettbewerbswirtschaft private Machtkonzentration zu verhindern vermag, schafft sie die Voraussetzungen für eine bessere Chancenverteilung in der Gesellschaft (Feld 2020). Anlässlich des 70. Geburtstags Friedrich A. von Hayeks soll Erhard in diesem Sinne gesagt haben, Hayek solle ihn nicht missverstehen. Als Wettbewerbswirtschaft brauche die Soziale Marktwirtschaft den Zusatz „sozial“ nicht, schließlich sei sie bereits an sich sozial. Erhards Einsatz für ein neues Wettbewerbsrecht, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), das erst im Jahr 1957 – wiederum gegen massive Widerstände, dieses Mal der deutschen Industrie – verabschiedet wurde, darf daher nicht geringgeschätzt werden.
In der wirtschaftshistorischen Literatur wird darüber diskutiert, wie sehr die Erhard’sche Wirtschaftspolitik als Zäsur, als Bruch mit der Zeit des Nationalsozialismus verstanden werden kann (Ritschl 2005, Spoerer 2019). Es gab vielfältige Kontinuitäten in der Wirtschaftspolitik zu den Jahren zuvor, aber der Übergang zur Wettbewerbswirtschaft stellte einen eigentlichen Paradigmenwechsel dar (Spoerer 2019). Diese Diskussion ist nicht zu Ende – genauso wenig wie die Debatte um die Person Erhard (Herrmann 2019, Issing und Koerfer 2019). Mein Beitrag in diesem Vorwort dreht sich nicht um diese historischen oder gar um dogmengeschichtliche Fragen anhand einer Exegese des ursprünglichen Textes. Letzteres mögen die geneigten Leser dieser neuen Ausgabe selbst unternehmen. Mir geht es um eine Einordnung der Erhard’schen Anliegen in diesem Buch, indem Schlaglichter auf ausgesuchte Entwicklungen gerichtet werden und aus der heutigen Sicht deutlich wird, wie sich Ludwig Erhards wirtschaftspolitische Vorstellungen verstehen lassen. Diese Interpretation beansprucht keine Exklusivität, gleichwohl stellt sie aus meiner Sicht eine plausible Interpretation dar.
Die Wirtschaftsentwicklung
Ludwig Erhard war Marktwirtschaftler und Ordnungspolitiker. Aber er war genauso ein Kind seiner Zeit, das die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit und den Zweiten Weltkrieg mit seinen desaströsen Auswirkungen miterlebt hatte. Es kann daher nicht verwundern, dass Preisniveaustabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und ein hoher Beschäftigungsstand für Erhard als Voraussetzung für stetiges Wirtschaftswachstum wichtig waren. Diese vier Größen – bezüglich des Wirtschaftswachstums erweitert um das Attribut „angemessen“ – wurden ab dem Jahr 1967 als sogenanntes magisches Viereck dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als Prüfauftrag ins Gesetz geschrieben. In seinem Wohlstand für Alle greift Erhard in unterschiedlichen Kontexten auf Statistiken zurück, welche die wirtschaftliche Entwicklung in makroökonomischen Dimensionen seit der Währungsreform illustrieren. Man hat gelegentlich den Eindruck, dass es ihm in diesem Buch somit auch um eine Rechtfertigung seiner Entscheidungen geht.
Abbildung 1 stellt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Zeitraum von 1870 bis 2016 dar. Die wesentlichen historischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts sind dabei genauso markiert wie zwei Rezessionen zu Beginn und zum Ende der Zeitperiode, nämlich der Gründerkrach und die Finanzkrise (oder Große Rezession). Die massiven Auswirkungen der beiden Weltkriege, der Hyperinflation und der Weltwirtschaftskrise auf das BIP sind nicht zu übersehen. Sie überschatten alle anderen Ereignisse; selbst die bis zum Jahr 2020 als schwerste Krise der Nachkriegszeit angesehene Große Rezession erscheint nur als kleine Unterbrechung eines stetigen Anstiegs der Wirtschaftskraft.
Versteht man das programmatische Wohlstand für Alle als Steigerung des gesamtwirtschaftlichen Einkommens, so zeigt sich die Wettbewerbswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland als durchaus erfolgreich. Trotz aller Schwankungen weist der Trend ungebrochen nach oben. Die Erhard’schen Weichenstellungen für die Wettbewerbswirtschaft scheinen richtig getroffen. Voraussetzung für diese Entwicklung ist der Erhalt des Friedens; dazu gehören aber außerdem die richtigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die dafür gesorgt haben, dass weder Hyperinflation noch Massenarbeitslosigkeit wie zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise aufgetreten sind. Dafür hat Erhard keine Meriten erworben, sind es doch die nach ihm kommenden Wirtschaftspolitiker, die ihren Teil dazu beigetragen haben.
Abbildung 1: Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts von 1870 bis 2016
Erhard irrt jedoch in seiner gleich zu Beginn des Buches geäußerten Hoffnung, der Konjunkturzyklus möge überwunden werden. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung des BIP mit den vom Sachverständigenrat vorgenommenen Datierungen der Rezessionsphasen. Dies ist bis zum aktuellen Rand gezogen, schließt also die Corona-Krise mit ein, ohne dass diese schon offiziell als Rezession datiert wäre, obwohl sie natürlich eine Rezessionsphase darstellt. Man erkennt die mehr oder weniger starken Schwankungen im Zeitablauf, zugleich aber die unregelmäßige Wiederkehr von wirtschaftlichen Schwächephasen. Die Ursachen für diese Schwankungen sind vielfältig, ob es sich um die beiden Ölpreisschocks der 1970er- und 1980er-Jahre, die Wiedervereinigung, die Finanzkrise oder die Corona-Krise handelt.
Die Wirtschaftspolitik ist unterschiedlich erfolgreich mit diesen Krisen umgegangen. In Abkehr von Erhard’schen Vorstellungen setzte Karl Schiller in Reaktion auf die Rezession von 1966/67 auf keynesianische Rezepte, insbesondere mit expansiver Fiskalpolitik. Diese keynesianische Rezeptur erwies sich in den 1970er- und 1980er-Jahren als Antwort auf die beiden Ölpreisschocks als falscher Ansatz. Beides waren Produktivitätsschocks, die sich zwar auf das gesamtwirtschaftliche Angebot und auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirkten, sich aber nicht durch reine Nachfragepolitik bekämpfen ließen. Vielmehr verschärfte eine falsche Lohnpolitik die damaligen Probleme noch. Hingegen war die Nachfragestimulierung nach der Finanzkrise zielgerichteter. Die Corona-Krise ist erneut ein schwerer Produktivitätsschock (SVR 2020). Jenseits der unmittelbaren Liquiditätshilfen sowie der weiteren expansiven Geld- und Fiskalpolitik am aktuellen Rand wird die richtige Antwort darauf in produktivitätssteigernden Maßnahmen liegen müssen.
Abbildung 2: Rezessionsphasen von 1950 bis 2021
Arbeitslosigkeit und Beschäftigung
Die unzureichende Antwort der Wirtschaftspolitik auf die Krisen der 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre spiegelt sich vor allem in der Entwicklung am Arbeitsmarkt (Abbildung 3) wider. Während die Erhard’schen Jahre der Wirtschaftspolitik durch einen Rückgang der Arbeitslosenquote und einen Anstieg der Beschäftigung gekennzeichnet waren, Schiller mit seiner keynesianischen Wirtschaftspolitik der aus Sicht der darauffolgenden Jahre geringen Arbeitslosigkeit noch mit Erfolg begegnete, stieg die Arbeitslosenquote danach im Zeitablauf an. Es entstand das Phänomen der Sockelarbeitslosigkeit: Im Boom kehrte die Arbeitslosenquote nicht wieder auf das niedrigere Niveau vor der Rezession zurück.
Abbildung 3: Arbeitslosigkeit und Erwerbstätige von 1950 bis 2019
Erst durch die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und die Reformen der Regierung Gerhard Schröder, insbesondere ihre Arbeitsmarktreformen, gelang es, den steigenden Trend der Arbeitslosigkeit zu durchbrechen. Damit wurde ein hoher Beschäftigungsstand bei mäßiger Arbeitslosigkeit, in manchen Regionen Deutschlands sogar Vollbeschäftigung, bis zum Jahr 2019 erreicht. Dies kann man als Rückgriff auf Erhard’sche Vorstellungen begreifen. Es waren aber vor allem die schon von Otto Graf Lambsdorff geforderten Arbeitsmarktreformen, zu denen sich die Regierung Helmut Kohl nicht durchringen konnte, die erst von Schröder umgesetzt wurden (Feld 2013).
Diese Entwicklung wirft ein anderes Schlaglicht auf den Wohlstand für alle. Bei Arbeitslosigkeit sorgt selbst die Einkommenssicherung über den Sozialstaat nicht dafür, dass die Bürger ein Wohlstandsgefühl haben. Einerseits sorgt Arbeitslosigkeit bei den Betroffenen jenseits des Einkommensverlustes für einen kräftigen Rückgang der Lebenszufriedenheit, sie fühlen sich abgehängt und gesellschaftlich ausgeschlossen, jedenfalls nicht wohl. Andererseits sorgt hohe Arbeitslosigkeit selbst bei den nicht unmittelbar Betroffenen für eine Wohlfahrtseinschränkung. Die Sorge vor Arbeitslosigkeit ist dann weiter verbreitet, selbst in Milieus, die keine hohe Wahrscheinlichkeit haben, arbeitslos zu werden. Nun war die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit der Gründung der Bundesrepublik zwar weit entfernt von den Niveaus der Weltwirtschaftskrise. Aber gleichwohl blieb sie ein Makel der Wirtschaftspolitik seit den 1970er-Jahren.
Verteilung der Einkommen
Die Lage am Arbeitsmarkt ist verbunden mit sozialpolitischen Fragen. Erhards Wohlstand für Alle legt schon im Titel das Missverständnis an, dass es ihm um eine Teilhabe an der Wohlstandsentwicklung ginge, selbst wenn diese Teilhabe durch staatliche Umverteilung der Einkommen erreicht werden müsste. Wie bereits betont, stehen Verteilungsfragen nicht im Mittelpunkt der Erhard’schen Wirtschaftspolitik. Dies wird beispielsweise im Abschnitt ‚Die Hamburger Erklärung‘ des 6. Kapitels des Wohlstands für Alle deutlich, aber ebenso an vielen anderen Stellen.
Die Frage, inwiefern eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts in der Einkommensverteilung durchsickert, sodass alle Einkommensschichten etwas davon haben, ist komplex und kann hier nur angedeutet werden. Die Entwicklung in Deutschland ist vor allem von der Arbeitsmarktentwicklung geprägt. Dies illustriert Abbildung 4, in der Gini-Koeffizienten der Einkommensverteilung zusammen mit der Arbeitslosenquote abgebildet sind. Der Gini-Koeffizient misst die Einkommensungleichheit durch ein zwischen 0 und 1 variierendes Maß, bei dem eine 0 perfekte Gleichverteilung und eine 1 perfekte Ungleichverteilung anzeigt. Je höher der Koeffizient, desto ungleicher ist also die Einkommensverteilung.
Abbildung 4: Gini-Koeffizienten für Markt- und Haushaltsnettoeinkommen sowie Arbeitslosenquote im Zeitverlauf, Quelle: Feld et al. (2020)
Die Einkommensverteilung in Deutschland wird erst seit den 1980er-Jahren konsistent mithilfe des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) gemessen. In Abbildung 4 werden die Verteilung der Markteinkommen, also vor Einsatz des Steuer-Transfer-Systems des Staates, und der Haushaltsnettoeinkommen, also nach Umverteilung durch den Staat, abgebildet. Die Differenz zwischen beiden Indikatoren zeigt das Ausmaß der effektiven Umverteilung an. Diese Differenz ist nennenswert, wie unschwer zu erkennen ist. Im Zeitablauf lässt sich seit der Wiedervereinigung ein Anstieg der Einkommensungleichheit bis etwa ins Jahr 2005 feststellen. Dieser Anstieg setzt den seit den 1980er-Jahren in Westdeutschland bestehenden Trend fort. Seit dem Jahr 2005, also seit den Reformen der Regierung Schröder, lässt sich kein signifikanter Anstieg mehr beobachten, obwohl soziologische Faktoren, wie etwa die Zunahme der Ein-Personen-Haushalte, die für sich genommen die Einkommensungleichheit erhöhen, danach weiterhin ungleichheitsverstärkend gewirkt haben. Der weitere Anstieg der Gini-Koeffizienten im Aggregat wurde vor allem durch den Rückgang der Arbeitslosigkeit verhindert. Sozial ist, was Arbeit schafft.
Solide öffentliche Finanzen
Interessanterweise ergibt sich diese Entwicklung der Einkommensverteilung ohne besondere Veränderungen der finanzpolitischen Kennziffern. Abbildung 5 stellt die Entwicklung der Einnahme- und der Steuerquote sowie die Staatsquote von 1950 bis 2019 dar. Die kräftige Reduktion der Steuerquote zu Beginn des Beobachtungszeitraums ist einer Änderung in den statistischen Abgrenzungen geschuldet, nachdem die Einnahmequote exakter gemessen und differenziert wurde. Die Einnahme- und die Staatsquote steigen bis in die zweite Hälfte der 1970er-Jahre an. Die Einnahmequote zeigt in der Zeit danach bis heute aber im Wesentlichen eine Seitwärtsbewegung. Die Staatseinnahmen in Prozent des BIP verändern sich somit wenig. Die Staatsquote, also die Staatsausgaben (inkl. der Transfers) in Prozent des BIP, geht bis zum Vorabend der Wiedervereinigung zurück, steigt bedingt durch diese wieder an, sogar schlagartig mit Überführung der mit der Wiedervereinigung eingerichteten Fonds in den Staatshaushalt Mitte der 1990er-Jahre, und geht danach wieder trendmäßig bis zum aktuellen Rand zurück.
Die Steuerquote, also die Steuereinnahmen in Prozent des BIP, verändert sich im Zeitablauf aber nur wenig. Seit dem Jahr 1960 sinkt sie trendmäßig bis Mitte der 2000er-Jahre. Seit dem Jahr 2010 steigt sie wieder an. Beide Trends sind jedoch moderat. Diese Entwicklung kaschiert die vielfältigen steuerpolitischen Veränderungen, etwa bei den Steuersätzen, in der Steuerstruktur von direkten zu den indirekten Steuern usw. Allerdings kann die Steuerquote als effektive Steuerbelastung der Steuerzahler ex post interpretiert werden, und so gesehen ist sie erstaunlich stabil. Außerdem geht diese Entwicklung mit nur geringen Veränderungen in der effektiven Umverteilung, gemessen in der Differenz der Verteilung der Markteinkommen und der Haushaltsnettoeinkommen in Abbildung 4, einher. Dies vermittelt den Eindruck, dass das Steuer-Transfer-System in Deutschland im Zeitablauf zielgenauer ausgestaltet worden ist.
Abbildung 5: Einnahme-, Steuer- und Staatsquoten von 1950 bis 2019
Die Differenz zwischen Einnahme- und Staatsquote in Abbildung 5 lässt die Finanzierungssalden der öffentlichen Haushalte aufscheinen. Liegt die Staatsquote über der Einnahmequote, so resultiert für den öffentlichen Gesamthaushalt ein Defizit in Prozent des BIP. Abbildung 6 verdeutlicht diese Entwicklung der Staatsverschuldung in Prozent des BIP von 1950 bis 2019 und zeigt einen trendmäßigen Anstieg der Staatsschuldenquote ab den 1970er-Jahren bis ins Jahr 2010. Erst nach Verabschiedung der Schuldenbremse konnte dieser Trend durchbrochen werden. Zu Zeiten Ludwig Erhards herrschte eine solide Finanzpolitik vor. Es hat relativ lange gedauert, bis Deutschland wieder zu dieser soliden Finanzpolitik zurückgekehrt ist.
Abbildung 6: Schuldenstandsquoten (in % des BIP) Deutschlands, 1950 – 2019
Fazit
Wohlstand für Alle – das mag manche provozieren, manche zu Missverständnissen anregen. Wohl verstanden, nämlich im Sinne der in diesem Band von Erhard dargelegten Interpretation, bietet dieses Konzept wichtige Anhaltspunkte für die Wirtschaftspolitik. Der Wohlstand muss zunächst erarbeitet werden, bevor man über seine Verteilung nachdenken kann. Die Wirtschaftspolitik muss daher auf Produktivitätssteigerungen als Voraussetzung für das Wirtschaftswachstum und auf eine geringe Arbeitslosigkeit – allerdings bei Preisniveaustabilität – abzielen. Die Finanzpolitik sollte einerseits durch eine moderate Staatsverschuldung Voraussetzungen schaffen, um in Krisenzeiten expansiv sein zu können. Die Steuer- und Sozialpolitik muss andererseits die von ihr gesetzten Anreize im Blick haben, sodass Verteilungsziele möglichst effektiv erreicht werden, ohne die damit verbundenen Fehlanreize dominant werden zu lassen. Die hier gezeigten Illustrationen können dazu anregen, in verschiedener Hinsicht über die Erhard’schen Ansätze hinauszugehen. Sie lassen aber ebenso erkennen, dass die Erhard’schen Vorstellungen einer Wettbewerbswirtschaft nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben.
VORWORT ZUR 8. AUFLAGE
Gewiß mag es als ein Wagnis empfunden werden, ein 1957 erschienenes aktuelles wirtschaftspolitisches Buch im Jahre 1964 neu aufzulegen. Vor die Frage gestellt, ob dies zweckmäßig sei, erinnern sich Autor und Verlag der Worte, die im August 1960 anläßlich der damaligen Neuauflage vorangestellt wurden: „Der aufmerksame Leser wird erkennen, wie sehr trotz der Geschäftigkeit und Hast des modernen Lebens, trotz der großen Verschiebungen in den ökonomischen Quantitäten die wirtschaftspolitische Problematik über Jahre hinweg die gleiche bleibt, auch wenn hier und da die handelnden Personen gewechselt, die Institutionen sich gewandelt haben mögen. Das Ringen um die wirtschaftspolitisch richtige Erkenntnis gehört über Jahre und Jahrzehnte hinaus zum festen Bestand einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Insofern kommt diesem Buch heute, wie an dem Tag des ersten Erscheinens, die gleiche Bedeutung zu.“ Dies allein rechtfertigt ein weiteres Mal das kühne Unterfangen der Neuauflage, das durch den Verkauf der letzten noch vorhandenen Exemplare notwendig geworden ist.
Am 4. 2. 1957 wurde die erste Ausgabe von Wohlstand für Alle der Öffentlichkeit übergeben. Inzwischen sind sieben Auflagen der deutschen Ausgabe verkauft. Das Interesse war dabei nicht nur im deutschen Sprachraum außerordentlich groß; auch im Ausland bestand allgemein der Wunsch, die Gedankengänge des Schöpfers der „Sozialen Marktwirtschaft“ kennenzulernen. Davon zeugen 14 fremdsprachige Ausgaben sowie eine noch größere Zahl von Übersetzungen umfangreicher Auszüge.
Eine genaue Durchsicht des Textes zeigte, daß an der Grundkonzeption und Gedankenführung nichts geändert zu werden brauchte. Manche der wirtschaftspolitischen Anregungen und Forderungen, die 1957 verfochten werden mußten, sind inzwischen befriedigt und erfüllt. Andere Probleme harren noch der Lösung, ohne daß auf diese Fragen abschließende Antworten erteilt werden konnten. Im einzelnen kommt einer vor sieben Jahren berechtigen Feststellung jetzt primär historische Bedeutung zu, während andererseits neue Aufgaben zur geistigen Durchdringung heranreifen. Für die Neuauflage wurden die in der früheren Ausgabe verwendeten Zahlen auf den neuesten Stand fortgeführt, soweit dies sinnvoll erschien. Um neben dieser Aktualisierung des Datenwerks einen Einblick in die neuesten Überlegungen des Verfassers zu geben, wurde das Schlußkapitel neu geformt. Es enthält dabei auch als bedeutsames politisches Dokument seine Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963. Damit hat der Verfasser nunmehr als Bundeskanzler seine Vorstellungen von den Aufgaben der Gegenwart und der nahen Zukunft präzisiert, wobei hier nicht nur – nicht einmal vornehmlich – der Wirtschaftspolitiker spricht. Die Regierungserklärung ist gerade wegen der Einbettung der sozialen Marktwirtschaft in eine umfassende Betrachtungsweise bemerkenswert. Sie verdient deshalb, gerade in diesem Buch niedergelegt zu werden – lautet doch einer ihrer Kernsätze: „Als Bundeskanzler verbürge ich mich, die Politik der sozialen Marktwirtschaft konsequent fortzusetzen.“
Im Februar 1964
2. Kapitel
DIE GEBURT DER MARKTWIRTSCHAFT
Was stand am Anfang, als ich am 2. März 1948 im Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes in Frankfurt zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft gewählt wurde? Diese Epoche vor der Währungsreform habe ich später einmal – am 31. Mai 1954 in Antwerpen – charakterisiert:
„Das war die Zeit, in der die meisten Menschen es nicht glauben wollten, daß dieses Experiment der Währungs- und Wirtschaftsreform gelingen könnte. Es war die Zeit, in welcher man in Deutschland errechnete, daß auf jeden Deutschen nur alle fünf Jahre ein Teller komme, alle zwölf Jahre ein Paar Schuhe, nur alle fünfzig Jahre ein Anzug, daß nur jeder fünfte Säugling in eigenen Windeln liegen könnte und jeder dritte Deutsche die Chance hätte, in seinem eigenen Sarge beerdigt zu werden. Das schien auch tatsächlich die einzige Chance gewesen zu sein, die uns noch winkte. Es zeugte von dem grenzenlosen Illusionismus und der Verblendung planwirtschaftlichen Denkens, wenn man von Rohstoffbilanzen oder anderen statistischen Grundlagen her glaubte, das Schicksal eines Volkes für lange Zeit vorausbestimmen zu können. Diese Mechanisten und Dirigisten hatten nicht die geringste Vorstellung von der sich entzündenden dynamischen Kraft, sobald sich ein Volk nur wieder des Wertes und der Würde der Freiheit bewußt werden darf.“
Es würde die Laune des Lesers verderben, wollte man heute ein minutiöses Bild jener Tage der Währungsreform zu rekonstruieren versuchen. Nur einige Angaben seien deshalb zur Verdeutlichung der Ausgangslage skizziert:
Der erste Industrieplan, der auf Grund der Potsdamer Beschlüsse vom 2. August 1945 erarbeitet wurde, wollte die deutsche Industriekapazität auf einem Niveau von 50 bis 55% des Standes von 1938 oder auf ca. 65% desjenigen von 1936 binden, wobei eine Wertung dieses Planes noch in Rechnung zu stellen hätte, daß die Bevölkerungszahl infolge des Flüchtlingsstromes zwischenzeitlich erheblich angestiegen war. Diese Absicht scheiterte zunächst allein an der Unmöglichkeit, die wirtschaftliche Einheit Deutschlands herzustellen.
Im zweiten Industrieplan, den die Britisch-Amerika-nische Militärregierung für ihre Zonen am 29. August 1947 verkündete, wurde der sogenannten Bizone im Grundsatz wohl die volle Kapazität des Jahres 1936 zugestanden, aber er war doch auch wieder mit mancherlei Einschränkungen im einzelnen belastet. Inzwischen waren aber die noch verfügbaren Kapazitäten auf etwa 60% von 1936 abgesunken.
Preisgestoppte Inflation lähmt die Wirtschaft
Die gesamte Industrieproduktion des Vereinigten Wirtschaftsgebietes betrug denn auch im Jahre 1947 nur noch 39% des Ausstoßes von 1936. Dieses düstere Bild zeigte sich auch in allen Teilbereichen. Man bedenke z. B. nur, daß seinerzeit die Textilproduktion knapp ein Siebentel der gegenwärtigen Erzeugung ausmachte.
Der Versuch, in jenen Nachkriegsjahren die Inflation – die Folge einer sehr bedenklichen Aufrüstungsfinanzierung von 1933 bis 1939 und vor allem der Kosten der Kriegführung in Höhe von ca. 560 Mrd. RM – durch Preisstopp und Bewirtschaftung aufhalten zu wollen, war immer offensichtlicher zum Scheitern verurteilt. Wir erlebten das Phänomen der „preisgestoppten Inflation“. Die überreichliche Geldfülle machte jede administrative Wirtschaftslenkung unmöglich. Die Umsätze spielten sich nicht mehr – oder doch nur noch zu einem geringen Teil – über den regulären Groß- und Einzelhandel ab. Die Waren blieben in immer größerem Umfange in der Lagerhortung stecken, soweit sie nicht im Wege der Kompensation die Voraussetzung für die Fortführung einer schmalen Produktion boten. Wir waren in Zustände eines primitiven Naturalaustausches zurückgesunken. Der allgemeine Produktionsindex (ohne Bauhauptgewerbe) bewegte sich im ersten Halbjahr 1948 um rund 50% von 1936. Anfang 1948 stellte denn auch Professor Dr. Wilhelm Röpke fest: Deutschland ist in einem Maße vernichtet und in ein derartiges Chaos verwandelt, daß niemand es sich vorstellen kann, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.
Dieser Niederbruch löste naturgemäß einen heftigen Streit um die Methoden zur Überwindung dieses Chaos aus. Hier gab es alles andere als die berühmte Einigkeit, die stark macht. Es tobte vielmehr in Westdeutschland der Kampf zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft, – ein Streit, der im übrigen nicht nur auf deutscher Seite, sondern auch auf seiten der Alliierten die Geister bewegte. Das Kapitel V „Marktwirtschaft überwindet Planwirtschaft“ vermittelt einen Eindruck von diesen Auseinandersetzungen. Die deutschen Planwirtschaftler neigten in dieser Situation zu einer engen Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden der britischen Zone, die den Weisungen und Vorstellungen der seinerzeitigen Labour-Regierung zu entsprechen hatten, um so mehr diese gerade in der Blütezeit ihrer planwirtschaftlichen Experimente stand. Die liberalen Kräfte Westdeutschlands fühlten sich hingegen stärker zu den „Amerikanern“ hingezogen. Es ist daher durchaus kein Zufall, daß Victor Agartz in Minden das Zentralamt für Wirtschaft leitete, während ich in der im Oktober 1945 gebildeten bayerischen Regierung auf besonderen Wunsch der amerikanischen Besatzungsbehörde das Wirtschaftsministerium übernahm.
Die große Chance
Mitte 1948 winkte dann die große deutsche Chance: Sie lag darin begründet, die Währungsreform mit einer ebenso entschiedenen Wirtschaftsreform zu verkoppeln, um der durch das unsinnige Überfordern der Menschen völlig wirklichkeitsfremden administrativen Wirtschaftslenkung – von der Produktion bis hin zum letzten Verbraucher – das verdiente unrühmliche Ende zu bereiten. Heute ist es nur noch wenigen bewußt, welches Maß an Mut und Verantwortungsfreudigkeit dazu gehörte, diesen Schritt zu vollziehen. Die Franzosen Jacques Rueff und André Piettre haben einige Zeit später über diese Einheit von Wirtschafts- und Währungsreform geurteilt:
„Der Schwarze Markt verschwand urplötzlich. Die Auslagen waren zum Bersten voll von Waren, die Fabrikschornsteine rauchten, und auf den Straßen wimmelte es von Lastkraftwagen. Wo es auch sei, überall statt der Totenstille der Ruinen das Gerassel der Baustellen. Aber war schon der Umfang dieses Wiederaufstiegs erstaunlich, so noch mehr seine Plötzlichkeit. Er setzte auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens auf den Glockenschlag mit dem Tage der Währungsreform ein. Nur Augenzeugen können einen Begriff von der buchstäblich augenblicklichen Wirkung geben, die die Währungsreform auf die Wiederauffüllung der Läger und die Reichhaltigkeit der Auslagen gehabt hat. Von einem Tag auf den anderen füllten sich die Läden mit Waren, fingen die Fabriken wieder an zu arbeiten. Noch am Abend vorher liefen die Deutschen ziellos in den Städten umher, um kärgliche zusätzliche Nahrungsmittel aufzutreiben. Am Tage darauf dachten sie nur noch daran, sie zu produzieren. Am Vorabend malte sich die Hoffnungslosigkeit auf ihren Gesichtern, am Tage darauf blickte eine ganze Nation hoffnungsfreudig in die Zukunft.“
(„Wirtschaft ohne Wunder“, 1953, Eugen - Rentsch - Verlag, Erlenbach/Zürich.)
Tatsächlich wurde die Marktwirtschaft in Deutschland – ein fast einzigartiger historischer Vorgang – durch einige wenige Gesetze und durch kompromißlose Entschlossenheit eingeführt. Der Wille, etwas gänzlich Neues zu schaffen, fand seinen Niederschlag in dem „Gesetzes- und Verordnungsblatt des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ vom 7. Juli 1948, wo auf schlechtem, heute bereits vergilbtem Vorwährungsreformpapier das „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“ vom 24. Juni 1948 verkündet wurde. Mit diesem Gesetz wurde dem Direktor der Verwaltung für Wirtschaft das Recht eingeräumt, mittel- oder unmittelbar und in einem Zuge Hunderte von Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften in den Papierkorb zu befördern. Ich wurde beauftragt, im Rahmen der angefügten Leitsätze „die erforderlichen Maßnahmen auf dem Gebiete der Bewirtschaftung zu treffen“ und „die Waren und Leistungen im einzelnen zu bestimmen, die von den Preisvorschriften freigestellt werden sollen“ – dies bedeutete für mich, so schnell als möglich so viele Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften als möglich zu beseitigen.
Bereits einen Tag später wurde die „Anordnung über Preisbildung und Preisüberwachung nach der Währungsreform“ erlassen, mit der Dutzende von Preisvorschriften außer Kraft traten. Wir gingen hierbei den einzig möglichen Weg: Es wurde darauf verzichtet, all das aufzuführen, was ungültig wurde, und nur das namentlich und ausdrücklich genannt, was noch Geltung behalten sollte. Damit war ein gewaltiger Schritt in Richtung auf das Ziel der Beseitigung einer unmittelbaren Einflußnahme der Bürokratie auf die Wirtschaft getan. Auf dem CDU-Parteitag der britischen Zone in Recklinghausen am 28. August 1948 erläuterte ich diese Maßnahmen:
„Es ist gar nicht so, als ob wir bei vernünftigem Handeln die freie Entscheidung gehabt hätten. Was wir in dieser Situation tun mußten, war, die Fesseln zu lösen. Wir mußten dazu bereit sein, um in unserem Volk endlich wieder moralische Grundsätze zur Anwendung zu bringen und den Beginn einer Läuterung unserer Gesellschaftswirtschaft einzuleiten.
Mit der wirtschaftspolitischen Wendung von der Zwangswirtschaft hin zur Marktwirtschaft haben wir mehr getan, als nur im engeren Sinne wirtschaftliche Maßnahmen getroffen. Wir haben vielmehr unser gesellschaft-wirtschaftliches und soziales Leben auf eine neue Grundlage und vor einen neuen Anfang gestellt. Wir mußten abschwören der Intoleranz, die über die geistige Unfreiheit zur Tyrannei und zum Totalitarismus führt. Wir mußten hin zu einer Ordnung, die durch freiwillige Einordnung, durch Verantwortungsbewußtsein in einer sinnvoll organischen Weise zum Ganzen strebt.“
Was sich im Hintergrund dieses Übergangs zur Marktwirtschaft abspielte, ist der breiten Öffentlichkeit nie voll bewußt geworden. Nur ein Beispiel: Strenge Vorschriften der amerikanischen und englischen Kontrollinstanzen verlangten vor jeder Änderung von Preisvorschriften deren ausdrückliche Genehmigung. Woran die Alliierten allerdings nicht gedacht hatten, war, daß jemand überhaupt auf die Idee kommen könnte, diese Preisvorschriften nicht zu ändern, sondern sie einfach aufzuheben. So viel Kühnheit von einem Deutschen so kurze Zeit nach dem Kriegsende anzunehmen, paßte nicht in die Denkkategorie einer Verwaltung, kurz nach einem überwältigenden Sieg.
Zugute kam mir, daß sich General Clay, die wohl stärkste Persönlichkeit der Hohen Kommission, hinter mich stellte und meine Anordnungen deckte. Die Preisbildung deutscher Konsumgüter und wichtigster Nahrungsmittel war damit der alliierten Preisaufsicht entzogen. Dieser erste Erfolg bedeutete zwar nicht, daß die Alliierten in den kommenden Monaten und Jahren nicht immer wieder versucht hätten, den deutschen Wiederaufbau nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen. Gerade in der Folgezeit löste eine Auseinandersetzung die andere ab. Es ging hier um die Demontagen, den Steuerabbau, die Gewerbefreiheit, die Preisbindung der zweiten Hand, die Errichtung der Fachstellen, die Neuordnung unserer Außenhandelspolitik u. s. f.
Diese kritischen Hinweise können und sollen allerdings nicht das Gefühl der Dankbarkeit schmälern, das die Bundesregierung und das ganze deutsche Volk den USA und seinen Bürgern für die Marshallplan-Hilfe schulden. Diese großzügige, ja großherzige Hilfe überstieg im Rahmen des Marshallplans und der Anschlußprogramme zwischen April 1948 und Ende 1954 den Betrag von 1,5 Mrd. Dollar. Hinzu kamen dann noch die schon vor Beginn des Marshallplanes angelaufenen beträchtlichen Lieferungen aus GARIOA-Mitteln, die in den Jahren 1946 bis 1950 noch einmal 1,62 Mrd. Dollar ausmachten.
Generalstreik gegen die Marktwirtschaft
Das zweite Halbjahr 1948 insbesondere wurde eines der dramatischsten in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Hier kämpfte die Idee der Marktbefreiung gegen die beharrenden Kräfte der Zwangswirtschaft. Manche Entwicklungen und Verhältnisse waren auch nicht dazu angetan, vorbehaltlos und unentwegt der Richtigkeit des Vorstoßes in die Freiheit zu vertrauen. Der Preisindex stieg in jenen ersten Monaten nach der Reform allenthalben erheblich an. Es half da auch nicht viel, immer wieder darauf hinzuweisen, daß es am 18. Juni 1948 zwar amtlich fixierte, relativ niedrige Preise, aber zu diesen Preisen keine Waren gab, und daß jeder nun in DM gewährte Preis nur einen Bruchteil des RM-Schwarzmarktpreises der Monate vor der Währungsreform ausmachte.
Es kam entscheidend darauf an, sich durch diese Turbulenz nicht beirren zu lassen; auch dann nicht, als die Gewerkschaften für den 12. November 1948 zum Generalstreik aufriefen, um auf diese drastische Weise der Marktwirtschaft ein Ende zu bereiten. Im Wirtschaftsrat stand das Barometer auf Sturm. Ja, in nahezu allen Schreibtischschubladen der Verwaltung für Wirtschaft, deren Chef doch eben jener energische Kämpfer gegen Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften war, lagen insgeheim Neufassungen der eben erst aufgehobenen Verordnungen griffbereit. Das Amt selbst war allenthalben an der Richtigkeit der Thesen seines Chefs irre geworden.
Ich erklärte damals – Ende August 1948 – :
„Ich bleibe dabei, und die Entwicklung wird mir recht geben, daß, wenn jetzt das Pendel der Preise unter dem einseitigen Druck kostenerhöhender Faktoren und unter dem psychologischen Druck dieses Kopfgeldrausches die Grenzen des Zulässigen und Moralischen allenthalben überschritten hat, wir doch bald in die Phase eintreten, in der über den Wettbewerb die Preise wieder auf das richtige Maß zurückgeführt werden, und zwar auf das Maß, das ein optimales Verhältnis zwischen Löhnen und Preisen, zwischen Nominaleinkommen und Preisniveau sicherstellt.“ [1]
Diese Aussage, die damals ganz und gar nicht in die Landschaft zu passen schien, trug mir den Ruf eines unverbesserlichen Optimisten ein. Als mir einige Monate später die Tatsachen recht gaben – wurde ich zum modernen Wirtschaftspropheten „befördert“.
Bestätigte die Entwicklung diese Prognose?
Nach der Reform sah sich die Wirtschaft zunächst einer unendlich scheinenden Verbrauchsbereitschaft der Konsumenten, d. h. einem schier grenzenlosen Nachholbedarf, gegenüber. Nicht minder stark war der Ersatz- und Nachholbedarf in allen Zweigen der Wirtschaft selbst. Im Bausektor z. B. hatte sich infolge der Kriegszerstörungen und der Notwendigkeit, acht Millionen Flüchtlinge unterzubringen, ein kaum zu bewältigender Bedarf angestaut. Wenn auch in den ersten Tagen nach der Reform Angebot und Nachfrage weitgehend ausgeglichen schienen, so änderte sich doch dieses Bild sehr bald. Die so viel diskutierte und moralisch verwerfliche Warenhortung gehörte in kurzem der Vergangenheit an. Das Geld hatte in gleicher Weise für den Unternehmer wie für den Konsumenten seine alte Bedeutung zurückerhalten. Insoweit erwies es sich auch als durchaus richtig, daß die Geldausstattung der Unternehmungen bewußt niedrig gehalten worden war. Dadurch war die Wirtschaft genötigt, die laufende Produktion schnell anzubieten und vorhandene Läger aufzulösen.
Der Kampf um die guten Nerven
Damals gingen die Wellen der Empörung über die nun allen sichtbar werdende, aber allen Einsichtigen längst bekannte Hortung sehr hoch. Es gehörte einiger Mut dazu, das auszusprechen, was volkswirtschaftlich vernünftig war:
„Sie wissen, daß mir vorgeworfen wird, ich wäre der Schutzheilige der Horter. Mich fechten derartige Verleumdungen nicht an. Sosehr ich die Hortung als individuelle Maßnahme verabscheue, sosehr fühle ich mich doch verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß eine radikale Entleerung unserer volkswirtschaftlichen Läger notwendig dahin geführt haben würde, daß die aus der Währungsreform freigewordene Kaufkraft hätte ins Leere stoßen müssen. Dann aber wäre die Währungsreform entweder vom ersten Tag an zum Scheitern verurteilt gewesen, oder man hätte noch einmal mit Mitteln der staatlichen Bewirtschaftung und Preisbildung das Volk unter der Knute und der Fron der Bürokratie halten müssen. Man mag doch bedenken, daß diese Hortung als solche, d. h. als volkswirtschaftliches Phänomen betrachtet, eben doch ein unvermeidbares Phänomen der ganzen Währungsreform war; sie gehörte gewissermaßen zum Kalkül der Reform. Es ist unehrlich, sich zu entrüsten, wenn man ganz genau weiß, daß, hätte uns dieses Polster nicht zur Verfügung gestanden, die Währungsreform vielleicht sogar Schiffbruch erlitten hätte.“
Die Schwierigkeiten gingen auf klar erkennbare Ursachen zurück. Die laufenden Einkommen wie auch die Gelder aus der Kopfquote und der Umstellung der RM-Sparguthaben – die letzten beiden in Höhe von 3,5 Mrd. DM – strömten unverzüglich und ausschließlich in den Verbrauch. Leonhard Miksch, mein 1950 allzu früh verstorbener enger Mitarbeiter, machte im Oktober 1948 darauf aufmerksam, daß die Entwicklung seit der Währungsreform durch eine starke Ausweitung der Geldmenge – unbeeinflußbar durch deutsche Stellen – gekennzeichnet ist. Er schrieb:
Das Gesicht der D-Mark(Entnommen mit freundlicher Genehmigung des „Hamburger Abendblatt“. Zeichnung: Rolf Brinkmann)
„Es ist Zeit, die Augen der Öffentlichkeit auf diese Tatsache zu lenken, die mit der Erwartung einer radikalen, durch außerordentlich große Opfer der Sparer erkauften Sanierung im Widerspruch steht. Während in den ersten Monaten nach der Stabilisierung von 1923 der gesamte Geldumlauf von 1488 Millionen am 30. November auf 2824 Millionen am 31. März 1924, d. h. also um rund 90%, gestiegen ist, hat er sich 1948 in dreieinhalb Monaten von 2174 Millionen am 30. Juni auf 5560 Millionen am 15. Oktober erhöht, was einer Steigerung von 156% entspricht“. [2]
Der Zahlungsmittelumlauf war bis zum 31. Dezember 1948 sogar auf 6,641 Mrd. DM (einschließlich Berlin) angewachsen. Es bedeutete die natürliche Konsequenz dieser Geldverflüssigung, daß die Nachfrage rascher als das Angebot steigen mußte, um so mehr dieses infolge der Knappheit an Importstoffen zunächst ziemlich unelastisch war. Hinzu kam, daß der bestehende Zwang zum Lagerabbau mit zunehmender Liquidität tendenziell geringer wurde. Selbst die Tatsache, daß die Befreiung der Wirtschaft hinreichte, die Produktion von Mitte 1948 bis zum Jahresende im Durchschnitt um 50% zu erhöhen – gewiß ein erstaunlicher Erfolg der Marktwirtschaft –, vermochte es doch nicht zu verhindern, daß die Preise in jenen Herbstmonaten stärker anstiegen. Viele waren daher geneigt, die erst jüngst zurückgewonnenen Freiheiten wieder über Bord zu werfen. Auf derartige Versuchungen ließ sich nur erwidern:
„Entweder wir verlieren die Nerven und geben der gehässigen, demagogischen Kritik nach, dann sinken wir in den Zustand der Sklaverei zurück. Dann verliert der deutsche Mensch die Freiheit aufs neue, die wir ihm jetzt glücklich zurückgegeben haben; dann kommen wir wieder zurück in die Planwirtschaft, die stufenweise, aber sicher zur Zwangswirtschaft, zur Behördenwirtschaft bis zum Totalitarismus führt.“ [1]
Die Preisentwicklung war in der Tat erregend. Zum Jahresende waren alle Preise gegenüber dem Juni 1948 kräftig angestiegen.
Aber wie so oft im wirtschaftlichen Leben hatte das Unpopuläre und hier auch sozial Unerfreuliche seine ökonomisch gute Seite. Zwar mögen diese Preisberichtigungen zum Teil weit über das notwendige Maß einer Anpassung an ein verändertes Kostengefüge hinausgegangen sein, woraus naturgemäß beträchtliche Unternehmergewinne erwuchsen. Diese selbst lösten Ärgernis aus und führten zu einer unerfreulichen sozialen Optik. Solche Gewinne wurden jedoch nur zu einem Bruchteil für den privaten Konsum der Unternehmer verwandt; sie ersetzten vielmehr das seinerzeit noch nicht mobilisierbare neue Sparkapital, und das alte war durch die Geldreform weitestgehend vernichtet. Man mag diese Art der Kapitalbildung kritisieren, aber seinerzeit bildete sie die Grundlage für den Wiederaufbau der verlorengegangenen bzw. vernichteten Kapazitäten.
Falsche Weichenstellung für die Steuerpolitik
Die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung hat immerhin dazu geführt, daß in dieser ersten Phase nach der Reform zunehmend mehr produziert werden konnte und das steigende Einkommen güterwirtschaftliche Befriedigung fand. Die Notwendigkeit des Investieren-Müssens, das solcherart über den Preis durchgesetzt wurde, fand auch in der Steuergesetzgebung ihren Niederschlag. Das Militärregierungs-Gesetz Nr. 64 vom 20. Juni 1948 sah relativ großzügige Abschreibungsmöglichkeiten und eine Reihe sonstiger Vergünstigungen an Stelle effektiver Steuersenkungen vor.
Dieser Weg der Steuergesetzgebung wurde auch dann fortgesetzt, als diese in die deutsche Zuständigkeit zurückgegeben wurde. Ständig wurden neue Anreize für Investitionen geschaffen, wie auch die Mehrarbeit dadurch belohnt wurde, daß Überstundenverdienste steuerfrei blieben. Diese Impulse bedeuteten eine willkommene Ergänzung der endlich wiedergewonnenen Freude an der Arbeit, für deren Lohn man sich nun wieder etwas kaufen, sein Leben frei gestalten konnte.
Ein Blick auf die Statistik der Wochenarbeitszeit der Industriearbeiter offenbart die Auswirkungen des hier vollzogenen Wandels. Die wiedergewonnene Arbeitsfreude führte sehr bald zu einer Verlängerung der Arbeitszeit, welche erst in jüngster Vergangenheit sinkende Tendenz zeigt. Die seit 1950 um 100% gestiegene Produktivität in der Industrie gestattet jetzt die sozial sicherlich erwünschte Verkürzung der Arbeitszeit, wenngleich dieser Vorgang sich auch in ruhigen Bahnen bewegen muß, um nicht von dieser Seite her die volkswirtschaftliche Gesamtleistung und die Stabilität der Währung zu gefährden, eine Feststellung, die gerade für die jüngste Vergangenheit gilt.
Trotz dieser der Wirtschaftspolitik zunächst durchaus adäquaten Ergänzung des Wiederaufbaus durch die Steuergesetze war hier doch eine Richtung der Steuerpolitik eingeschlagen worden, die im weiteren Verlauf häufig auch in einen Gegensatz zur Wirtschaftspolitik geriet, d. h. mit anderen Worten, die Steuer wurde zu einem Instrument vielfacher staatlicher Begünstigungen und auch unerwünschter Einflußnahmen.
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