Wollt ihr den totalen Wahnsinn? - Timm Koch - E-Book

Wollt ihr den totalen Wahnsinn? E-Book

Timm Koch

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Beschreibung

Hochrangige Nazis haben sich zum Ende des Zweiten Weltkrieges nach Südamerika zurückgezogen, wo sie unter Mitwisserschaft des amerikanischen Geheimdienstes leben. So weit, so bekannt. Doch jetzt kommen längst totgeglaubte Nazigrößen ins skurrile Spiel. Ein Parforceritt zwischen realer und fiktiver Geschichtsschreibung, totalem Wahnsinn und einem streng gehüteten Geheimnis.

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Seitenzahl: 539

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ebook Edition

Timm Koch

Wollt ihr den totalen Wahnsinn?

Der Nazi-Roman

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-946778-52-3

1. Auflage 2024

© Fiftyfifty Verlag Imprint der Buchkomplizen GmbH, Siemensstr. 49, 50825 Köln

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Lektorat: Eva Schweitzer

Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt

Inhalt

Cover

Bourbon – 1945

Großvaters Stahlrute – 1982

Sperma – 1945

Fähndelschwenken – 1974

Bier – 1914

Messwein – 1921

Schweres Wasser – 1945

Wodka – 1945

Maulwürfe vergasen – 1975

Schwarzer Tee – 1921

Milchnertunke – 1926

Kamillentee – 1932

Der Tod meiner Großmutter – 1979

Mineralwasser – 1934

Kentern lernen – 1982

Rum – 1935

Benzin – 1945

Hitlers Liebesbriefe und eine Schublade in Irland – 1984

Yperit – 1936

Barbera – 1938

Trollinger – 1940

Der goldene Ehering des Lateinlehrers – 1986

Schweiß – 1948

Kaffee – 1949

Mate – 1951

Afrikanisches Blut – 1952

Zwei Brüder mit Namen Otto von Bismarck und Wilhelm II – 1989

Kondensmilch – 1954

Trampen mit KZ-Schlächter – 1991

Der Schürhaken aus Auschwitz – 1991

Chicha – 1967

Mussolini, Skinheads und die Kreuzberger Türken – 1991

Ein mumifizierter Babyfinger – 1992

Voodoo-Blues – 1992

Hey you, surprise! – 1993 bis 1994

Weihwasser – 1954

Rote-Bete-Saft – 1993

Der Friseur des Papstes – 2019

Mein Freund der Raketenmann – 1980 bis 2021

Epilog: Der kleine Hitler und das Ei –2023

Nachwort

Orientierungspunkte

Cover

Inhaltsverzeichnis

Bourbon – 1945

Berlin, Deutschland

Der Champagner hat seinen Kopf leicht gemacht. Die Trauung war eine Farce. Immerhin gibt es einen Grund für Champagner. Die Feste feiern, wie sie fallen. Ein guter deutscher Grundsatz. Die Enge des Bunkers drückt ihm auf die Seele. Die Gänge riechen feucht und muffig. Er braucht frische Luft. Die beiden Wachposten am Notausgang reißen erstaunt die Augen auf. Beide sind jung, athletisch und kernig. Einerseits froh darüber, hier drinnen einstweilen in Sicherheit zu sein, wirken sie andererseits grüblerisch, was ihr unsicheres weiteres Schicksal angeht. Damit stehen sie in diesen Tagen nicht alleine da. Bevor sie etwas sagen können, winkt er mit der rechten Hand.

»Wie Sie wünschen, Herr Reichsminister.«

Hätte ruhig ein wenig strammer erklingen können. Aber gut. Der Champagner macht ihn milde. Er ringt sich ein Lächeln ab. Einer der beiden öffnet ihm die Türe. Der andere steht einfach nur da, auf dem Kragenspiegel die Siegrunen, den Blick ins Leere gerichtet. Er tritt hi­naus in den Garten. Es nieselt leicht. Ein milder Abend. Die japanische Kirsche steht in voller Blüte. Der Berliner Frühling kommt dieses Jahr mit Artilleriefeuer, Explosionen und dem Knattern der Maschinengewehre. Schreie sind zu hören. Einzelne Schüsse verschwimmen zu einer Kakophonie der Gewehre. Von frischer Luft keine Spur.

Es riecht nach Schlachtfeld. Die Reichskanzlei lässt sich hinter Rauchschwaden nur als Schemen erahnen. Vermischt mit dem Brandgeruch wabert der Gestank von zerfetzten Därmen, Blut, abgefeuerter Munition und Ziegelstaub durch den leichten Mandelduft, den die Blüten des Kirschbaums verströmen. Statt sich die Lungen zu füllen, atmet er flach und stützt sich dabei mit dem Arm an den Stamm des Kirschbaums. Er betrachtet den Schein der Brände in der einsetzenden Dunkelheit. Die Russen sind da. Sein Werk. Ihr Werk. Ihr gemeinsames Werk. Bald ist es vollbracht. Hatte er sich anders vorgestellt.

»Haben Sie keine Angst vor einer Bleivergiftung?«

Die Stimme klingt sanft. Er hat die Schritte des Uniformierten auf dem Rasen nicht kommen hören. Kein Wunder bei diesem Krach. »Er will sie sprechen.«

»Sollte er jetzt nicht seinen Bräutigamspflichten nachkommen?«

Die Erde wackelt durch eine nahe Detonation. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Er greift mit beiden Händen nach der rauen Borke des Kirschbaums. Der SS-Mann setzt sein schiefes Grinsen auf. Der Widerschein der Brände flackert feuerrot über seine Züge.

»Die sind bereits abgehakt, Herr Doktor. Jetzt will er Sie sprechen.«

Zurück im Bunker erscheint ihm das Draußen wie ein zäher Traum. Dank des Notstrom-Aggregats funktioniert die Beleuchtung tadellos. Die Bunkerlampen verströmen ein schummriges Licht. Der SS-Mann klopft, wartet kurz und öffnet die Türe. Das gemurmelte »Herein« war nur für seine Ohren hörbar. Drinnen schließt er die Türe wieder. Adolf sitzt in seinem Ohrensessel. Er wirkt nicht gerade wie ein befriedigter Bräutigam nach dem Vollzug der Ehe. In der Hand hält er ein schweres Glas aus Bleikristall, in dem eine bernsteinfarbene Flüssigkeit schimmert. Auf dem Tisch steht die Flasche. Sie ist zu einem Drittel geleert.

»Setz dich, Seppl. Nimm dir ein Glas.«

»Was trinkst du?«

»Whiskey. Oder besser gesagt Bourbon. Der Amerikaner war hier.«

»Ist er schon wieder weg? Ich wollte doch auch mit ihm reden.«

Adolf nimmt die Flasche in die Hand und mustert das Etikett.

»Jim Beam. Der hieß mal Johannes Böhm. Hat seinen Namen amerikanisiert. So was steht uns auch bevor.«

Er stellt die Flasche zurück auf den Tisch.

»Seppl, mein lieber Seppl. Oder soll ich lieber Jupp sagen? Das hörst du doch gern, nicht wahr? Alter Rheinländer.«

Verachtung schwingt in seiner Stimme mit.

»Eigentlich seid ihr doch alle halbe Franzosen. Los, nimm dir ein Glas. Da vorn in der Vitrine.«

Joseph steht auf und holt sich ein Glas. Er stellt es auf den Tisch und Adolf füllt es bis zum Rand. Adolf beugt sich nach vorn. Sein Pestbrodem schlägt Joseph ins Gesicht.

»Wir kriegen zwei Stunden. Mehr nicht. Der Amerikaner hat mit dem anderen Sepp geredet, mit deinem Namensvetter.«

»Mit dem hast du dich ja eigentlich mal ganz gut verstanden.«

»Die Fahrkarte … Wie hat er sie noch mal genannt? – Das Ticket. Das Ticket hat seinen Preis. Du musst zahlen.«

»Magda?«

»Ich habe zahlen gesagt, nicht, dass du auch noch eine Belohnung kassieren sollst.«

Der Mundgeruch ist kaum zu ertragen. Arme Eva.

»Die Kinder. Die kannst du nicht mitnehmen. Und Magda natürlich auch nicht.«

Joseph nimmt das Glas in die Hand und führt es zum Mund. Ein großer Schluck. Der amerikanische Fusel ist ekelhaft süß und kratzt im Hals. Er verzieht das Gesicht.

»Der Amerikaner hat gesagt, man trinkt das Zeug mit Coca-Cola. Aber Coca-Cola hatte er keine dabei.«

»Und du?«

»Eva.«

Eine Pause. Joseph schiebt das Glas von sich weg.

»Du verschweigst mir etwas.«

»Jupp, Jupp … Nach all den Jahren kannst du mich lesen wie ein Buch. Lebend. Der Russen-Seppel will sie lebend haben.«

Großvaters Stahlrute – 1982

Bad Godesberg, Deutschland

Bevor der Klimawandel eine Wendung zum Besseren brachte, waren die Sommer im Rheintal beschissen. An einem typischen beschissenen Sommertag Anfang der achtziger Jahre war der Himmel grau. Es war kalt und windig draußen und es hatte am Morgen geregnet. Ich, Frank Fuhrmann, stand an der Schwelle zum Mannesalter und schlich in braunem Nicki und verwaschenen Blue Jeans durch die Zimmer Emils, meines Großvaters, im Mund den Teergeschmack der heimlich gerauchten Selbstgedrehten.

Der Tod von Gerlinde, meiner Großmutter, ist nun schon lange her. Mein Onkel Ferdinand ging seiner Arbeit nach; er machte als Redakteur Jagd auf Politiker. So wie sich andere Männer Hirschgeweihe an die Wand hängen, besaß der Bruder meines toten Vaters ein Kerbholz in seinem Kopf. Darin schnitt er bei jedem Rücktritt eines korrupten Abgeordneten, oder eines durch eine schlecht vertuschte Vergangenheit kompromittierten Altnazi-Ministers, eine Kerbe.

Ich kannte alle seine Kollegen und Mitstreiter. Auf ihren Partys zapfte ich ihnen Kölsch aus dem Zehn-Liter-Pittermännchen und lauschte ihren Gesprächen, die sich über alles Mögliche drehten, nur nicht über Politik. Emil saß bei diesen Partys meist ein wenig abseits. Wenn Ferdinand abwesend war, bekam mein Großvater regelmäßig Besuch von einem rothaarigen Amerikaner mit einer Aktentasche, der sich mir gegenüber als Jim Deakman ausgab. Nach diesen Besuchen flog Emil häufig nach Südamerika. Recherchereisen, wie er es nannte. Mir war schon früh aufgefallen, dass nach den Besuchen des Mister Deakman jedes Mal ein brauner Briefumschlag in Emils Büropapierkorb lag.

Am Schnapsschrank in Emils Wohnzimmer, einem Stilmöbelmonster aus den Sechzigern, schenkte ich mir ein Gläschen irischen Sahne-Whiskey-Likör ein. Der klebrige, süße Likör entfachte meine Lust auf Schokolade. Mein Großvater kannte meine Sucht nach den Produkten des Kakao und spielte nach wie vor das alte Versteckspiel mit mir. In seinem Ankleidezimmer, das gleichzeitig sein Büro war, kletterte ich auf einen anderen Stuhl und wurde fündig. In der hintersten Ecke links, ganz oben im Wandschrank, verborgen in einem Schuhkarton, lag eine frische lila Tafel Noisette-Schokolade.

Ich öffnete sie und brach einen Riegel ab, den ich mir in den Mund steckte. Mit dem Zucker und dem unglaublich verboten leckeren Kakao-Haselnuss-Geschmack durchströmt eine Welle von Glück meinen Körper. Da mein Großvater und ich nie über diese Schokoladensucht sprachen, fühlte es sich an wie Diebstahl. – Ein Diebstahl, der auf jeden Fall auffliegen würde, da die frische Tafel ja jetzt angebrochen war.

Unten in meinem Zimmer goss ich mir schwarzen Tee mit Wildkirschenaroma aus einer braunen Tonkanne, in deren Boden »Made in GDR« gestanzt war, in eine farblich passende Tasse ohne Henkel. Aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lagen die Vokabeln einer toten Sprache, die zu lernen ich nicht einsehen wollte. Ich lief wieder nach oben und brach mir einen weiteren Riegel von der Tafel ab. Während sich in meinem Gaumen Schokolade mit aromatisiertem Schwarztee mischte, blieben die Vokabeln leere Buchstabenhülsen. Ich legte Elias Canettis Blendung über das Schulbuch und entfleuchte entzückt in die Welt des verrückten Büchersammlers Peter Kein. Ab und zu ging ich wieder hinauf in das Ankleide- und Arbeitszimmer meines Großvaters und klaute mehr Schokolade.

Im Papierkorb lag wieder der braune Briefumschlag.

Am Ende ist eine verschwundene Tafel weniger verräterisch als eine angebrochene, dachte ich und machte ein Ende mit ihr. Das lila Verpackungspapier und die hauchdünne Alufolie steckte ich in die Tasche meiner Jeans, um sie später unauffällig verschwinden zu lassen. Das Glücksgefühl machte einem Gefühl der Leere Platz. Noch einmal kletterte ich auf den Stuhl. Diesmal griff ich in die rechte Ecke des Wandschranks. Dort lag sie, notdürftig versteckt unter den Winterschals: Emils Pistole. Ich nahm sie aus ihrem Versteck. Es war eine Walther PPK, Kaliber 7,65mm. Sie lag schwer in der Hand.

Wie gesagt, nutzte er das Ankleidezimmer auch zum Arbeiten. Auf seinem Schreibtisch stapelte sich Papier. Zeitungen aus Mexiko, Argentinien, Paraguay, Korrespondenzen mit Gott und der Welt, handschriftliche Entwürfe und jungfräuliche DIN-A4-Bögen bildeten einen Kranz um die feldgraue Adler-Schreibmaschine, deren unaufhörliches Geklapper der Sound meiner Jugend war. Eingerahmt hinter Glas hing ein Betätigungsverbot der amerikanischen Militärregierung aus dem Jahr 1949. Emil wurde darin verboten, in leitenden Positionen des Zeitungs- und Rundfunkwesen tätig zu sein, wegen seiner Weigerung, der Entnazifizierung nachzukommen. Darunter lag sein CDU-Parteibuch. Er war stolz darauf, nicht entnazifiziert worden zu sein. Wegen seiner hohen Einstufung als Propagandamann wäre ein Persilschein auch nicht einfach zu bekommen gewesen.

Ich dachte an seine Erzählungen, die harten ersten Jahre nach dem Krieg, an das Flüchtlingslager und wie froh sie gewesen waren, eine Wohnung gefunden zu haben. Damals hatte er Hunde gezüchtet, Airdale-Terrier, die er an die Amerikaner verkaufte und auf dem Balkon seinen eigenen Tabak angebaut, weil amerikanische Zigaretten Währung waren zum Einkaufen, die nicht geraucht werden durfte. Mit diesen Gedanken im Kopf stand ich vor seinem Schreibtisch und besah mir die schwarz funkelnde Pistole im gedämpften Licht der Nachmittagssonne, das durch Wolkendecke und Fenster auf die Tischplatte fiel.

Die Walther war ein elegantes Mordgerät. Per Knopfdruck löste sich das Magazin aus seiner Halterung und glitt mir in die Handfläche. Es war vollgeladen. Mit dem Daumen drückte ich eine Patrone heraus. Matt messingfarben glänzten das Vollmantelgeschoss und die Hülse. – So sieht er also aus, der Tod, dachte ich und schob die Patrone zurück in das Magazin und das Magazin zurück in den Pistolengriff. Ich drückte den Sicherungshebel nach vorn.

Als ich den Schlitten zog, passierten zwei Dinge gleichzeitig: die oberste Patrone, die ich mir eben noch so genau angesehen hatte, glitt in die Kammer und der Hahn spannte sich. Mit metallisch schmatzendem Geräusch ließ ich den Schlitten zurückrutschen. Die Waffe war gut geölt. Ich steckte mir den Lauf der Pistole in den Mund. Ein paar Sekunden lang ruhte der Zeigefinger meiner rechten Hand ganz leicht auf dem Abzug. So wie der Schokogenuss Glückshormone durch mein System geschickt hatte, jagte nun der Geschmack des kalten Stahls Adre­nalin durch meine Adern und ließ mich erschauern.

Ganz langsam nahm ich die Pistole wieder aus meinem Mund. Ganz langsam, damit kein Schuss sich löst, legte ich den Daumen auf den Hahn, zog den Abzug, spürte den Druck der Feder und ließ den Hahn sanft auf den Schlagbolzen sinken. Mit dem Ärmel des braunen Nickis wischte ich einen Tropfen Speichel von der Mündung. Wieder ließ ich das Magazin herausgleiten, repetierte die Patrone aus der Kammer und klickte sie zurück an ihren Platz. Nachdem die Walther wieder in ihrem Versteck verstaut war, stöhnte ich leise und spürte Schweißtropfen über die Stirn perlen.

Noch hatte ich nicht genug von Waffen und zog die Schublade des Schreibtischs auf. Darin lag noch Onkel Ferdinands alter Schlagring aus seiner Zeit als Rocker und Großvater Emils Totschläger aus dessen Zeit als Nazi. Außerdem war da noch Emils Taschenlampe, ein olivgrünes Gerät aus Beständen der Wehrmacht, bei dem per Handballendruck auf einen flachen Hebel ein Dynamo angetrieben wurde, der wiederum ein Glühbirnchen zum Leuchten brachte. Das war zwar auf Dauer kräftezehrend, dafür aber konnte nie die Batterie leer werden, weil das Gerät keine hatte.

Während ich langsam abkühlte, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder den Hiebwaffen zu. Ich zog den Schlagring auf die Faust und schlug einem Phantomfeind mit einer geraden Rechten das Jochbein zu Brei. Der Schlagring war aus Aluminiumguss. Er lag leicht in der Hand, leicht, heimtückisch und gefährlich. Ich schlug noch mal zu und noch mal; erst Haken, dann Schläfenhieb. Der Blutstrom wurde unterbrochen. Mit zerborstenem Hirnkasten starb mein Feind zu meinen Füßen. Ich legte den Schlagring zurück in die Schublade und spielte wieder ein wenig mit der Dynamolampe. Ratsch, ratsch, ratsch ging der Dynamo, und das Glühbirnchen leuchtete. Wenn ich das Spiel zu lange treiben würde, bekäme ich einen Krampf im Unterarm.

Zum Schluss untersuchte ich Emils Totschläger. Er bestand aus einer stählernen Hülse, an deren Ende eine Lederschlaufe montiert war. Mit einem kurzen Ruck des langsam sich wieder entkrampfenden Unterarms fuhr die Stahlfeder aus. Sie bestand aus zwei sich nach oben verjüngenden Segmenten. Am Ende des oberen Segmentes saß eine Kugel, die ebenfalls aus Stahl war. Mit dem Ballen der linken Hand drückte ich die Stahlrute zurück in ihr Gehäuse, das ich anschließend in der Hosentasche meiner Jeans verschwinden ließ. Der Totschläger leistete nun der zerknüllten Schokoladenverpackung Gesellschaft. Ich zögerte einen kurzen Nu, bevor ich ihn mit einer einzigen fließenden blitzschnellen Bewegung wieder hervorzauberte und ausfuhr. Die Feder schwang nach. Ganz leicht tippte ich mir mit der Stahlkugel auf den Handrücken. Es tat erstaunlich weh und fast augenblicklich bildete sich eine kleine Beule.

Meine Gedanken schweiften zu dem Vater eines Schulkameraden. Die Familie lebte in einer Arbeitersiedlung in Kessenich, ganz in der Nähe der Haribo-Fabrik, über der stets ein klebriger Gestank nach Lakritz oder Gummibärchen waberte. Des Vaters Kopf zierte eine Glatze, in deren rechter Hälfte eine Delle von der Größe eines Fünf-Mark-Stücks prangte – eine Erinnerung an sein Zusammentreffen mit einem Schurken am Kölner Hauptbahnhof, der ihm hinterrücks mit genauso einem Totschläger, wie ich ihn in Händen hielt, die Schädeldecke eingedroschen hatte, um an sein Portemonnaie zu kommen.

Zum Glück für den Vater meines Freundes hatte sich nach vollbrachter Tat bei dem heimtückischen Sauhund das Gewissen geregt, was ihn dazu gebracht hatte, von einer Telefonzelle aus einen Krankenwagen für den Niedergeschmetterten zu rufen. Das hatte dem Vater das Leben gerettet. Während der Überfall in einer einsamen Gasse stattgefunden hatte, fand sich für den Anruf aus der Telefonzelle ein Zeuge, sodass der Täter identifiziert werden konnte und wegen versuchten Raubmordes lange Jahre seines erbärmlichen Lebens hinter schwedischen Gardinen verbringen musste. Für mein persönliches Rechtsempfinden hätte er für die gute Tat nach der Schlechten, ein wenig mildernde Umstände verdient gehabt. – Na ja.

Ich legte Emils Totschläger zurück in die Schreibtischschublade und wollte wieder nach unten in mein Kinderzimmer. Vielleicht würde ich mir ja doch noch ein paar Lateinvokabeln in den Schädel hämmern können, dachte ich. Aber aus irgendeinem, für mich heute schwer nachvollziehbaren Grund machte ich auf halbem Weg auf den Fersen kehrt und ging noch einmal in Emils Ankleide- und Arbeitszimmer, kletterte noch einmal auf den Stuhl und griff nach der Walther. Da bemerkte ich, dass die Pistole auf einem alten, vergilbten Briefumschlag lag, der mir vorher nicht aufgefallen war. Ich legte die Walther auf einen Stapel verwaschener Feinrippunterhemden und förderte statt ihrer den Brief zu Tage. Der Rücken des Briefumschlags war mit einem Brieföffner aufgeschlitzt und als Anschrift stand lediglich in Schreibmaschinenlettern geschrieben:

R. Fuhrmann

Seitlich dazu stand handschriftlich noch der Zusatz:

Per Boten

Der Umschlag enthielt eine Postkarte. Ich zog sie heraus und starrte auf ein Portrait Adolf Hitlers. Auf der Rückseite der Postkarte aber stand in altertümlicher Schreibschrift Folgendes:

Meine liebe Ruth

Ich hoffe, dein Gatte hat sich mittlerweile in der Redaktion gut eingearbeitet. Hast du Mittwochabend Zeit, damit wir wieder einmal den »Bratspieß« spielen können?

Heil Hitler, J.G.

Ich steckte die Postkarte zurück in den Briefumschlag, legte alles, auch die Walther, zurück an seinen Platz und ging nach unten in mein Zimmer zu meinen Lateinvokabeln. J.G.??? Und wie spielte man einen »Bratspieß«? Ruth war Ferdinands Mutter und Emils erste Frau gewesen. Ihr Name fiel nicht oft bei uns.

Sperma – 1945

Berlin, Deutschland

Im Führerbunker erwacht Eva Braun aus schweren Träumen, weil neben ihr im Bett Adolf Hitler am Wixen ist. Die Federkernmatratze wackelt leicht zum Rhythmus der auf und nieder fahrenden Hand, die frenetisch den steifen Penis bearbeitet. Ein leiser Seufzer entringt sich ihrer Brust, als sie sich auf die Seite dreht. Dies führt dazu, dass Hitler das Bearbeiten seiner Erektion unterbricht, um nach kurzer Bedenkzeit, in der er entscheidet, dass ihr Wachsein ihm egal sein kann, mit frischem Mut fortzufahren.

Während Hitler onaniert, ist seine Erinnerungskraft auf eine jener raren Liebesnächte mit Eva Braun konzentriert, als sie ihm gestattet hatte, sie in den Arsch zu ficken. Eva in die Möse zu vögeln ist für beide Seiten nie ein besonderes Vergnügen gewesen, weil ihr Vaginalkanal durch einen Geburtsfehler selbst für den nicht übermäßig großen Pimmel des Führers viel zu eng geraten ist. Daran hatte auch ihre Operation beim Münchner Gynäkologen nicht viel geändert. Nach wie vor kann sie nicht wie eine normale Frau gevögelt werden.

Evas Gedanken schweifen zu dem Blumenmeer in ihrem Klinikzimmer und den sinnlosen Schmerzen nach der Operation. Dolfi hat den Arzt kurz darauf, auf ihren Wunsch hin, per Autounfall diskret aus dem Weg räumen lassen. Gut so, denkt sie, das geschah ihm recht, Quacksalber, Kurpfuscher, Mösenschnitzer, Scharlatan! Ihre Finger krampfen sich um den Zipfel der Bettdecke. Mit leisem Stöhnen pumpt Adolf sein Sperma in das Laken aus feinem Leinen, während gedämpft die Explosionen der Schlacht um Berlin durch die dicken Wände des Bunkers dringen. Die Hochzeitsnacht ist ein totaler Reinfall.

Sie schläft wieder ein. Diesmal träumt sie von Kieseln, die von sanfter Brandung auf einem Strand hin und her gerollt werden. Es ist die Stille, die sie hochschrecken lässt. Die Explosionen haben aufgehört. Als sie die Augen aufschlägt, dringt schummrig die Flurbeleuchtung durch die geöffnete Tür des Schlafgemachs. Dolfi ist angekleidet. In der Hand hält er die Kassette mit den Brillanten. Sie rasseln, als er sie in der Reisetasche verstaut. Die Antwerpener Juden haben ordentlich blechen müssen, um nicht in der Gaskammer zu landen, hat er ihr vor Kurzem mit verzerrtem Lächeln anvertraut. Natürlich hat er sein Wort nicht gehalten.

»Was ist los? Wo gehst du hin?«

Er zögert kurz.

»Nach Spanien. Zu Franco.«

»Und ich?«

Vom Flur her dringen die Tritte von Militärstiefeln an ihr Ohr. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich sind die Stimmen. Ist das Russisch? Die Kapsel! Wo ist die Kapsel? Sie greift nach dem Silberdöschen auf dem Nachttisch und lässt sie aufschnappen. Sie ist leer.

»Wo hast du meine Kapsel hingetan, Schuft?«

Adolf Hitler blickt Eva Braun tief in die Augen. Dann greift er in die Hosentasche. Er hält die Zyankalipille in der geöffneten Rechten. Hastig will sie danach greifen. Aber da hat er die Hand bereits geschlossen, und er lässt die Kapsel wieder in der Hosentasche verschwinden.

»Weißt du noch, als du dir mit deiner kleinen Pistole in die Brust geschossen hast? Du hättest besser zielen sollen.«

Fünf oder sechs Russen stecken die Köpfe zur Tür hinein, begleitet von Dolfis persönlicher Ordonanz. Eine Welle von Gestank dringt in das Schlafgemach. Es stinkt ungewaschen, nach Schweiß, nach verspritzten Eingeweiden, nach wochenlangem Kampf, Pulverdampf, geronnenem Blut und billigem Tabak. Entgeistert nimmt sie wahr, wie Dolfi, dieser Kakerlak, sich vor den Slawen verneigt. Sind das nicht Untermenschen?

Hitler macht mit der offenen Hand eine darbietende Bewegung in Richtung Bett. – In ihre Richtung! Einer der Russen tritt nach vorne und sieht sie prüfend an. Sie erkennt ihn. Es ist erst einige Tage her, dass Dolfi ihr ein Foto dieses Mannes gezeigt hat, das von der Abwehr kam. – Georgi Schukow, Stalins General! Schukow lässt seinen Blick erst über ihr schreckensstarres Antlitz und danach über ihre vollen Brüste unter dem seidenen Nachthemd gleiten. Der Russe nickt kaum merklich. Das ist das Signal für die Schabe, zur Tür hinaus zu krauchen, den Griff der Reisetasche mit den jüdischen Brillanten fest umklammert. Wenigstens der parodontöse Abschiedskuss bleibt ihr erspart.

Fähndelschwenken – 1974

Bad Godesberg, Deutschland

Ich, Frank Fuhrmann, geboren an einem trüben Herbsttag im Jahr der Revolution von 1968, von unrevolutionären Eltern, die aber auch keine Nazis waren, wusste im zarten Alter von fünf Jahren nichts von den Nazis oder ihren Verbrechen. In meinem kindlichen Bewusstsein kamen lediglich die beiden Omas Gerlinde und Gudrun vor sowie die Opas Emil und Lutz. Wobei Emil und Gerlinde die Eltern meines Vaters waren und Lutz und Gudrun die meiner Mutter. Meine Mutter arbeitete als Krankenschwester auf dem Venusberg. Mein Vater war als junger Assistenzarzt ebendort, fast so etwas wie ihr Chef.

Opa Lutz hatte nur einen Arm, den linken. Den anderen, rechten, hatte er im Krieg verloren. Wie ich heute weiß, war Oma Gudrun früher, während ihrer Berliner Zeit, in der Reichszentrale für jüdische Auswanderung tätig gewesen, die allgemein unter Weglassung der letzten drei Worte in der Familie nur die »Reichszentrale« genannt wurde. Dort war sie, die gebürtige Schlesierin aus dem geruhsamen Rosenberg, eine von Adolf Eichmanns Lieblingstippsen gewesen, was an ihrem Fleiß, ihrer schnellen Auffassungsgabe und ihrem guten Aussehen gelegen hatte. Entsprechend gut vernetzt hatte sie nach ihrer Flucht aus Berlin in Bonn, dem frisch erkorenen Regierungssitz der Bundesrepublik – wie die zusammengelegten westalliierten Besatzungszonen nun schon seit einiger Zeit hießen –, schnell einen guten Posten in der Stadtverwaltung ergattert.

Unter Ausnutzung dieses Postens war es ihr seinerzeit ohne größere Probleme gelungen, ihrem einarmig aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Gatten, also meinem Opa Lutz, einen Posten beim Bonner Ordnungsamt zuzuschanzen. Dort war es Lutzens Aufgabe, für die Einhaltung der Hygieneregeln in der aufblühenden Gastronomie zu sorgen. Das Geschäft der Kneipen und Restaurants lief in den Tagen der Bonner Republik ausgezeichnet, denn der gewaltige Tross aus Regierungsbeamten, Abgeordneten, Diplomaten, Wirtschaftsvertretern und Journalisten war stets hungrig und durstig und hatte die Taschen voller Geld.

Opa Lutz war es ein Leichtes, einen Teil dieses Profits in seine eigenen Taschen umzulenken, denn welcher Wirt hat schon Lust auf schriftliche Belehrungen, saftige Bußgelder oder im schlimmsten Falle sogar die Betriebsschließung wegen einer ungespülten Bratpfanne oder den ungewaschenen Händen eines Küchenjungen? Da hielt man die Kontrolleure lieber bei Laune und zahlte mit einem Lächeln im Gesicht und einer geballten Faust in der Tasche das Schutzgeld, das Opa Lutz, der »einarmige Bandit«, wie er hinter seinem Rücken genannt wurde, einmal im Monat eintreiben kam.

Opa Lutz hatte Probleme, mit seinem einen Arm den Schaltknüppel für Fahrzeuge mit damals gängigen Vierganggetrieben zu bedienen, weil er zum Schalten dann immer das Lenkrad loslassen und mit den Knien steuern musste, was bei gleichzeitiger Bedienung von Kupplung und Gaspedal ein kompliziertes Unterfangen war. Deshalb fuhr er den BMW 2 000 CA mit dem damals in Deutschland noch sehr seltenen 3 HP 12-Automatikgetriebe, das er ehrfürchtig als »Planetenradgetriebe« betitelte. Es war ein Cabriolet.

Überhaupt war mein Opa Lutz sehr geschickt darin, sich sein Leben nur mit dem linken Arm so vielfältig wie möglich zu gestalten, vor allem, was das Sportliche betraf. Einarmig lief er an Wintertagen Langlauf im romantisch verschneiten Siebengebirge, war Mitglied im Ruderverein, wo er im Vierer oder Achter den Riemen einarmig mit der doppelten Kraft seiner Vereinskollegen zu führen wusste und spielte sogar Handball in der Amateurliga.

Außerdem war Lutz begeisterter Schütze im Schützenverein und traf mit dem Luftgewehr, egal ob aufgestützt oder nicht, stets ins Schwarze. Als er den Adler abschoss und zu meiner Begeisterung zum Schützenkönig gekrönt wurde, bewirtete er bei strahlender Junisonne die grün uniformierten und mit lustigen, befiederten Hüten geschmückten Vereinsmitglieder mit Erdbeerbowle im großzügigen Garten der alten Gründerzeitvilla, die er sich Schmiergeld sei Dank im Bad Godesberger Villenviertel leisten konnte.

Er genoss, neben meiner Oma Gudrun auf einem Gartenstuhl sitzend, die Blechbläser, den Tusch und das Fähndelschwenken. Und er gab im Kreise seiner Lieben, zu denen neben meinen Eltern auch Opa Emil und Oma Gerlinde zählten, Geschichten aus seiner Zeit im Krieg zum Besten, sogar vor den versammelten Honoratioren des Schützenvereins, von denen nicht wenige im Berufsleben Beamte in der Bonner Stadtverwaltung waren.

Er erzählte, wie er in den Weiten der Ukraine eine Maschinengewehreinheit kommandiert hatte, die mit Beiwagenmaschinen und Panzerwagen ausgestattet hinter den russischen Linien operierte. Er rühmte sich, »während dieser Zeit mehr als 1 000 Rote erlegt zu haben«. Das führte er auf die Taktik zurück, deren kugeldurchlässige Holzhäuser von allen Seiten so lange zu durchsieben, bis sich darin weder Mann noch Frau noch Kind noch Katz oder Hund oder Kuh oder Schwein rührte und man nur noch ein paar Kanister Benzin und eine Schachtel Streichhölzer brauchte, um wieder ein bedeutendes Stück Neuland für den arischen Lebensraum erschlossen zu haben.

Da alle schon ordentlich dem Alkohol zugesprochen hatten, achtete keiner meiner kindlichen Ohren, während ich dastand und mit großen Augen der großväterlichen Heldengeschichten lauschte. Derweil flogen bunte Fähnlein zur Blasmusik und die schweren Standarten wurden mit großer Kraft und Kunstfertigkeit geworfen und jongliert. Es war ein warmer Tag mit blühendem Sommerflieder, Gänseblümchen auf dem Rasen und der ersten Wespe, die sich an der Erdbeerbowle zu schaffen machte.

Nach der Feier setzten Opa Lutz und Oma Gudrun sich betrunken mit meiner Mama und meinem Papa in den BMW, um den feierlichen Tag mit einer Spritztour zur Restaurant-Terasse des Rheinhotel Dreesen unter Rosskastanien ausklingen zu lassen. Tragischerweise endete diese Fahrt bereits an einer anderen Rosskastanie, einem Straßenbaum, der etwa 1 Kilometer vor dem Rheinhotel auf der Rheinallee stand.

Gegen dessen Stamm prallte das zweitürige Coupé mit der unerbittlichen Wucht von 100 PS in Verbindung mit einem Planetenradgetriebe und einer Geschwindigkeit von 80 Sachen. Opa Lutz, der im Leben stets ein Draufgänger gewesen ist und auch gerne draufgängerisch Auto fuhr, war von einem niedrig fliegenden, fast die Windschutzscheibe touchierenden schwarzen Amselhahn mit einem Bündel Würmern im Schnabel und einem atypischen weißen Streifen im Schwanzgefieder abgelenkt worden. Er verriss für den Bruchteil einer Sekunde den linken Arm und verlor dabei die Kontrolle über das Fahrzeug.

Die Wucht des Aufpralls führte dazu, dass das Gehirn von meinem Opa Lutz sich über das Lenkrad des BMW verspritzte, während Oma Gudrun mit zerschmettertem Genick blutspritzend im Rinnstein landete, nach kurzem Flug durch eben die Windschutzscheibe, die Bruchteile einer Sekunde vorher fast der Tod des Amselhahnes gewesen wäre und die nun ihren Tod forderte. Da Mamas Flug nicht durch die Windschutzscheibe gebremst wurde, landete sie nach einer perfekten Wurfparabel ein gutes Stück von ihrer Mutter entfernt, ebenfalls in der Gosse. Papas Flugbahn aber wurde vom Stamm der Rosskastanie jäh unterbrochen, der seinen Körper einem gnadenlosen, vertikal nach unten gerichteten, Sturz unterwarf.

Bier – 1914

Rheydt, Deutschland

Elisabeth Goebbels, 13 Jahre jung, ein Backfisch also, streicht sich mit fischigen Fingern eine Strähne ihres braunen Haares aus dem sommersprossigen Gesicht.

»Die Roswitha war heute zum ersten Mal wieder in der Schule. – Mit Kopftuch!«

Ihre Mutter konzentriert sich darauf, einem Hering den Bauch aufzuschlitzen, und hört nur mit halbem Ohr hin. »Aha.«

»Aber hinten hat eine Locke drunter vorgeguckt. – Höchstens 3 Zentimeter lang.«

»3 Zentimeter? Die hatte doch immer so schöne lange Zöpfe!«

»Hatte sie auch. Und strohblond obendrein. Aber die haben sie ihr abgeschoren. Wegen der Läuse.«

Mutter Goebbels lacht. »Da könnte man ja der halben Klasse den Kopf scheren! Der halben Volksschule! Haben die zu Hause keinen Kamm?«

»Ich denke doch. Aber der Pfarrer Pattberg hat ihrer Mutter gesagt, die soll das machen.«

»Der Pfarrer?«

»Ja, der Pfarrer. Das war ein paar Tage, nachdem wir mit der ganzen Klasse zur Beichte gemusst hatten.«

Mutter Goebbels verdreht die Augen. »Hat die dem gebeichtet, dass sie verlaust ist, oder was?«

»Ich wette, die hat dem das mit dem Harald erzählt.«

»Der Junge vom Justizrat?! Der geht doch beim Jupp in die Klasse.«

Elisabeth Goebbels nimmt den nächsten Hering aus dem Eimer. Mit einem raschen Schnitt trennt sie ihm den Kopf ab. Der zweite Schnitt führt von dort bis zur Afteröffnung. Mit dem Zeigefinger puhlt sie die Innereien heraus und schabt anschließend mit der Messerklinge die Schuppen ab. Fischmilch läuft ihr über den Handrücken, als sie den Fischtorso zu den anderen in den Waschtrog legt, der heute als Gefäß zum Einsalzen der grünen Heringe dient. Am Ende, wenn Mama Goebbels die Heringe zurück zum Fischhändler bringt, wird sie pro zehn Heringe einen blanken Pfennig verdient haben.

»Was war denn mit dem Harald?«

»Na ja. Die haben sich geküsst.« Elisabeth lächelte verlegen.

»Jesus, Maria! Die ist doch noch so jung!«

»Ihre Mutter hat das mit dem Rasiermesser vom Vater gemacht. Danach hat die Rossi so ausgesehen wie bei den Indianern in Amerika. Sooo … Wie heißt das noch mal?«

Ihr Bruder Paul Joseph Goebbels, der am anderen Ende des Küchentischs sitzt, sieht von seiner Schreibarbeit auf. »Skalpiert. Das heißt skalpiert.«

Elisabeth fällt die Haarsträhne wieder ins Gesicht und sie denkt kurz daran, dass es auch ganz praktisch sein könnte, skalpiert herumzulaufen.

»Genau. Wie skalpiert hat die ausgesehen, hat die Bertha gesagt. Und seitdem war sie nicht mehr in der Schule. Bis heute. Frau Weck­lein hat sie auch direkt wieder rausgepfeffert, ich meine, nach Hause geschickt.«

Die Mutter zieht ein bekümmertes Gesicht. »Die Arme! Wieso das denn?«

»Na, die Irmgard hat ihr in der Pause Lauswitha hinterhergerufen, und da haben sie sich in die Haare gekriegt. Das gab ordentlich Geschrei. Die Irmi hat dann zum Direktor gemusst und die Rossi nach Hause.«

»Auweia.«

»Und kaum war die Rossi raus aus der Schule, hat sie sich wieder mit dem Harald getroffen.«

»Woher weißt du denn das jetzt schon wieder?«

»Ich habe es zufällig gesehen.«

»Zufällig! Hinterhergeschlichen bist du der.«

»Toll sieht der Harald jetzt aus mit seiner Uniform. Die zwei sind zusammen zum Barbier gegangen und da hat er sich eine Locke abschneiden lassen für die Lauswitha. Der muss nämlich bald an die Front. Die hat sie in ihr Mathebuch gesteckt. Danach sind sie hinter die Kirche gegangen. Da hat der Harald ihr an den Busen gefasst.«

»Lisa!«

»Was sie danach gemacht haben, sag ich nicht.«

Paul Joseph Goebbels haut mit der Hand so hart auf den Tisch, dass in der Abfallschüssel die Heringsdärme erzittern. »Könnt ihr Waschweiber jetzt endlich mal die Klappe halten?! Wie soll man sich da auf seinen Aufsatz konzentrieren?«

In der Stube auf dem Teppich hockt die kleine Maria-Katharina Goebbels und hält ihre Puppe auf dem Schoß. Mit einem Ruck zieht sie der Puppe das Kleid über den Kopf und streichelt nachdenklich über die glatte Brust aus Porzellan. Sie besitzt zwei Puppen. Sie legt die Porzellanpuppe weg und nimmt die Stoffpuppe in die kleinen Hände. Die andere Puppe ist aus grobem Stoff und gehörte vorher ihrer großen Schwester. Aus der Schüssel für die Fischabfälle stibitzt sie ein Messer. Die Großen, in ihre Unterhaltung vertieft, beachten sie nicht. Ein selbst erfundenes Liedchen vor sich hinsingend, schneidet sie der Stoffpuppe einen Schlitz zwischen die Beine, in den sie die Schwanzflosse eines Herings steckt.

Ein paar Tage später hebt Joseph Goebbels im Musterungsbüro den Blick zu dem roten Gesicht des Oberarztes. Der Schmiss läuft ihm vom Ohrläppchen aus einmal quer über die Backe. Sein Atem riecht nach roher Zwiebel und Mittagsbier.

»Ausgemustert, junger Mann! Zum Marschieren braucht es zwei anständige Füße! Sie haben leider nur einen von der Sorte. Ansonsten ist bei Ihnen alles in Ordnung.«

»Ich könnte doch in der Etappe dienen.«

»Es tut mir leid. Ich habe meine Vorschriften.«

Der Wollanzug juckt und kratzt. Behände läuft er vor dem Arzt auf und ab, das Humpeln ist kaum merkbar. Es ist ein heißer Tag und er schwitzt.

»So sehen Sie doch. Ich bin flinker als manch anderer.«

»Ein flinkes kleines Rumpelstilzchen sind Sie mir! Lassen Sie mal gut sein, junger Mann. Die Schlange im Flur ist noch lang. Machen Sie das Beste draus! Es wird bald eine Menge einsamer Mädchen geben. Die brauchen jemanden, der Ihnen Gesellschaft leistet.«

Das paternalistische Klopfen des alten Sacks brennt ihm immer noch auf der Schulter, als er auf die Straße tritt. Erst mal ein Bier, denkt er. Am Knipp zwischen ungewaschenen Proleten stehend, löscht er seinen Durst. Die Stimmung ist gedämpft und »Scheiße!« das häufigste Wort. Er erkennt zwei oder drei Gesichter aus der Schlange vor dem Musterungsbüro. Der deutsche Arbeiter taugt nicht zum Kriegshelden. Die Kerle wollen ihre Weiber vögeln, ihren Pänz die Ärsche versohlen und ansonsten ihr weiches Bett, ihr Fressen, ihr Bier und ihren Schnaps. Vaterland und Kaiser gehen ihnen meilenweit am Arsch vorbei. »Scheiße«, sagt Joseph Goebbels und leert sein Glas. Der Wirt nimmt mit scheelem Blick die Zeche entgegen. Auf dem Weg nach draußen stolpert Goebbels über seinen Klumpfuß. Irgendjemand gluckst. In der Tür stehend, sticht ihm die Augustsonne in die Augen. Er tut so, als würde er einen Schulkameraden in Uniform nicht erkennen, und hinkt grußlos auf die andere Straßenseite, um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen.

Ein anderer Tag, eine andere Kneipe und er in Zivil, während die Klassenkameraden alle Uniform tragen. Joseph kann sich dem Abschiedsumtrunk nicht entziehen, nachdem der Harald ihn so warmherzig eingeladen hat. Im Brauhaus Degraa geht es hoch her. Die Freiwilligen, das Notabitur in der Tasche, feiern stieräugig ihr Heldentum. Er nippt bescheiden an seinem Humpen. Der Vater hat ihm die Groschen für exakt drei Glas Bier auf den Tisch gezählt.

»Komm Jupp.«

Harald gibt ihm eine Kopfnuss. »Runter mit dem Zeug.«

»Wer weiß, ob wir uns je wiedersehen.«

»Los. Ich geb dir einen aus. Hier, trink ein Herrengedeck.«

»Hab die Spendierhosen an.«

Joseph Goebbels trinkt. Harald, Wilfried, Hermann, Anton und noch ein paar andere stehen im Kreis um ihn herum. Gerstensaft schwappt auf ihre Uniformkragen. Plötzlich angewidert steht er auf, er, der Zivilist im kratzigen Wollanzug. Er schwankt, seine Zunge lallt.

»So eingesaut wollt ihr es aufnehmen mit dem perfiden Albion? Oder mit dem Franzmann, dem Erbfeind? Schweine seid ihr, des Kaisers Uniform so zu besudeln! Ich schäme mich für euch.«

Die Antwort ist ein halber Humpen schalen Gebräus, das Anton ihm über den Kopf kippt.

»Da, Bügeleisenfüßchen. Da hast du’s. Spuck deine großen Töne woanders, du feige Sau.«

»Mit deinem Huf hast du leicht reden!«

»Schweig still, wenn du es mit Frontkämpfern zu tun hast, verdammter Krüppel!«

Triefend schwankt er auf die Straße, begleitet von einem Schwall Tabakrauch, Gelächter und Bügeleisenfüßchen-Rufen. Im schummrigen Licht der Gaslaternen braucht er die volle Straßenbreite für seinen Weg.

»Bügeleisenfüßchen!«

Die helle Mädchenstimme kennt er, das Kichern auch. Das ist Elisabeth, seine kleine Schwester.

»Was machst du denn hier?«

»Du lallst ja.«

»Du bist mir nachgeschlichen.«

»Gar nicht. Ich war bei Roswitha.«

»Das verdorbene Früchtchen.«

Joseph Goebbels hickst und schlägt, über seinen Klumpfuß stolpernd, der Länge nach hin. Elisabeth bückt sich und greift ihm unter die Achsel, um ihm hochzuhelfen.

»Iih. Du bist in einem Hundehaufen gelandet. Dein ganzer Anzug stinkt nach Scheiße.«

Vor Santa Maria Rosenkranz bekotzt er sich im Schatten der Backsteingotik und taumelt in die Hecke. Elisabeth sieht zum Kirchturm auf und bekreuzigt sich. Als die Klassenkameraden ihn finden, hat sie es gerade geschafft, ihn wieder aus der Hecke herauszuziehen und in den Rinnstein zu setzen.

»Jetzt sieh mal einer guck! Wen haben wir denn da?!«

»Das Humpelstilzchen.«

»Wie der stinkt!«

»Und sich über unsere Uniformen erheben!«

»Schaut mal, was da neben dem hockt! Eine Heldenbraut!«

»Ist die nicht noch ein bisschen jung?«

»Nix da!«

Harald packt sie am Arm.

»Denkst wohl, ich hätte dich nicht gesehen, als ich es der Lauswitha besorgt hab? Mir hat es doppelt Spaß gemacht, weil du zugeschaut hast. Los. Jetzt bist du dran.«

Sie zerren sie hinter die Hecke. Am Anfang halten zwei sie an den Armen fest, während der dritte sie vergewaltigt. Am Ende braucht es das noch nicht einmal mehr. Jeder darf seinen Pimmel in das Sperma des Vorgängers und das Blut ihrer verlorenen Jungfernschaft tunken. Mit Flecken von Erde, Gras und Körpersäften gut versorgt bekommen die Uniformen einen Vorgeschmack dessen, was sie an der Front erwartet. Derweil liegt Joseph rücklings in der Gosse und lässt Erbrochenes aus seinem Mundwinkel sabbern. Wilfried ist als Letzter dran. Er braucht nicht lang. Beim Samenerguss entfährt ihm ein dreifaches:

»Hurra! Hurra! Hurra!«

Messwein – 1921

Killarney, Irland

Bereits als elfjähriger Messdiener offenbarte es sich Hugh Joseph O’Flaherty, dass er eine Vorliebe für ältere Männer hat. So wie ein Franzose seinen Roquefort mit einem Baguette genießt und mit einem Glas Bordeaux begleitet, so pflegt der Knabe Hugh den Eichelkäse von Pater O’Regan hinterher, zusammen mit den am Gaumen klebenden Resten des paterlichen Samenergusses, mit einem ordentlichen Schluck Messwein herunter zu spülen. Darüber und über Forellenfischen in Wildbächen mit aufgespickten Heuschrecken, Kartoffelernte auf dem kleinen Acker hinter dem elterlichen Haus und der Verinnerlichung des Matthäus-Evangeliums ist Hugh zu einem jungen Mann gereift, der den Entschluss gefasst hat, sein Leben in den Dienst der Kirche zu stellen und Priester zu werden.

Eines Vormittags, als Hugh dem Pater nach der Messe in der Sakristei beim Auskleiden behilflich ist, sieht dieser ihm auf einmal unvermittelt in die Augen.

»Komm mit. Ich will dir etwas zeigen.«

Zuerst denkt Hugh O’Flaherty, der alte Priester will ihm mal wieder den Weg zu der Pritsche in der Besenkammer zeigen. Stattdessen aber entzündet Pater O’Regan mit einem Streichholz eine Petroleumfunzel und steigt mit ihm die steile Treppe hinab in die Krypta. Dort angekommen, bedeutet er Hugh, ihm zu helfen, den schweren Deckel eines steinernen Sarkophags beiseitezuschieben. Als dies geschafft ist, hält er die Lampe hinein und gemeinsam betrachten die beiden den Inhalt der Grabstätte im trüben Licht des blakenden Dochtes. Die Gebeine des altehrwürdigen Bischofs, der in dem Sarkophag seine letzte Ruhestätte gefunden hat, finden sich, achtlos zu einem Haufen zusammengeschoben, in der hinteren Ecke des Sarkophags. Sie haben Platz gemacht für eine große hölzerne Kiste, auf deren Deckel eine kleinere Kiste gestapelt steht, die ebenfals aus Holz ist. Pater O’Regan lässt Hugh sie herausheben. Er stöhnt unter ihrem Gewicht. Die Kiste ist schwer. Als er ihren Deckel lüpft, sieht er, dass sie bis zum Rand gefüllt ist mit Gewehrmunition. Die große Kiste enthält die dazugehörigen Gewehre.

»Mosin-Nagant-Gewehre«, sagt Pater O’Regan mit Kennermiene. »Fünfschüssige Repetierer aus russischer Fabrikation, von den Deutschen während der Schlacht von Tannenberg erbeutet und an Bord des Blockadebrechers Aud unter gefälschter norwegischer Flagge nach Irland transportiert.«

Hugh O’Flaherty kratzt sich hinterm Ohr. »Roger Casements Waffenlieferung für die Irish Volunteers. – Der Kaiser wollte damit den Engländern eine zweite Front liefern. Aber die Aud wurde doch von den Engländern aufgebracht und von der eigenen Besatzung im Hafen von Cobh versenkt, mitsamt den Gewehren, Maschinengewehren, der Munition und dem Sprengstoff.«

»Das stimmt. Aber während die Aud in der Bucht von Tralee kreuzte und die Volunteers sich im Pub mit Guinness zulaufen ließen, anstatt die Fracht zu entladen, hat Tim Joe Fitzpatrick, der an diesem Tag dort mit seinem Curragh auf Hummerfang war, bei ihr angedockt, in der Hoffnung, dort Abnehmer für seinen Fang zu finden. Der deutsche Kapitän muss schon geahnt haben, dass die Sache in die Hose gehen würde, und hat Tim Joe diese beiden Kisten in den Curragh laden lassen, damit wenigstens ein kleiner Teil der Ladung ihr Ziel erreicht.«

»Aber Tim Joe Fitzpatrick hat die Gewehre nicht an die Irish Volunteers weitergegeben.« Hugh O’Flaherty nickte ahnend.

»Nein. Er erzählte mir bei der Beichte davon und ich wies ihn an, die Dinger dem Schoß der Kirche zu übergeben. Als braver Katholik hat er gehorcht, wie du siehst. Der Papst verhielt sich während des großen Krieges neutral. Aber jetzt, wo der vorbei ist, will er der irischen Sache helfen. Er will, dass die Waffen in die richtigen Hände geraten, und du sollst dabei helfen.«

Zwischen den Karabinern entdeckt Hugh ein in Wachstuch gewickeltes Buch und ein in Glas gerahmtes Bild. Hugh betrachtet zuerst das Bild. Es ist ein Druck mit dem Porträt Wilhelms II. Als er das Buch auswickelt, sieht er, dass es eine in einer fremden Sprache geschriebene Bibel ist.

»Eine deutsche Bibel. Tim Joe Fitzpatrick hatte immer eine Bibel bei sich an Bord, die ihn vor den Gefahren der See bewahren sollte. Er hat aber seine dem deutschen Kapitän gegeben, als Andenken. Der hat ihm zum Dank sein deutsches Exemplar und das Bild des Kaisers geschenkt. Du kannst die Bibel haben, wenn du willst. Vielleicht möchtest du ja eines Tages Deutsch lernen.«

Als Hugh O’Flaherty die Bibel an sich nimmt, fällt eine Postkarte aus ihr heraus, die dem früheren Besitzer augenscheinlich als Lesezeichen gedient hat. Sie zeigt im Hintergrund einen Berg mit Burgruine und im Vordergrund einen mächtigen Fluss. Vater Rhein mit Drachenfels, von Godesberg aus fotografiert steht darauf gedruckt. Adressiert ist die Karte an einen Kapitän Karl Spindler, postlagernd in Lübeck. Neben der Adresse steht ein kurzer Text:

Lieber Karl

Wo auch immer das Schicksal dich hinverschlägt.

Trage immer die Deinen und die Heimat im Herzen.

Denk an den Rhein.

Denk an Königswinter, an das schöne Siebengebirge.

Mutter

Die beiden Iren können das Geschriebene nicht verstehen.

»Schön. Ist das Deutschland?«

Der Blick des jungen Priesteranwärters bleibt lange auf der Landschaftsaufnahme ruhen.

»Es könnte der Rhein sein. Die Burgen des Rheins …«

Hugh steckt die Postkarte zurück in die Bibel.

»Was ist mit dem Kaiserbild?«

»Das lassen wir hier in der Krypta. Soll die Nachwelt sich damit befassen. Dieser Enkelsohn von Queen Victoria hat viele gute Iren auf dem Gewissen. Aber er hatte auch seine guten Seiten. Du musst dafür sorgen, dass die Gewehre zu den Murphys oben in den Bergen gelangen. Dort trifft sich heimlich die IRA. Der Älteste von denen, wie heißt er noch, Patrick John, ist doch dein Kumpel. Der soll dir helfen.«

»Ok, Pater. Wird erledigt. Aber jetzt geht’s erst mal in die Besenkammer. Diese Geschichte hat mich ganz kribbelig gemacht.«

Was das Wetter betrifft, kann jener Vormittag in Killarney, als Hugh die Kathedrale der Heiligen Jungfrau Maria durch das Seitenschiff verlässt, nur als miserabel bezeichnet werden. Ein heftiger Sturm peitscht kalten Nieselregen gegen sein Gesicht, dessen wuchernder Bartflaum nach dem Schermesser zu schreien beginnt. Als er dem neugotischen Kalksteinbau den Rücken kehrt, ist er dennoch bestens gelaunt. Er zieht die Tweedkappe tief über die Stirn und vergewissert sich durch einen leichten Druck des Unterarms, dass die Messweinflasche sicher an ihrem Platz in der Innentasche seines Donkey Coats sitzt.

Frisch gefettet mit Schweineschmalz aus Mutters Bratpfanne lässt das derbe Rindsleder auf den Schulterkappen des Donkey Coats den Regen abperlen. Die Fettung wirkt nicht bloß imprägnierend, sondern gleichzeitig appetitanregend, denn Hugh liebt den Duft nach gebratenen Speckstreifen. Der Niesel bildet feine Tröpfchen auf dem dichten Wollfilz der groben Jacke, als Hugh die Chapel Lane entlangschlendert. Im Windschatten eines Hauseingangs steht der Tinker, den alle nur Old Tom nennen, und singt mit rauer Säuferstimme »Oil on my lamp«. Obwohl Hugh sich Mühe gibt, betont gleichgültig an ihm vorbeizuschreiten, bricht Old Tom die Ballade ab.

»Hey Hugh. Hast du nicht gehört? Meine Lampe braucht Öl!«

»Wie meinst du das?«

»Na, ein Wink mit dem Zaunpfahl. So ist es gemeint. Oder am besten gleich mit dem ganzen Zaun. Du hast da eine Beule in deinem Donkey Coat, genau da, wo die Wildledertasche sitzt.«

»Ach ja?«

»Tjaja. Ein erfahrener Säufer wie ich erkennt eine Flasche auch durch das feinste Wolltuch hindurch. Komm, gib mir einen Schluck. Ich sing dir auch noch was vor.«

»Wie man hört, sollst du ja sogar bei den Black and Tans den reinsten Kanarienvogel abgeben, wenn es darum geht, einen Schluck aus deren Pulle zu kriegen.«

»Oho. Munkelt man das im Priesterseminar oder wie? Pass bloß auf, dass ich nicht dem Bischoff ein kleines Ballädchen dichte von dir, dem Pater und dem Messwein.«

Hugh blickt über die Schulter. Der Bürgersteig ist leer. Nachdem er den Korken mit den Zähnen gezogen hat, reicht er Old Tom unauffällig die Flasche.

»Hier. Aber nur einen kleinen Hieb. Hab ich mir sauer verdient.«

»Das glaub ich dir gerne, haha.«

Dem Tinker eine Flasche in die Hand zu geben ist ein Akt der Unvorsichtigkeit. Einmal an seine Kehle gesetzt, lässt er den Stoff nicht einfach laufen, sondern hat die Technik am Leib, beim Trinken Zug aufzubauen. Als es Hugh gelingt, ihm die Flasche von den schwarzen Zahnstümpfen wegzureißen, ist sie bereits mehr als zur Hälfte geleert.

»Verdammter Saufaus. Jetzt sieh dir meine Flasche an!«

Empört stopft Hugh O’Flaherty den Korken zurück in den Flaschenhals und wendet sich brüsk ab. Doch in diesem Moment hat er eine Idee.

»Sag mal, Tom. Du hast doch dieses Pony.«

»Ja. Das grast am Flussufer bei meinem Wagen.«

»Jetzt, wo du dich an meinem Wein so gütlich getan hast, kannst du mir das doch eigentlich mal leihen. Ich muss für meine Mutter ein paar Säcke Torf von den Kellys abholen.«

»Kein Problem. Komm dir das Pony holen, wann immer du willst.«

»Put oil in my lamp. Put joy in my heart.«

Die Stimme des alten Säufers mochte rau sein. Dennoch ist es eine gute Stimme. Sie übertönt das Getrappel der Hufeisen und das Gerappel der Kutschräder auf der Chapel Lane mit ihrem kräftigen Bariton und verleiht dem Straßenleben eine Feierlichkeit, welche die Leute Matsch und Regen vergessen lässt.

Am Nachmittag dieses Tages kommt Hugh O’Flaherty in Begleitung seines Freundes Patrick John Murphy am Flussufer das Pony abholen. An einem Strick führen sie es von seinem Weideplatz am Flussufer fort. Der gleichermaßen misstrauische wie neugierige Old Tom folgt ihnen in sicherer Entfernung. So wird er Zeuge, wie die beiden mit dem Pony statt zu den Kellys, erst zur Kathedrale und dann nach dem Aufladen der beiden verdächtigen Kisten hinauf zum Hof der Murphys trotten.

Einige Tage später schleppt Hugh O’Flaherty die schwere Schlägertasche seines Vaters über das sauber gestutzte Grün des Golfplatzes. Es hat endlich aufgehört, zu nieseln. Aus der Ferne vernimmt er das Krachen eines Lee-Enfield-Gewehrs. Zwischen dem Wolkengewirr am Himmel ist vage der Schimmer einer fahlen Märzsonne zu erkennen.

Er denkt sich nicht viel dabei und kontrolliert als Erstes die Schlingen. In einer zappelt tatsächlich ein Kaninchen. Es ist mit dem Hinterleib gefangen und macht keinen besonders glücklichen Eindruck. Hugh zögert einen kurzen Augenblick, den er braucht, um im Kopf den am besten geeigneten Golfschläger zu wählen und zieht einen Pitching Wedge aus der Tasche. Als Nächstes setzt er seinen Stiefel auf den Körper des Nagetiers, sodass es seitwärts liegt, und bereitet seinem Leid mit einem trockenen Schlag gegen den Hinterkopf ein Ende. Er zieht das Kaninchen aus der Schlinge und stopft es in die Wilderertasche des Donkey Coats. Die andere Schlinge ist leer.

Hugh runzelt die Stirn und geht auf die Knie, um sich die Falle näher zu besehen. Es ist offensichtlich, dass sie gefangen hat. Zusammengezogen liegt der dünne, aus einem Stromkabel gezogene Kupferdraht neben den Stöckchen, die Hugh als Halterungen in den Boden gesteckt hatte. Irgendwer hat die Falle leer geräubert. Ein Fuchs ist es wohl kaum gewesen, ein Dachs auch nicht. Die hätten den Draht nicht so sauber von der Beute gelöst bekommen. Nein, der Diebstahl ist eindeutig von Menschenhand erfolgt.

In jenen Tagen des irischen Freiheitskrieges gibt es viele Hungrige, und eines der Kaninchen, immerhin, haben die Diebe ihm gelassen. Er richtet sich auf. Der Wind treibt aufgeregtes Hundegebell und den Qualm eines brennenden Gehöfts von den Berghängen hinab. Wieder donnert ein Schuss und noch einer und noch einer. Das Gebell wandelt sich zum Schmerzensjaulen, das Jaulen zum ersterbenden Todesjammer. Hugh hört abgerissen die Schreie von Kindern, harsches Rufen von Männerstimmen, mehr Schüsse.

Mit gerunzelter Stirn steckt er ein Tee in den Rasen, platziert einen Golfball darauf, wählt das Fairwayholz aus seiner Golftasche und dreht das Gesicht in den Wind. Nach kurzem Prüfen verändert er seine Position ein wenig, um dem noch immer frisch daher wehenden Südwester gerecht zu werden. Wieder hört er einen Hund in der Ferne. Diesmal ist es kein Warngebell, sondern das kläffende Lautgeben eines Bluthundes auf Fährtensuche. Kurz entschlossen schwingt Hugh seinen Schläger zum Abschlag. Der Ball beschreibt eine perfekte Ellipse.

Er beschattet die Augen mit der Handfläche und lässt sie der Flugbahn folgen. Er liebt diesen Augenblick, die Perfektion, das winzige, immer kleiner werdende Weiß des Balls in der Ferne, das Grün des Rasens, das Grau der Wolken, das Blau des Wolkenlochs. Eine Bö erfasst den Golfball, zerstört die Ellipse, zertrümmert die Perfektion. Der Ball landet zwischen zwei gelben Pfählen im Schilfgürtel des Wasserhindernisses.

»Au!«

Eine Gestalt mit einem Gewehr in der Hand springt aus dem Schilf empor und reibt sich humpelnd den Unterschenkel.

»Verflucht noch mal! Nirgends ist man sicher.«

Es ist niemand anderes als Patrick John Murphy. Als Hugh bei ihm ankommt, hat er das Hosenbein hochgeschlagen und reibt sich mit schmerzverzerrten Zügen eine hühnereigroße Beule auf seinem Schienbein.

»Patrick John Murphy, darf ich fragen, was du in diesem Wasserhindernis treibst?«

»Wir sind verraten worden.«

Der Junge wirkt verzweifelt. In seinen Augen blitzt die blanke Panik. Das rote Haar hängt ihm in wirren Strähnen vom mützenlosen Kopf.

»Die Gewehre, die Munition – alles zum Teufel. Das ist das Einzige, was ich retten konnte.«

Er schwenkt die Mosin-Nagant in seiner Hand. Mit der anderen klopft er auf die Tasche seiner Tweedjacke.

»Ein paar Schuss Munition konnte ich auch gerade noch zusammenklauben, bevor ich abgehauen bin.«

Hugh O’Flahertys Miene versteinert sich.

»Ich wette, das haben wir Old Tom zu verdanken. Der trinkt seinen Whiskey jeden Abend in den Barracken der Royal Irish Constabulary. Er muss uns gefolgt sein.«

»Warum musstest du ausgerechnet das Pony von diesem Singvogel leihen?«

» Ist doch jetzt egal. Es hatte sich als gute Gelegenheit angeboten.«

Das Kläffen des Bluthundes ist jetzt deutlicher zu hören als noch vor ein paar Minuten. Die berüchtigten britischen Paramilitärs sind Murphy auf der Spur.

»Die Black and Tans kommen näher. Sieht so aus, als hätte der Hund deine Fährte. Gib mir das Gewehr und die Munition!«

Er versteckt beides in der Golftasche.

»Wo ist deine Mütze?«

»Hab ich verloren.«

»Hier. Nimm meine. Pass auf: Wir müssen den Hund verwirren. Du rennst jetzt hier einmal im Kreis, dann dort vorne.«

Er weist ihm mit dem Golfschläger die Stelle zu.

»Dann da hinten und bevor du auf die Straße kommst, noch mal. In Killarney läufst du über den Markt. Spätestens da wird der Hund deine Spur verlieren. Kennst du keine Protestanten in der Stadt? Bei denen suchen sie nicht.«

»Nur die Victoria Bailey. Die kommt manchmal zu uns auf die Farm zum Zwiebelkaufen. Deren Eltern sind gestern nach Cork gefahren, hat sie mir erzählt.«

»Perfekt. Du bist ja gut informiert. Ich gebe dir jetzt mal einen Tip: Leg dich bei der guten Vicky ins Bett, sorge dafür, dass ihr der hübsche kleine Protestantenbauch ordentlich anschwillt und dann segelt ihr gemeinsam nach Amerika und lasst die ganze Scheiße hier hinter euch.«

Während er Patrick John beim Kreiserennen zusieht, stiehlt sich ein Grinsen auf sein Gesicht. Vier Dinge gibt es, die Hugh stets in den weiten Taschen seiner Tweedhose mit sich zu führen pflegt: einen Taschenkamm, einen Taschenspiegel, ein Taschenmesser und ein zusammengerolltes Stück Kordel. Immer noch am Schilfsaum stehend, zieht er das tote Kaninchen hervor. Er spreizt dessen Hinterläufe und drückt ihm über dem Knie mit einem sanften Streichen die Blase aus. Um auf Nummer sicher zu gehen, öffnet er ihm danach noch mit der Spitze des Taschenmessers die Kehle und lässt ein paar Tropfen Blut neben die Urinlache ins Gras fallen. Sodann bindet er das Kaninchen mit dem Vorderlauf an der Kordel fest und beginnt ebenfalls Kreise zu laufen. An genau der Stelle, an der Patrick John über die Mauer geklettert ist, versteckt er das Kaninchen unter einem Weißdornbusch. Zu guter Letzt zückt er Kamm und Spiegel und bringt seine Haare in Ordnung.

Als sie kommen, legt er gerade einen neuen Golfball auf das Tee. Sie sind zu viert. Der Hundeführer hält in der Rechten den Blutriemen und in der Linken den Revolver. Der Hund ist ein Spanielrüde mit braun-weißem Fell und einem – für einen Spaniel – massigen Schädel. Die anderen drei tragen Lee Enfields, die sie am Riemen über die Schultern baumeln lassen. Einer hält Patrick Johns Tweedkappe in der Hand.

Ohne sich von den vier Black and Tans ablenken zu lassen, zieht Hugh das Fairwayholz Nr. 3 aus der Schlägertasche. Er prüft den Wind, stellt sich breitbeinig in Position, schwingt und schlägt. Beim Versuch, dem davonfliegenden Ball hinterherzuhechten, reißt der Spaniel um ein Haar den Hundeführer zu Boden. Sechs Augenpaare folgen der Ellipse, deren Perfektion diesmal durch nichts gestört wird. Der Ball landet im Grün.

»Hey, ihr bringt mir Glück. Und … ooh. – Meine Kappe! Das ist aber nett von euch, Jungs. Wo habt ihr die denn gefunden?«

Der Hundeführer weist auf den Berghang.

»Was? So weit hat der Wind sie davongetragen? Dieser schlimme, böse Sturm. – Einfach unglaublich, wie es hier wehen kann!«

Die Milizionäre kreisen hinter dem Spaniel her über den Golfplatz. Als der Hund stolz das Kaninchen aus dem Gebüsch heraus apportiert, wird er zur Belohnung mit dem Schweißriemen durchgepeitscht.

»Was für Bastarde«, denkt Hugh und zieht den Putter aus der Schlägertasche.

Die Totenwache, bei der aus den roh gezimmerten Särgen die ganze Nacht lang das Blut herausgesickert kam, schlägt allen auf die Nieren. Um Platz zu sparen und weil Tannenholz rar und teuer ist und die Leute arm sind, wurden die beiden Kinder zusammen in eine Kiste gepackt. Die Erwachsenen haben alle einen eigenen Sarg bekommen. Als sich Hugh O’Flaherty in jener Nacht zur Totenwache einfindet, ist er tief erschüttert. Die Totenwache findet bei den Nachbarn, den Kellys, statt, weil außer Patrick John von den Murphys keiner mehr lebt und deren Haus niedergebrannt ist.

»Patrick John kann nicht kommen. Die Black and Tans suchen ihn überall.«

Der Anblick der in blutgetränkte Laken gehüllten kleinen Kinderkörper ruft in Hugh nicht nur Zorn, sondern auch Scham hervor. Die Kinder wurden gemetzelt, während er dem Golfspielen frönte. Deswegen stimmt er, der angehende Priester, lautstark mit ein, als die Rufe nach Rache laut werden.

Schweres Wasser – 1945

Württemberg, Deutschland

Die Straße ist steinig und der Anstieg steil. Werner Heisenberg legt sich in die Pedale. Beim nächsten Gehöft wird er anhalten und nach einer Luftpumpe fragen.

Endlich erreicht er die Kuppe und steigt ab. Das Unterhemd klebt auf seiner Haut. Ihm ist ordentlich warm geworden, sodass er sich entschließt, Jackett, Pullover und Hemd auszuziehen und mit nackten Armen im Feinrippunterhemd weiterzufahren. Der Vormittag ist heiter bis wolkig, der Apfel steht in voller Blüte und Frühling liegt in der lauen Luft. Heisenberg faltet Hemd, Pullover und Jackett zu einem Bündel zusammen. Dabei achtet er darauf, dass nichts aus den Taschen rutscht.

Dann löst er seine Reisetasche vom Gepäckträger, packt das Kleiderbündel oben drauf und bindet alles zusammen mit der Kordel wieder fest, da die Federklappe nicht genug Druck hat, um alles fest an seinem Platz zu halten.

Weiter geht es. Durch die Hecke erspäht er den Hof. Der Bauer hantiert an seinem Pferdekarren herum, und er hat eine Pumpe. Der vierschrötige Kerl entpuppt sich allerdings als jemand, der Städter nicht ausstehen kann, schon gar keine, die feinen Zwirn auf dem Gepäckträger spazieren führen, während sie ihm seine Jungs weggenommen haben, damit sie an der scheiß Ostfront krepierten und er allein mit der Weiberwirtschaft den Hof schmeißen muss.

Trotzdem unterbricht er seine Arbeit und verschwindet im Schuppen, um nach einer Minute des Kramens mit der Luftpumpe in der Hand wieder herauszukommen. Heisenberg kniet sich ins aprilfrische Gras und pumpt, was das Zeug hält. Als er aufsteht, verunziert ein Grasfleck das Knie der Drillichhose. Der Bauer macht eine fordernde Geste mit der rechten Hand.

»Zigarette!«

Heisenberg knotet die Kordel auf, um an die silberne Zigarettendose heranzukommen, die in der Seitentasche des Jacketts steckt. Er lässt den Deckel aufschnappen und bietet an. Der Bauer nimmt ihm die Dose aus der Hand und pult mit schwieligen, dreckstarrenden Flossen eine Overstolz heraus.

»Feuer!«

Der wissenschaftliche Leiter von Hitlers Uranprojekt holt das goldene Dunhill-Feuerzeug aus der Hosentasche, das Elisabeth ihm zum Hochzeitstag geschenkt hat. Mit dem Daumen reibt er den Funken, mit der hohlen Hand schützt er das Flämmchen vor dem Wind und versucht dem Bauern Feuer zu geben nach Gentleman-Manier. Aber der will davon nichts wissen, sondern nimmt ihm das Feuerzeug weg, sodass der Aprilwind das Benzinflämmchen zum Erlöschen bringt, woraufhin er den Luxusgegenstand eingehend von allen Seiten mustert und studiert, bis er den Mechanismus ergründet hat. Dann reibt auch er die kleine Flamme an und gibt sich selber Feuer. Zufrieden paffend lässt er goldenes Feuerzeug und silbernes Zigarettenetui in der speckigen Hosentasche verschwinden.

»Mietgebühr. Luft ist teuer geworden.«

Er sieht Heisenberg herausfordernd in die Augen.

»Das ist Diebstahl.«

»Wo willst du mich anzeigen? Bei der SS? Die ist schon weg. Bei den Amis? Die sind noch nicht da. Oder willst du mich bei den Franzmännern anzeigen? Die kommen jeden Tag näher.«

Sein Schwäbisch ist breit und schwer.

»Könnte mir vorstellen, dass die sich für so einen feinen Nazipinkel, wie du einer bist, interessieren könnten. – Vor allem, wenn er hoch zu Ross auf dem Stahlesel durch die Gegend gurkt. Das sieht man ja nicht so häufig, das Phänomen.«

»Ich fordere auf der Stelle mein Eigentum zurück! So haben wir nicht gewettet!«

»Scher dich vom Hof, Drecksack, bevor ich die Mistforke hole und dir Beine mache!«

Aus sicherer Entfernung wirft Heisenberg einen Blick über die Schulter. Der beschert ihm den Anblick einer weiß betuchten Stange, die sich aus dem Uhlenloch schiebt. Drei Sekunden später und schon flattert heldenhaft ein bepisstes Bettlaken in der Frühjahrsbrise.

Mittags sitzt er im Schatten einer Kreuzeiche und verschlingt hungrig das Wurstbrot, das Martha, die gute Seele, ihm geschmiert hat. Kauend sinnt er über die Möglichkeit nach, Fahrräder mit Miniatur-Nuklearbrennern auszustatten, wobei er gedanklich zu dem Schluss kommt, dass dies wahrscheinlich möglich, jedoch mit verschiedenerlei Problemen technischer Natur verbunden wäre, die es zu überwinden gälte. Im mobilen Bereich würden die Reaktoren wahrscheinlich erst einmal auf Schiffen, vielleicht sogar auf großen U-Booten ihren Platz finden.

Er weiß nicht, was unangenehmer ist, das ewige Rappeln auf Katzenköpfen oder die ungepflasterten Feldwege, wo er zwar streckenweise auf glattem Lehm fährt, es dafür aber mit ausgedehnten Pfützen, Baumwurzeln und Geröllschotter zu tun bekommt. Beides hatte seine Vorzüge und seine Nachteile. Ach, gäbe es doch mehr Asphalt! Ehe er den Dynamo an den Vorderreifen kippt, kostet er die Dämmerung aus, bis er nichts mehr sehen kann. Mit dem surrenden Dynamo wird das Strampeln noch anstrengender, werden die ohnehin schon schweren Beine noch schwerer.

Ein Nachtjägergeschwader brummt durch die Dunkelheit. Amis! Ganz sicher. Der Luftwaffe sind die Flugzeuge ausgegangen. So viel zum Thema: Wollt ihr den totalen Krieg?! – Unglaublich, wie Goebbels, dieser verdammte kleine Krüppel, alle derart hat hereinlegen können. Ob die Amis auch auf eine Fahrradlampe schießen würden? Zuzutrauen wäre es ihnen. Eingedenk der Worte des dreisten Feuerzeugdiebes hält Heisenberg an und wartet ab, bis das Brummen weiterzieht und der Ruf des Wachtelkönigs und das ferne Donnern der französischen Artillerie wieder den Ton angeben.