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Wenn über 45 Jahre nach dem Tod von Bundeskanzler Ludwig Erhard seine Erinnerungen veröffentlicht werden, ist dies eine kleine Sensation. Der Text aus dem Jahr 1976 ist eine schonungslose Abrechnung mit politischen Gegnern und falschen Freunden in der eigenen Partei. Das Skript beeindruckt aber vor allem durch eine unglaubliche Aktualität. Ludwig Erhard bezeichnet die FDP als Bremser, die jeden Koalitionspartner zur Verzweiflung bringt. Er kritisiert die Bundesneuverschuldung, beklagt übertriebenen Lobbyismus, wettert gegen die GroKo und schreibt, dass wir die Hauptlast für die Sicherheit Europas nicht den USA überlassen dürfen. Ludwig Erhard wollte seine Erinnerungen bewusst als Erfahrungen für die Zukunft verstanden wissen: »Ich habe es in der Politik stets mit einer deutlichen Sprache gehalten. Ungenaue Umrisse, Anpassungsversuche an die Vorstellungen des politischen Gegners, sich vom Zeitgeist treiben lassen sind immer Zeichen der eigenen Schwäche. Sagen Sie den Menschen die Wahrheit, denn die Wahrheit steht auf der Seite des Rechts. Aber geben Sie ihnen auch Hoffnung, strahlen Sie Optimismus aus, haben Sie Humor. Beziehen Sie einen klaren Standpunkt und vertreten Sie ihn. Lassen Sie sich weder verdrießen noch einschüchtern. Setzen Sie Ihre ganze Kraft für das Wohl der Allgemeinheit ein. Dann wird Ihnen von ihnen neue Kraft zuströmen. Und wenn Sie mir, meine Freunde, einen Wunsch erfüllen wollen, dann den: Loben Sie nicht meine Verdienste aus der Vergangenheit, sondern nutzen Sie meine Erfahrungen für die Zukunft.« Ludwig Erhard
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Erfahrungen für die Zukunft
Der Autor:Ludwig Erhard (1897 bis 1977) war von 1949 bis 1963 Wirtschaftsminister Adenauers und von 1963 bis 1966 zweiter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er gilt als Vater des » deutschen Wirtschaftswunders « und als Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft.Die Herausgeber:Die Ludwig-Erhard-Stiftung wurde 1967 von ihm selbst gegründet und hat die Aufgabe, freiheitliche Grundsätze in Politik und Wirtschaft zu fördern und die Soziale Marktwirtschaft in seinem Sinne zu stärken. Die Ludwig-Erhard-Stiftung ist eine gemeinnützige Einrichtung. Sie ist unabhängig von Parteien und Verbänden.
Ulrich Schlie, geboren 1965, ist Historiker und Politologe und gegenwärtig Henry Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn. Er gehörte über 27 Jahre dem deutschen Auswärtigen Dienst an und war von 2005 bis 2014 Leiter Planungsstab und Politischer Direktor im Bundesministerium der Verteidigung.
Die Memoiren Ludwig Erhards sind ein Rechenschaftsbericht über seine Zeit als Bundeskanzler in den Jahren 1963 bis 1966. Der Text ist eine schonungslose Abrechnung und zeigt, wie sehr Ludwig Erhard unter dem erzwungenen Rücktritt 1966 gelitten hat. Er ist zugleich von bestürzender Aktualität, weil die Koalitionsprobleme und das Parteiengezerre, das Erhard anspricht, auch aus der gegenwärtigen politischen Diskussion stammen könnten. War Ludwig Erhard, der leutselige Franke mit der nie verglimmenden Zigarre, ein Machiavell? Erhards Redenschreiber und Ghostwriter Johnny Klein hat an anderer Stelle auf diese Frage geantwortet: » Er ist anders, ganz anders als sein Bild in der Öffentlichkeit. Aber nichts sitzt fester als ein Vorurteil ... Erhard hat eine visionäre Gabe, ein instinkthaftes Gefühl für große Entwicklungslinien.« Der Erhard, der uns in den Erfahrungen für die Zukunft gegenübertritt, nimmt kein Blatt vor den Mund. Er zeigt den Vater des Wirtschaftswunders als Staatsmann und politischen Akteur. Gerade diese aktuellen Bezüge machen den Text zu einer faszinierenden Lektüre.
Ludwig Erhard
Meine Kanzlerzeit
Ullstein
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© 2024 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Dr. Annalisa Viviani, MünchenUmschlaggestaltung: Brian Barth, BerlinUmschlagabbildung: Ullsteinbild – Sven SimonAutorenfoto: © slomifoto.deE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3226-0
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Vorwort
Editorische Notiz
Ludwig ErhardMeine Kanzlerzeit
Kanzlerzeit
Ulrich Schlie
»Wir haben unseren Blick vorwärts zu richten« – Ludwig Erhard und das Ende der Nachkriegszeit
Zitate durch die Jahre …
Ludwig Erhard zugeschrieben
Zeittafel
Kurzbiografien
Quellen- und Literaturverzeichnis
Unveröffentlichte Quellen
Amtliche Akteneditionen und andere Quellensammlungen
Tagebücher, Memoiren, Briefe und zeitgenössisches Schrifttum
Sekundärliteratur
Abkürzungen
Dank
Bildteil
Anhang
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Vorwort
Häufig wird Ludwig Erhard als der »Vater des Wirtschaftswunders«, als der prägende Wirtschaftsminister des wieder zu Wohlstand kommenden Deutschland betrachtet. Auch wir in der Ludwig-Erhard-Stiftung sehen uns als Streiter für Freiheit, Soziale Marktwirtschaft und Wohlstand für alle Bevölkerungsschichten. Die Zeit Erhards als Kanzler tritt dahinter zu oft zurück. Der Ökonom Ludwig Erhard war immer auch ein politischer Generalist. Anders wäre das anstrengende und doch fruchtbare Spannungsverhältnis mit Konrad Adenauer nie entstanden. Die Atlantische Allianz, die formellen Beziehungen zu Israel sind in diesem Zusammenhang wichtige Stichworte. Als Politik-Gestalter und auch als Politik-Manager hat Ludwig Erhard seine Spuren hinterlassen.
Kaum ein anderer deutscher Politiker und Staatsmann wird im politischen Diskurs so oft zitiert wie er. Ludwig Erhard ist auch in den politischen Auseinandersetzungen unserer Tage allgegenwärtig. Zu seiner Modernität hat wesentlich seine Überzeugung beigetragen, dass es immer Aufgabe der Politik ist, den Blick in die Zukunft zu richten. Erhard war insbesondere der Auffassung, dass die Soziale Marktwirtschaft noch nicht zu Ende geführt worden sei und es künftigen Generationen obläge, auf ihrer Grundlage eine moderne, freiheitliche Gesellschaftspolitik zu entwickeln. Wie sehr Ludwig Erhard mit seinem Einsatz für die Soziale Marktwirtschaft, mit seinem nach vorne gerichteten Denken und Handeln die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bis zum heutigen Tag geprägt hat und immer noch prägt, ist frappierend. Fragen der Haushaltsdisziplin und Probleme der Koalitionskohäsion, Klienteldenken, Lastenteilung im europäisch-amerikanischen Verhältnis, Sand im Getriebe der deutsch-französischen Beziehungen, kleinere und größere Zeitenwenden, die Bedeutung der Lage im Nahen Osten und die Freundschaft mit Israel als Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik – alles, was Ludwig Erhard im Rückblick auf seine Zeit als Bundeskanzler anspricht, ist auch in den Diskussionen unserer Gegenwart vorhanden.
Ludwig Erhard hat vielleicht in einem höheren Maße als andere an die Vernunft und das Gute im Menschen geglaubt. Zur Macht hat er zeitlebens ein skeptisches Verhältnis bewahrt. Für ihren Missbrauch hat er nie Verständnis aufgebracht, vielmehr hat er für den pfleglichen Umgang mit Macht geworben. Ludwig Erhard hat einmal gesagt: »Ich glaube zudem, dass es zu einer guten Politik gehört, zu verhindern, dass Machtpositionen sich überhaupt ausprägen können, dass Macht gegen Macht ausgespielt wird.«1 Auch diese Einsicht könnte in den gegenwärtigen Diskussionen von Vorteil sein. Wie zeitlos Ludwig Erhard ist, wird auch daraus ersichtlich, dass die von Gerhard Schröder, Alfred Müller-Armack, Johannes Gross und Rüdiger Altmann im Vorwort zu der Festschrift zum 75. Geburtstag von Ludwig Erhard am 4. Februar 1977 gewählte Formulierung bis heute nichts an Aktualität verloren hat: »In einer Zeit ideologischer Radikalität, in der von manchen die Gewalt höher geschätzt wird als das Argument, ist es recht, einen Mann zu ehren, dessen erster Gedanke die Freiheit ist, der der Vernunft des Menschen vertraut und in seinem Leben bewiesen hat, was der Mut zur Freiheit vermag.«2
Dieses geistige Erbe Ludwig Erhards im öffentlichen Bewusstsein zu halten, ist vornehmste Aufgabe der Ludwig-Erhard-Stiftung. Die Memoiren zu Erhards Kanzlerzeit zeigen eindrucksvoll, wie wichtig der Stiftung die historische Dokumentation ist. Aber damit ist sie nicht komplett beschrieben. Die Ludwig-Erhard-Stiftung nimmt sich gezielt der von ihrem Namensgeber und Gründer definierten Daueraufgabe an, die klaren Prinzipien und harten Maßstäbe einer Sozialen Marktwirtschaft dynamisch für die Anforderungen an eine moderne freiheitliche Wirtschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert fortzuentwickeln. Nur ordnungsökonomisch resilient bleibt die Soziale Marktwirtschaft der erfolgreiche Gegenpol zu staatsinduzierter Wirtschaftspolitik und überbordendem politischem Pragmatismus. Nur das unbedingte Eintreten für eine Ordnung, die Freiheit und Kreativität mit sozialem Ausgleich verbindet, eröffnet weiterhin systemisch die Perspektive »Wohlstand für alle«. Die junge Generation auf diesem Weg zeitgemäß mitzunehmen, ist eine der Herausforderungen der Ludwig-Erhard-Stiftung in heutiger Zeit. Wenn dabei die Schätze des Stiftungsarchivs genutzt werden können, schließt sich der Kreis.
Wenn jetzt erstmalig die politischen Memoiren über Ludwig Erhards Kanzlerzeit der Öffentlichkeit vorgelegt werden können, ist dies ein wesentlicher Beitrag zur Geschichte der Bundesrepublik, zur Erhard-Forschung und zur Geschichte der CDU. Seine politische Memoiren zeigen nicht zuletzt, wie sehr bei Ludwig Erhard die Aufgaben der Gegenwart mit seinen Vorstellungen von der nahen Zukunft verwoben und in eine umfassende Betrachtungsweise eingebettet sind. Die hier vorgelegte kommentierte Ausgabe mit einer editorischen Notiz und einem Essay über Ludwig Erhard und seine Zeit von Ulrich Schlie, ergänzt um eine Zeittafel, Kurzbiografien und eine Zitatensammlung, richtet sich besonders an zeitgeschichtlich interessierte Leserinnen und Leser, an alle im In- und Ausland, die Näheres über Lebenswerk und Persönlichkeit von Ludwig Erhard erfahren möchten.
Roland KochFrankfurt a. M., im April 2024
Wenn heute, im Sommer 2024, 47 Jahre nach dem Tod von Ludwig Erhard, Memoiren des Bundeskanzlers und Vaters des Wirtschaftswunders vorgelegt werden können, ist dies eine zeitgeschichtliche Überraschung und bedarf der Erklärung. Genauer gesagt handelt es sich bei den hier vorgelegten Erhard-Memoiren um einen Rechenschaftsbericht über seine Zeit als Bundeskanzler in den Jahren 1963 bis 1966. Der Bericht trägt zutreffend den von Erhard gewählten Titel Meine Kanzlerzeit. Die Memoiren sind eine Auftragsarbeit, für die sich im Jahresbericht der Ludwig-Erhard-Stiftung 1977 die unscheinbare Notiz »Ausgaben für Publikationen Meine Kanzlerzeit, Manuskript von Hans Klein 1.998,-- DM« findet.3 Verfasst wurde der Text von Johnny Klein, einst Erhards Pressereferent, der anschließend als Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis München-Mitte von 1976 bis 1996, als Außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion von 1982 bis 1986, als Bundesentwicklungshilfeminister von 1987 bis 1989, als Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung von 1989 bis 1990 sowie schließlich als Bundestagsvizepräsident von 1990 bis zu seinem Tod im Jahr 1996 eine bemerkenswerte eigene politische Karriere vorzuweisen hat.4
Dass Erhards Wahl bei der Suche nach einem Ghostwriter ausgerechnet auf Hans »Johnny« Klein gefallen ist, war kein Zufall. Der 1931 in Mährisch-Ostrau geborene Journalist Klein war ein begnadeter Schreiber und genoss Erhards uneingeschränktes Vertrauen. 1959 trat Johnny Klein als Quereinsteiger in den Auswärtigen Dienst ein, als er die Aufgabe des Presseattachés an der deutschen Botschaft in Amman übernahm. In der gleichen dienstlichen Funktion wurde er anschließend an den Auslandsvertretungen in Syrien, Irak und Indonesien eingesetzt. Damit hatte Klein in jungen Jahren operative Erfahrungen in der deutschen Außenpolitik sammeln können, Erfahrungen, die ihm in seinem späteren Berufsleben von großem Nutzen sein sollten. Er verstand sich, wie sein Biograf Karl Hugo Pruys treffend bemerkt hat, zeitlebens als »registrierender, räsonierender Chronist«.5 Aber er suchte auch von Anfang an die Nähe zur Macht. Bereits seit 1956 als parlamentarisch-diplomatischer Korrespondent der Presseagentur DIMITAG, des Dienstes mittlerer Tageszeitungen, und seit 1958 als Korrespondent des Hamburger Abendblatts war er in Hintergrundkreisen der rechten Hand des Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard, Karl Hohmann, aufgefallen. Die damals geknüpften Kontakte sollten Klein nach seiner Rückkehr aus dem Nahen Osten zugutekommen.
1964 hatte Klein auf dem CSU-Parteitag sein »Schicksalerlebnis«,6 wie er es formulierte, als er in den Bann des Redners Ludwig Erhard gezogen wurde und der Entschluss in ihm reifte, in den Dienst dieses Bundeskanzlers zu treten. Auf Vorschlag Hohmanns und mit Unterstützung Eduard Ackermanns, des Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, konnte Klein bereits zu Beginn des Jahres 1965 als pressepolitischer Referent bei Bundeskanzler Ludwig Erhard anfangen. Zu seinen Aufgaben zählte dabei auch, den Bundeskanzler auf dessen Auslandsreisen zu begleiten und Entwürfe für Reden und Aufzeichnungen anzufertigen. Klein sollte bald zum engsten Beraterkreis um Erhard zählen. Zusammen mit Rüdiger Altmann, Johannes Gross, Hermann Blome und Karl Hohmann gehörte er zum sogenannten Sonderkreis, der sich 14-tägig zu inhaltlichen Gesprächen mit dem Bundeskanzler traf und auf den unter anderem das Konzept der »formierten Gesellschaft« zurückging. Klein erlebte das ganze Jahr 1965 der Kanzlerzeit Ludwig Erhards aus nächster Nähe mit: die außenpolitischen Erfolge, insbesondere auch den Wahlkampf, den Triumph des Wahlsiegs und das Pokerspiel um die Koalitionsbildung 1965, aber auch den Zwist mit der FDP, die zermürbenden Intrigen vor allem auch der Parteifreunde – Erfahrungen, die Ludwig Erhard menschlich tief erschütterten und die ihn zeit seines Lebens nicht mehr losließen.
Johnny Klein gehörte zweifelsohne zum innersten Kreis. Den »Abschiedsabend« am 30. November 1966, als im Palais Schaumburg die Lichter ausgingen, hielt er in einer sehr persönlichen Vignette fest, die er zur Festschrift für Ludwig Erhards 75. Geburtstag beisteuerte. Dies ist vielleicht der persönlichste Beitrag des voluminösen, von Gerhard Schröder, Alfred Müller-Armack, Karl Hohmann, Johannes Gross und Rüdiger Altmann herausgegebenen Werks.7 Auch in diesem Beitrag stand für Klein die Frage »Woran war dieser zweite Bundeskanzler Nachkriegsdeutschlands gescheitert?« im Vordergrund, eine Frage, der letztlich auch die hier vorgelegten Memoiren gewidmet sind. Die dort von Johnny Klein gegebene Erklärung, Ludwig Erhard sei in die Frontstellung zwischen Gerhard Schröder und Franz Josef Strauß geraten,8 nimmt im Grunde die Deutung der Memoiren vorweg, denn auf eine ganz andere Art als zu Ludwig Erhard sollte Johnny Klein später auch zu Franz Josef Strauß, dessen Bundestagswahlkampf als Kanzlerkandidat er 1980 organisierte, ein Naheverhältnis entwickeln.
Es war jene Mischung aus Nähe, menschlicher Sympathie und Chronistenverständnis, die Klein auszeichnete und die in Verbindung mit seiner Neigung, auch als Journalist ungewöhnliche Pfade einzuschlagen und immer wieder von Neuem anzufangen, seinem Lebensweg eine besondere Note gab und die Qualität seiner Texte auszeichnete. Bereits zum Jahresanfang 1966 wechselte Johnny Klein nach nur einem Jahr an Ludwig Erhards Seite und nach sieben Jahren im Staatsdienst auf die Stelle des Bonner Korrespondenten des Heinrich Bauer Verlags, ohne dass das enge Vertrauensverhältnis zu Ludwig Erhard dabei Schaden nahm. Die Bundesregierung habe ihm, wie er in einem Rundbrief an seine Freunde schrieb, die Gelegenheit gegeben, ihn mit »Stil und Machart des Auswärtigen Dienstes vertraut zu machen [und] das Phänomen der Macht aus der Nähe zu studieren«.9 Sowohl seinem »Patron«, Staatssekretär Karl-Günther von Hase, als auch dem Leiter des Kanzlerbüros, Ministerialdirektor Karl Hohmann, dankte Klein am Ende seines Rundbriefs für deren Loyalität und Hilfsbereitschaft. Kleins Beschreibung von Hohmann, seinem unmittelbaren Vorgesetzten, als »kühl, schweigsam, zuverlässig, informiert, mit allen bekannt, die für Erhard wichtig sind oder werden können, einfallsreich und hintergründig«10 war zugleich das prägnanteste und kürzeste Charakterbild des wortkargen Westfalen.
Hohmann, der Leiter des Büros des Bundeskanzlers, war die Schlüsselfigur in Erhards Umfeld, und er hat auch mit Blick auf die Genese dieser Memoiren neben Klein eine zentrale Rolle gespielt. Die Hingabe an Ludwig Erhard, dem er seit 1953 als persönlicher Referent und Leiter des Grundsatzreferats für Preispolitik in der Abteilung von Professor Müller-Armack diente und dessen Pressearbeit er ab 1956 organisierte, war für Hohmann, Jahrgang 1916, wie für viele Angehörige seiner Generation, die durch den Kriegsdienst geprägt waren – Hohmann hatte vom ersten bis zum letzten Tag des Kriegs in Aufklärungsabteilungen des Heers an der Front verbracht, einschließlich der Schlacht um Stalingrad – auch eine Antwort auf die Erfahrungen der Kriegszeit und das Glück, noch einmal davongekommen zu sein.11
Auch in seiner neu/alten Funktion als Journalist ließ Johnny Klein Bundeskanzler Erhard und dessen Umfeld nicht aus den Augen. Als Insider wurde infolge des zermürbenden Intrigenspiels, das Erhard schließlich zum Rücktritt veranlasste, auch Kleins persönliche Leidensfähigkeit getestet. Genau eine Woche vor Bildung der Großen Koalition veröffentlichte Klein am 20. November in der Zeitschrift Neue Illustrierte Revue einen nicht autorisierten Abschiedsbrief des Bundeskanzlers, der auch eine Abrechnung mit dessen innerparteilichen Gegnern, allen voran mit dem Fraktionsvorsitzenden Rainer Candidus Barzel, war.12 Ludwig Erhard hat die Intervention seines einstigen Pressereferenten zu schätzen gewusst und dessen Einfall mit der Bemerkung »Sie haben mir aus der Seele geschrieben« goutiert.13
Wie eng das Verhältnis zwischen Karl Hohmann, Johnny Klein und Ludwig Erhard gewesen sein muss, geht auch daraus hervor, dass Johnny Klein für den biografischen Essay, den er 1967 in einem Bildband über Ludwig Erhard im Verlag Kiepenheuer und Witsch14 verfasst hatte, den Altkanzler dazu gewinnen konnte, als Korrekturleser seines eigenen biografischen Porträts zu fungieren. Die wenigen handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen aus der Feder Erhards sprechen für einen seltenen Gleichklang der Sichtweise. Neben den ganz marginalen Änderungen Ludwig Erhards finden sich dort ebenfalls ausführlichere redaktionelle Korrekturen Karl Hohmanns, insbesondere mehrere Streichungen.15 Auch dies hebt den eingreifenden Anspruch des einstigen Büroleiters und engsten Vertrauten von Ludwig Erhard hervor. Als 1972 die Festschrift zum 75. Geburtstag Ludwig Erhards erschien, war wiederum Johnny Klein mit von der Partie. Die Einladung zum Geburtstagsfrühstück am Donnerstag, dem 3. Februar 1972, in die Redoute in Bad Godesberg konnte Klein nur deshalb nicht annehmen, weil er als Pressechef des Organisationskomitees für die Spiele der XX. Olympiade in München 1972 an einer Sitzung des Internationalen Olympischen Komitees bei den XI. Olympischen Winterspielen in Sapporo teilnehmen musste, nicht ohne bei seiner Absage hinzuzufügen: »Sie wissen, mit wie viel Freude ich für Sie gearbeitet habe und mit welcher Affektion ich Ihnen anhänge.«16
Die genauen Umstände der Auftragserteilung zur Erstellung des Memoiren-Manuskripts lassen sich heute nicht mehr rekonstruieren. Aus mehreren Dokumenten kann jedoch zweifelsfrei abgeleitet werden, dass Ludwig Erhard eng in das Vorhaben eingebunden war. Im Terminkalender von Karl Hohmann finden sich Einträge für Gespräche mit Johnny Klein am 5. November 1975 um 11:30 Uhr, vermutlich in Bonn, sowie am 18., 19., 20. Februar und 1. April 1976, hier jeweils ohne Uhrzeit. Die ursprüngliche Abgabe des Manuskripts war, wie wir aus einem anderen Schreiben von Karl Hohmann wissen, für Ende März 1976 terminiert gewesen. Am 9. April 1976 lieferte Johnny Klein die Auftragsarbeit bei Karl Hohmann ab. Das Begleitschreiben Kleins hat offenkundig auch Ludwig Erhard zur Kenntnis erhalten, da Erhard darauf zu Händen Hohmanns knapp handschriftlich notierte: »Nächste Woche können wir uns dann über den Fortgang unterhalten.« Die in Kleins Schreiben enthaltenen Formulierungen sind mit Blick auf Art und Umfang des Auftrags entscheidend, weil sie Rückschlüsse auf den Vertragsgegenstand enthalten: »Es hat ungefähr die vereinbarte Länge. […] Zum Manuskript selbst: Ich habe mir Mühe gegeben. Insbesondere bei Abhandlung der delikaten Themenkreise. Obwohl es auch ein wenig meiner Absicht entsprach, stellte sich bei der Arbeit heraus, dass ich der Außenpolitik der Erhard’schen Kanzlerschaft doch ein sehr großes Gewicht beimessen musste.«17 Aus diesen Formulierungen geht hervor, dass es zwischen Hohmann und Klein im Vorfeld des Auftrags eine detaillierte Verständigung über die Schwerpunkte und die Umsetzung des Auftrags gegeben haben muss und dass der eigentliche Auftraggeber und der Ghostwriter sich darin einig waren, mit dem Manuskript einen politischen Akzent setzen zu wollen: »Einer der Punkte, die von seinen Gegnern bestritten wurden, deren einigermaßen plausible Darstellung aber auch einen Beitrag zur Korrektur der Geschichtsschreibung über jene Jahre leisten kann.« Die hier so freimütig festgehaltene Tendenz entspricht ganz und gar den anderen Eindrücken von Karl Hohmann, der schon vor seiner formalen Übernahme des Amtes des Vorsitzenden der Ludwig-Erhard-Stiftung von Alfred Müller-Armack im Jahr 1978 der eigentliche Strippenzieher der Erhard-Community war und dem es um nichts weniger als eine Beeinflussung des Bildes Ludwig Erhards in der Geschichte ging. Auch darüber, wie er diesen delikaten Auftrag umgesetzt hatte, reflektierte Johnny Klein in seinem Abgabeschreiben: »Bei mancher Formulierung bin ich nach einem Postulat verfahren, das ich aus meiner Arbeit unter Ihnen im Gedächtnis bewahrt habe: sinngemäß handeln. Natürlich verfolgte ich eine Tendenz. Sollte ich ungewollt dabei Tatsachen falsch wiedergegeben oder Erhard’sche Auffassungen missinterpretiert (sic), werden Sie dies ja sofort entdecken und korrigieren.« Wie wichtig Klein seine Arbeit war, wird auch an der gegenüber Hohmann gemachten abschließenden Bemerkung Kleins sichtbar, dass die Arbeit »wie man schwäbisch sagt, ein ›Schlauch‹« gewesen sei. »Sie hat mir viel Freude gemacht, mir nolens volens meine eigenen Kenntnisse erweitert und mich auch reichlich angeregt.«18
Klein bestätigt in seinem Anschreiben an Hohmann, dass das Manuskript lediglich in zwei Fassungen vorgelegt wurde: das an Hohmann adressierte Original – es ist im Nachlass Erhards erhalten – und eine Kopie, die Klein für sich behielt und die sich heute in dessen nachgelassenen Papieren befindet. Wohl schon 1977 wurden in der Ludwig-Erhard-Stiftung dann zwei weitere Ablichtungen angefertigt, denn neben dem Original sind diese an unterschiedlichen Stellen im Nachlass von Ludwig Erhard abgelegt.19 Erst durch meine Recherchen im Jahr 2022 im Nachlass von Johnny Klein wurde ich auf das Manuskript aufmerksam, das von der Forschung bislang nicht zur Kenntnis genommen worden ist.
Warum aber hat Karl Hohmann der Forschung das Manuskript vorenthalten? Und warum ist es, wie ursprünglich vorgesehen, nicht schon 1977 zum Druck gelangt? Die Beantwortung dieser Fragen wird zunächst erschwert, weil Hohmann sich dazu nur an einer einzigen Stelle und zudem nur indirekt geäußert hat. Als ehemaliger Leiter des Büros von Bundeskanzler Ludwig Erhard und als erster Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung verstand sich Karl Hohmann schon zu dessen Lebzeiten als eine Art Türhüter der Erhard-Welt und Wächter des Vermächtnisses des schon damals legendären Bundeskanzlers. Hohmann war eine Art selbst ernannter Lordsiegelbewahrer, der zutiefst verletzt war durch die Umstände, unter denen Ludwig Erhard 1966 zum Rücktritt gezwungen wurde. Noch zu Lebzeiten von Ludwig Erhard hatte es sich Hohmann zur Aufgabe gemacht, »den großen Zeitungen und Magazinen der Weltpresse, deren Interessen sich nicht überschneiden, in bestimmten Abständen Namensartikel des Altbundeskanzlers zur Verfügung zu stellen, um damit in die Diskussion z. B. um das sogenannte Nord-Süd-Verhältnis oder die ›neue Weltwirtschaftsordnung‹ einzugreifen«. Hohmann wies dabei ausdrücklich auf die in der Bundesrepublik stärker werdenden »Gegenkräfte« hin, die »für planwirtschaftliche bis hin zu zentralverwaltete[n] Wirtschaftsformen eintreten«.20 Hohmann wollte zweifellos in die Debatte eingreifen und das Bild Ludwig Erhards in der deutschen Geschichte prägen.
1977 schließlich veröffentlichte Karl Hohmann im Auftrag der Ludwig-Erhard-Stiftung den Band Ludwig Erhard: Erbe und Auftrag.21 Die dort enthaltenen Texte umfassen die entscheidenden Reden des Staatsaktes sowie des Staatsbegräbnisses in Tegernsee und Gmund am 12. Mai 1977, die Trauerbekundungen ausländischer Staatsmänner sowie die Würdigungen, Kommentare und Presseberichte sowohl zum Tod Ludwig Erhards am 5. Mai als auch zu dessen 80. Geburtstag wenige Monate zuvor am 4. Februar 1977. Im Vorwort zu dieser Gedenkschrift wies Karl Hohmann ausdrücklich darauf hin, dass die an dieser Stelle vorgelegten Erklärungen Ludwig Erhards »vermächtnishaften Charakter«22 besäßen und sich als Beitrag zu der sich im Entstehen begriffenen Erhard-Forschung verstünden, »deren Anfang gemacht ist und deren Notwendigkeit sich immer mehr erweist«.23 Dies war der erklärte Anspruch und auch das Motiv für den Erinnerungsbericht, den Klein im Auftrag der Ludwig-Erhard-Stiftung geschrieben und abschließend an Hohmann adressiert hatte. Aus den Unterlagen Kleins geht nicht nur die Höhe der Honorarzahlung für den Band hervor, sondern auch der Umstand, dass Klein die Forderung der für den Band entstandenen Spesen sowie »das vereinbarte Schreibhonorar für Fräulein Bayerschmidt« an Hohmann richtete und die Überweisung mit der launigen Bemerkung anregte, »damit die Phönizier nicht umsonst das Geld erfunden haben«.24
Es ist auffällig, dass sich Hohmann nicht nur mit der Kommentierung des Textes zurückgehalten hat, sondern auch keinen inhaltlichen Austausch mit Klein über die Kanzlerzeit gesucht hat. Hatte Hohmann von der ursprünglichen Publikationsabsicht schon relativ bald nach Erhards Tod Abstand genommen? Zum besseren Verständnis des Lesers ist der Vermerk Hohmanns an den das Memoiren-Manuskript betreffenden Stellen in den Anmerkungen wörtlich zitiert. Aus einer kryptischen Bemerkung im Jahresbericht der Ludwig-Erhard-Stiftung von 1977 ist zu entnehmen, dass Karl Hohmann verschiedene Manuskripte zu einem größeren Gesamtbild zusammenbringen wollte, eine Absicht, die er dann aber nie verwirklicht hat.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang insbesondere ein undatierter, einseitiger maschinenschriftlicher Vermerk mit einer handschriftlichen Ergänzung aus der Feder Hohmanns, der dem Memoiren-Manuskript beigelegt ist.25 Der Diktion nach und vor dem Hintergrund der handschriftlichen Ergänzung ist die Autorenschaft Hohmanns eindeutig. Aus dem Vermerk wird insbesondere klar, in welchen Punkten Hohmann gegen das von Johnny Klein verfasste Memoiren-Manuskript Vorbehalte verspürte. Die darin dargestellten Themenkomplexe beinhalten bis auf einen Punkt eher marginale Anmerkungen. Wegen seiner grundsätzlichen und zeitgeschichtlichen Bedeutung vor dem Hintergrund der hier dargestellten Entstehungsgeschichte des Manuskripts ist der einzige inhaltliche Vermerk, der aus der Feder von Karl Hohmann zu den Erhard-Memoiren vorliegt, an den entsprechenden inhaltlichen Stellen wortwörtlich in die Anmerkungen eingearbeitet worden. Wenn sich Hohmanns dissenting opinion im Wesentlichen auf kleinere Retuschen bezog, so hatte sie doch in einem Punkt eine zentrale politische Frage zum Gegenstand, bei der eine grundlegende unterschiedliche Auffassung zwischen Karl Hohmann und Johnny Klein vermerkt werden muss. Diese bezog sich auf Franz Josef Strauß, den damaligen CSU-Vorsitzenden, der 1963 maßgeblich daran beteiligt war, dass Ludwig Erhard zum zweiten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt werden konnte, und der trotz seiner politischen Bewunderung für Ludwig Erhard in den Kanzlerjahren dessen schwieriges Verhältnis zur Macht, vor allem aber die von Strauß wiederholt kritisierte fehlende strategische Orientierung – und hierbei insbesondere die Vernachlässigung des deutsch-französischen Verhältnisses – dazu gebracht hatte, Erhard mehr und mehr kritisch zu sehen.26 In dem undatierten Vermerk Hohmanns heißt es dazu bezeichnend: » Die Person Strauß – bzw. dessen Einflussnahme ist m. E. viel zu positiv gezeichnet. […] M.E. ist ohnehin der Kanzlersturz stark zugunsten von Strauß und zuungunsten der FDP verzeichnet. (S. 98/102 ff.)«27
Für die positive Darstellung von Franz Josef Strauß mag es zudem Gründe gegeben haben, die in der politischen Biografie von Johnny Klein zu suchen sind. Denn Klein war zum Zeitpunkt der Abgabe des Manuskripts schon Mitglied der CSU-Bundestagsfraktion mit eigenen politischen Ambitionen und bald darauf nach den Wahlen 1976 Bundestagsabgeordneter und damit, wie Strauß auch, Mitglied der CSU-Landesgruppe. Bei der Lektüre der entsprechenden, auf das Wirken der CSU bezogenen Passagen der Erhard-Memoiren muss ein aus dem Spannungsverhältnis zwischen politischer Aufgabe und schriftstellerischem Auftrag erwachsener Interessenkonflikt des Ghostwriters Johnny Klein in Rechnung gestellt werden. Bereits im November 1972, nach den Olympischen Spielen, deren Pressechef Klein gewesen ist, hatte er erfolglos im Wahlkreis 204 München-Mitte für den Deutschen Bundestag kandidiert. Vier Jahre später konnte er dann als direkt gewählter Abgeordneter dieses Wahlkreises in den Deutschen Bundestag einziehen. Diese zeitliche Abfolge lässt die Schlussfolgerung zu, dass Klein das Manuskript unmittelbar vor Beginn der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs fertiggestellt haben muss. Eine zu deutliche Kritik, gar eine Auseinandersetzung mit der Rolle von Franz Josef Strauß in der Schlussphase der Regierung von Ludwig Erhard – Ereignisse, die damals ein Jahrzehnt zurücklagen – wäre zu diesem Zeitpunkt für den Bundestagsaspiranten Johnny Klein kaum opportun gewesen.
Aus der hier ausführlich paraphrasierten inhaltlichen Kritik Hohmanns können dennoch keine grundsätzlichen Zweifel am Quellenwert der Memoiren oder gar ein grundlegender Dissens zwischen Hohmann und Klein abgeleitet werden, denn das enge Verhältnis zwischen Karl Hohmann und Johnny Klein hatte durch die Abgabe der Auftragsarbeit nicht gelitten. Bereits mit dem Schreiben vom 18. April 1977 übersandte Karl Hohmann Johnny Klein die Urkunde zur Mitgliedschaft im Freundeskreis Ludwig Erhard,28 und im September 1977 forderte er ihn dazu auf – wie andere Wegbegleiter auch – , einen Beitrag (konkret angefragt war der Nachruf auf den Bundeskanzler aus der Feder von Johnny Klein, der im Bayernkurier erschienen war) zur Gedenkschrift für Ludwig Erhard beizusteuern.29 Bereits wenige Tage vor dieser Anfrage hatte Hohmann zudem Klein um Mitwirkung am ersten Symposium der Ludwig-Erhard-Stiftung gebeten, das für den 10. November 1977 geplant war.30
Folgt man der Korrespondenz, gestaltete sich mit zunehmendem Abstand der Kontakt zwischen dem Vorstand der Ludwig-Erhard-Stiftung und dem vielbeschäftigten Klein in den 1980er-Jahren dann weniger intensiv. Als Hohmann 1988, wiederum im Econ Verlag, aus Anlass des 100. Geburtstags ein voluminöses Buch über Ludwig Erhard – Gedanken aus fünf Jahrzehnten veröffentlicht hatte, wandte er sich an den einstigen Weggefährten – der Brief ganz korrekt mit »Sehr geehrter Herr Minister, lieber Herr Klein« adressiert – , um ihn für eine mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vereinbarte Buchbesprechung anzufragen.31 Klein, der nunmehr als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit selbst am Kabinettstisch Helmut Kohls saß, übernahm die Aufgabe unverzüglich und im vereinbarten Umfang und verwies dabei nicht nur auf die Aktualität der Analysen und Prognosen Erhards, sondern würdigte auch den Herausgeber mit anerkennenden Worten: »Karl Hohmann, intellektueller Nachlassverwalter und treuester der treuen Erhard-Mitarbeiter« habe mit kundiger Hand 153 Artikel und Ansprachen seines alten Chefs zusammengestellt.32
Worin liegt nun der zeitgeschichtliche Wert der Erhard-Memoiren, und welche Besonderheiten weist das Manuskript auf? Auffällig ist zunächst der selektive, sehr persönliche und in Form und Wortlaut gewählte Stil, der sich auf den ersten Blick etwas vom klassischen Erhard-Sound abhebt, auf den zweiten Blick indes die für Erhard typischen Formulierungen enthält, die er auch in seinen Reden wiederkehrend aufgegriffen hat. Das Besondere der Aufzeichnung liegt in ihren unverstellten Einblicken in die Maschinenräume der Macht, in das innere Gefüge der Christlich Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union Deutschlands sowie der Fraktionsgemeinschaft, die sie bildeten und die es ihrem Bundeskanzler Ludwig Erhard beim Regieren nicht allzu leicht gemacht hat. Es zeigt insbesondere die persönliche Verwundung, die Ludwig Erhard in jenen für ihn schmerzvollen Jahren erlitten hat und die auch nach dem Amtsverlust nicht von ihm gewichen ist. Klein konnte aufgrund seiner Nähe und seines psychologischen Gespürs so manches aufnehmen und in Worte fassen, was bis dahin verborgen geblieben war. Gerade diese Gabe macht das Manuskript zu einer faszinierenden Lektüre, die zudem erstaunlich aktuell ist. Denn vieles von dem, was im Manuskript mit messerscharfem Verstand und flotter Feder festgehalten ist, könnte eins zu eins auf das Parteiengezerre in der im Publikationsjahr 2024 amtierenden Ampelkoalition und auf die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition übertragen werden. Gewiss: Geschichte wiederholt sich nicht, aber bestimmte Konstellationen kehren wieder.
War Ludwig Erhard, der leutselige Franke mit der nie verglimmenden Zigarre, ein Machiavelli? Johnny Klein hat an anderer Stelle diese Frage gestellt und gleich selbst beantwortet: »Er ist anders, ganz anders als sein Bild in der Öffentlichkeit. Aber nichts sitzt fester als ein Vorurteil […]. Erhard hat eine visionäre Gabe, ein instinkthaftes Gefühl für große Entwicklungslinien. Er hat eine geradezu amerikanische Freude am Neuen und am Ungewöhnlichen.«33 Der Erhard, der uns in seinem Manuskript gegenübertritt, trägt gewiss auch Züge, die Johnny Klein in ihm sehen wollte. Dies ist das Schicksal aller Erinnerungswerke von Staats- und Regierungschefs, die sich bei der Niederschrift mehr oder weniger ganz auf fremde Federn verlassen haben, ohne dass dies von Wissenschaft und Publizistik immer so wahrgenommen worden ist.34
Erhards Memoiren werden an dieser Stelle als Faksimile mit einem knapp gehaltenen wissenschaftlichen Apparat vorgelegt. Offenkundige Schreib- und Interpunktionsfehler sind deshalb nicht korrigiert. Die Anmerkungen beschränken sich dabei auf Angaben, die zum Verständnis des zeitgeschichtlichen Kontexts für den heutigen Leser hilfreich erscheinen und die insbesondere Querverweise zu den biografisch-politischen Bezügen des Ghostwriters Johnny Klein aufzeigen. Ein Personenregister soll zudem helfen, biografische Kurzangaben zu den im Text erwähnten Personen parat zu halten. Hierin wurden alle im Text genannten Personen aufgenommen, die in Beziehung zu Ludwig Erhard standen und deren biografische Daten für das Verständnis seiner Memoiren von Belang sind. Ein ausführlicher Essay ordnet die Memoiren in den zeitgeschichtlichen und biografischen Kontext über Ludwig Erhard als Person und Bundeskanzler ein. Das Verzeichnis der herangezogenen Quellen und Literatur, eine Zitatensammlung, ein Verzeichnis der Kurzbiografien und eine Zeittafel schließen die Edition ab.
Ulrich SchlieBonn, Ostern 2024
Liebe Freunde!
Erkenntnisse und Erfahrungen meiner Kanzlerzeit: Ich lege sie Ihnen vor, weil ich die Lehren aus Geschehenem und Gewolltem, Erreichtem und Verhindertem weitergeben will. Die Distanz von bald zehn Jahren, aus der ich schreibe, verschärft die Konturen des objektiv Wichtigen. Was mich im Herbst 1966, in den Wochen vor und nach meinem Rücktritt als Bundeskanzler, subjektiv bewegt hat, ist dagegen inzwischen eher verblaßt.
Keine Rechtfertigung also und keine Enthüllung, auch nicht die des eigenen Denkmals.
Das Gerüst meiner Darlegungen bildet der Ereignisablauf vom 16. Oktober 1963 bis zum 30. November 1966. Doch um bestimmte Verwicklungen zu entschlüsseln, skizziere ich - zumindest mit einigen Strichen - jeweils ihre Ursachen und ihren historischen Weg. Um die teilweise dramatische Aktualität des Berichteten zu verdeutlichen, führe ich auch Daten, Zahlen und Fakten aus der allerjüngsten Vergangenheit an.
Niemand kann aus seiner persönlichen Gleichung heraus springen. Diese Aufzeichnung, die als Appell an Sie gemeint ist, enträt der Emotion35, aber nicht des Engagements. Sie ist aus dem Bemühen um chronistische Nüchternheit entstanden, aber sie soll einen Beitrag leisten zu der großen geistig-politischen Auseinandersetzung unserer Zeit. Zu der Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Sozialismus.36
Der Kanzlerwechsel
Die Welt war keineswegs in Ordnung, als ich am 18. Oktober 1963, zwei Tage nach meiner Wahl zum Bundeskanzler, im Deutschen Bundestag meine Regierungserklärung abgab. Aber die Kräfte in der Welt, die für eine freiheitlich demokratische Ordnung eintraten, waren noch nicht in den lebensgefährlichen Strudel lustvoller Selbsterniedrigung geraten. Der Sozialismus in all seinen Erscheinungsformen und mit all seinen internationalen Querverbindungen glaubte selber noch nicht an die Sprüche von der geschichtlichen Erfolgsautomatik seiner Ideologie. Auf die damalige Situation in der Bundesrepublik Deutschland verkürzt, bedeutete dies jedenfalls noch weit gehende Übereinstimmung der drei Bundestags-Parteien in den Schicksalsfragen der Nation. In welchem Maße sich dabei die SPD lediglich in politischer Mimikri übte, in wahltaktischer Anpassung an eine kraftvolle Mehrheitshaltung, das sollte allerdings schon bald erkennbar werden. Eine unscheinbare statistische Angabe kennzeichnet die intellektuelle Manövrierfähigkeit demokratischer Sozialisten ebenso wie die undoktrinäre Vernunft sozialer Demokraten: Meine Regierungserklärung wurde von 112 Beifallsbekundungen unterbrochen. 45 davon gaben allein oder gemeinsam mit den Regierungsparteien Mitglieder der SPD-Fraktion ab.
Unter ihnen Herbert Wehner ebenso wie Fritz Erler.
Das befreundete, der Bundesrepublik Deutschland wohlgesonnene Ausland beobachtete den Kanzlerwechsel mit einer gewissen Spannung. Galt er doch vielen als erste Bewährungsprobe der jungen deutschen Demokratie. So laut auch über die Unterschiede, ja Gegensätzlichkeiten im Persönlichkeitsbild von Konrad Adenauer und mir nachgedacht wurde, in dem Übergang lag nichts Abruptes. Schließlich war ich als Bundeswirtschaftsminister und später auch als Vizekanzler Adenauers engster Mitarbeiter. Schließlich war die "Soziale Marktwirtschaft" wesentlicher Bestandteil, wenn nicht sogar Voraussetzung der Errungenschaften der „Ära Adenauer·". Schließlich war ich in der Nachfolge Adenauers als Bundeskanzler von einer breiten Mehrheit der Unionsparteien und der FDP, deren Bundestagsfraktionen, aber auch der öffentlichen Meinung getragen. Und schließlich hatte meine politische Nachkriegskarriere - genau wie die Adenauers - bereits 1945 begonnen. Nur: Im Gegensatz zu meinem Vorgänger konnte ich auf keine politische Vorkriegskarriere zurückblicken. Ein Umstand, dessen Bedeutung ich in meinen Kanzlerjahren noch zu bewerten lernte.
Der Übergang vom ersten deutschen Bundeskanzler zum zweiten verlief - abgesehen von einer eindrucksvollen weltweiten Publizität - geräuschlos und nach einer fast selbstverständlich-plausiblen Logik. Dem oberflächlichen Beobachter fielen vielleicht einige Stiländerungen auf, einige neue semantische Nuancen. Aber die erwartete, aus den unterschiedlichen Erfahrungsbereichen "hochgerechnete" Gewichtsverlagerung von der Außenpolitik auf die Wirtschaftspolitik unterblieb. Im Gegenteil. Während Konrad Adenauer in seiner letzten Regierungserklärung am 29. November 1961 deutlich innenpolitische Schwerpunkte gesetzt hatte, stellte ich zwei Jahre später die Deutschland- und Außenpolitik erkennbar in den Vordergrund.37Daß ich, ganz im außenpolitischen Koordinatensystem Adenauers, dabei die unvermindert aggressive Haltung der Sowjetunion anprangerte, die Deutschlandfrage als Kern der Ost-West-Beziehungen heraushob, unsere NATO Mitgliedschaft als Fundament der Sicherheit bezeichnete, die enge Zusammenarbeit mit den USA unmittelbar neben den angestrebten Ausbau der Freundschaft mit Frankreich stellte und unsere guten Beziehungen zu den befreundeten Völkern des Nahen und Fernen Ostens, Afrikas und Südamerikas betonte - das war jedoch nicht nur Reverenz vor den Erfolgen kluger und beharrlicher diplomatischer Aufbauarbeit meines Vorgängers. Es spiegelte die Grundzüge unserer bis heute gültigen außenpolitischen Position, in der das wohlverstandene deutsche Nationalinteresse seinen in der Vergangenheit realistischen, für die Zukunft aussichtsreichen Platz gefunden hat. An der Richtigkeit dieser Position haben weder die gefährlich unsolide "Ostpolitik" der SPD/FDP-Bundesregierungen etwas geändert noch das von den Sowjets und ihren kommunistischen Verbündeten schamlos und zielbewußt ausgebeutete weltweite Bedürfnis nach Entspannung.
Doch selbst meine Anregungen und Impulse für weitere Erleichterungen der Situation Berlins, für eine den beiderseitigen Interessen nützliche Verbesserung unseres Verhältnisses zum Ostblock und für eine Intensivierung des europäischen Einigungsprozesses, bauten auf in Gang befindlichen Entwicklungen auf.
Niemand zeigte sich auch überrascht davon, daß ich in einigen Fragen mehr Aufgeschlossenheit zu erkennen gab und praktisch-wirtschaftliche Möglichkeiten zuungunsten formal-juristischer Gegebenheiten stärker betonte. So habe ich den osteuropäischen Staaten in meiner Regierungserklärung beispielsweise die Bereitschaft der Bundesregierung signalisiert, den Wirtschaftsaustausch mit ihnen zu verstärken. Dabei ging ich von einer sehr präzisen Kenntnis der immensen Bedürfnisse dieser Länder aus. Und ich dachte keinen Augenblick an· einseitige Vorleistungen, weil die Russen - hierbei scheinen sie die marxistisch/leninistische Ideologie lediglich als ein brauchbares Vehikel zu benützen - bisher jede erfüllte Forderung mit einer neuen Forderung quittiert haben. Meine außenpolitischen Vorstellungen, meine vor dem Parlament und damit vor der Weltöffentlichkeit bekannt gegebenen Richtlinien für die Wahrnehmung der deutschen Interessen nach außen, ermangelten mithin weder der Prinzipientreue noch der Flexibilität. Wenn es trotzdem Kreise innerhalb der CDU/CSU gab, die eine zu große Konzessionsbereitschaft aus meiner Regierungserklärung herauszuhören glaubten, so waren sie weitgehend identisch mit jenen, die schon bald darauf das außenpolitische Bundesressort dem SPD-Parteivorsitzenden antrugen.
Die Regierungskunst
Ein krasser Unterschied zwischen Konrad Adenauer und mir wurde allerdings sehr bald nach meiner Wahl zum Bundeskanzler sichtbar: Die von Veranlagung, Bildungsweg und allgemeiner Lebenserfahrung geprägte, geradezu gegensätzliche Auffassung von der Kunst zu regieren oder zeitgemäßer ausgedrückt, von den Methoden, Mehrheiten zu schaffen und mit ihrer Hilfe eine bestimmte Politik durchzusetzen. Konrad Adenauer, patriarchalisch veranlagt, juristisch gebildet und politisch in langen Jahren als Oberbürgermeister Kölns und Präsident des Preußischen Staatsrats erfahren, handhabte das zur Verfügung stehende politische Instrumentarium virtuos. Er dachte in HausmachtBegriffen, spielte widerstreitende Interessenten-Gruppierungen geschickt gegeneinander aus, bediente sich fast aller denkbaren Mittel der Personalpolitik und war - obwohl auf den Ruf des autoritären Mannes der einsamen Beschlüsse bedacht - stets bis an die Grenze des Vertretbaren, manchmal sogar ein Stückchen darüber hinaus zu Kompromissen bereit. Dabei zögerte er nie, die Vorrechte seines hohen Alters in die Waagschale zu werfen.
Und mit rheinischem Charme überspielte er negative Reaktionen auf den häufigen Gebrauch von List und die gelegentlich starke Stilisierung der wahren Sachverhalte.
Konrad Adenauer, in vielen Fragen durch den großen Erfolg seiner Leistung gerechtfertigt, bekräftigte damit aber zugleich eine Vorstellung vom Politiker, dessen Wertmaßstäbe etwa zwischen Pragmatismus und Machiavellismus zu orten sind. Ein Politiker-Bild, das nach meiner Überzeugung das Spektrum demokratischer Verhaltensmöglichkeiten nur noch bedingt abdeckte. Damit Sie, meine verehrten Freunde, mich nicht mißverstehen: Die christlich-abendländischen Grundzüge der Adenauer'schen Politik waren so klar, daß sich dieses Urteil wesentlich nur auf die Methode ihrer Verwirklichung beziehen konnte. Doch das Beispiel dieser Methode hatte Auswirkungen auf spätere politische Sitten. Und es barg naturgemäß Gefahren in sich für Epigonen, die von einem weniger soliden ethischen Fundament aus handelten als Konrad Adenauer.
Einer meiner Kritiker schrieb vor Jahren: "Ludwig Erhard hat die Macht, die ihm als Regierungschef zu kam, die das Geschäft des Regierens eigentlich erst ermöglicht und ohne die auf die Dauer auch ein demokratischer Staat nicht zu führen ist, nicht ergriffen."38Es mag vordergründig naiv klingen: Aber ich halte den Begriff Macht in einer Demokratie für eine contradictio in adjecto, auch wenn ihm die angelsächsische Definition zeitlicher Begrenzung und parlamentarischer Kontrolle beigefügt ist. Und es ist weder sophistische Spielerei noch parteipolitische Polemik, wenn ich zur Verdeutlichung meiner Auffassung erkläre: Die CDU/CSU hat 20 Jahre lang in der Bundesrepublik Deutschland regiert, die SPD/FDP hat von 1969 an Macht ausgeübt.39Mit dieser Feststellung wird klar, daß ich Konrad Adenauer nicht etwa für einen "Machtpolitiker" gehalten habe. Aber wir gingen in der Einstellung zu diesem Begriff von diametralen Standpunkten aus.
Ich will hier auch nicht mit einem zweiten AntiMachiavell aufwarten.40Das würde ich für genauso anachronistisch halten wie eine durch neuzeitliche politische Dogmen begründete Wiederbelebung der Lehren Niccolo Machiavellis. Vermutlich ist die moralische Substanz der Individuen eine gleich bleibende Größe. Aber in der Politik kommt es darauf an, sie zu aktivieren und sie als Maßstab verantwortlichen Handelns zu akzeptieren. Im Rahmen demokratischer Spielregeln widersetzt sich das Selbstwertgefühl des Einzelnen einem Beherrschtwerden durch "Machthaber", selbst wenn diese gewählt wurden. Und das Gruppenverständnis in einer modernen, aufgeklärten Industriegesellschaft erheischt eher eine Regulierung gegeneinander gerichteter Dynamiken als Befehls- und Gehorsamsverhältnisse, die sich aus dem Phänomen Macht ableiten.
Zugegeben: Auch die antiquiertesten Formen der Macht bezogen sich im Regelfall auf eine Instanz, die außerhalb des Machtausübenden lag. Gleichgültig ob diese Instanz nun archaisch-mystischen Charakter hatte oder dynastisches Gottesgnadentum war. Hier ließe sich leicht eine Parallele konstruieren zur Instanz Wähler.
Die Demokratie und mit ihr die wohlbedachte politische Gleichstellung aller hat aber dem menschlichen Zusammenleben eine neue Dimension eröffnet, der staatlichen Regulierung dieses Zusammenlebens eine andere Qualität gegeben. Wer die Mündigkeit des Bürgers ohne Ansehen seiner sozialen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Zugehörigkeit bejaht, muß zwangsläufig die Macht als Mittel ablehnen, den Bürger zu regieren. Macht zielt in ihrem innersten Kern stets auf absolute Macht.
Aus dieser Einstellung habe ich zu keinem Zeitpunkt einen Hehl gemacht. Weder gegenüber der Öffentlichkeit noch gegenüber der CDU/CSU, noch gegenüber Konrad Adenauer. Dennoch habe ich nie in Frage gestellt, daß gerade der demokratische Staat, seine Institutionen, seine Wirtschaftsunternehmen, seine gesellschaftlichen Gruppierungen der Autorität bedürfen. Einer Autorität, die auf Können, Wissen, Erfolg und sittlicher Verpflichtung der führenden Persönlichkeiten fußt. Es erscheint mir wahrscheinlich, zumindest habe ich keine andere Deutung, daß es meine Einstellung zur Macht und meine Einschätzung der eigenen Autorität waren, die Konrad Adenauers Reserve, ja zeitweilig energischen Widerstand gegenüber seinem Nachfolger erklären. Dies in aller Offenheit darzulegen, halte ich nicht nur aus Gründen der historischen Wahrheit für notwendig. Versuchte ich, mich mit einigen schönfärberischen Formeln darum herum zu mogeln, verlöre vieles von dem, was ich Ihnen weitergeben will, seinen Wert.
Weil zahlreiche Entwicklungen während meiner Kanzlerzeit nur aus davorliegenden Ereignissen zu erklären sind, muß ich zurückgreifen: Das wichtigste politische Ziel, das sich die CDU und die CSU bei ihrer Gründung gesteckt hatten, war zweifelsfrei die Überwindung der konfessionellen Spaltung in einer politischen Willensgemeinschaft, die sich an Sittenlehre und Menschenbild des Christentums orientierte. Aus Gründen, deren vollständige historische Erforschung hier zu weit führen würde, spielten aber in beiden Unionsparteien katholische Persönlichkeiten eine hervorragende Rolle, die sich bereits im Zentrum oder in der Bayerischen Volkspartei bewährt hatten.
Und unter ihnen hatten wiederum die Männer ein zumindest zahlenmäßig starkes Gewicht, die ihre politische Laufbahn in der Katholischen Arbeitnehmer Bewegung begonnen hatten. Aus ihren Kreisen stammten die ersten programmatischen Vorstellungen einer Sozial- und Wirtschaftspolitik, aus denen das Ahlener Programm hervorging. Ein Dokument leidenschaftlichen sozialen Einsatzes und großen humanitären Verantwortungsbewußtseins. Es war der Versuch einer christlichen Antwort auf die Herausforderung der unbeschreiblichen Nachkriegsnot unseres Volkes. Vor dem Hintergrund des Unvermögens der Weimarer Republik, brennen de soziale Fragen zu lösen, und nach der langen Gewöhnung an staatliche Zwangslenkung der Wirtschaft durch das Dritte Reich war es nur zu verständlich, daß in diesem Programm teilweise widersprüchliche und von sozialistischen Vorschlägen schwer unter scheidbare Wege aufgezeigt wurden.
Das Ahlener Programm wurde in den ersten FebruarTagen 1947 beschlossen.41Am 20. Juni 1948 hob ich als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes die alliierten Bestimmungen für die Zwangsbewirtschaftung auf. Konrad Adenauer setzte sich mit mir in Verbindung. Am 15. Juli 1949 verabschiedete die CDU ihre Düsseldorfer Leitsätze, die in ihren wesentlichen Zügen das von mir vertretene Programm der Sozialen Marktwirtschaft umfaßten. Das war eine logische, von den Ereignissen bestätigte Fortentwicklung des Ahlener Programms. Es war allerdings auch die deutliche Ab kehr von allen sozialistischen Tendenzen. Ich habe später gelegentlich scherzhaft erklärt: "Die CDU ist auf dem Wege der unbefleckten Empfängnis zu einer Wirtschaftspolitik gekommen." Diese Bemerkung richtete sich nicht gegen die christlichen Sozialpolitiker, die bei Abfassung des Ahlener Programms federführend waren. Im Gegenteil! Waren es doch Männer wie Theo Blank, die neben den süddeutschen und vor allem bayerischen Politikern im Wirtschaftsrat an meiner Seite für die Durchsetzung der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft gekämpft haben. Dennoch: Meine absolute Selbstgewißheit in Sachen Soziale Marktwirtschaft und vielleicht auch meine anfängliche Unbekümmertheit, sie partei-intern zu vertreten, mögen Gründe dafür sein, warum ich Jahrzehnte später als Bundeskanzler bei Teilen dieser Gruppierungen innerhalb hauptsächlich der CDU wachsende Vorbehalte zu spüren bekam. Und ein Zweites: Konrad Adenauer hat die Soziale Marktwirtschaft von Anfang an unterstützt. Ihm, dem Katholiken gegenüber wurden aber solche Vorbehalte nicht gemacht.