Wortschatz der Nacht - Josef Winkler - E-Book

Wortschatz der Nacht E-Book

Josef Winkler

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Beschreibung

„Gestern abend, im Bett auf dem Rücken liegend, stellte ich mir meinen Tod vor. Ich schloß die Hände zum Gegengebet. Ich begann zu lächeln und versuchte diesen Gesichtsausdruck solange wie möglich zu bewahren. Meine Maske also …“ Dass Tod lebendig macht, es gilt jedenfalls für das Schreiben dieses Autors. Todesfurcht – Sehnsucht, Schrecken und Faszination – treibt Josef Winkler von Werk zu Werk. 1979, direkt nach der Niederschrift seines ersten Romans »Menschenkind«, brachte er in einem »Wortanfall« weniger Nächte hundert Seiten rauschhafter Prosa, einen »Bildersturm«, zu Papier. Im selben Jahr erschien der Text in der Grazer Literaturzeitschrift »manuskripte«. Jetzt, vierunddreißig Jahre später, zum 60. Geburtstag des Büchner-Preisträgers, wird dieses Jugendwerk zum ersten Mal als Buch veröffentlicht. Eine Neu- und Wiederbegegnung steht an.

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Seitenzahl: 151

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»Gestern abend, im Bett auf dem Rücken liegend, stellte ich mir meinen Tod vor. Ich schloß die Hände zum Gegengebet. Ich begann zu lächeln und versuchte diesen Gesichtsausdruck solange wie möglich zu bewahren. Meine Maske also …« Daß Tod lebendig macht, es gilt jedenfalls für das Schreiben dieses Autors. Todesfurcht – Sehnsucht, Schrecken und Faszination – treibt Josef Winkler von Werk zu Werk. 1979, direkt nach der Niederschrift seines ersten Romans Menschenkind, brachte er in einem »Wortanfall« weniger Nächte hundert Seiten rauschhafter Prosa, einen »Bildersturm«, zu Papier: »Die Erde dreht sich um den Kugelkopf meiner elektrischen Schreibmaschine, und meine Seele schwebt in meinem Körper in Lebensgefahr.« Jetzt, mehr als dreißig Jahre später, wird dieses Jugendwerk des Büchnerpreisträgers zum ersten Mal als Buch veröffentlicht. Eine Neu- und Wiederbegegnung steht an.

Josef Winkler, geboren 1953 in Kamering (Kärnten), war seit 1971 in der Verwaltung der Hochschule für Bildungswissenschaften in Klagenfurt tätig. Seit 1982 ist er freier Schriftsteller. Er lebt in Klagenfurt. Häufige Reisen, insbesondere nach Indien. Winkler erhielt zahlreiche Preise, darunter 2008 den Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen: Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel, 2011; Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot, 2008; Roppongi. Requiem für einen Vater, 2007.

eBook Suhrkamp Verlag 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunkund Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung desVerlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Wortschatz der Nacht

Die rechte Hälfte meines und die linke Hälfte deines Körpers wird absterben. Die beiden anderen, überlebenden Teile werden sich zusammenfügen. Da ich ein paar Zentimeter größer bin als du, wird unser gemeinsamer neuer Mensch ein wenig hinken, aber sonst wird er sehr schön sein.

Tag und Nacht trage ich den Kugelkopf meiner elektrischen Schreibmaschine in meinen Jeans. Denke ich an meine Kindheit, so klammern sich meine Finger, sofort, wie um Leben zu retten, an den Buchstaben des Kugelkopfes fest, umschließen ihn mit der Handfläche, mache die Hand zur Faust, als ob ich den Kugelkopf zerdrücken und zusehen wollte, wie zwischen meinen Fingern die Säfte meiner Kindheit hervorrinnen, ehe in Zeitlupe die Mutter mit dem Hackbeil, das sie wie zum Gebet in den Händen hält, kommunizierend in die Höhe fährt und den Hahnenkopf vom zitternden, wild flügelschlagenden Körper trennt. Sofort rinnt das Blut in die Einschnittstelle des Holzblockes, in die ihre linke Hand mit der Kraft ihrer Muskeln vom Scheitel ihres Kopfes weg – ein wenig Zorn aus der Stirnhöhle mitnehmend – das Beil fallen lässt. Mit der Geschmeidigkeit der Tintenfischarme krallen sich die Füße des Hahns zusammen und strecken sich wieder. Die Seele eines kreischenden Huhns, das von seinen gewärmten Eiern flieht, rotiert, und ich klammere mich weiter an den Kugelkopf meiner elektrischen Schreibmaschine, Zeile für Zeile schreite ich auf der Fußgeherzone vorwärts, meine Fußsohlen hinterlassen Spuren von 26 alphabetischen Buchstaben. Denselben Weg zurückgehend, trete ich wieder in die Fußstapfen meiner Sprache und wandere meiner Kindheit entgegen. Wenn du einmal an deinen Lippen die salzigen Tränen eines Kindes spürst, wirst du merken, wie das Kind, das vielleicht schon vor einem Jahrzehnt in dir war, wieder zu weinen beginnt. Deine Seele wird sich für die Augenblicke deiner Hyperempfindlichkeit zusammenziehen, zusammenschrumpfen in die Größe deiner Kinder