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Wie kaum ein anderer Schriftsteller fühlte sich Paul Celan an das Deutsche gebunden. Doch wie selten ein Dichter vor ihm integrierte er eine Vielzahl anderer Sprachen in seine literarische Praxis. Die Bedeutung dieses Schreibens ,zwischen' den Sprachen lässt sich aus seiner Biographie, seinem Werk und seiner Poetik herleiten und anhand vieler Textbeispiele veranschaulichen. Auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Formen sind ein Dutzend Sprachen in Phänomene des Sprachwechsels, der Sprachmischung und der Sprachreflexion involviert. In dieser Studie wird erstmals der Versuch unternommen, Paul Celans Mehrsprachigkeit differenziert in ihrer ganzen Breite und Tiefe darzustellen. Dabei wird sichtbar, dass die translinguale Schreibpraxis des Dichters den Kristallisationspunkt seines distanziert-kritischen, Verhältnisses zur deutschen Muttersprache darstellt. Als Trägersprache der Judenvernichtung wird das Deutsche seiner Lyrik multilingual ,anreichert', verfremdet und dekonstruiert, wodurch eine Poetik der ,Wortöffnungen' sichtbar wird.
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Seitenzahl: 948
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Dirk Weissmann
Wortöffnungen
Zur Mehrsprachigkeit Paul Celans
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381119820
© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 2627-9010
ISBN 978-3-381-11981-3 (Print)
ISBN 978-3-381-11983-7 (ePub)
Und kannst, […]
sprechen, in naher, in nächster,
in fremdester Zunge […]
Paul Celan, Entwurf zur »Pariser ElegiePariser Elegie« (1961)1
In einem ihrer jüngeren Aufsätze schreibt Barbara Wiedemann: »Sich mit Paul Celan befassen heißt […], sich mit dem Deutschen befassen«.1 Gemeint ist hiermit die Beziehung von Celans Dichtung zur deutschen Sprache, zu sprachlichen Normen und Traditionen sowie zu bestimmten Vorstellungen von sprachlicher ›Reinheit‹, Regelhaftigkeit und Zugehörigkeit.2 Mit ihrer Aussage verweist die Celan-Herausgeberin und -Kommentatorin auf die häufig gestellte, jedoch äußerst heikle Frage, wie ›deutsch‹ die Sprache des Dichters eigentlich ist. Diese Frage wird zunächst durch die Exterritorialität von Celans Werk motiviert, dessen polyglotter Autor bekanntlich aus der rumänischen Bukowina stammte und nach Zwischenstationen in Bukarest und Wien seine deutschen Gedichte als französischer Staatsbürger in der Wahlheimat Paris schrieb. Darüber hinaus fußt diese Problematik auf Celans spezifischem und unverwechselbarem poetischem Idiom, seinem »vielschichtige[n], vielstimmige[n] Deutsch«,3 das als singulärer Idiolekt relativ wenig mit dem »Gesamtdeutsch« (Mikrolithen, 28), d. h. der zum supranationalen Standard erklärten bundesdeutschen Varietät, gemein hat. Das Einzigartige von Celans Deutsch, der Basissprache seiner Dichtung, wurde neben den vielfältigen, biographisch determinierten Sprachkontakten und -einflüssen‑ nicht zuletzt durch die intensive Übersetzungsarbeit geprägt, die sein Schreiben von Anfang an und durch alle Lebensstationen hindurch begleitet hat.
Das Deutsch der Gedichte Paul Celans gilt allgemein als »merkwürdig«,4 wenn nicht gar befremdlich. Stellvertretend für viele deutschsprachige Leser5 nicht nur seiner Generation hat Klaus Reichert, Lektor des Autors beim Suhrkamp Verlag und späterer Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, seine erste Begegnung mit dieser Lyrik wie folgt charakterisiert: »[H]ier [war] eine Sprache gefunden, die an nichts anknüpfte, was ich kannte, die wie aus einer anderen Welt kam, obwohl sie deutsch war«.6 Dieser frühe Leseeindruck sollte sich im Laufe der Rezeptionsgeschichte immer wieder bestätigen – im deutschsprachigen Raum wie auch im Ausland. Für die Gegenwart könnte als prominentes Beispiel die Tatsache angeführt werden, dass ein so begnadeter Schauspieler wie Jens Harzer beim Rezitieren mancher Celan-Texte deutlich an seine Grenzen stößt, wie er es bei der Aufnahme seiner Lesung ausgewählter Gedichte immer wieder freimütig signalisiert.7
Auch aus der Sicht geübter, ja professioneller Leser, so wird hier deutlich, erscheinen diese Gedichte als sprachlich durchaus ›widerständig‹. In Anlehnung an Oskar Pastiors berühmtes Hölderlin-Diktum liegt es daher nahe zu sagen, das Idiom namens ›Celan‹ sei »eine schöne, dem Deutschen verwandte Sprache«.8 Der mehrsprachige Lyriker und Celan-Kenner Peter Waterhouse spricht in dieser Hinsicht von dem »andersalsdeutschem Deutsch«9 des Dichters. Und der amerikanische Poet und Celan-Übersetzer Charles Bernstein, von dem weiter unten ausführlicher die Rede sein wird, merkt seinerseits an: »Celan’s poems are not so much in German as acts on German.«10 Distanz zur Muttersprache und Verwandlung des Deutschen sind der gemeinsame Nenner dieser Aussagen. Die Vorstellung einer solchen speziellen ›Arbeit‹ des Dichters an der deutschen Sprache bildet einen der Leitfäden der vorliegenden Studie. In der Forschungsgeschichte taucht sie zuvorderst unter solchen Begriffen wie »Meta-Deutsch«11 oder »Gegensprache«12 auf. Im Extremfall gipfelt sie in der latent esoterischen Konzeption vom ›Celanischen‹ als eigener (Fremd-)Sprache, die der Leser erst erlernen müsse, womit der Zugang zu den Gedichten prinzipiell den Spezialisten vorbehalten sei.13 Häufiger trifft man sie jedoch in Gestalt von Stichwörtern wie ›Wortschöpfung‹, ›Neologismus‹, ›Sprachspiel‹ und ›Hermetik‹ an. Dieser Diskurs durchzieht die Aufnahme von Celans Werk von ihren Anfängen bis heute.
Als ›heikel‹ ist die Frage nach Celans Deutsch insofern zu bezeichnen, als sie nicht nur auf das vom Dichter hervorgehobene »schicksalhaft Einmalige der Sprache« (GW III, 175Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961)) und die im Umfeld seiner Büchner-Preis-Rede (1960)Der Meridian entwickelte Vorstellung vom Gedicht als »Sichrealisieren der Sprache durch radikale Individuation« (Mikrolithen, 148) verweist. Vielmehr war ihre Formulierung in der Rezeptionsgeschichte von Anfang an mit Ausgrenzungsstrategien verbunden, deren ideologische, ja antisemitische Untertöne kaum zu übersehen sind. Gerade in Dokumenten der frühen Aufnahme seines Werks wurde über den Topos von Celans ›fremd‹ wirkenden sprachlichen Idiosynkrasien immer wieder suggeriert, der jüdische Dichter und Holocaust-Überlebende14 sei nicht wirklich Teil der deutschen Literatur und Kultur. Für solche diffamierende Zurückweisungen seitens des bundesdeutschen Literaturbetriebs der 1950er und -60er Jahre gibt es eine große Zahl von Beispielen, die erstmals in der umfangreichen Dokumentation zur sogenannten Goll-Affäre zusammengestellt wurden.15
Fragwürdiger Berühmtheit erfreut sich in dieser Hinsicht insbesondere Günther Blöckers Rezension des Gedichtbandes Sprachgitter, die am 11. Oktober 1959 im Berliner Tagesspiegel erschien.16 In dieser Besprechung von Celans aus heutiger Sicht »wichtigste[r] Positionsbestimmung auf seinem Weg zu einer neuen, anderen Sprache«17 bezeichnet der Journalist, der es später immerhin bis zur Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung bringen sollte, Celans Gedichte als »graphische Gebilde« und »kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier«, wobei er die ihnen unterstellte Beliebigkeit, ja Sinnlosigkeit insbesondere auf die »Herkunft« ihres Autors zurückführt:
Celan hat der deutschen Sprache gegenüber größere Freiheit als die meisten seiner dichtenden Kollegen. Das mag an seiner Herkunft liegen. Der Kommunikationscharakter der Sprache hemmt und belastet ihn weniger als andere. Freilich wird er gerade deshalb oft verführt, im Leeren zu agieren.18
Dieser in der heutigen Forschung berüchtigte Artikel hatte verheerende Auswirkungen auf Celans Psyche und darf als eine der tiefsten Kränkungen und seelischen Verletzungen bezeichnet werden, die dem Dichter je zugefügt wurden.19 Dass man Texte wie »EngführungEngführung« (GW I, 195ff.) als artistische Sprachexperimente mit fehlendem Realitätsbezug (»im Leeren […] agieren«) abqualifizieren konnte, empfand er als regelrechten Anschlag auf seine Existenz als Dichter und Überlebender. Im Nachlassgedicht »WolfsbohneWolfsbohne« (GW VII, 45ff.), das der Lyriker unter dem direkten Eindruck der Rezension schrieb, wird Blöckers Kritik über das Motiv des Mordanschlags auf seine Person und sein Werk sowie des Versuchs der nochmaligen Tötung seiner während der Judenvernichtung ermordeten Eltern verarbeitet. Für einen jüdischen Autor, der »TodesfugeTodesfuge« (GW I, 41f.) als »Grabschrift«20 für seine eigene Mutter bezeichnet und die meisten seiner Gedichte als »Textgräber«21 zur nachträglichen Bestattung der als Asche spurlos verschwundenen Opfer konzipiert hat, glich der Vorwurf formalistischer Beliebigkeit (vgl. »Exerzitien«) schlicht einer symbolische Grabschändung infamster Art.
Die von Blöcker verwendeten Argumente, die teilweise an frühere Rezensionen von Kritikerkollegen anschließen,22 wurden von Celan als antisemitisch wahrgenommen, was viele Zeitgenossen – darunter selbst enge Freunde – damals als übertrieben und ungerechtfertigt ansahen. Dieser Umstand führte zu zahlreichen irreversiblen Zerwürfnissen und Brüchen, insofern der Dichter angesichts der von ihm empfundenen existenziellen Bedrohung keinerlei Relativierung der Angriffe ertragen oder zulassen konnte. In Briefen dieser Zeit an Bekannte und Vertraute wie Max Frisch und Rudolf Hirsch ging er so weit, die Rezension Blöckers mit den Positionen von Hitler und Goebbels (Briefe, 391 u. 389) zu vergleichen. Im Nachlass finden sich darüber hinaus zahlreiche weitere Äußerungen Celans, deren extreme Virulenz die verheerende Wirkung der Blöcker-Rezension eindrucksvoll vermittelt.23
Auch wenn diese in den Augen vieler zeitgenössischer Beobachter überzogen wirkenden Reaktionen des Dichters zweifellos auf eine psychische Notsituation zurückzuführen sind, wird der Ansicht, der Journalist kolportiere in seiner Rezension antisemitisches Gedankengut, heute in der Forschung weitestgehend zugestimmt.24 In der Tat erinnern Blöckers Worte an ein altes judenfeindliches Vorurteil, wonach jüdische Bürger, denen die deutsche Zunge im Grunde fremd sei, eine weniger organische, authentische Beziehung zur Sprache hätten als ›echte‹ Deutsche. Ihnen fehle die tiefe Verwurzelung in der ›Volksgemeinschaft‹, und der Zugang zur höchsten Dichtkunst der Sprache sei ihnen im Gegensatz zu den ›einheimischen‹ Dichtern versagt. Richard Wagners Schrift Das Judenthum in der Musik (1850/1869), in der dieses Vorurteil wirkmächtig kolportiert wird, stellt nur eines der zahlreichen Dokumente einer langen antijüdischen und antisemitischen Tradition dar.
Im Nationalsozialismus wurde dieser sprach- und kulturideologische Ausgrenzungsmechanismus schließlich rassistisch radikalisiert – als Bestandteil des Feindbildes vom wurzel- und heimatlosen und damit ›undeutschen‹ Juden, dem als ›Fremdkörper‹ kein Platz in der ›völkischen‹ Sprachgemeinschaft zukomme. In der im Vorfeld der Bücherverbrennung des Jahres 1933 von der »Deutschen Studentenschaft« verbreiteten Hetzschrift Wider den undeutschen Geist heißt es so: »Der Jude kann nur jüdisch denken, schreibt er deutsch, dann lügt er«, wobei gefordert wird: »Jüdische Werke erscheinen nur in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in Deutsch sind sie als Übersetzung zu kennzeichnen«.25 Das ist der zeitgenössische Kontext deutscher Literaturpolitik, in dem der Jude Paul Celan in den 1930er Jahren zum Dichter heranwächst. Und unter diesem nationalsozialistischem Gesichtspunkt wäre seine Lyrik wohlbemerkt entweder als ›Lüge‹ aufzufassen oder als aus einer fremden Sprache ins Deutsche ›übersetzt‹.
An dieser Stelle wird deutlich, wie problematisch und historisch vorbelastet solche Diskurse über sprachliche Herkunft, Identität und Legitimität sind. Hat man diese Traditionslinie im Blick, so werden im vorliegenden Zusammenhang – bildlich gesprochen – irritierende Spiegelungen sichtbar. Denn die Vorstellung, dass eine herkunftsbedingte Distanz zur deutschen Sprache ein, wie es in der Blöcker-Rezension heißt, ›Mehr an Freiheit‹ gegenüber dem Sprachmaterial ermögliche, was über den ›Kommunikationscharakter‹ des literarischen Schreibens hinaus ein verstärktes ästhetisch-formales Innovationspotenzial mit sich bringe, gehört ebenfalls zu den Grundannahmen der Interkulturellen Literaturwissenschaft1 und speziell der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung.2 Gerade die minoritär-marginale Position von deutschsprachigen Autoren, die nicht in Deutschland (oder den deutschsprachigen Ländern) geboren sind und vor einem pluralen sprachlich-kulturellen Hintergrund schreiben, mache das Besondere ihrer Werke, ja ihren literarischen Wert aus – so der Tenor der Forschungsarbeiten der letzten Dezennien im Bereich ›Literatur und Mehrsprachigkeit‹.
Im heutigen akademischen Diskurs über Phänomene der Transkulturalität und Postmigration in der Literatur, so muss man zugestehen, haben sich die Vorzeichen eindeutig ins Positive gekehrt. Die ›fremde‹ Herkunft wird allgemein positiv bewertet und als Mehrwert aufgefasst. Dennoch besteht das alte Distinktionsmerkmal ›deutsch‹ vs. ›nicht deutsch‹ (bzw. ›fremd‹ oder ›ausländisch‹) weitgehend fort. Wahrscheinlich hätte Paul Celan – wie viele aktuelle Autoren der so genannten Migrationsliteratur – eine solche Differenzierung, sei sie auch noch so gut gemeint, als hochgradig diskriminierend empfunden, insofern er sie vor allem als eine Infragestellung seiner Legitimität als deutscher Dichter wahrgenommen hätte. Diese beinahe unheimlich zu nennende Nähe zwischen politisch-ästhetischer Wertschätzung kultureller und sprachlicher Alterität einerseits und deren xenophob, ja antisemitisch motivierten Ausgrenzung aus der deutschen Kultur andererseits ist sicherlich mit einer der Gründe dafür, warum »Paul Celan und sein Werk […] sich für die heutige literarische Mehrsprachigkeitsforschung als ein sperriger und ambivalenter Gegenstand« erweisen, wie Esther Kilchmann treffend schreibt.3
Bei den intrikaten Problemen, die jede Behandlung von Celans pluraler sprachlich-kultureller Identität aufwirft, spielen auch, so muss ergänzt werden, die nach wie vor wirkmächtigen nationalphilologischen Traditionen mit ihren monolingualen Ordnungskategorien eine gewichtige Rolle. Aus dieser Sicht erscheint literarische Mehrsprachigkeit meist als ein inkommensurabler Sonderfall oder gar als ein sprachliches Problem, das seiner ›Lösung‹ harrt. Das gilt insbesondere für die Gattung der Lyrik. Wie Dembeck feststellt, ist die sogenannte Höhenkammlyrik, zu der Paul Celans Gedichte zweifelsohne zu zählen sind, »zu sehr belastet mit Hypotheken einer Kanonbildung bzw. überhaupt einer Bildung, die gewissermaßen auf Kultur ohne Differenz setzt: auf Nationalkultur, die so tut, als sei Lyrik – und überhaupt: Literatur – notwendig einsprachig und Sache der einen Nation«.4 Auch unter diesem fachgeschichtlichen Gesichtspunkt wird deutlich, warum der Name ›Celan‹ und das Thema ›Mehrsprachigkeit‹ als tendenziell miteinander unvereinbar erscheinen können.
Die Hauptursache für das distanziert zu nennende Verhältnis der Celan-Philologie zu Forschungsansätzen auf dem Feld der multilingualen Literatur bleiben aber sicherlich die einschlägig bekannten und (vermeintlich) klaren Selbstaussagen des Dichters, die seit Anfang der 1980er-Jahren einem breiten Publikum zugänglich sind. In seiner oft zitierten »AntwortAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961) auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris« aus dem Jahr 1961Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961)5 schreibt der Lyriker bekanntlich, er glaube nicht an »Zweisprachigkeit in der Dichtung«, wobei er diese Art des Schreibens mit abwertenden Ausdrücken wie »Doppelzüngigkeit« und »Kulturkonsum« in Verbindung bringt. Durch die negative Verwendung von Begriffen wie »Wortkunst« und »Wortkunststücke« (ebd.) entsteht in diesem Text eine indirekte Verbindung zwischen der Absage an Polyglossie und der vehementen Reaktion auf Blöckers Angriff, er betreibe mit seinen lyrischen ›Gebilden‹ nur poetische ›Exerzitien‹. »Dichtung – das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache« (ebd.Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961)), so lautet Celans zentrale Gegenposition in seiner AntwortAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961) auf die Frage nach literarischer Mehrsprachigkeit.
Durch ihre Abwertung als artifiziell und »polychrom« (ebd.) erscheint Mehrsprachigkeit in diesem prominenten Statement als das exakte Gegenteil der »›graueren‹ Sprache« (GW III, 167Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1958)), die der Dichter schon 1958 für sein Schreiben eingefordert hatte. Das 1963 entstandene, programmatische Gedicht »WeggebeiztWeggebeizt« (GW II, 31) vertieft diese kritische Position, indem es den poetischen Kampf gegen das »bunte Gerede des An-/erlebten« (V. 3–4) in den Status einer Poetik erhebt. Nach dem Modell des Kompositums ›Meineid‹ erscheint dort das »hundert-/züngige Mein-/gedicht« (V. 4–6) als »Genicht« (V. 6), sprich: als Lüge und Negation von wahrer Dichtung.
Über das negative Bild des Polychromen und andere pejorative Formulierungen verdichtet sich in diesem Celan’schen Textgewebe der frühen 1960er-Jahre ein direkter Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und ›falscher‹ Dichtung. Mit dieser Assoziation, so kann hier angemerkt werden, knüpft der Dichter nolens volens an ein bis ins Mittelalter zurückreichendes Vorurteil mit weitreichenden Folgen an.6 In der europäischen Kulturgeschichte wurden die ›heuchlerischen‹ Verstellungskünste des Polyglotten immer wieder der ›wahrhaftigen‹ Identität des Einsprachigen gegenübergestellt. Der auf die Bibel zurückgehende Topos der ›Doppelzüngigkeit‹ besitzt dabei in seiner Rezeptionsgeschichte wohlgemerkt nicht nur fremden-, sondern auch judenfeindliche Implikationen, insofern die jüdische Diaspora mit Phänomenen der Mehrsprachigkeit einhergeht, wohingegen die idealisierte Figur des sogenannten Muttersprachlers eng mit dem Konzept der Sprachloyalität verbunden ist.
»Nur in der Muttersprache kann man die eigene Wahrheit aussagen, in der Fremdsprache lügt der Dichter«, das habe Celan bereits in seiner Jugend unterstrichen, wie seine Jugendfreundin Ruth Kraft (Lackner) zu berichten wusste.7 Bei letzterem Zitat, der zweiten Stellungnahme Celans gegen Mehrsprachigkeit, handelt es sich wohlbemerkt um eine Aussage aus zweiter Hand, die allein durch Israel Chalfens Jugendbiographie überliefert wurde. Doch auch wenn diese Bemerkung keine auktoriale Quelle darstellt,8 scheint sie Celans späteres Statement in gewisser Weise vorwegzunehmen. An dieser Stelle ist von Interesse, dass die dem jungen Dichter zugeschriebene Ansicht prominenten Sprachtheorien dieser Epoche entspricht, insbesondere der Muttersprachenideologie Leo Weisgerbers, die sich ab den 1920er-Jahren einer großen Resonanz erfreute. Nach der Machtergreifung der Nazis hat sich der Linguist mit seiner Propagierung deutscher Einsprachigkeit bereitwillig in die völkische Ideologie eingereiht.9
Weisgerbers wirkmächtige Sprachauffassung, deren Einfluss auf die öffentliche Spracheinstellung und die Schulpädagogik in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt erreichte, wurzelt in einer mythologisch-sakralisierenden Überhöhung der Muttersprache mit der für sie typischen Überblendung der Begriffe ›Sprache‹, ›Geist‹, ›Seele‹, ‹Wesen‹ und ›Volk‹, wie sie dem sprachnationalistischen Diskurs spätestens seit der Romantik eignet.10 Dabei kommt es zu der für den modernen Muttersprachendiskurs charakteristischen Verschmelzung von Sprache und ethnischer Herkunft bzw. Nationalität. Das ursprünglich progressive Moment der Emanzipation der Volkssprachen wurde auf diese Weise nationalistisch funktionalisiert und essenzialisiert. Sicherlich ist davon auszugehen, dass der junge Dichter sich solch prägenden Einflüssen seiner Zeit nicht vollständig entziehen konnte, wenngleich er sie nach dem durch die NS-Diktatur verübten Zivilisationsbruch notwendigerweise relativieren musste.
In Anbetracht dieses (scheinbar) klaren Votums des deutsch-jüdischen Dichters für Einsprachigkeit, das wie gesehen sowohl in privater als auch in öffentlicher Form überliefert wurde, erscheint die Ausgangslage der vorliegenden Studie als einigermaßen schwierig, wie hier zugegeben werden muss. Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen diskriminierend-antisemitischen Tendenzen in der zeitgenössischen Aufnahme seiner Lyrik, so wird hier deutlich, sieht sich jede positive Bewertung von Celans faktischer Multilingualität mit der Gefahr konfrontiert, den Finger in eine Art ›Wunde‹ zu legen. In dieser Gemengelage aus Fremd- und Selbstzuschreibungen könnte nämlich der Verdacht aufkommen, mit dem Topos sprachlicher Alterität und Differenz reproduziere der Mehrsprachigkeitsdiskurs gerade jene diskriminierenden Argumentationsmuster, welche die ärgsten Feinde des Dichters zu Lebzeiten gegen ihn verwendet haben, womit sie seinem psychischen Zusammenbruch entschieden Vorschub geleistet haben.
In der Tat kann eine direkte Verbindung hergestellt werden zwischen Celans AntwortAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961) auf die Flinker-Umfrage und seiner Situation als jüdischer Dichter deutscher Sprache nach der Judenvernichtung. Seine prominenten und häufig zitierten Stellungnahmen gegen literarische Mehrsprachigkeit sind – so eine inzwischen weitverbreitete Forschungsmeinung – über ihre geistes- und kulturgeschichtliche Prägung sowie poetologische Valenz hinaus auch oder vor allem als Widerstandsakte gegen die zahlreichen, teils antisemitischen Anfeindungen zu werten, denen er sich ab Ende der 1950er-Jahre verstärkt ausgesetzt sah – zu einem Zeitpunkt, als er gerade auf dem Weg war, mit seiner neuen, anderen Dichtungssprache den endgültigen Durchbruch in der deutschen Literaturwelt zu erzielen. Pointiert ausgedrückt gehört die monolinguale Selbstverortung bei Celan also zu einer Strategie der Selbstbehauptung in einem Literaturbetrieb, in dem er oft als fremd, unauthentisch und illegitim betrachtet wurde.
Die Blöcker-Rezension ist dabei nur ein Beispiel von vielen, wie die Rezeptionsforschung in den letzten Jahren nachgewiesen hat. In denselben Zeitraum fällt auch der Höhepunkt der berühmt-berüchtigten Goll-Affäre, einer der »perfidesten, hinterhältigsten Intrigen in der deutschen Literaturgeschichte«, wie Helmut Böttiger es auf den Punkt bringt.11 Obwohl von zentraler Bedeutung, kann die sogenannte Plagiatsaffäre an dieser Stelle nur sehr knapp umrissen werden: Die Witwe des lothringischen – und mehrsprachigen – Dichters Yvan Goll (1891–1950), den Celan kurz vor dessen Tod 1950 kennengelernt hatte, diffamierte ihn auf Grundlage gefälschter Manuskripte mit aus heutiger Sicht völlig haltlosen Plagiatsvorwürfen. Celans literarischer Erfolg gründe sich auf einer Falsifikation, da seine Lyrik in Wirklichkeit eine Kopie des Spätwerks ihres Mannes darstelle. Durch die Unterstützung konservativer Kreise in der Bundesrepublik fanden diese fingierten Anschuldigungen ein breites Echo in der damaligen literarischen Öffentlichkeit – erneut mit teils eindeutig antisemitischer Färbung.
Die lange Zeit unterschätzte Bedeutung der Plagiatsaffäre, die erst durch die bahnbrechenden Arbeiten von Barbara Wiedemann ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Forschung gerückt ist,12 ist auch im Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeitsproblematik relevant. Seit der Publikation der Dokumentation zur Goll-Affäre, die eindrücklich die tiefgreifenden Auswirkungen dieser Diffamationskampagne auf Celans Leben und Werk nachgewiesen hat, ist man sich weitgehend darin einig, in der Abwehr der Plagiatsvorwürfe einen wichtigen Faktor für Celans Zurückweisung von Multilingualität zu sehen. Hinter seiner Positionierung als Einsprachiger, so die These, verbirgt sich nicht zuletzt der Wille, sich vom feindlichen Lager abzugrenzen, handelte es sich doch bei Yvan Goll um einen zweisprachigen, deutsch-französischen Dichter, der im amerikanischen Exil auch Lyrik in englischer Sprache verfasst hatte. Celans Gegnerschaft zu der ebenfalls mehrsprachig publizierenden Dichterwitwe Claire Goll (1890–1977) mit ihren von der konservativen Presse unterstützten Machenschaften wirkte sich somit mittelbar auf seine Position gegenüber Mehrsprachigkeit aus.
Es kann gar nicht genug unterstrichen werden, dass der Kampf gegen das ›Goll-Lager‹ das zentrale Movens von Celans Handeln in dieser Zeit darstellt, womit eine Reihe von ›Kollateralschäden‹, wie das Scheitern zahlreicher Projekte und der Bruch mit vielen Freunden und Bekannten, einhergeht. In der Hochphase der Plagiatsaffäre konnte allein die Nennung des Namens Goll zu teils extremen Reaktionen und Konsequenzen führen, wie zahlreiche Dokumente belegen.13 Durch die infamen Machenschaften der Witwe wurde der einstige Förderer des jungen Celan posthum zu dessen Erzfeind, von dem es sich entschieden abzusetzen galt. Sicherlich eines der traurigsten und tragischsten Kapitel der Lyrikgeschichte des 20. Jahrhunderts, das nicht zuletzt dazu geführt hat, dass die Forschung selbst heute noch davor zurückscheut, beide Autoren in einen positiven Zusammenhang zu stellen, der von den Manipulationen und Diffamationen der Dichterwitwe abstrahiert.
Ohne diese mittlerweile gut erforschte Rezeptionsgeschichte nebst ihrer zeithistorischen Zusammenhänge an dieser Stelle weiter auszubreiten, kann als Zwischenbilanz festgehalten werden, dass der Nexus ›Goll-Affäre–Polyglossie–Antisemitismus‹ einigermaßen schwer auf dem Thema ›Celan und Mehrsprachigkeit‹ lastet. Dennoch sollte dies nicht zu einer Tabuisierung von Celans vielgestaltiger und literarisch überaus produktiver Multilingualität führen, wie es in Teilen der früheren Forschung tendenziell zu beobachten ist. Dagegen spricht allein schon die Tatsache, dass der Dichter die Plagiatsaffäre gerade mit den Mitteln der Mehrsprachigkeit zu verarbeiten versucht hat, wie dies an vielen Stellen festzustellen ist. Neben zahlreichen Gedichten (darunter »HuhedibluHuhediblu«, s. Kap. 2) und anderen Texten aus diesem Zeitraum zeigt dies schon eine sarkastisch-polemische Selbstbezeichnung wie »Dein Itzig Plagiator false Paul Celan« aus einem Brief Celans an Reinhard Federmann, in dem er sich direkt auf die Anschuldigungen der Goll-Witwe bezieht.1
Aus den eben genannten Gründen würde es geradezu tragisch anmuten, wenn der historische Fakt der Instrumentalisierung jüdischer Interkulturalität und Multilingualität zu diskriminierenden Zwecken dazu führte, in der Betrachtung jüdischer Marginalität als Ferment von ästhetischer Innovation und Kreativität den Versuch einer – womöglich antisemitisch motivierten – Verdrängung des jüdischen Dichters aus der deutschen Literatur zu sehen. Ein solcher argumentativer Kurzschluss würde im Grunde bedeuten, die ›Kollateralschäden‹ der infamen Goll-Affäre auf geradezu fatale Weise zu reproduzieren. Demgegenüber muss unterstrichen werden, dass Multikulturalität und Multilingualität in der Literatur des 20. Jahrhunderts keineswegs Stigmata darstellen, sondern vielmehr als Rahmenbedingungen ästhetischer Innovation anzusehen sind. Die auf Georg Simmels Soziologie der Fremdheit aufbauende ›marginal man‹-Theorie, die der Chicagoer Soziologe Robert E. Park in den 1920er-Jahren entwickelt hat, soll hier als alternative Betrachtungsweise zitiert werden, von der auch gegenwärtig noch wichtige Impulse für die Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung ausgehen können, wie es unter anderem die Arbeiten von Moritz Csaky zeigen.2
Es sei dahingestellt, ob Paul Celan zurecht als »universeller Migrant« bezeichnet werden kann oder ob seine Dichtung treffend als »ortlos« zu charakterisieren ist, wie es der Lyriker Durs Grünbein jüngst tat.3 Als anrüchig oder übergriffig ist diese Betrachtungsweise kaum zu bewerten. So könnte im Rahmen des in dieser Studie vorgelegten Ansatzes durchaus die These gewagt werden, Celans literarisches Idiom sei ein Deutsch mit ›Migrationshintergrund‹. Freilich sind all diese Begriffe niemals neutral oder unproblematisch, dennoch berühren sie mit der von ihnen implizierten Distanznahme gegenüber nationalen Ordnungskategorien wie dem ›Kerndeutschen‹ einen zentralen Punkt von Celans Poetik. Schließlich sind die Selbstaussagen des Dichters einer solchen Charakterisierung als ›Marginaler‹ immer wieder recht nahe gekommen, so zum Beispiel als er sich 1966 in einem Brief gegenüber Franz Wurm als »mehrheimatlich-polypatriotisch Verhedderten«4 bezeichnete. Solche ›nicht-deutsche‹ Selbstzuschreibungen durchziehen in der Tat sein gesamtes Schaffen.
So muss bei der Frage nach Celans kultureller und sprachlicher Verortung immer die Tatsache berücksichtigt werden, dass der Dichter – für sich selbst, sein lyrisches Werk und sein »Nomaden-Deutsch«,5 wie es der Nachlassverwalter Bertrand Badiou nennt – eine Randstellung festgestellt und seine Rolle als Außenseiter, ›Fremdling‹, ja als »Verbannter« (Briefe, 46) akzeptiert und fruchtbar gemacht hat. Gerade Celans sprachliche Exterritorialität – die den Schweizer Max Rychner 1948 zu der Fehleinschätzung verleitet hatte, das Deutsche sei nicht seine Muttersprache6 – wurde vom Dichter keineswegs als Manko betrachtet. Im Gegenteil hat er betont, »wie sehr seine sprachliche Isolierung der Ausarbeitung der dichterischen Sprache dien[t]«.7 Durch die Außensicht auf die Muttersprache habe dies »eine Vertiefung des Sprachgefühls« (Mikrolithen, 189) bewirkt. Was als Fremdzuschreibung den Charakter einer unerträglichen, immer wieder (und meist zurecht) als antisemitisch wahrgenommenen Exklusion besaß,8 war als Selbstdistanzierung, als »Recht auf Fremdheit« (Mikrolithen, 56) gegenüber Deutschland (und Österreich) ganz offenbar ein tiefes Bedürfnis und fester Bestandteil seiner Identität als Dichter und Jude.
In diesem Zusammenhang erweist sich eine Notiz Celans aus dem Umfeld seines Prosatextes Gespräch im GebirgGespräch im Gebirg (1960, GW III, 169–173) als höchst aufschlussreich. Das in dieser Erzählung verwendete ›Judendeutsch‹ wird in dieser Aufzeichnung als Form sprachlicher Mimikry9 beschrieben: »Das ›Jüdeln‹ im ›Gespräch im Gebirg‹: mais oui, il faut assumer ce qu’on nous prête!« (sinngemäß: »Man muss zu dem stehen, was einem unterstellt wird«, Mikrolithen, 41). Die in diesem – wohlbemerkt zweisprachigen – Kommentar thematisierte Verwendung eines bewusst jargonisierten (im Sinne von Kafkas Einleitungsvortrag über Jargon, 1912), ›unreinen‹, ja bastardisierten Deutsch, wie sie in der Erzählung zu beobachten ist, unterhält eine direkte Verbindung zu Celans multilingualer Identität und seinen mehrsprachigen Schreibverfahren. Persifliert der Dichter in seinem Prosatext das antisemitische Klischee vom unauthentischen, entwurzelten Juden,10 so antwortet seine Lyrik auf diese antisemitische Stigmatisierung mit einem singulären, ganz eigenen Deutsch, das er nicht mit der »lyrische[n] Koiné«, dem »lyrische[n] Allerlei unserer Tage« (TCA, MDer Meridian, 170f.) verwechselt sehen wollte.
Auf einer konkret lebensweltlichen Ebene lässt sich dieses Streben nach sprachlicher Distanzierung, ja Singularisierung an der Tatsache festmachen, dass der Dichter sich nach seinem Weggang aus Rumänien weder in Österreich noch in der Bundesrepublik Deutschland niederließ, sondern ganz bewusst den Schreibort Paris wählte. Ohne den Lebensweg der displaced person Paul Celan auf unzulässige Weise zu romantisieren und zu verklären, dürfen die konstruktiv-kreativen Aspekte dieser Migration nicht außer Acht gelassen werden. Durch die Wahl eines exterritorialen, fremdsprachigen Umfelds führt der Dichter nicht zuletzt eine wichtige Traditionslinie deutsch-jüdischen Schreibens fort.11 Die Prozesse jüdischer Emanzipation und Assimilation, wie sie auch in Celans eigener Familiengeschichte nachzuverfolgen sind, müssen nämlich mit dem Umstand zusammengedacht werden, dass jüdisches Schreiben in den deutschsprachigen Ländern ursprünglich aus einem »Neben- und Gegeneinander verschiedener Sprachen«12 entstanden war. Mit seinem ›Zungenentwurzeln‹ (s. GW III, 73, V. 8) hat Paul Celan – in einem Post-Holocaust-Kontext – auf singuläre Weise an diese mehrsprachige Tradition der jüdischen Diaspora angeknüpft.
Nichtsdestoweniger stellt die monolinguale Selbstverortung Celans, d. h. seine explizite Parteinahme für die deutsche Mutterzunge und gegen polyglottes Dichten, ein nicht von der Hand zu weisendes Hindernis dar, wenn man ihn als Autor zwischen den Sprachen und Kulturen zu situieren versucht. Durch das Fehlen anderer expliziter Stellungnahmen – beispielsweise zur offensichtlichen Verwendung von Mehrsprachigkeit in seinen Gedichten – fällt Celans ›AntwortAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961)‹ aus dem Jahr 1961 zwangsläufig sehr stark ins Gewicht, sobald es um die Beurteilung seiner Spracheinstellung geht. Der Einfluss dieses Statements, das den wichtigsten Baustein eines gewissen Einsprachigkeit-Paradigmas in der Aufnahme und Betrachtung seines Werkes darstellt, war lange Zeit determinierend. Seine Wirkmächtigkeit in der Celan-Philologie kann beispielsweise schon an der (nicht unproblematischen) Tatsache abgelesen werden, dass die Historisch-kritische Ausgabe seiner Werke die in anderen Sprachen verfassten Texte bis heute nicht in ihrer Edition berücksichtigt hat (s. HKA, 16, XVIII).
Dabei verbirgt sich hinter Paul Celans berühmter AntwortAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961) auf die Flinker-Umfrage, »an Zweisprachigkeit in der Dichtung glaube [er] nicht« (GW III, 175Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961)), eine weitaus differenziertere und komplexere Position, als auf den ersten Blick zu erkennen ist.13 Zunächst kann festgestellt werden, dass der Dichter im Unterschied zu anderen Exil-Autoren14 die Phänomene Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit nicht als ›unnatürlich‹ pathologisiert. Indem er diese Form des Schreibens in die Nähe der »Doppelzüngigkeit« (ebd.)Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961) rückt, moralisiert er sie vielmehr vor dem Hintergrund eines hohen poetischen Ethos.15 Auf diese Art und Weise wird Einsprachigkeit als Bedingung für dichterische Wahrhaftigkeit ins Feld geführt, wie der Ausdruck »das schicksalhaft Einmalige der Sprache« (ebd.) zeigt. Celans Positionsbestimmung in der Flinker-Umfrage unterscheidet sich also grundsätzlich von der essenzialistischen Einsprachigkeits-Ideologie eines Leo Weisgerber. Außerdem beziehen sich seine Äußerungen bei genauerem Hinsehen nicht auf literarische Mehrsprachigkeit an sich, sondern auf ›Zweisprachigkeit‹ als spezielle Ausprägung mehrsprachigen Schreibens. Zwar benutzt Celan in seiner Antwort durchaus die Vokabel ›polyglott‹, doch seine Ablehnung betrifft eben zuvorderst die von der Umfrage explizit angesprochene »Zweisprachigkeit der Dichtung« im Sinn der sogenannten textübergreifenden Mehrsprachigkeit.16
Eine solche Ausprägung von Mehrsprachigkeit liegt speziell dann vor, wenn Schriftsteller – wie es insbesondere beim Ehepaar Goll der Fall war – sowohl auf Deutsch als auch in einer oder mehreren anderen Sprache schreiben – in diesem Fall auf Französisch. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wechselt die Literatursprache und mit ihr die Sprache des Werks. Dabei können die betreffenden Texte gegebenenfalls sogar in zwei Sprachversionen parallel existieren, wie es unter anderem bei dem Selbstübersetzer Samuel Beckett der Fall ist, um dieses berühmte Beispiel aus der europäischen Literaturgeschichte zu nennen. Es handelt sich bei der in Celans Flinker-AntwortAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961) erwähnten Praxis mithin um Multilingualität im Sinne einer sprachlichen ›Verdoppelung‹, die von Celan in die Nähe einer gewissen, nicht zuletzt moralischen Duplizität gebracht wurde.17 Es ist insbesondere diese Duplizität, die der Dichter öffentlich abgelehnt hat, wie unterstrichen werden muss. In seinem Werk lassen sich jedoch darüber hinaus zahlreiche andere Praktiken von Mehrsprachigkeit entdecken. Und selbst die offiziell abgelehnte Zweisprachigkeit lässt sich in seinem Schreiben an vielen Stellen nachweisen, sei es auch in einem privaten Rahmen oder in verdeckter Form.
In Bezug auf Wortlaut und Kontext von Celans berühmter Aussage muss demnach die grundsätzliche Frage aufgeworfen werden, inwieweit seine scheinbar klare Positionsbestimmung neben dem Werk bestimmter Autoren – wie namentlich Yvan Goll – wirklich die eigene Poetik determiniert. Es muss also gefragt werden, inwiefern es sich tatsächlich um eine poetologisch verallgemeinerbare Frontstellung des Dichters gegen Mehrsprachigkeit handelt. In der Tat lassen sich zahlreiche Gegenargumente gegen eine solche Extrapolation auf Celans Werkpoetik anführen, wie im Anschluss ausführlich zu erörtern sein wird. So hat der Dichter, wie hier bereits angemerkt werden soll, immerhin einmal gegenüber Ingeborg Bachmann erklärt, man müsse seine Texte eigentlich erst einmal ins Deutsche übersetzen.18 Eine solche Äußerung suggeriert ja fast, er schreibe seine Gedichte in einer Art Fremdsprache. Sei dieses Zitat auch als freundschaftlicher Scherz zu verstehen, so impliziert es durchaus eine Distanznahme zur sogenannten Muttersprache als vordergründig alleinigem Horizont der Dichtung.
Generell umfasst literarische Mehrsprachigkeit, wie bereits angedeutet, weit mehr Phänomene als die in der Flinker-UmfrageAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1961) adressierte textübergreifende Zweisprachigkeit. Gerade im Werk Paul Celans sind die multilingualen Schreibtechniken äußerst facettenreich. Dazu gehören insbesondere Verfahren textinterner Sprachmischung in Form der Kopräsenz mehrerer (National-)Sprachen innerhalb einzelner Texte. Bemerkenswerterweise nimmt der Einsatz von Polyglossie in seinen Gedichten gerade auf dem Höhepunkt der Goll-Affäre enorm zu, wie insbesondere der Band Die Niemandsrose erkennen lässt, dem John Felstiner einen »burst of polyglot energy«19 attestiert hat. Angesichts dieses noch näher auszudifferenzierenden Gesamtbildes ist es notwendig zu unterstreichen, dass Celans isoliertes Votum gegen Polyglossie keineswegs mit romantischen Konzeptionen von Muttersprache und Nationalliteratur gleichzusetzen ist.20 Die darin zum Ausdruck kommende Notwendigkeit seiner Selbstbehauptung als deutschsprachiger Dichter wird, wie zu zeigen ist, erst vor dem Hintergrund der Singularität seiner existenziellen, sprachlichen und (literatur-)geschichtlichen Situation verständlich.
Aus den vorhergegangenen Analysen wird bereits deutlich, dass das im vorliegenden Buch entworfene Porträt Celans als mehrsprachiger Dichter sich zum Teil erheblich von gewissen Gemeinplätzen der Rezeptionsgeschichte unterscheidet. Anstelle einer Festlegung Celans auf Einsprachigkeit soll in diesem Rahmen all das hervorgehoben werden, was ihn vom herkömmlichen Ideal des Dichters als Muttersprachler unterscheidet. In diesem Zusammenhang muss allerdings hervorgehoben werden, dass viele Forschungsbeiträge neueren Datums der großen Komplexität von Paul Celans Beziehung zu Ein- bzw. Mehrsprachigkeit durchaus Rechnung tragen. So bemerkt beispielsweise Friederike Heimann in einem rezenten Aufsatz, der Dichter lasse »eine Vorstellung von Einsprachigkeit erkennen, die das Fremde auch als Fremdsprachiges mit umfasst, sodass Muttersprache und Fremdheit letztlich zusammen gedacht werden.«21 Dabei führt die Öffnung des Deutschen zu einer Relativierung der Opposition ›mono- vs. multilingual‹. Irene Fußl insistiert ihrerseits in ihrer 2008 erschienenen Monographie auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen ›externer‹ und ›interner‹ Mehrsprachigkeit im Schaffen des Dichters. In diesem Zusammenhang stellt sie fest: »Wohl aber glaubt Celan an Mehrsprachigkeit in einem Gedicht, die über Assoziationen in fremden Sprachen und im Deutschen über historische Sprachschichtungen und Bedeutungen stattfindet.«22 Über die Problematik der unaufkündbaren Beziehung zur Muttersprache hinaus gibt es in den deutschen Texten Celans eine durchgängige Praxis der Einflechtung anderer Sprachen, so der Tenor.
Die Sichtweisen der beiden hier zitierten Interpretinnen verbindet unter anderem der Umstand, dass sie von der Beobachtung einer – sowohl expliziten als auch impliziten – Präsenz des Hebräischen bei Celan ausgehen, auf die weiter unten zurückzukommen sein wird. Allerdings bildet diese jüdische Sprache trotz ihrer herausgehobenen, essenziellen, ja existenziellen Bedeutung keinen Einzelfall, sondern gehört zu einem breiten Spektrum sprachlicher Diversität in Celans Schaffen, das weit über den Horizont der deutschen Muttersprache hinausgeht. Denn trotz der prominenten Selbstaussagen des Autors und jenseits der desaströsen Plagiatsaffäre ist es eine sowohl biographisch als auch literarisch belegbare Tatsache, dass er sich zeitlebens in nicht nur einer, sondern zwischen mindestens drei Literatursprachen hin- und herbewegte: Deutsch, Rumänisch und Französisch. Diese Trias wurde durch eine ganze Reihe weiterer mehr oder weniger zentraler Sprachen ergänzt, auf die Celan als Dichter und Übersetzer zurückgreifen konnte.
Dass Paul Celan ein herausragender und passionierter Übersetzer war, der Lyrik und Prosa aus nicht weniger als sieben Sprachen ins Deutsche übertragen hat, ist heute hinlänglich bekannt. Neben Übersetzungen ins Deutsche übertrug er dabei auch Texte in andere Zielsprachen, namentlich ins Rumänische und Französische, was ihm den besonderen Status eines multidirektionalen Übersetzers verleiht.23 Zusätzlich hat er während seiner Bukarester Zeit aus dem Russischen ins Rumänische übertragen, also von einer sogenannten Fremdsprache in eine andere. Dieses Beispiel zeigt bereits, dass die Kategorie ›Fremdsprache‹ im Kontext einer multilingualen Sprachbiographie wie derjenigen Celans unzureichend und problematisch ist. Daneben liegen im Nachlass Aphorismen und poetische Prosa vor, die direkt in rumänischer Sprache geschrieben wurden. Zuletzt gibt es zahlreiche Texte, die Celan auf Französisch verfasst hat: Notizen, Aphorismen, Tagebucheinträge, Briefe, ein auf Französisch geschriebenes Gedicht, Übersetzungen und Selbstübersetzungen ins Französische sowie eine umfangreiche französische Korrespondenz mit seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange (1927–1991).
Die auf Rumänisch und Französisch unternommenen Schreibversuche Celans, bzw. die in diesen Sprachen vorliegenden Texte legen es mithin nahe, diese beiden Sprachen nicht mehr als Fremdsprachen, sondern als sekundäre Literatursprachen des Autors zu qualifizieren. Der in der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung verbreitete Begriff ›Exophonie‹,24 der nachfolgend zur Charakterisierung des Schreibens in ›nicht-muttersprachlichen‹ Sprachen übernommen werden soll, dient diesbezüglich unter anderem dazu, den axiologisch bedenklichen Terminus ›Fremdsprache‹ zu vermeiden, der gerade bei der Beschäftigung mit Celans Werk in die Irre zu führen droht.25 Ähnliches ließe sich über eine Bezeichnung wie ›ausländisch‹ sagen, die aufgrund von Celans Interkulturalität und Extraterritorialität – und der sich daraus ergebenden hybriden Identität des Autors – als unangemessen erscheinen muss.
Anhand zahlreicher Dokumente – in Form von Notizen, Briefen und Gedichten – lässt sich nachverfolgen, wie der Dichter im Laufe seines Lebens immer mehr die Sprachen im Schreibfluss miteinander verwebte. Die deutsche Lyrikerin Ulrike Draesner beschreibt dieses charakteristische Sprachverhalten Celans mit den folgenden Worten: »Most of the time other languages moved through his head«.26 Und vom ›Kopf‹ fanden diese Sprachen immer wieder ihren Weg ins Schreiben, ja in die publizierten Texte. In einem Brief an Hanne und Hermann Lenz aus dem Jahr 1957 formulierte es der Dichter wie folgt: »Ich wollte, ich könnte jetzt hebräisch oder zumindest lateinisch weiterschreiben, um Euch zu danken.« (Briefe, 273) In Anbetracht der vielen mehrsprachigen Textbefunde ist diese Äußerung nicht nur scherzhaft zu verstehen, auch wenn der betreffende Brief schließlich doch einsprachig bleibt. Gerade während der Entstehungszeit des Bandes Die Niemandsrose ist dieser polyglotte Impetus augenfällig, sodass beinahe der Eindruck entsteht, Mischsprachigkeit entwickle sich bei Celan zu einer Art natürlichem Sprachgestus. Aris Fioretos spricht im Hinblick auf diese Tendenz von einem wahren »Sprachenrausch«,27 den man oft bei Celan beobachten könne.
Anstelle eines monolingualen Habitus ist beim Dichter mithin eine »selbstbewusste Beweglichkeit innerhalb der Sprachen«28 zu konstatieren, wie Olschner schon 1985 schrieb. Um dies zu veranschaulichen, kann hier zunächst eine Anekdote wiedergegeben werden, die Badiou unlängst in seiner die Forschung erneuernden Bildbiographie bekannt gemacht hat: Während eines Besuchs in der legendären Pariser Harry’s Bar im Jahr 1966 wird Celan von einem amerikanischen Gast nach seinem Beruf gefragt. Anstatt wie allgemein üblich mit der Nennung einer Berufsbezeichnung zu antworten, übersetzt der junge Dichter spontan einen englischen Text in gleich vier Sprachen: »[Celan] holt Zettel und Stift hervor, notiert eine Strophe des Sonetts von Shakespeare und übersetzt sie ins Deutsche, Russische, Französische und Rumänische.«29 Mehrsprachigkeit als Berufung und Existenzform, so wäre man versucht, diese Szene zu umschreiben. Vom klassischen Metier des literarischen Übersetzers unterscheidet sich dieser Gestus gerade durch die Übertragung in andere Sprachen als die sogenannte Muttersprache.
Was die Schreibpraxis Celans angeht, kann darüber hinaus auf das sprachliche Patchwork bestimmter Aufzeichnungen verwiesen werden, wie sie zum Beispiel in seinen Notizheften anzutreffen sind. Auf einer Heftseite aus dem März 1962 – um hier nur dieses besonders anschauliche Dokument zu betrachten – bewegt sich der Dichter dabei ganz natürlich und spontan von einem Idiom zum anderen und führt vier verschiedene Sprachen in wenigen Zeilen zusammen (Mikrolithen, 40; siehe Abb. 1):30 Unter einem auf Französisch verfassten Aphorismus vom 24. März steht dort ein auf den 27. datierter Eintrag, in dem der Autor zunächst in kyrillischer Schrift einen Vers des russischen Lyrikers Sergej Jessenin (1895–1925) zitiert. Diese russischen Worte kommentiert er dann auf Französisch, indem er Auszüge aus seiner eigenen deutschen Übertragung31 wiederaufnimmt und dabei gleichzeitig eine Parallele zu Kafka anführt, um schließlich am selben Tag noch mit einem (zweisprachigen) lateinischen Zitat fortzufahren.32
Seite aus einem »GegenlichterGegenlichter« betitelten Schreibheft aus dem Jahr 1962.
Bei den ersten drei Einträgen handelt es sich um ein von Gisèle Celan-Lestrange notiertes Diktat des Dichters (siehe die editorische Notiz in Mikrolithen, 372f.). Paul Celan, Nachlass Paris.
Entgegen der ebenso wirkmächtigen wie verwickelten Positionierung des Dichters in seiner Antwort auf die Flinker-Umfrage muss daher an dieser Stelle festgehalten werden, dass Celans Sprachpraxis und sein literarisches Schaffen zutiefst von einem »Sprachenpluralismus«33 geprägt waren. Dies betrifft nicht zuletzt die Art und Weise, wie er seine Gedichte verfasst hat, was sich an zahlreichen Einzelstellen sowie anhand repräsentativer Texte durch das gesamte Werk hindurch zeigen lässt. Exemplarisch könnten dabei an dieser Stelle Gedichte wie »Erinnerung an FrankreichErinnerung an Frankreich« (geschrieben 1947, veröffentlicht in Der Sand aus den Urnen, dann in Mohn und Gedächtnis, GW I, 53), »HuhedibluHuhediblu« (entstanden 1962, erschienen in Die Niemandsrose, GW I, 275ff.) oder »Du sei wie duDu sei wie du« (aus dem Jahr 1967, publiziert in Lichtzwang, GW II, 327Du sei wie du) genannt werden. Die diesen Texten gemeinsame Dimension markanter Mehrsprachigkeit spannt einen Bogen vom rumänischen Jugend- zum Pariser Alterswerk, also über einen Zeitraum von rund drei Jahrzehnten.
Bevor diese Beispiele im Laufe der Studie eingehender analysiert werden, soll ihre multilinguale Faktur an dieser Stelle kurz umrissen werden. Das als erstes zitierte, aus dem Frühwerk gegriffene Gedicht tritt in einen multilingualen Dialog mit der rumänischen Volkspoesie, die der Autor aus seiner Bukowiner Heimat kannte, sowie mit der französischen Sprache seiner späteren Wahlheimat. Das letzte, aus dem Spätwerk stammende Beispiel vereint Deutsch (bzw. Mittelhochdeutsch) mit dem Hebräischen, das ab dem mittleren Werk eine immer wichtigere Rolle spielt. »HuhedibluHuhediblu«, ein Gedicht aus der mittleren Schaffensphase, nimmt schließlich seinen Ursprung in einem originalsprachigen Verlaine-Zitat, aus dem sich mittels einer Reihe weiterer anderssprachiger Hypotexte34 eine hochkomplexe polyglotte Sprachschöpfung herauskristallisiert. Dieses Gedicht wird in der vorliegenden Arbeit einer detaillierten Analyse im Hinblick auf seine mehrsprachige Konstitution unterzogen (Kap. 2).
In den eben erwähnten drei Gedichten sind insgesamt über ein halbes Dutzend Sprachen auszumachen. Solche Beispiele sprachmischender Dichtung sind bei Celan freilich nicht die Regel. Sie sind aber ebenso wenig die absolute Ausnahme, sondern stellen eine translinguale Kontinuitätslinie seines Werkes dar. Mit ›translingual‹ wird in diesem Zusammenhang die Fähigkeit der Sprachen benannt, im Medium der Literatur miteinander zu interagieren, einander zu beeinflussen und zu verändern.35 Die Texte ›queren‹ gleichsam mehrere »Sprachräume« (Mikrolithen, 146), wobei sie die engen Grenzen der Einsprachigkeit durch zwischensprachliche Prozesse infrage stellen. Gerade dieses ›Miteinander‹ verschiedener Sprachen innerhalb der Grundsprache Deutsch verleiht der Dichtung Paul Celans ihr einzigartiges Profil. Zu diesen Praktiken des Dichters, in denen sein Schreiben als Raum einer permanenten sprachlichen Aushandlung zwischen seiner deutschen Muttersprache und seinen ›anderen‹ Sprachen erkennbar wird, gehören neben der textinternen Sprachmischung bzw. dem Codeswitching (oder: Codemixing)36 auch Formen des Sprachwechsels von Text zu Text, wie das Schreiben und Übersetzen in andere(n) Sprachen inklusive der Selbstübersetzung.
Anlässlich des im Jahr 2020 – und leider während der Hauptphase der COVID-19-Pandemie – begangenen Dichter-Doppel-Jubiläums, bei dem parallel Celans hundertstem Geburts- und fünfzigstem Todestag gedacht wurde, hat die für polyglotte Stimmen höchst sensible Lyrikerin Ulrike Draesner unterstrichen, wie dissonant Celans ostentative Ablehnung von Multilingualität wirkt. So stellt sie fest: »[Seine] Spracherfahrung, seine Sprachwahrnehmung und seine Arbeitsweise sprechen auch andere Sprachen«.1 Gleichzeitig erkennt die promovierte Germanistin in dieser »unfreiwilligen Wahl« des Deutschen eine biographische und historische »Lebens-Notwendigkeit«2 ihres Dichterahnens. Die einzig mögliche (Haupt-)Sprache seiner Gedichte war eben das Deutsche, an dem er mit allen Mitteln, ja um jeden Preis festhielt.
Die deutsche Sprache ist Celans Mutter-›Zunge‹ in einem emphatischen und sehr konkreten Sinn als Sprache seiner während der NS-Herrschaft ermordeten Mutter, die ihn allererst die deutsche Sprache und ihre Literatur lieben gelernt hatte. Die existenzielle Dimension des Schreibens in dieser einen Sprache steht im Zentrum seiner Poetik. Angesichts des Todes, der als »Meister aus Deutschland« (»TodesfugeTodesfuge«, GW I, 41f.) sein Leben, das seiner Familie und des gesamten jüdischen Volkes auszulöschen beabsichtigte, wird das Festhalten am Deutschen, so könnte man sagen, zum notwendigen Akt der Selbstbehauptung und zum einzigen Mittel, der Pflicht des Erinnerns adäquat nachzukommen. »[I]ch will Ihnen sagen, wie schwer es ist als Jude Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben«, mit diesen Worten wendet er sich 1946 an Max Rychner, »aber mein Schicksal ist dieses: deutsche Gedichte schreiben zu müssen« (Briefe, 27). Die hier angesprochene ›Schwere‹ des dichterischen Sprechens, die unter anderem im Gedicht »HuhedibluHuhediblu« (GW I, 275ff.) thematisiert wird, findet schon in den frühesten Texten Celans ihren Ausdruck.
Dieser mit der klassischen Antithese »Muttersprache–Mördersprache«3 auf den Punkt gebrachte poetisch-biographische Sprachkonflikt führte bei Celan indes nicht zum Bruch mit dem Deutschen und damit zum Wechsel in eine andere, exophone Literatursprache. Hierin unterscheidet sich der Dichter von anderen nicht nur jüdischen (Exil-)Schriftstellern des 20. Jahrhunderts – man denke beispielsweise an Hannah Arendt (1906–1975), Klaus Mann (1906–1949), Georges-Arthur Goldschmidt (*1928) oder Aharon Appelfeld (1932–2018) –, die der deutschen Sprachen während der NS-Zeit vorrübergehend oder endgültig den Rücken zugekehrt haben. Ähnlich wie Peter Weiss (1916–1982),4 wenngleich im Rahmen einer ganz anderen Poetik, wurde Celan durch sein eigenes Schicksal zu einem bewussten und schwierigem, ja schmerzlichen Festhalten am Deutschen veranlasst, obwohl ein Sprachwechsel für ihn – im Gegensatz zu anderen, weniger polyglotten Autoren – von seinen Sprachkompetenzen her durchaus realisierbar gewesen wäre.5
Zugleich ist das Deutsche aber eben nicht die einzige Sprache des gebürtigen Rumänen Celan, der mehrere andere Sprachen fließend und mitunter als regelrechte Zweitsprachen beherrschte,6 wie das Französische als Sprache seiner Pariser Wahlheimat. Diese bemerkenswerte Vielsprachigkeit des Dichters findet ihre Wurzeln in seiner (post-)habsburgischen Herkunft und seiner Sozialisation in der Bukowiner (und heute ukrainischen) Stadt Czernowitz, damalige Hochburg der Bildung, mit einer »einzigartige[n] Symbiose germano-romano-slawisch-jüdischer Kultur«7, wo Multilingualität den Normalfall darstellte.8 Der Celan-Biograf Wolfgang Emmerich bringt diese mehrsprachige Prägung wie folgt auf den Punkt: »Dem jungen Mann aus einfachen Familien- und Bildungsverhältnissen stand eine kaum glaubliche Vielzahl von Sprachen zur Verfügung.« Sie begleiteten ihn durch sein ganzes Leben«,9 wobei Emmerich neben dem Deutschen das Jiddische, Hebräische, Rumänische, Französisch, Lateinische, Griechische, Englische und Russische erwähnt. Diese Liste könnte man noch um das Ukrainische ergänzen,10 das gerade im Lichte aktueller Ereignisse nicht mit dem Russischen verwechselt werden sollte.
Celans multilinguale Prägungen und Kompetenzen sind herausragend und scheinen einmalig. Vor dem Hintergrund seiner Czernowitzer Sozialisation und seines späteren Lebenswegs über Bukarest nach Paris lassen sie sich jedoch zum Großteil kontextuell herleiten und erklären. In erster Linie relevant ist im vorliegenden Zusammenhang die Tatsache, dass sich diese Sprachbiographie – mitsamt der ihr eingeschriebenen Brüche – direkt auf seine Literaturpraxis ausgewirkt hat. Kaum ein Autor der jüngeren deutschen Literaturgeschichte, so könnte man sagen, fühlte sich so existenziell an das Deutsche gebunden wie Paul Celan. Doch andererseits hat kaum ein Autor deutscher Zunge in seinem Schreiben so intensiv auf andere Sprachen zurückgegriffen wie er. So lautet eine der vielen Doppelbotschaften, die sich aus dem für sein Schaffen grundlegenden Konflikt zwischen Muttersprache und Mördersprache ergeben.
Der französische Philosoph Jacques Derrida, der Celan in den 1960er-Jahren als Kollege in der Pariser École Normale Supérieure kannte, hat hierfür folgende schöne Formulierung gefunden:
Celan, ce poète-traducteur qui, écrivant dans la langue de l’autre et de l’holocauste, inscrivant Babel dans le corps même de chaque poème, revendiqua pourtant expressément, signa et scella le monolinguisme poétique de son œuvre.
[Celan, dieser Dichter-Übersetzer, der, obwohl er in der Sprache des Anderen und des Holocausts schrieb und Babel direkt in den Körper jedes einzelnen Gedichts einschrieb, ausdrücklich die dichterische Einsprachigkeit seines Werkes für sich beanspruchte.]11
In Derridas Perspektive, der in der vorliegenden Untersuchung weitestgehend gefolgt werden soll, gehen ›Babelisierung‹ der Dichtungssprache und erklärte Einsprachigkeit demnach Hand in Hand. Mag das vom Philosophen bemühte Bild der babylonischen Sprachverwirrung zunächst etwas überzogen wirken, ist die Präsenz dieser anderen – und nur unzureichend als ›fremd‹ bezeichneten – Sprachen in Celans Schreiben in der Tat auffällig, frappierend, ja zum Teil massiv. Das Deutsche als Matrixsprache – im doppelten Sinne des Ausdrucks: als Trägersprache in einem multilingualen Kontext sowie als ›mütterliche Zunge‹ (lingua matrix) – bildet in seinem Werk die Basis, auf der sich eine Vielzahl und Vielfalt multilingualer Vorgänge abspielt.
Der herausragende Stellenwert von Celans Mehrsprachigkeit als integraler Bestandteil seiner Elaboration eines radikal neuen, ›unerhörten‹ Sprechens innerhalb der ererbten Muttersprache steht damit in einem engen Zusammenhang mit der eben skizzierten, sprachlichen Double-Bind-Situation des Dichters gegenüber dem Deutschen. Wie Draesner im Hinblick auf das Gedicht »HuhedibluHuhediblu« schreibt, kämpft der Autor in seinem Werk mit den Mitteln seiner singulären Dichtungssprache gegen die Illusion, sich von der deutschen Sprache loslösen zu können (»the illusion of escaping the German language«).12 Somit finden seine multilingualen Schreibtechniken ihren Ursprung nicht zuletzt in einer entfernt an Kafka erinnernden doppelten Unmöglichkeit: Der Unmöglichkeit, als Jude nach der NS-Zeit weiter wie gewohnt auf Deutsch zu schreiben, und der Unmöglichkeit, als deutschsprachiger Jude einfach auf das Deutsche zu verzichten.13
In diesem Sinne könnte das Einflechten anderssprachiger Wörter, Ausdrücke und Zitate, wodurch Celan das Deutsche gleichsam von innen heraus mit ›Fremdem‹ durchsetzt, als Teil einer grundsätzlichen Strategie begriffen werden, die darin besteht, dass er »durch den einzigartigen und kritischen Gebrauch, den er von dieser Sprache macht, die Gewaltsamkeiten der Geschichte gegen die Sprache selbst richtet«,14 wie Bertrand Badiou es ausdrückt. Celans Jugendfreund Petre Solomon hingegen erkennt in dieser multilingualen Arbeit am Deutschen weniger den aggressiv-destruktiven Gestus als den Willen, eine einzigartige Synthese der Sprachen und Kulturen zu erzeugen.15 Beide Perspektiven – die sprachkritische und die kosmopolitische – schließen sich keineswegs gegenseitig aus. Als Medium von kritischer Distanzierung, sprachlicher Verfremdung sowie interkultureller Hybridisierung16 wird Multilingualität bei Celan gleichsam zur notwendigen Bedingung des (Weiter-)Schreibens deutscher Gedichte.17 Auf diese Art führt Celan autonomieästhetische Ansätze der Subversion herrschender Maßstäbe, Sichtweisen und Normen – man denke nur an die Theorie der Verfremdung (остранение/ostranenie) bei den russischen Formalisten – weiter, wobei er diese literarische Ästhetik auf Grundlage seiner existenziellen Situation als deutsch-jüdischer Dichter nach dem Zivilisationsbruch der Judenvernichtung ›aktualisiert‹.
In diesem Sinne könnte eine solche Öffnung auf sprachliche Alterität und Pluralität als indirekte Antwort auf Theodor W. Adornos viel zitiertes Diktum gesehen werden, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei »barbarisch«.18 Denn der berühmte Philosoph der Frankfurter Schule, dessen Worte aus dem Jahr 1949 Celan zugleich bestürzt und herausgefordert haben, bezieht sich in diesem Zitat implizit auf eine bestimmte (monolinguale) Tradition klassisch-romantischer Lyrik, durch die er geprägt wurde. Von dieser – wie Celan als Reaktion auf Adorno notierte – »Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive« (Mikrolithen, 122) wollte sich der Dichter mit seiner eigenen, polyphon-multilingual verfremdeten Dichtungssprache gerade absetzen. Adornos spätere Ausführungen zu den »Wörtern aus der Fremde«19 als Antidoton gegen einen sich als naturhaft-ursprünglich gebenden »Jargon der Eigentlichkeit« erlauben es aber letztlich, eine Verbindung zwischen den Konzeptionen beider Autoren zu ziehen.
Angesichts von »Celans Zerrissenheit«20 erscheint es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als wenig fruchtbar, den Widerspruch zwischen dem öffentlichen Statement gegen Mehr- bzw. Zweisprachigkeit und der konkreten multilingualen Arbeits- und Schreibweise des Dichters zu Gunsten eines einzigen Poles auflösen zu wollen. Das Paradox von theoretischer Einsprachigkeit und praktischer Mehrsprachigkeit muss vielmehr in seiner Produktivität akzeptiert werden. Ist es doch gerade die Tatsache des Festhaltens am Deutschen beim gleichzeitigen Versuch, der »Falle Muttersprache–Mördersprache«21 zu entkommen, die den verstärkten Rückgriff auf andere Sprachen in seinem Schreiben notwendig zu machen scheint, sodass beide Perspektiven unauflöslich miteinander verbunden sind. Zugespitzt formuliert, gibt es letzten Endes in Celans Schreiben keinen apodiktischen Gegensatz von ›einsprachig‹ und ›mehrsprachig‹, sondern vielmehr ein ebenso facettenreiches wie poetisch fruchtbares Neben- und Miteinander beider Positionen.
Frei nach dem von Derrida in seinem sprachphilosophischen Hauptwerk Le monolinguisme de l’autre formulierten Sprachdenken könnte man die vorliegende Problematik auch als Antinomie formulieren: Celan schreibt immer nur Deutsch – Celan schreibt nie nur Deutsch.22 Die seit Jahrzehnten geführte Debatte um die Einreihung des Autors in den Kanon ein- oder mehrsprachiger Literatur scheitert letzten Endes an der aporetischen Verfasstheit seines Werks. Seine Situation als jüdischer Dichter im Deutschen ist grundsätzlich ausweglos (a-poria), was beim Leser (und Literaturwissenschaftler) die Bereitschaft voraussetzt, die für dieses Werk konstitutiven Spannungen auszuhalten. Wie der Dichter selbst in einer poetologischen Notiz schrieb, sind seine Gedichte grundsätzlich paradox (Mikrolithen, 96). Und solche Paradoxien tragen sicherlich nicht unerheblich zu der Faszination bei, die seine Texte bis heute auf ihre Leser ausüben.
Drei von diesen Paradoxien und die daraus resultierenden Doppelbotschaften wurden schon angesprochen: Erstens wollte Celan grundsätzlich nicht als Außenseiter abgestempelt werden, nahm aber selbst immer wieder dezidiert eine singuläre Randposition ein. Er wehrte sich vehement gegen jeden Ausgrenzungsversuch, blieb indessen stets auf kritische Distanz zu Deutschland, Österreich und dem deutschsprachigen Literaturbetrieb bedacht. Zweitens blieb Celan dem Deutschen als Mutter- und Dichtungssprache treu, hat es aber gleichsam von innen heraus verändert, verfremdet und dekonstruierend an seine Grenzen gebracht. Er schrieb auf Deutsch, doch in einer von ›nicht deutschen‹ Einflechtungen durchzogenen und den Deutschen gleichsam fremden Sprache. Drittens sprach sich Celan gegen mehrsprachige (bzw. textextern-zweisprachige) Dichtung aus, doch sind sogenannte Fremdsprachen in seinem literarischen Schaffen stark präsent – in bestimmten Texten oder Schreibphasen treten sie sogar massiv auf. Er opponierte offen gegen polyglotte Dichtung, bewegt sich aber gleichzeitig permanent auf der Grenze zwischen den Sprachen, wobei er eine einzigartige Öffnung der deutschen Dichtungssprache gegenüber sprachlicher Alterität und Pluralität betrieb.
Wie man sieht, trägt Paul Celans Œuvre insofern widersprüchliche Züge, als es eine Reihe heterogener bis antagonistischer Traditionen und Paradigmen in sich vereint, wobei einzelne Positionen trotz ihrer wichtigen und durchaus positiven Rolle immer wieder zurückgewiesen, ja bekämpft werden, wie es u. a. beim Problem der Zweisprachigkeit der Fall ist. Helmut Böttiger hat diese paradoxale Funktionsweise jüngst anhand von Celans zwiespältiger Beziehungen zu kulturkonservativen Kreisen in der Bundesrepublik Deutschland – insbesondere zu Martin Heidegger und dessen Umfeld – beispielhaft dargestellt.1 Einen weiteren zentralen Bezugspunkt bildet in diesem Zusammenhang die (im weitesten Sinne) avantgardistische Tradition der deutschsprachigen Literatur, ausgehend von der Rezeption des französischen Symbolismus während der Jahrhundertwende, über Expressionismus, Dadaismus, Futurismus und Surrealismus bis hin zu den Nachkriegs-Avantgarden der 1960er-Jahre.
Im Rahmen seiner »radikale[n] In-Frage-Stellung der Kunst« (GW III, 192f.), wie sie explizit in Der MeridianDer Meridian, seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises (1960), thematisiert wird, hat sich der Dichter wiederholt von dieser Traditionslinie und ihren Nachkriegsrepräsentanten distanziert – beispielhaft von Gottfried Benn und dessen ästhetizistischer Poetik (s. Mikrolithen, 143). Weder in die Nähe des Paradigmas ›reiner Poesie‹ noch in die Nachbarschaft akustisch-visueller Experimente, wie sie unter anderem von der Konkreten Poesie und vom Lettrismus praktiziert wurden, wollte er gebracht werden. An seinen damaligen Lektor Klaus Reichert schrieb er: »›Artistik‹: nein, das sind, obwohl mir das wiederholt und ausgesprochen wohlmeinend attestiert wurde, meine Arbeiten in keiner Hinsicht.«2 Genauso bestand der Autor nachdrücklich auf der Abgrenzung vom Surrealismus – sei er französisch, rumänisch oder deutsch – damit die Literaturkritik nicht den »Unsinn« weiter verbreite, seine Gedichte seien »surrealistisch«, wie er 1958 in einem Brief an Günther Neske schreibt (Briefe, 331). Dabei muss in Erinnerung gerufen werden, dass gerade Yvan Goll literaturhistorisch als einer der Gründerväter des Surrealismus gilt.
An dieser Stelle wird eine zentrale Verbindungslinie erkennbar zwischen: 1. der literaturgeschichtlichen Zugehörigkeit des Poeten Yvan Goll zum Surrealismus, 2. den von dessen Witwe erhobenen Plagiatsvorwürfen (mitsamt der sich daran anschließenden öffentlichen, antisemitisch geprägten Diffamationskampagne) und 3. der Beurteilung von Celans Lyrik durch die Kritik als artistisch, beliebig und realitätsfern, so unter anderem bei Günter Blöcker. All diese Punkte bildeten in den Augen Paul Celans einen umfassenden Verweisungszusammenhang, der sich im Laufe der Zeit immer klarer abzeichnete und in dessen Zentrum eine Leugnung des Wahrheitsgehalts seiner Dichtung ›nach Auschwitz‹ stand. Wie beim Thema ›Zweisprachigkeit‹ besteht also auch bei der ›Artistik‹ eine enge Verbindung zu Celans Kampf gegen die wiederholten Anfeindungen vonseiten des deutschen Literaturbetriebs.
Wie aus zahlreichen und zum Teil bereits zitierten Textstellen hervorgeht, konzipierte Celan seine Gedichte in erster Linie als Gedächtnisort für die sechs Millionen ermordeten Juden Europas, angefangen bei seiner eigenen Mutter. Der ›Realismus‹ seiner Texte in Bezug auf die Geschichte des Genozids, seiner historischen Vorläufer und ideologischen Quellen liegt klar auf der Hand, was viele zeitgenössische Kritiker allerdings zunächst übersahen oder besser gesagt zu ignorieren suchten. Heutzutage steht die Rezeption von Celans Werk hingegen ganz im Zeichen dieses memoriellen Ansatzes, wodurch viele seiner Gedichte eigentlich erst ›lesbar‹ werden. Im Kontext der apologetischen Tendenzen der jungen Bundesrepublik fehlte das Bewusstsein für das ›Wirklichkeitswunde‹ (s. GW III, 186Bremer Rede) dieser Lyrik hingegen offensichtlich bei vielen deutschen Lesern, was der Dichter immer wieder feststellen musste. Auf diese Weise wird ersichtlich, dass Celans Kritik am ›Wortkunststück‹ der literarischen Polyglossie – über das naheliegende Ziel Yvan und Claire Goll samt ihrer vielen Helfershelfer hinaus – auch auf die allgemeine Verdrängung der NS-Verbrechen im Deutschland der 1950er und ‑60er Jahre abzielt. Daher tendieren Ausdrücke wie ›Artistik‹, ›Doppelzüngigkeit‹ oder ›Zweisprachigkeit‹ unter seiner Feder letztlich dazu, zu einem alternativen Begriff für die sogenannte Auschwitz-Lüge zu werden. Exemplarisch für eine solche begriffliche Assoziation ist das weiter oben erwähnte poetologische Gedicht »WeggebeiztWeggebeizt« (GW II, 31), in dem das »bunte Gerede des An-/erlebten« (V. 3–4) als ›Meineid‹ (»hundert-/züngige Mein-/gedicht«, V. 4–6) dargestellt wird.
Gegenüber einer solchen, stark antagonistischen Konzeption der verschiedenen ästhetischen Positionen, durch die Celans Werk nahezu aus seinen literaturhistorischen Zusammenhängen herausgelöst zu werden droht, muss allerdings betont werden, dass sein Schreiben durchaus eine hohe Affinität zur Tradition der Avantgarde, ja dem Sprachexperiment erkennen lässt. Dieses nachweislich bei ihm präsente sprachexperimentelle Erbe ist ebenso problembelastet wie grundlegend für seine Dichtung. Celans Bukarester Jugendfreund Petre Solomon war einer der Ersten, der die nachhaltige Bedeutung der sprachexperimentell-sprachspielerischen Tradition für sein Schreiben unterstrichen hat. Ganz ähnlich bestätigte Bertrand Badiou später unter biographischer Perspektive: »[Celan] liebt[e] es, mit Worten zu spielen«.3 Die Belege für diesen Zug seines Schreibens lassen sich in vielen Texten aus seinem Frühwerk finden. Aber auch zahlreiche Briefe und Gedichte seines mittleren und späten Werkes lassen diese Traditionslinie klar erkennen.4
Nicht anders als seine Beziehung zur deutschen Sprache und zur Mehrsprachigkeit ist Paul Celans Verhältnis zum Sprachexperiment also zutiefst ambig. Unter dem Namen ›Artistik‹ wird es von ihm abgelehnt, gleichzeitig sind sprachspielerische Ansätze in seinem Schreiben äußerst produktiv, wie schon sein häufiger Gebrauch von Assonanz, Reim und Metathese zeigt.5 In diesem Zusammenhang kann auf spielerisch-ironische Gedichte wie »AbzählreimeAbzählreime« (GW III, 133) und Scherzgedichte wie »Großes Geburtstagsblaublau mit Reimzeug und AssonanzGroßes Geburtstagsblaublau mit Reimzeug und Assonanz« (GW III, 134) verwiesen werden. Nicht zuletzt Celans Künstlername – ein Anagramm seines Geburtsnamens Antschel – zeugt von der fast intimen Bedeutung solcher Figuren.6 Seine späten Übertragungen von Lautgedichten des russischen Futuristen Velimir Chlebnikov (1885–1922, GW V, 293–301) sind ein weiteres Indiz für seine weit über die rumänische Periode hinausreichende Affinität zum Sprachexperiment und zur Erkundung der Möglichkeiten und Grenzen der Sprache. Daher ist es auch fraglich, ob der Dichter wirklich zur »sprachtraditionellen Moderne« zu zählen ist, wie es Günther Saße einst behauptet hat.7 Vielmehr sollte gerade die sprachexperimentelle Dimension seiner Lyrik stärker gewürdigt werden als das bisher im Gros der Forschung der Fall war.
Durch diese ambivalente Haltung gegenüber der ›Wortkunst‹ ergibt sich schließlich für sein gesamtes Œuvre ein latenter Widerspruch zwischen Gedächtnisort und Sprachexperiment bzw. eine weitere Paradoxie, die man wie folgt formulieren könnte: Celans Lyrik zielt auf einen konkreten und präzisen Sinn ab, doch gleichzeitig ist sie nicht zuletzt aufgrund der in ihr zum Einsatz kommenden experimentellen Mittel intrinsisch mehrdeutig. In seiner bereits zitierten AntwortAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1958) auf eine frühere Umfrage der Librairie Flinker hat der Lyriker diese Spannung 1958 wie folgt auf den Punkt gebracht: »Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren VielstelligkeitAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1958) des Ausdrucks, um Präzision.« (GW III, 167Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1958)). »VielstelligkeitAntwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1958)