Wort – Satz – Sprache - Kristian Berg - E-Book

Wort – Satz – Sprache E-Book

Kristian Berg

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Beschreibung

Wir alle nutzen Sprache, kompetent und ganz selbstverständlich. Aber was das genau heißt und was für komplexe Strukturen und Systeme dahinterstecken, ist den meisten Laien unklar, denn wir können auf dieses Wissen nicht direkt zugreifen. Hier setzt dieser Band an. Ausgehend von authentischen Sprachdaten stellt er den Leserinnen und Lesern interessante und faszinierende Aspekte aus ganz unterschiedlichen Bereichen vor. Jedes Kapitel widmet sich allgemeinverständlich und auf Basis aktueller linguistischer Forschung einem anderen sprachlichen Aspekt: ausgestorbene und aussterbende Wörter, Sprachwandelprozesse, sprachliche Zweifelsfälle, Trends bei der Vornamengebung und vieles mehr. Mit Phänomenen, die erstaunen und überraschen, führt der Band Studieninteressierte und Studierende an die Linguistik heran und macht neugierig auf einen ebenso spannenden wie vielseitigen Untersuchungsgegenstand: die deutsche Sprache.

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Kristian Berg

Wort – Satz – Sprache

Eine Hinführung zur Sprachwissenschaft

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823394419

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0941-8105

ISBN 978-3-8233-8441-0 (Print)

ISBN 978-3-8233-0365-7 (ePub)

Inhalt

Vorwort1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter2 Emmy und Renate: Phonologie der Vornamen3 Sonnabend oder Samstag? Sprachliches Zweifeln4 Mehr als nur ein Anhängsel: Die Schrift5 Eine Zeitreise ins Frühneuhochdeutsche6 Kurt der Engel: Was uns Verhörer über das Hören sagen können7 Unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln: Die Syntax8 Kleines Zeichen, große Wirkung? Das Komma9 Eine furchtbarliche Zitterung: Alte Wörter10 Was uns eint und was uns trennt: Sprachliche Universalien11 Gendersternchen und Co.: Gutes Deutsch, schlechtes Deutsch, unnatürliches Deutsch12 Ungeschriebene Gesetze und erklärte Witze13 Semikolons: Linguistik und LiteraturwissenschaftRessourcen, Blogs und PodcastsGlossarLiteraturverzeichnis

Für Emmy, Carl, Ava & Jacob

Vorwort

Dieses Buch soll Lust auf Sprachwissenschaft machen, Werbung für eine faszinierende Disziplin, die sich mit etwas beschäftigt, das für uns alle zentral ist: die Sprache. Auf dem Gebiet der Sprache sind alle Experten und können mitreden. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, können Sie, das ist der Unterschied, fundiert an Debatten über die Sprachverwendung teilnehmen, weil sie die Grundpositionen und Zugriffsweisen derjenigen Wissenschaft kennen, die sich schon seit hunderten Jahren systematisch mit Sprache beschäftigt.

Wer soll dieses Buch lesen? Grundsätzlich alle, die sich für Sprache interessieren; alle, die sich schon immer gefragt haben, ob das Deutsche vor die Hunde geht (kurze Antwort: nein), ob es Samstag heißt oder Sonnabend, oder was so toll an Kafka sein soll. Vorkenntnisse sind nicht notwendig; alle Fachbegriffe und Werkzeuge werden an Ort und Stelle entwickelt.

Dieses Buch richtet sich außerdem an alle, die sich für Sprache interessieren sollten – damit sind Studierende der Germanistik, Anglistik, Romanistik und anderer Philologien gemeint, die ihr Studienfach aus Interesse für die Beschäftigung mit der Literatur gewählt haben. Das Medium der Literatur ist die Sprache, insofern sollte es eigentlich nicht überraschen, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Medium ein Teil des Deals ist. Das ist aber leider genau, was häufig passiert, und die Studierenden kehren vom ersten Zusammentreffen mit der Linguistik halbwegs traumatisiert zurück. Das muss nicht sein. Dieses Buch soll auf die Linguistik vorbereiten, zur Linguistik hinführen, Interesse wecken – und im Idealfall aus angehenden Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern auch ambitionierte Linguistinnen und Linguisten machen.

Die Auswahl der Themen ist eklektisch. Jedes Kapitel behandelt ein Thema, das ich selbst faszinierend finde. Es gibt aber Dutzende andere Bereiche, die ich hier vernachlässigen muss, die aber mindestens ebenso interessant sind wie die hier vorgestellten, z.B.: Wie wird Sprache im Gehirn verarbeitet? Wie funktioniert automatische Autorschaftserkennung? Was macht die Intonation, und in welchem Verhältnis steht sie zur Grammatik? Wie lernen Kinder Wörter, wie lernen sie syntaktische Strukturen?

Die Linguistik besteht aus vielen unterschiedlichen Teildisziplinen. Phonetik und Phonologie kümmern sich um die Lautstruktur der gesprochenen Sprache und ihre Funktion; die Graphematik ist ihr Pendant für die geschriebene Sprache. Die Morphologie untersucht den internen Aufbau von Wörtern, die Syntax den Aufbau von Sätzen. Semantik und Pragmatik beschäftigen sich mit der Bedeutung von Wörtern und Äußerungen. Die Psycholinguistik untersucht, welche Prozesse bei uns ablaufen, wenn wir Sprache nutzen; die Sprachgeschichte beschäftigt sich mit, nun, der Geschichte der Sprache.

Anders als in den einschlägigen Einführungsbüchern werden hier aber nicht die einzelnen Ebenen durchschritten. Schließlich handelt es sich um eine Hinführung zur Sprachwissenschaft, da können wir uns den Luxus leisten, uns interessante Aspekte wie Rosinen herauszupicken und die Disziplingrenzen zu ignorieren. Dennoch kommen alle Disziplinen zu ihrem Recht, und am Ende des Buches haben Sie nebenbei Grundkenntnisse in Phonologie, Morphologie, Syntax etc. erworben. „Nebenbei“ deswegen, weil die Vermittlung dieser Grundkenntnisse nur Mittel zum Zweck ist, um die vorgestellten Phänomene besser beschreiben zu können. Und unabhängig davon, ob überhaupt irgendwelche Werkzeuge oder Kompetenzen hängenbleiben – meine Hoffnung ist, dass Sie am Ende verstehen, warum die Linguistik eine spannende Wissenschaft ist, und dass Sie mehr wissen wollen.

Welchen Weg Sie durch dieses Buch wählen, ob Sie es von vorne bis hinten lesen oder kreuz und quer, bleibt Ihnen überlassen. Wenn ein Kapitel zum Verständnis eines anderen Kapitels notwendig oder hilfreich ist, wird das jeweils vermerkt.

An dieser Stelle darf ich auch noch einigen Personen danken, die mir bei diesem Buch geholfen haben. Tillmann Bub vom Narr Verlag hat das Projekt sehr geduldig begleitet; Nanna Fuhrhop, Cedrek Neitzert, Jonas Romstadt, Jan Seifert, Niklas Schreiber, Theresa Strombach und Claudia Wich-Reif haben Teile des Buches freundlicherweise kritisch gelesen und kommentiert.

 

Bonn, im Januar 2023     Kristian Berg

1Die Grenzen ausloten: Neue Wörter

Warum brauchen wir neue Wörter, obwohl es schon so viele gibt? Wie wird der Bedarf gedeckt? Was macht ein Wort erfolgreich?

Man könnte den Eindruck haben, dass wir vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Wenn wir sprechen lernen, ist die Sprache schon lange fertig. Wörterbücher und Grammatiken sind gedruckt. Die Sprachgemeinschaft, in die wir geboren werden, hat alles bereits ausgehandelt. Wir haben kaum Mitspracherecht und müssen uns fügen, wenn wir so kommunizieren möchten, dass wir verstanden werden wollen. Natürlich können wir statt Hund auch „Brims“ sagen; niemand kann uns das verbieten. Wenn wir allerdings verstanden werden wollen, müssen wir die üblichen Formen nutzen, und die üblichen Formen sind alt – oft sehr, sehr alt.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die meisten Wörter stehen zwar fest; das Deutsche erweitert seinen Wortschatz dennoch. Um solche neuen Wörter geht es in diesem Kapitel: Warum brauchen wir sie überhaupt, und woher bekommen wir sie? Welche neuen Wörter setzen sich durch, welche nicht?

Wortschätze Durchschnittliche erwachsene Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen kennen wahrscheinlich zwischen 25.000 und 250.000 Wörter. Das ist der sogenannte passive Wortschatz, also Wörter, die im Gehirn gespeichert sind und die verstanden werden.

Passiver, aktiver und kollektiver Wortschatz

Der Umfang des passiven Wortschatzes variiert aus zwei Gründen so stark. Erstens hängt er entscheidend davon ab, was und wieviel die Personen lesen, was sie beruflich machen usw. Und zweitens ist die Sprachwissenschaft uneins; unterschiedliche Methoden kommen zu sehr unterschiedlichen Inventaren. Was heißt es denn überhaupt, ein Wort zu kennen? Reicht es, ein Wort einmal gehört zu haben? Zweimal? Dreimal? Muss man in der Lage sein, die Bedeutung anzugeben? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, ist der Wortschatz größer oder kleiner. Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass das mentale Lexikon (also das „Wörterbuch“ in unserem Kopf) keine scharfen Grenzen hat. Wir wissen z.B., dass schon sehr wenige Begegnungen mit einem neuen Wort ausreichen, um eine Spur im Gehirn zu hinterlassen (streng genommen muss schon die erste Begegnung einen Effekt haben; ansonsten wäre die zweite Begegnung die erste, hätte auch keinen Effekt, man bräuchte die dritte etc. – so wäre Lernen unmöglich, vgl. z. B. Goldberg 2019: 13f.).

Der passive Wortschatz ist der Wortschatz einer Person. Wir können aber auch den Wortschatz einer ganzen Sprachgemeinschaft untersuchen; dieser Wortschatz wird der kollektive Wortschatz genannt. Es ist der Wortschatz von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, von Jugendlichen; der Wortschatz der Quantenmechanik und der Kraftfahrzeugmechatronik, der Forstwirtschaft und der Epidemiologie. Kurz: Der kollektive Wortschatz ist die Summe aller einzelnen Wortschätze, die wir in einer Sprache identifizieren können. Das heißt aber auch, dass es niemanden gibt, der alle Wörter des kollektiven Wortschatzes kennt und verwendet. Er ist um ein Vielfaches größer als die passiven Wortschätze einzelner Sprecherinnen und Sprecher. Der kollektive Wortschatz des Deutschen umfasst wahrscheinlich einige Millionen Wörter (vgl. z. B. Ulrich 2011: 33). Der aktive Wortschatz hingegen ist deutlich kleiner und lässt sich viel genauer bestimmen als der passive oder der kollektive Wortschatz. Goethe z.B. hat im Laufe seines langen Lebens in all seinen Schriften etwa 90.000 verschiedene Wörter genutzt (ob er mehr und vor allem andere Wörter gesprochen hat, ist eine interessante Frage – das werden wir aber wohl nie erfahren).

Obwohl wir also als Sprachgemeinschaft über Millionen von Wörtern verfügen, stößt unser Vokabular oft an seine Grenzen und muss erweitert werden. Motivation für neue Wörter Der naheliegendste Grund ist, dass wir etwas Neues benennen möchten. Das kann eine konkrete technische Erfindung sein (wie Mikrochip) oder ein neues abstraktes Konzept, mit dem wir unsere Welt besser beschreiben können (wie Coronakrise oder Gentrifizierung) – oder etwas ganz anderes (z.B. ein neuer Tanzstil wie twerken). In diesen Fällen brauchen wir neue Wörter, weil sich die Welt weiterentwickelt und wir das Bedürfnis haben, alles sprachlich zu bezeichnen und zu gliedern.

Anders liegen die Dinge, wenn es schon etablierte Wörter für Konzepte, Sachen oder Personen gibt, wir sie aber als diskrimierend empfinden. Stattdessen nutzen wir unbelastete neue Wörter wie Haushaltshilfe (statt Putzfrau) oder Migrant (statt Ausländer) und versuchen so, die Benannten sozial aufzuwerten.

Noch häufiger als diese Fälle sind solche, bei denen es um Informationsverdichtung in Texten geht: Es ist deutlich knapper und sparsamer, wenn man von einer Gewinnbeteiligungsstrategie schreibt statt von einer Strategie, um Mitarbeiter an Gewinnen zu beteiligen:

(1)

Er gab aber an, American Airlines wolle einen Anteil von 30 Millionen Dollar (rund 27 Mio Euro) im Rahmen der Gewinnbeteiligungsstrategie an die Mitarbeiter weitergeben. (ZEIT online, https://www.zeit.de/news/2020-01/07/boeing-einigt-sich-mit-american-airlines-auf-schadenersatz)

Diese Informationsverdichtung ist charakteristisch für die geschriebene Sprache, vor allem für Fachtexte. Auf die Spitze getrieben wird sie in extrem langen Wörtern wie dem (zu notorischer Bekanntheit gelangtem) Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz, einem der längsten tatsächlich verwendeten Wörter des Deutschen (63 Buchstaben). Hier wird gleichzeitig der Nachteil der Verdichtung deutlich: Je länger die Wörter, desto schwieriger sind sie zu verarbeiten.

Verwandt mit dem Bedürfnis nach Verdichtung ist das Bedürfnis nach Flexibilität: Manchmal passt ein Adjektiv syntaktisch einfach besser und eleganter in den Textzusammenhang als das entsprechende Substantiv, manchmal braucht man eher ein Verb als ein Adjektiv – und dann können wir neue Wörter „erschaffen“, die aber eigentlich nicht wirklich neu sind, wie z. B. das Wort Suhrkamphaftigkeit im folgenden Beleg:

(2)

So ließe sich noch eine Weile weiter herummäkeln, z. B. an der aufgeblasen betulichen Suhrkamphaftigkeit einzelner Beiträge […] (Jungle World 1999/30, https://jungle.world/artikel/1999/30/die-versuhrkampung-des-pop)

Hier wird ein Buch über Popkultur besprochen, das im Suhrkamp-Verlag erscheint, und der Autor bemängelt, dass der Stil der Beiträge zu sehr dem anderer Suhrkamp-Veröffentlichungen ähnele, dass er zu suhrkamphaft sei. Dieses Adjektiv ist bereits 1977 belegt; es scheint also etwas an Suhrkamp-Texten zu sein, das charakteristisch ist und das bezeichnet werden will. Nun hätte der Verfasser einfach dieses Adjektiv verwenden können, z. B. auf folgende Weise: „So ließe sich noch eine Weile weiter herummäkeln, z. B. daran, dass die einzelnen Beiträge aufgeblasen-betulich-suhrkamphaft sind“. Mit der Substantivierung Suhrkamphaftigkeit ist der Verfasser aber besser in der Lage, die übrigen Adjektive anzubinden – und außerdem braucht er nicht die etwas umständliche Korrelatskonstruktion daran, dass. Neue Wörter können also auch den syntaktischen Bedürfnissen entgegenkommen, sie schmieren die syntaktische Maschine.

Wir haben also aus ganz unterschiedlichen Gründen einen ständigen Bedarf an neuen Wörtern. Nisten sich neue Wörter in unserem Lexikon ein, werden sie auch als NeologismusNeologismen bezeichnet – zumindest, so lange Sprecherinnen und Sprecher sie für neu halten, solange sie also einen Neuwortgeruch verströmen.

Zum Begriff: Neologismus

Der Begriff Neologismus war selbst mal einer, nämlich eine Übertragung des französischen Neologismus’ néologisme, der wiederum eine Lehnwortbildung aus gr. néos + logos ist, was (wenig überraschend) ‚neues Wort‘ bedeutet. Der Begriff Neologimus war bis ins 20. Jahrhundert negativ besetzt. Es wurde benutzt, um vermeintlich überflüssige Wörter zu bezeichnen, die die schöne deutsche Sprache verwässern.

Wie wird der Bedarf gedeckt, wie kommen wir an neue Wörter? Das kann prinzipiell auf drei Wegen geschehen, durch Wortschöpfung, Entlehnung oder durch Wortbildung.

Mit Wortschöpfung Wortschöpfung ist gemeint, dass ein Wort nicht einfach aus vorhandenen Teilen neu zusammengesetzt wird, sondern dass es komplett neu erfunden wird. Diese Art, den Wortschatz zu erweitern, ist heute extrem selten und vor allem auf Markennamen beschränkt (z.B. Obi, Lanxess, Novartis). Die Markennamen werden dabei tatsächlich am Reißbrett ‚entworfen‘, und mit erfolgreicher Wortschöpfung kann man reich werden. Die Namenskandidaten werden ausgiebig an der Zielgruppe getestet. Sie müssen angenehm klingen und gegebenenfalls an positiv besetzte Wörter erinnern. Gleichzeitig sollte geprüft werden, ob der Name in anderen Sprachen bereits als Wort existiert. Sonst läuft man Gefahr, dass die positiven Aspekte und die Neuheit des Namens überlagert werden, wie beispielsweise beim Audi A3 e-tron: Im Französischen gibt es ein sehr ähnliches Wort (étron) mit einer sehr negativen Bedeutung (‚Kothaufen‘).

Wortschöpfungen muss man im heutigen Deutsch mit der Lupe suchen, so selten sind sie. Aber gehen nicht alle Wörter ultimativ auf Wortschöpfungen zurück, wenn wir nur weit genug in die Vergangenheit schauen? Irgendjemand muss sie schließlich irgendwann zum ersten Mal geäußert haben, und zwar ohne Vorbild. Das mag sein – aber leider wissen wir so gut wie nichts über die Ur-Ursprünge unserer Wörter. Diese Zeit liegt sehr weit vor der Erfindung der Schrift, und damit in einem undurchdringlichen Nebel, und das wird wahrscheinlich so bleiben. Wir können aber viele Wörter sehr weit zurückverfolgen, einige bis etwa 3000 v.Chr. (→ Kap. 9). Und in dem Zeitraum, der dokumentiert ist, sehen wir, dass Wörter ständig ihre Gestalt ändern, und dass neue Wörter durch Kombination existierender Teile und Übernahme aus anderen Sprachen entstehen. Manchmal werden neue Wörter auch an bestehende Wörter angelehnt (so wurde z. B. das bestehende Wort Dreiling im 16. Jahrhundert durch das neuere Wort Drilling verdrängt, weil Zwilling als Vorbild so häufig war). Eine Erfindung von Wörtern ganz ohne Vorbild, eine ‚Urschöpfung‘ also, bleibt dabei stets die Ausnahme.

EntlehnungDeutlich häufiger ist der Fall, dass neue Wörter aus einer fremden Sprache entlehnt werden:

Abb. 1: Tweet mit Lehnwort tweeten

Das Verb tweeten (wörtlich: ‚zwitschern‘) stammt aus dem Englischen. Allerdings ist getweetet so aufgebaut wie andere deutsche Partizipien auch, wenn ihr Stamm auf -t oder -d endet (wie bei gehortet, gesendet; als Stamm bezeichnen wir das Verb abzüglich der Infinitivendung, also hort- und send-; dazu unten mehr). In der Sprachwissenschaft sagt man, das Verb tweeten wird Flexionflektiert wie deutsche Verben. Es verhält sich gerade nicht wie Partizipien im Englischen, sonst hieße es hier Hab seit 24 Stunden nichts mehrtweeted. Der Verbstamm tweet- ist eine Übernahme aus dem Englischen, aber er wird direkt und ohne Zwischenstufen an die Erfordernisse der deutschen Grammatik angepasst. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang, der so natürlich und selbstverständlich abläuft, dass er uns gar nicht auffällt. Damit ist das Verb tweeten ein Wort des Deutschen, auch wenn es seinen Ursprung in einer anderen Sprache hat (nicht immer ist die Übernahme so problemlos, → Kap. 3 zu Zweifelsfällen wie gefaket/gefaked/gefakt).

Immer wieder gibt es alarmistische Zwischenrufe, die Anglizismen als Bedrohung für die deutsche Sprache darstellen, wie zum Beispiel vom „Verein Deutsche Sprache“:

Die deutsche Sprache wird seit Jahren von einer Unzahl unnötiger und unschöner englischer Ausdrücke überflutet. […]. Wir wollen der Anglisierung der deutschen Sprache entgegentreten und die Menschen in Deutschland an den Wert und die Schönheit ihrer Muttersprache erinnern. Wir wollen unsere Sprache bewahren und weiter entwickeln. Die Fähigkeit, neue Wörter zu erfinden, um neue Dinge zu bezeichnen, darf nicht verloren gehen. (https://vds-ev.de/denglisch-und-anglizismen/denglisch/ag-denglisch/)

Und es gibt tatsächlich Beispiele, bei denen die Dichte von Entlehnungen etwas sehr Affektiertes hat, wie z.B. das berüchtigte Interview, das die Modeschöpferin Jil Sander 1996 der FAZ gegeben hat:

Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. (Frankfurter Allgemeine Magazin, Heft 838, 22.3.1996)

Aber wie groß ist der Einfluss wirklich, abseits von solch anekdotischen Einzelfällen? Dazu wissen wir mittlerweile relativ viel. So hat sich der Anteil von Anglizismen an allen Wörtern in Zeitungstexten zwischen Anfang und Ende des 20. Jahrhunderts ungefähr verzehnfacht, von 0,04% auf 0,5 % (diese und die weiteren Zahlen stammen aus der Untersuchung von EISENBERG 2013). Geht man von einer Seitenlänge von 500 Wörtern aus, musste man Anfang des Jahrhunderts fünf Seiten lesen, bis man auf einen Anglizismus stieß; Ende des Jahrhunderts liest man auf jeder Seite im Schnitt zwei Anglizismen. (Das sind natürlich nur die Durchschnittswerte; in realen Texten sind Anglizismen viel ungleichmäßiger verteilt. Sie sind an bestimmten Stellen gehäuft, dazwischen liegen längere Textstrecken ohne sie).

Wir müssen an dieser Stelle allerdings etwas differenzieren. Wenn es oben um Wörter ging, müsste es eigentlich genauer WortformWortformen heißen. Wortformen heißen Wörter, wenn sie ganz konkret im Textzusammenhang auftreten (z.B. jobbst, gejobbt, jobbten). Wenn wir von Wörtern reden, meinen wir zum Teil aber auch abstraktere Einheiten, in denen diese Wortformen zusammengefasst werden. Die Wortformen jobbst, gejobbt und jobbten unterscheiden sich zwar, aber sie haben doch etwas gemeinsam – sie sind Formen von jobben, und diese Art Wort wird Lexem genannt. Das Lexem JOBBEN umfasst alle Formen, die in konkreten Texten auftauchen, und die Bedeutung (‚vorübergehend arbeiten, um kurzfristig Geld zu verdienen‘). Lexeme werden in Kapitälchen geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um Wortformen handelt. Und wo wir gerade dabei sind, können wir noch ein paar andere Begriffe einführen: Wortformen bestehen aus Stämmen und (optional) aus Präfixen und Suffixen. Der StammStamm ist der zentrale bedeutungstragende Teil des Wortes; er kann einfach sein (wie in Baum) oder komplex, also aus kleineren Teilen zusammengesetzt (z.B. aus zwei Stämmen wie in Baum·haus – der Hochpunkt zeigt hier und im Folgenden, wo die Teile zusammengefügt sind). Präfixe und Suffixe können den Stamm modifizieren, das Präfix vor dem Stamm, das Suffix danach. In seltenen Fällen treten beide zusammen auf wie in (dein ständiges) Ge·tweet·e; wir sprechen in dem Fall vom ZirkumfixGe…e. Wenn wir alle drei zusammenfassen wollen, Präfixe, Suffixe und Zirkumfixe, können wir neutral von Affixen sprechen. Affixe sind Einheiten, die nicht alleine auftreten wie ge-, ent- und ver-, -en, -heit oder -bar (wie in ge·schwor·en, ent·hält, ver·stehen, Frei·heit, trink·bar). Sie brauchen einen Stamm, an den sie sich anheften können. Präfixe, Suffixe, Zirkumfixe und einfache Stämme werden als MorphemMorpheme bezeichnet; das sind die kleinsten sprachlichen Einheiten, die eine Bedeutung (oder eine Funktion) tragen.

In einer Wortform wie unschön beispielsweise ist schön ein solcher Stamm und un- das Präfix. Bei jobbst ist jobb- der Stamm und -st ein Suffix. Der Stamm jobb- ist gebunden, das bedeutet, er kommt nicht frei vor (daher der Bindestrich am Ende). Das ist relevant für fast alle verbalen Wortformen, die uns in Texten oder Gesprächen begegnen: Sie bestehen neben dem Stamm noch aus mindestens einem Suffix. Für Adjektive und Substantive ist die Unterscheidung weniger wichtig.

Der Anteil der anglizistischen Wortformen an allen Wortformen liegt also am Ende des letzten Jahrhunderts bei 0,5%. Der Anteil der anglizistischen Lexeme ist höher: Er stieg von 0,35% am Anfang des Jahrhunderts auf 3,5% gegen Ende des Jahrhunderts. Wenn wir also Pressetexte nehmen und eine Lexemliste daraus erstellen (das Vokabular dieser Texte), dann ist mittlerweile jede 28. Vokabel ein Anglizismus. Das ist auf den ersten Blick ein recht hoher Anteil. Sind also die Sorgen berechtigt? Nicht wirklich, denn den größten Anteil an diesen Anglizismen haben Komposita (das sind Verbindungen von zwei oder mehr Wortstämmen, s. unten), und unter ihnen sind gerade am Ende des Jahrhunderts besonders viele hybride, also Verbindungen zwischen einem Anglizismus und einem nativen Wort wie etwa Anwaltsteam oder Baseballkappe. Sie machen insgesamt fast drei Viertel aller Anglizismen aus. Die anglizistischen Bestandteile im Wortschatz sind also gut integriert: Sie kombinieren wie native (das heißt nicht-fremde) Bestandteile. Fremd bleibt zum Teil die Aussprache, wie z.B. der erste Laut in jobben oder der Vokal in Fake; bei den Substantiven auch die Flexion (der Plural von Star ist Stars und nicht wie beim gleichgeschriebenen Vogelnamen Stare), am häufigsten aber die Schreibung – vor allem die Vokalschreibung wie in Fake, Code, Team, Coach, Clown. Das alles stellt das Deutsche und seine Sprecherinnen und Sprecher aber nicht vor größere Probleme – auch, weil die vielen entlehnten Wörter nicht ihre eigene Grammatik mitbringen, sondern sich ins System des Deutschen einfügen.

Und wenn wir etwas zurücktreten und das ganze Bild betrachten, dann folgen die aktuellen Entlehnungen aus dem Englischen demselben Muster wie die früheren Ent-lehnungs-modenEntlehnungsmoden aus dem Lateinischen und Französischen: Sie alle beschreiben eine „Wellenbewegung“, die langsam beginnt, dann Fahrt aufnimmt, ab einem bestimmten Punkt aber abflacht. Abbildung 2 zeigt die Anzahl neuer Wörter im kollektiven Wortschatz nach ihrer Herkunft (Latein, Französisch, Englisch) über die Zeit. Die Datenquelle ist ein umfangreiches Herkunftswörterbuch.

Abb. 2:

Entlehnungswellen nach Körner (2004: 47) aus dem Lateinischen, Französischen und Englischen. Auf der vertikalen Achse ist die Zahl der Wörter in einem Herkunftswörterbuch angegeben, auf der horizontalen die Zeit. Im Jahr 2000 stammen also ungefähr 1500 Wörter im Herkunftswörterbuch aus dem Französischen.

Die erste Welle ist die aus dem Lateinischen. Sie erreicht ihre größte Geschwindigkeit (also die stärkste Steigung) gegen 1500. Die Welle aus dem Französischen ist nicht ganz so groß; der Höhepunkt ist ungefähr 1650 erreicht, dann flacht sie ab. Und das ist auch für das Englische zu erwarten, auch wenn die Welle sich momentan noch aufbaut. Jede Mode überlebt sich irgendwann selbst, auch sprachliche Moden.

Es gibt auch deswegen wenig Grund zur Beunruhigung, weil die Zahl der entlehnten Wörter zu jedem Zeitpunkt wesentlich geringer ist als die Zahl der Wörter, die mit Material neu zusammengesetzt wurden, das im Deutschen bereits vorhanden ist. Diese Methode der Erweiterung des Wortschatzes nennt man Wort-bildungWortbildung. Wortbildung funktioniert im Deutschen und in vielen anderen Sprachen größtenteils wie das Zusammensetzen von Legosteinen: Wir haben ein Inventar an kleinsten Einheiten, und diese Einheiten können wir kombinieren. Nicht alle Teile lassen sich verbinden. Haben wir aber mal zwei Teile verbunden, können wir das neu entstandene Teil wieder mit kleinsten Teilen kombinieren und so weiter. Aus Fuß und Ball entsteht Fußball; das kann wiederum mit -er kombiniert werden zu Fußballer, daraus können wir mit -isch das Adjektiv fußballerisch machen.

Dass es viel mehr Wörter gibt, die im Deutschen aufgrund von Wortbildung entstanden sind, lässt sich empirisch zeigen. Untersucht man alle neuen Wörter in Zeitungstexten, so handelt es sich zu 88% um Produkte von Wortbildung (vor allem Komposita); zu etwa 12% sind es Eigennamen. Fremdwörter machen weniger als 1 % der neuen Wörter aus. Der „Motor“ der Wortbildung im Deutschen ist weiterhin intakt, er bringt ständig Unmengen neuer Wörter hervor.

Weil es so viele wortgebildete Wörter gibt, brauchen wir ein System, um etwas Ordnung zu schaffen. Als erste, grobe Gliederung können wir Wortbildungen danach unterscheiden, was miteinander kombiniert wird. Sind es zwei Stämme wie Tweet und Feuer, dann sprechen wir von Komposition:

Abb. 3: Tweet mit dem neuen Kompositum Tweetfeuer

Es kann sich aber auch um ein Wort (tweet) handeln und ein Element, das so nicht frei vorkommt, sondern nur in Kombination mit anderen Teilen (-bar); solche Wortbildungen werden Derivationen (auch Ableitungen) genannt:

Abb. 4: Tweet mit der neuen Derivation tweetbar

Manchmal wird auch gar nichts kombiniert – stattdessen ändert sich lediglich die Wortart. Dieser Prozess wird Konversion genannt. Aus der Verbform leaken beispielsweise kann das Substantiv das Leaken gemacht werden.

Abb. 5: Tweet mit der neuen Konversion Leaken

Der Großteil der neuen Wörter, die aufgrund von Wortbildung entstehen, gehört zu einer der drei Gruppen – Komposition, Derivation oder Konversion. Um sie geht es im Folgenden. Es gibt aber noch eine ganze Reihe anderer Wege, um neue Wörter zu bilden. Sie sollen hier nur kurz erwähnt werden.

So gibt es zum Beispiel eine eigene Art, neue Verben zu bilden, nämlich die PartikelverbbildungPartikelverbbildung. Hier wird ein Verb (wie tweeten) mit einer Verbpartikeln kombiniert (wie weg-).

Abb. 6: Tweet mit der neuen Partikelverbbildung wegtweeten

Partikelverb oder Kompositum?

Solche Wortbildungen sehen auf den ersten Blick aus wie Komposita – schließlich werden zwei Stämme kombiniert, weg und tweet(en). Die Partikelverbbildung ist aber deutlich eingeschränkter. Es kommt nur eine relativ kleine Zahl an Partikeln vor (z.B. wegtweeten, raustweeten, rübertweeten, volltweeten etc.), die in anderen Kontexten meist Präpositionen und Adverbien sind. Außerdem sind die Bildungen trennbar: Wir tweeten unsere Busagressionen weg. Deswegen wird die Partikelverbbildung meist als eigenständige Wortbildungsart angesehen.

Häufig handelt es sich aber bei den randständigeren Verfahren überhaupt nicht um die Verkettung von existierenden Einheiten: Es tauchen teilweise neue Wörter auf, bei denen die Teile nicht wie in den anderen Fällen einfach verbunden sind. Das sind zum Beispiel sogenannte KurzwortKurzwörter wie Uni oder LKW, bei denen das meiste der Langformen gekürzt wird (Universität, Lastkraftwagen). Oder die oft sehr kreativen und expressiven KofferwortKofferwörter, von denen die Coronakrise einen ganzen Schwung befördert hat: Corontäne (Corona-Quarantäne), Covidiot (abwertend für Personen, die die Corona-Pandemie leugnen), Coronials (die Generation derjenigen, die während der Lockdowns gezeugt wurden) und viele weitere mehr. Hier ist unklar, wo die Grenze zwischen den Bestandteilen verläuft – sie überlappen. Bei Covidiot z.B. ist das id sowohl das Ende des ersten Teils (Covid) als auch der Beginn des zweiten Teils (Idiot).

Ebenfalls nicht rein verkettend funktionieren die vielen neuen Wörter, die per Analogie gebildet wurden, also nach dem Vorbild bestehender Wörter. Ein Beispiel für solche Wörter ist Flockdown (‚starker Schneefall im Lockdown‘), das dem Substantiv Lockdown nachempfunden ist. Und das Muster _o(c)kdown lässt sich erweitern:

Abb. 7: Tweet mit verschiedenen neuen analogischen _o(c)kdown-Bildungen

Die Rückbildung ist wie die Partikelverbbildung nur für Verben relevant, aber komplexer. Es gibt eine Reihe von Verben, die aussehen, als wären zwei Stämme verkettet worden: bausparen, notlanden, staubsaugen. Dabei handelt es sich eigentlich um Ausnahmen, und noch dazu um historische Zufälle: Aus einem Verb wie sparen wird das Substantiv Sparer. Dieses Substantiv wird mit dem Stamm Bau zum Kompositum Bausparer. Wenn sich dieses Substantiv etabliert hat, kann es zum ‚Rückbau‘ des Suffixes kommen. Dabei wird eine Basis für die -er-Ableitung von Bausparer (und nicht nur von Sparer!) gesucht. Aus welchem Wort macht -er das Wort Bausparer? Das kann nur bausparen sein. Historisch lässt sich tatsächlich zeigen, dass die Komposita zuerst verbreitet waren und erst dann die rückgebildeten Wörter auftauchen.

Partikelverbbildung, Kurzwortbildung, Kofferwörter, Analogiebildungen und Rückbildungen sind vergleichsweise seltene Wortbildungsverfahren – der Normalfall sind Komposition, Derivation und Konversion.

Die KompositionKomposition ist die mit Abstand beliebteste Methode, um neue Wörter des Deutschen zu bilden. Die große Mehrheit der neuen Wörter, die per Wortbildung im Deutschen entstehen, sind Komposita. Meist werden zwei Substantive miteinander verbunden. Die Anordnung (oder die Struktur) ist dabei nicht beliebig: Eine Milchkuh ist ein Rind, Kuhmilch aber eine Flüssigkeit. Der rechte Bestandteil von Komposita entscheidet. Er gibt einerseits die Grundbedeutung vor, die vom linken Bestandteil spezifiziert wird (‚eine Kuh, die Milch gibt‘ vs. ‚Milch, die von einer Kuh stammt‘). Andererseits legt er auch die grammatischen Kategorien fest (Eselsmilch ist wie Milch ein feminines Substantiv).

Komposition ist das freieste Muster, das uns zur Verfügung steht. Wir können jedes Substantiv mit jedem anderen Substantiv zu einem Wort verbinden. Paket und Sprung ergibt Paketsprung, Job und Fessel ergibt Jobfessel, und Baum und Gesicht ergibt Baumgesicht. Diese Wörter stehen in keinem Wörterbuch, und auf den ersten Blick wirken sie etwas seltsam. Es fällt ohne den nötigen Kontext unter Umständen schwer, sie als wohlgeformt zu akzeptieren. Es handelt sich aber um mögliche Wörter des Deutschen, und mit ein wenig Kontext fallen sie kaum auf:

(3)

a.

Arbeitssucht. Wenn das Smartphone zur Jobfessel wird.

 

b.

Bei der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG) firmiert die Arschbombe unter dem Namen Paketsprung und ist als solcher sogar prüfungsrelevant.

 

c.

Zwei Holzscheiben und ein langer Ast, fertig ist das Baumgesicht! In Steglitzer Straßen finden sich neuerdings, wie in vielen anderen Teilen Berlins auch, Baumstümpfe, denen Unbekannte ein Gesicht gegeben haben.

Eine Jobfessel ist etwas, das an den Job fesselt, wie das berufliche Smartphone; ein Paketsprung ist die nüchtern-amtsdeutsche Bezeichnung für die ordinäre Arschbombe; und ein Baumgesicht sind mit Mund, Nase und Augen verzierte Baumstümpfe (diese Belege stammen übrigens aus dem Projekt ‚Wortwarte‘ von Lothar Lemnitzer, der Neubildungen sammelt und vorstellt unter www.wortwarte.de).

Bedeutung von KompositaEs ist also mit etwas Kontext möglich, praktisch jedes Kompositum plausibel zu machen. Wissen wir damit, was Komposita bedeuten? Bei den meisten konkret vorkommenden Komposita ist das der Fall. Ein Apfelbaum ist ein Baum, an dem Äpfel wachsen, ein Birnbaum einer, an dem Birnen wachsen. Oder wachsen können, oder mal gewachsen sind – diese Feinheiten stören uns gerade nicht, auch wenn sie ein Vorgeschmack sind. Wenn wir also das abstrakte Muster X-Baum betrachten, das ja nur ein winzig kleiner Ausschnitt aus allen Komposita darstellt – können wir dann sagen, dass die Bedeutung immer umschrieben werden kann als ‚ein Baum, an dem X wachsen können‘? Bei einigen Komposita funktioniert das: Ein Pflaumenbaum ist ein Baum, an dem Pflaumen wachsen, ein Nussbaum einer mit Nüssen, ein Obstbaum einer mit Obst usw. Aber selbst diese kleine Menge von Bildungen enthält eine Reihe von Komposita, die so nicht aufgebaut sind: Ein Gummibaum ist kein Baum, an dem Gummi wächst, sondern dessen Saft zu Gummi verarbeitet werden kann; ein Nadelbaum ist ein Baum, der Nadeln trägt; ein Zierbaum ist ein Baum, der zum Zweck der Zierde aufgestellt wird; ein Weihnachtsbaum ist ein Baum, der zu Weihnachten geschmückt wird; ein Kletterbaum ist ein Baum, der sich zum Klettern eignet. Was ist der kleinste gemeinsame Nenner für all diese Fälle? Ein X-Baum ist am ehesten ‚ein Baum, der etwas mit X zu tun hat‘.

Und dann gibt es eine ganze Reihe nur metaphorischer, nicht tatsächlicher Bäume wie den Duftbaum, den Stammbaum, den Syntaxbaum, den Schlagbaum und – den Purzelbaum. Was hat der mit einem Baum zu tun? Man vermutet, dass sich der Baum hier auf das „Wiederaufbäumen“ nach dem Überschlag bezieht.

Wenn es schon bei einer so kleinen Gruppe wie den X-Bäumen nicht klappt, ist klar: Eine Bedeutungsformel für alle Komposita zu finden ist aussichtslos. Das Einzige, was man relativ sicher sagen kann, wenn man ein Kompositum der Form XY vor sich hat, ist: ‚ein Y, das etwas mit X zu tun hat‘. Das ist schon eine ganze Menge: Wir wissen bei einem (relativ) neuen Wort wie Coronakontrolleur, a) dass es sich um einen realen oder metaphorischen Kontrolleur handelt, der b) etwas mit Corona zu tun hat. Der Kontext und unser Weltwissen lassen uns vermuten, dass es jemand ist, der die Befolgung der Hygieneverordnungen im Rahmen der Coronapandemie kontrolliert. Ohne dieses Weltwissen ist die Interpretation ungleich viel wackeliger; das wird es für Leser in 20, 50, 100 Jahren noch schwierig machen, aktuelle Texte von heute zu lesen. Die meisten Texte sind in der einen oder anderen Form zeitgebunden; wenn sich der Wortschatz aber aufgrund einer Krise so massiv erweitert wie in den Jahren 2020 und 2021, betrifft das mehr Wörter als in ruhigeren Zeiten.

Schreibung von KompositaWenn neue Komposita gebildet werden, dann geschieht das häufig mit einem Bindestrich zwischen den Bestandteilen, wie z.B. beim neuen Kompositum Frohnatur-Dialekt:

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Der Wein geht um, und die Belgier erzählen im rheinischen Frohnatur-Dialekt bunte Geschichte aus der Eifel. (https://www.zeit.de/news/2020-03/24/mit-dem-pferd-durch-die-pyrenaeen)

Der Bindestrich kann also Bestandteile von Komposita verbinden, und er macht das besonders dann, wenn sie sich in irgendeiner Form anders verhalten als unauffällige Wörter wie Baum, frisch oder lieben. So wird er praktisch immer verwendet, wenn einer der Bestandteile eine Zahl (12-jährig, 15-Tonner) oder ein Buchstabenkurzwort ist (wie LKW, SPD oder ZDF). Und auch fremde Bestandteile werden meist mit Bindestrich abgetrennt, wenn die Wörter zum ersten Mal gebildet werden (Tracking-Methode, Pizza-Roboter). Je nachdem, wie fremd ein Wort ist, wie lange es das Kompositum schon gibt und wie häufig es verwendet wird, geht die Bindestrichschreibung zurück. Das lässt sich gut an der Schreibung von Jogginganzug zeigen (hier anhand von Daten aus dem Deutschen Referenzkorpus):

Abb. 8:

Anteil der Schreibung „Jogging-Anzug“ (mit Bindestrich) an allen Schreibungen des Wortes (Bindestrich- und Zusammenschreibung). Datenquelle: Deutsches Referenzkorpus.

Der Anteil der Bindestrichschreibung (Jogging-Anzug) an allen Schreibungen des Wortes nimmt seit den 1980er Jahren kontinuierlich ab und liegt mittlerweile bei unter 5%. Die Zusammenschreibung hat sich durchgesetzt. Damit spiegelt die schriftliche Form wider, dass der erste Teil immer weniger als Fremdwort wahrgenommen wird. Und das ist entscheidend: Es geht vor allem darum, als wie fremd ein Wort empfunden wird – und nicht, ob es ursprünglich aus einer anderen Sprache stammt. Das Deutsche ist voll von auswärtigen Wörtern, die sich im Laufe der Zeit so integriert haben, dass sie nicht weiter auffallen: Fenster, Straße und Prinz stammen aus dem Lateinischen; Dame, Mode und Soße aus dem Französischen; Dschungel, Keks und Schal aus dem Englischen.

Die Schreibung mit Bindestrich wird beim Jogginganzug also immer seltener, die Zusammenschreibung immer natürlicher. Benutzt heute noch jemand die Bindestrichschreibung, dann weist er sich als älteren Schreiber aus – darüber können auch Emojis und Hashtags nicht hinwegtäuschen wie bei diesem Tweet von Carsten Maschmeyer:

Abb. 9:

Tweet mit Kompositum Jogginganzug mit Bindestrichschreibung

Mit dem Bindestrich können also Bestandteile von Komposita verbunden werden, wenn sie in irgendeiner Form besonders sind (Zahlen, Akronyme, Fremdwörter). Er wirkt damit wie Fugenkitt. Im Normalfall macht genau das allerdings nicht der Bindestrich, sondern das sogenannte Fugen-elementFugenelement: Es heißt eben Taschenlampe und nicht *Taschelampe; Tasche und Lampe werden mit n zusammengeklebt (der Stern vor Taschelampe zeigt an, dass das Wort ungrammatisch ist). Dabei sieht Taschen aus wie die Pluralform von Tasche, aber das täuscht. Man sieht das z.B. an Wörtern wie Sonnenhut oder Gänsebraten. Hier macht es keinen Sinn, von Pluralformen auszugehen, weil es in unserem Sonnensystem nur eine Sonne gibt, und ein Gänsebraten üblicherweise nur aus einer Gans besteht (ursprünglich handelt es sich oft um alte Genitivformen, also etwa der Sonnen Schein, die dann im Laufe der Zeit zu einem Wort verschmolzen sind). Und bei Liebeskummer wird endgültig klar, dass das s an der Grenze nur die Bestandteile verbindet: Es heißt die Liebe und mit der Liebe und für die Liebe und wegen der Liebe – die Form Liebes kommt als Wortform des Lexems Liebe nicht vor.

Bei einigen Komposita erscheint also n als Fugenelement, bei anderen s; bei manchen auch e (bad(en) + e + Hose → Badehose), und die meisten haben gar kein Fugenelement. Aber was sind die Regeln? Auch wenn Muttersprachler des Deutschen bei alten und neuen Wörtern intuitiv wissen, welche Fugenelemente passen und welche nicht (Abstandsregel ist OK, Abstandregel deutlich weniger), sind diese Regeln erstaunlich schwer zu beschreiben. Relativ verlässlich können wir sagen:

Wenn der erste Teil mit einem sog. Derivationssuffix wie -ung (wie Verriegelung), -heit (wie Freiheit) oder -schaft (Freundschaft) endet, dann erscheint -s- als Fugenelement (Verriegelungsbolzen, Freiheitsliebe, Freundschaftsarmband) …

… aber das gilt nicht für alle Derivationssuffixe. Bei -in bspw. (wie in Kanzlerin) tritt regelmäßig -en- als Fugenelement auf (Kanzlerinnengatte).

Drei Optionen sind produktiv, das heißt, sie treten in neugebildeten Wörtern auf: Nullfuge, -s-, -(e)n. Die anderen Fugen wie -er (wie in Kinderwagen) sind historische Überbleibsel.

Was lässt sich sonst noch sagen? Alles weitere sind lediglich Tendenzen. Ein Fugenelement ist bspw. wahrscheinlicher, wenn das Erstelement komplex ist, also selbst aus mehreren Teilen besteht. Das sieht man gut an Paaren vom Typ Werk+⌀+zeug – Handwerk+s+zeug oder Kauf+⌀+preis – Verkauf+s+preis.

Auch wenn es notorische Zweifelsfälle gibt wie Hauptseminararbeit/Hauptseminarsarbeit oder Schiffreise/Schiffsreise, und selbst, wenn es hunderte solcher Zweifelsfälle gibt, wie Damaris NÜBLING (2012) vermutet – angesichts der beinahe unbeschränkten Möglichkeiten der Komposition im Deutschen sind sie verschwindend selten. Wir sind fast immer sicher, welche Fuge zu verwenden ist. Schwanken tun wir mitunter, ob -s- gesetzt wird oder nicht. Die Regeln, die sich hier entwickeln, hängen von der rhythmischen Struktur ab: Handelt es sich beim ersten Bestandteil um ein einsilbiges Wort oder ein zweisilbiges Wort mit der Struktur „betont-unbetont“ (das sind die allermeisten), wird kein Fugenelement gesetzt. Handelt es sich um eine andere rhythmische Struktur wie bei Curriculum(s)entwicklung oder Präteritum(s)form, wird zunehmend ein Fugen-s gesetzt.

Die Komposition selbst kennt – im Gegensatz zu den Fugenelementen – kaum Grenzen; fast alles ist möglich, sogar die Wiederholung eines Bestandteils (wie in Abb. 10): Ein Salat-Salat ist ein tatsächlicher, prototypischer Salat, im Gegensatz zumAutokompositumNudel- oder Kartoffelsalat. Solche Komposita werden auch Autokomposita genannt.

Abb. 10: Tweet mit dem Autokompositum Salat-Salat

Bei der zweiten großen Quelle für neue Wörter im Deutschen, der DerivationDerivation, verhält es sich fast umgekehrt. Sie ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von verschiedenen Wortbildungsmustern, die alle mehr oder weniger enge Grenzen haben. Anders als bei der Komposition werden bei der Derivation nicht Wortstämme miteinander kombiniert, sondern Wortstämme und Affixe. Häufig ändert sich dabei die Wortart: Aus dem Adjektiv sicher wird mit dem Suffix -heit das Substantiv Sicherheit, das den ‚Zustand des Sicher-Seins‘ bezeichnet; mit dem Präfix ver- das Verb versichern, das so viel bedeutet wie ‚etwas sicher machen‘. Auf diese Weise kann das vorhandene Vokabular extrem flexibel erweitert werden und zur Grundlage neuer Wörter werden – die ihrerseits wiederum als Basis für Ableitungen dienen können. Das Verb versichern kann z.B. weiter mit -ung abgeleitet werden zum Substantiv Versicherung.

Es gibt im Deutschen ungefähr 160 Derivationsaffixe, native (wie -heit, -lich oder -nis) und fremde (wie -ieren, -ität oder -ion). Als Basis für die Ableitungen stehen ungefähr 7.000 einfache Stämme zur Verfügung – und unzählige weitere, die schon einmal abgeleitet sind. Das klingt erstmal nach praktisch unbegrenzten Möglichkeiten, Wörter abzuleiten, also nach einem sehr flexiblen System.

Das ist aber aus mindestens zwei Gründen nicht so: Zum einen hat jedes Muster mehr oder weniger enge Beschränkungen. So kombiniert bspw. -ung vor allem mit Verbstämmen, aber nur selten mit Substantiven und gar nicht mit Adjektiven (*Baumung und *Schönung sind nicht möglich). Und es kann auch nicht jeder beliebige Verbstamm sein, der als Basis für -ung-Ableitungen dient: Wenn das Verb ansonsten ein Dativobjekt nimmt wie (jemandem) gefallen, helfen oder danken, dann ist eine -ung-Ableitung normalerweise nicht möglich (*Gefallung, *Helfung und *Dankung). Verben mit Akkusativobjekt zeigen keine solche systematische Beschränkung: (etwas) abbuchen, verlagern, verpacken werden ganz regelmäßig unauffällig zu Abbuchung, Verlagerung und Verpackung.

Aber auch hier gibt es Ausnahmen: Einige Akkusativverben wie (etwas) verraten, wecken, trinken lassen sich nicht ableiten (*Verratung, *Weckung, *Trinkung). Bei *Verratung kann man noch sagen, dass die kürzere Alternative Verrat die Bildung blockiert (warum ein zweites Wort bilden, das dasselbe bedeutet?). Das ist aber der Sonderfall; bei Weckung und Trinkung gibt es solche Alternativen nicht. Man kommt nicht umhin, festzustellen: Die Derivationsmorphologie ist extrem löchrig. Kaum ein Muster ist ohne Ausnahmen, und die meisten haben sehr viele. Aber genau das macht die Derivationsmorphologie im Speziellen und die Wortbildung im Allgemeinen so spannend. Sie ist ein „faszinierendes morphologisches Puzzle“, wie Ludwig EICHINGER (2000: 5) feststellt.