Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe - Josef Winkler - E-Book

Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe E-Book

Josef Winkler

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Beschreibung

Erst vor wenigen Jahren hat Josef Winkler erfahren, dass sein Kärntner Landsmann Odilo Globocnik, der sich als Leiter der „Aktion Reinhardt“ mit den Worten „Zwei Millionen ham‘ ma erledigt“ des Massenmords an den Juden gerühmt hatte, nach seinem Zyankali-Freitod im Mai 1945 auf einem Gemeinschaftsfeld von Winklers Heimatdorf Kamering verscharrt wurde, in den „Sautratten“ – dort, wo Winklers Vater und Großvater ihr Getreide anbauten und ernteten.

In einem bösen Wortmarathon exhumiert der Autor das Skelett des SS-Massenmörders und mit dem Skelett die Geschichte Kamerings nach dem Krieg. Ausgrabung und die neuerliche Visitation des vielleicht meistbeschriebenen Dorfs der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ergeben: Der Boden, auf dem Kamering steht, ist vergiftet. Laß dich heimgeigen legt den Finger in die Wunde eines Jahrzehnte währenden kollektiven Verschweigens.

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Josef Winkler

Laß dich heimgeigen, Vater,oderDen Tod ins Herz mir schreibe

Roman

Suhrkamp

Motto

ich kauf das fleisch

Ich kauf das Fleisch

und seh den Metzger nicht,

ich kauf das Brot

und schau nicht nach dem Bäcker.

Aber einmal werden

sie sich an mir rächen.

Der Metzger wird

in meinen Traum kommen

und mit seinem Messer

sein Gesicht einfordern.

Der Bäcker wird

aus einem Sack Mehl steigen,

ein weißes Gespenst

ohne Haut und Knochen,

und fordert von mir

sein aufgegessenes Gesicht.

Rajzel Zychlinski

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Motto

Inhalt

Türkenfiedern unter Schwalbennestern, No Milk Today und »Zwei Millionen ham’ma erledigt!«

Die mit Mehl bestäubten jahrzehntealten Spinnweben in der Getreidemühle und der Lockruf des Totenvogels

»Das Skelett steht mir schon wieder im Weg«, der Bazooka-Lederball auf den Sautratten und »ich werde dich schneiden!«

Die Buerlecithinflasche und der Sägespänofen

Der Pfauenschrei beim abendlichen Betläuten und das frische Gras von den Sautratten auf den scharf gedengelten Schröckenfux-Sensen

Die Kärntner Tracht Prügel und die Schweizer Omega-Uhr

Laß dich heimgeigen, Vater, den Tod ins Herz mir schreibe, und tanze mit dir in den Himmel hinein

Die Menscherkammer des aus der Ukraine verschleppten vierzehnjährigen Mädchens und das Straßenschild »Boulevard Taras Schewtschenko« auf der Mauer der Kathedrale des heiligen Volodymyr in Kiew

Nach der Gräberbesprengung zu Allerheiligen und die Wehrmacht-Alcoso-Haarschneidemaschine-Solingen zu Allerseelen

Die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit der drei Kriegsberichterstatter auf den Sautratten, und – hast g’hört? – Leich’ gehn! Der Globus is gstorbn!

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Türkenfiedern unter Schwalbennestern, No Milk Today und »Zwei Millionen ham’ma erledigt!«

Hojert in tol a geschrej

tog-ojss, tog-ajn –

ich wil ahejm,

ahejm gejn wil ich!

(ahejm gejn wil ojch der schnej.)

(…)

Kauert im Tal ein Schrei

tagaus, tagein –

Ich will heim!

Heimgehn will ich!

(Heim will auch der Schnee.)

(…)

Der Herr, der schickt den Jockel aus: / Er soll den Hafer schneiden, / Der Jockel schneidt den Hafer nicht / Und kommt auch nicht nach Haus.

lieber tate! böser tate! Warum hast du geschwiegen, warum hast du es wohl verschwiegen, denn du mußt, wie all die anderen Dorfleute, wenn du uns deine Kriegserlebnisse und Kriegsabenteuer erzählt hast, vor allem zu Allerheiligen und Allerseelen, zu Ostern oder im Frühherbst beim gemeinsamen Türkenfiedern im Stall, vor dem Almabtrieb oder wenn wir auf den Feldern gearbeitet haben, auf dem »Spitzanger«, dem »Kirchenfeld« und auf den »Sautratten« – du mußt es gewußt haben, gib’s zu, mein Tate –, daß im Kärntner Drautal, in dem wir aufgewachsen sind, unweit von unserem kreuzförmig gebauten Heimatdorf Kamering, auf den Sautratten, einem Gemeinschaftsfeld von mehreren Bauern, der aus Klagenfurt stammende Judenmassenmörder Odilo Globocnik verscharrt worden ist. Warum hast du uns nicht erzählt, auf welchem Boden wir stehen, wenn wir auf den Sautratten über dem Skelett des Nazibluthundes, der sich »Globus« und »König« nannte und sich gebrüstet hat mit den Worten »Zwei Millionen ham’ma erledigt!«, wenn wir Kinder mit Eltern, Magd und Knecht die Erdäpfel, den Roggen für das tägliche Schwarz-Brot, den Weizen für das Weiß-Brot, den Hafer für den Futtertrog deiner Zugpferde, für die Onga und für den Fuchs, eingebracht haben oder auf diesem Fleck Erde, in dem die Leiche des Judenmassenmörders verscharrt worden ist, die reifen Türkenkolben aus dem Maisfeld geerntet, vom langen hochgewachsenen dahinwelkenden zwei Meter hohen Gestänge gebrockt, auf einen Wagen geworfen, vor den die schwergewichtige Onga gespannt war mit den schwarzen Totenkränzen der blutsaugenden Bremsen um die vereiterten Augen, und heimgebracht haben und nach der Ernte am Abend im Stall noch gesellig beim Türkenfiedern zusammengesessen sind bei ein paar Krügeln Most für die Erwachsenen, Himbeersaft für die Kinder, und ein paar Leute aus dem Dorf gekommen waren und mitgeholfen haben. Auch der verschwiegene Onkel Peter war regelmäßig dabei, der im Zweiten Weltkrieg drei Brüder im jugendlichen Alter verloren hat, 18, 20 und 22 Jahre alt sind sie geworden, die drei Onkel, die ich nie kennengelernt habe und die auch die älteren Brüder meiner Mame waren, der eine wollte Pfarrer, der andere Mechaniker, der dritte wollte Elektriker werden. Während wir beim Türkenfiedern im Hintergrund das Schnauben und Kettengerassel der Stalltiere hörten, den Türkenkolben die beigefarbenen trockenen Hüllblätter abzogen, den feuchten Bart an den Kolbenspitzen abrissen, grinsend zwischen Oberlippe und Nase klemmten und die unförmigen Kolben mit den vielen gelben Zähnen der Türkenkörner im Wettstreit gegen die gegenüberliegende, gekalkte und von den Stalltieren kotbespritzte Wand warfen, sodaß zu unserer Belustigung gelbe Türkenkörner von der Wand absplitterten, bevor sie in den Futtertrog hinunterrieselten und die wohlgeratenen Türkenkolben neben unseren Füßen in Körbe gesammelt wurden, die später mit dem Gefieder auf Holzstangen an der regengeschützten Südseite des Heustadels zum Trocknen für die Aussaat auf den Sautratten im nächsten Jahr aufgehängt wurden, erzählten die Erwachsenen, die sich zu diesem Anlaß in unserem Stall eingefunden hatten – man hörte vor allem Männerstimmen und Frauengekicher –, Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend, aber vor allem vom Krieg, vom Zweiten Weltkrieg.

Während die erzählfreudigen Veteranen im noch halbleeren Stall, denn die Stiere, Ochsen und Kälber waren noch auf Sommerfrische in der Innerkrems, auf der »Blutigen Alm«, mit ihren groben Bauernhänden den aus dem Kadaver des Judenmassenmörders gewachsenen Maiskolben der Sautratten raschelnd die trockene Haut abzogen und die gelben Zähne der Türkenkörner entblößten – Jockel! Jockel! Hast g’hört! –, wurde ein Soldat wegen Kameradendiebstahls kahl geschoren, splitternackt ausgezogen und in der Dezemberkälte im Schneetreiben zwölf Stunden lang an einen Pfahl gebunden. Um seinen Hals trug er ein Schild, auf dem stand: »Ich habe meine Kameraden bestohlen!« Bei einem Bombenangriff, erzählte der Jockel, mein Tate, wurde der Körper eines Soldaten in der Mitte durchtrennt. Die Kameraden faßten den blutenden Oberkörper mit dem auf die Brust hängenden Kopf an den Achseln und setzten ihn unter dem Geklatsche und Gejohle der anderen Soldaten auf einen Gemüseabfallhaufen, auf dem er mehrere Stunden lang aufrecht stehenblieb, bevor der Torso mit dem blaugewordenen Gesicht vornüberkippte und auf den Haufen von Erdapfelschalen und faulen Tomaten fiel. »Stellt’s euch das einmal vor!«, hast du, mein Tate, mit weit aufgerissenen Augen den mit gespitzten Ohren lauschenden und mit den Türkenfedern aus den Sautratten raschelnden Kindern und Erwachsenen zugerufen, »stellt’s euch das vor, noch während der Kriegsausbildung ist ein Panzer über ein Erdloch gefahren, in dem ich auf dem Bauch gelegen bin, und mit seinen rasselnden und mit Erde verschmierten Ketten mehrmals über dem Loch hin- und hergerutscht, sodaß die Erde auf meinen Rücken und auf meinen Kopf gebröckelt, bevor der Panzer weitergefahren ist. Ich war voller Erde, als ich meinen Kopf gehoben habe und aus dem Loch gestiegen bin.« Ein Panzer, der über zu weiches Erdreich fuhr, soll ins Loch abgesackt sein und einen deiner Kameraden zerdrückt haben. »Wie eine Maus ist er zerquetscht worden, wie eine Maus! Nicht im Krieg ist er fürs Vaterland gestorben, sondern schon während der Kriegsausbildung! Stellt’s euch das einmal vor! Wie eine Maus …!« hast du im dunklen, von wenigen, mit Kot bespritzten, matten Glühbirnen beleuchteten Stall gerufen beim Türkenfiedern unter den Schwalbennestern. Du hast die Detonation einer Handgranate nachgeahmt, das Rattern eines Maschinengewehrs und mit deinen Armen gerudert, als du einen getroffenen Kameraden imitiert hast. Der Kamerad stand im Schützengraben auf, schaute in die Feindesrichtung und rief in gespreiztem Hochdeutsch: »Wer schießt denn da dauernd!« »Bück dich! Bück dich!« hast du gerufen, aber es war zu spät, im selben Augenblick traf ihn eine Kugel. Rückwärts, mit beiden Armen rudernd, fiel er tot vor deine Füße. Ein Bauer aus dem Dorf, der beim Rußlandfeldzug bei dreißig Grad Kälte knietief im Schnee stand, hörte die Hilfeschreie eines jungen russischen Soldaten, dem die Eingeweide bereits aus dem Körper getreten waren. »Bitte erschieß mich!« flehte der Russe, »bitte erschieß mich!« Der Bauer brachte es nicht übers Herz, ihm den Gnadenschuß zu geben, machte ein Kreuzzeichen und ließ den Sterbenden im blutbefleckten Schnee zurück, hast du uns erzählt – Hast g’hört, Jockel! – im Stall beim Fiedern der Türkenkolben aus den Sautratten unter den unzähligen staubbedeckten Spinnweben und grauen Schwalbennestern, während die Schwalben mit Insekten im Maul einflogen und ihre zwitschernden Jungen mit den rhombusartig aufgerissenen gelben Mäulern fütterten.

Einige Zeit nach dieser gemeinschaftlichen Zeremonie wurden von den Kindern die am Geländer des Heustadelbalkons hängenden, von Sonne und Wind getrockneten Maiskolben aus den Sautratten in eine handbetriebene Entkörnungsmaschine geworfen. »Gemma Türken reiben!« hat es oft geheißen. Stundenlang, bis zur Erschöpfung, bis uns schwindlig wurde, drehten wir an dem alten, rostigen Gerät mit geriffelter Drehscheibe, bis die Körner abgerieben waren von den durch die Reibung warm gewordenen Kolben und aus dem Blechschnabel der Entkörnungsmaschine in den darunter stehenden Trog rieselten. Mit den trockenen, von den Körnern befreiten Kolben wurden die Öfen angeheizt, die Maiskörner aus den Sautratten wurden dem Schweinefutter beigemengt und den aufgackernden und erschrocken zurückweichenden, flügelschlagenden Hühnern vor die Füße geworfen. Das haufenweise übriggebliebene trockene Gefieder der Türkenkolben wurde in einen großen, groben Leinensack hineingestopft und ins Bett des Knechts hineingedrückt, wo der mit seiner noch brennenden Dreierzigarette einsank und über Nacht verschwand, während die Kinder bereits auf harten Roßhaarmatratzen schliefen, aus denen sie vor dem Einschlafen die da und dort herausstechenden steifen, langen schwarzen und braunen Haare der Pferde herauszupften, die sie berochen und hinters Ohr schoben, bevor sie wegdämmerten unter dem großen, mit Pfaufedern geschmückten Heiligenbild, auf dem ein Engel mit ausgebreiteten Flügeln ein Kind auf der Brücke über einen Bach führt. »O Engel, mein Schutzengel mein, / du Gottes Edelknabe, / laß mich dir empfohlen sein, / solange ich Odem habe. / Der Tag schleicht hin, die Nacht, die geht, / dein Licht in mir laß scheinen, / zum Guten mich allzeit ermahn, / mein Herz zieh nach dem deinen. / Weck mich aus meiner Trägheit auf, / zur Tugend an mich treibe; / gelt, vor dem kurzen Lebenslauf, / den Tod ins Herz mir schreibe.«

Mein Tate! Du hast mir einmal mit deiner groben, auch auf dem Feld der Sautratten, in dem das Skelett von Odilo Globocnik lauerte, von der Arbeit erhärteten Sämannshand in der Küche vor dem Sparherd neben meiner Mame ins Gesicht geschlagen, weil ich wieder etwas angestellt hatte oder wieder bockig, unfolgsam oder eigensinnig gewesen war, ich weiß es nicht mehr genau, ich kann mich an meine Schandtat nicht mehr erinnern. »Wirst du wohl folgen! Wirst du wohl … Du mußt immer das letzte Wort haben! … Ich werde dir gleich den Hintern versalzen! … Du wirst so Schläg’ kriegen, bis du blaue Würste am Arsch hast! …« Du wirst gleich eine Tracht Prügel bekommen … hat es immer geheißen, eine Kärntner Tracht Prügel mit blauen Würsten am Arsch. Blut rann aus meiner Nase über meine Lippen aufs Hemd hinunter und tropfte auf den Küchenboden. Meine Mame hat sich zwischen uns beide gestellt mit einem Küchenmesser in der Hand und hat dich angeschrien: »Willst du den Buben erschlagen?« Verzweifelt hast du ein Taschentuch, eine zusammengeknüllte, in deinen Händen wie ein trauriger Fledermausflügel federnde Rotzfahne aus deiner Hosentasche gezogen und mit ängstlichem Gesichtsausdruck an meine Nase gehalten, um das herausrinnende Blut zu stillen. Ich sage dir, mein Tate, es war einer der schönsten Augenblicke meines Lebens! Vielleicht hast du mir das Leben gerettet, weil du mich blutig geschlagen hast, denn ich habe in diesem Augenblick in deinem Gesichtsausdruck die Zuneigung und Liebe gefunden, die ich so lange vermißt und manchmal in deiner Unterwäsche so sehnsüchtig gesucht habe. – Ich roch so lange an einer Flasche Benzin, bis ich den engen Flur des Hauses entlangtaumelte, mich am Geländer festhaltend über die Stiege in den ersten Stock schleppte, in eine kleine Kammer ging und die auf dem Boden liegenden Kleider der Schwester anzog. In Frauenkleidern in der Kammer sitzend, schaute ich aus dem Fenster zum Pfarrhof hinauf, bis die Schwester die Tür, die ich vergessen hatte abzuschließen, öffnete und schnell wieder schloß. Die Mutter grinste verlegen, als ich danach wieder in meiner eigenen Kleidung in der Küche auftauchte, du hast kein Wort gesagt und keine Miene verzogen, vielleicht hast du aber auch nichts davon gehört. Danach hörte ich, daß in ihm wohl ein Mädchen schiefgegangen ist. – Oftmals, mein Tate, stand ich in der dunstigen »Schwarzen Küche«, in der in einem großen, schwenkbaren Kessel auf einem holzbefeuerten Herd die Erdäpfel aus den Sautratten für die Schweine gekocht wurden, und nahm das am Fensterbrett stehende Fläschchen Jod, auf dem ein Totenkopf mit einem gekreuzten Knochen abgebildet war, in die Hand, öffnete den rostrot verschmierten und verklebten Drehverschluß, roch daran und kippte die Öffnung des Fläschchens auf meine Fingerkuppe. – »Siegesgewiß klappert sein Gebiß! Siegesbewußt wackelt ihre Brust!« riefen wir oft in dem vom Heu aus den Sautratten vollgestopften Pranta, dem obersten Stock des Stadels, zappelten dabei unter den Spinnweben wie ein Sterbender mit den Beinen und ließen die Zunge aus dem Mund heraushängen, bis wir die Augen wieder öffneten, aufsprangen und über dem getrockneten Heu aus dem Stadel liefen. – Nachdem ich meine rostrot gefärbte Fingerspitze berochen, das Jod abgeschleckt hatte und schließlich mit weit hervorquellenden Augen zu husten begann, stellte ich, ängstlich das mysteriöse Fläschchen auf die Fensterbank zurück. Das kann ich meiner Mame nicht antun! dachte ich damals, und meinem Tate schon gar nicht! Dabei wäre es so schön gewesen in einem weißen kleinen Sarg zu Grab getragen und am allermeisten vom Tate beweint zu werden, mit einem frisch gespitzten Bleistift statt einem rosaroten Rosenkranz oder einem Gekreuzigten in den zum Gebet gefalteten Händen! Dicke, haarige schwarze Fliegen mit gelblichem Rumpf summten am Fenster der oft nach frisch gekochten Erdäpfeln und in einem Eimer gesammelten Lebensmittelresten, die den Schweinen in den Trog geschüttet wurden, riechenden Schwarzen Küche und prallten mit ihren Köpfen mit den weit auseinanderstehenden, großen Augen über dem Jodfläschchen mit dem Totenkopfgesicht an die mit Kotpunkten übersäten Fensterscheiben. Jahrzehntelang wurden die Fensterscheiben in der Schwarzen Küche, in der auch die hölzerne Badewanne mit den breiten Eisenreifen stand, nicht gereinigt, kein Mensch, nur die nervig brummenden Fliegen rührten sie an, es sei denn, es hatte wieder einmal jemand mit einer trockenen Seife ein Hakenkreuz oder das Kreuz Christi auf die dünne, leicht nachgebende Fensterscheibe mit dem abbröselnden Kitt gemalt, durch die man die zerbrochenen Fenster des Pferdestalls und den schwarzen Kopf der Onga und den braunen Pferdekopf vom Fuchs sehen konnte, der, wie du dich oft ausgedrückt hast, einen weißen Spiegel, ein weißes Abzeichen, auf seiner Stirn hatte, in dem ich mich aber nie sehen konnte, wenn ich mich auch noch so oft auf den Futterbarren des Pferdes stellte, in dem noch Haferreste aus den Sautratten lagen, mich über seinen Schädel beugte und mich gerne im Kopf des Pferdes, im Spiegel, wie du es genannt hast, gesehen hätte. Das Badewasser in der Schwarzen Küche wurde in einem großen, bauchigen Wasserkessel mit dem selbstgeschlägerten Fichtenholz erhitzt. Im Winter, vor allem am Samstag, wenn wir badeten, wurde die Schwarze Küche mit einem Sägespäneofen gewärmt. Neben dem Waschbecken lag die achtkantige, schwere Kernseife mit dem eingeprägten Hirschkopf, die uns oft aus den kleinen Händen rutschte und auf die nackten Zehen fiel, mit ihr wuschen wir uns jeden Samstagabend nach der Stallarbeit, rieben mit dem großen Seifenblock unter den Achseln, an den verkrusteten Kniescheiben und an den Geschlechtsteilen, wo später das langsam aufweichende Hirschgeweih in den Schamhaaren verschmierte und schließlich aufgelöst wurde in der trüb gewordenen Suppe des Badewassers.

Als du mich, mein Tate, in der Neuen Küche schlugst und das Blut aus meiner Nase rann, stand ich stolz und ergriffen in meiner eigenen Blutlache – ich hatte sogar eine eigene Blutlache, mein Vater –, sie gehörte nur mir, ich war also wer! Dein faustdicker Schlag ins Gesicht hat nur dir Angst gemacht und Kummer bereitet, nicht mir, sie war zwar grausam, deine Fotzn, wie die Ohrfeige im Kärntner Dialekt genannt wurde – »Kriegst gleich eine Fotze!« Ober- und Unterlippe verschieben sich vor Schmerz beim Weinen –, sie war knochenhart, die Ohrfeige von deiner groben Sämannshand aus den Sautratten, wo der Judenmassenmörder verscharrt wurde, ich taumelte, ich hätte umfallen und mausetot sein können, wie eine Maus ist er zerquetscht worden von einer Menschenhand, hätte es dann geheißen! Wie eine Maus! Mein Tate ein Mörder und Totschläger! Ein Kindsmörder! Der Mörder seines eigenen Sohnes! Schade, daß du mich nicht an der kindlichen Schläfe erwischt hast! Mich hätte man auf dem Dorffriedhof mit der Erstkommunionskerze in den zum Gebet gefalteten Händen feierlich begraben können in meinem handgemachten Schneideranzug, den mir die Ragatschnig Tresl zu Ostern mit einem silbernen Schokolade-Osterlamm mit einer Auferstehungsfahne als Ostergabe geschenkt hatte vom Schneider Fixl, den der Pfarrer Franz Reinthaler oft besuchte, wenn er zum Gottesdienst nach Stockenboi, zur Bichlkirche fuhr. Und dich hätte man in einen gestreiften Anzug gesteckt, am Genick gepackt und vorwärts, über eine Türschwelle gestoßen und lebenslang in eine Gefängniszelle gesperrt, zu Wasser und Brot. Einen ganzen Roggenbrotlaib aus deiner Sautrattenernte hättest du in dein Gefängniswaschwasser stecken und am aufgeweichten und seifigen Brot Tag und Nacht kauen können in deinen blau-weiß gestreiften Lumpen in der Einsamkeit deiner Zelle. Andererseits hätte man mich schnell und unauffällig verschwinden lassen können, im Höllenschlund der Jauchegrube, wo sich auch der Teufel versteckte, ich war damals noch klein, war bleich und hatte tiefe Ringe unter den Augen, und man nannte mich deshalb oft das »Gespiene Gerstl«! Er schaut aus wie ein gespienes Gerstl! Eine herausgespiene Gerste, ein einziges Korn aus den Sautratten nur! Wohl wegen dem immer selben Brot, dem immer selben Speck, den immer selben uns langweilenden Würsten – du hast mich manchmal einen Kostverächter genannt, mein Tate – haben mein Bruder und ich oft in den Fünfzigkilo-Zuckersack in der Speisekammer gegriffen und unseren Mund vollgestopft und den Zucker mit dem kalten Brunnenwasser hinuntergeschwemmt, mehrmals am Tag, faustweise haben wir Zucker in unseren Mund hineingestopft, bis unsere Kinderzähne schwarz wurden.

Man hätte den Spitzanger, deine verfluchten Ochsen, Kälber, Stiere und die ergiebigen Milchkühe verkaufen müssen – No milk today! –, mitsamt deinem einst vor dem Friedhof vom Pfarrer Franz Reinthaler mit Weihwasser und Weihrauch geweihten orangefarbenen Steyr-Traktor mit dem Einzylindermotor, mit dem Wendegetriebe und mit der vielgepriesenen, damals neuartigen Motorzapfwelle. No milk today, my love has gone away / The bottle stands forlorn, a symbol of the dawn… Stolz hast du – wie all die anderen Bauern im Dorf bei der Traktorweihe – mit deinem haselnußbraunen Kärntner Anzug und mit der geblümten Samtweste, geschmückt mit einem blauen Enzian von der »Blutigen Alm«, auf dem blechernen roten Traktorsessel gesessen, während ich als kleiner, mit rotweißem Spitzengewand gekleideter Ministrant, einen ordentlichen Scheitel im brünetten Haar, als Pate neben dem Traktor stand, der eingeprägt in ein Blechschild deinen Namen und den Namen deines Bauernhofes trug, Jakob Winkler vulgo Enz in Kamering. Deinen Pflug mit den stierblutrot gefärbten Pflugscharen hätte man, wärest du im Gefängnis gelandet, ebenfalls verkauft, mit dem du auf den Sautratten über dem Skelett des Odilo Globocnik – »Zwei Millionen ham’ma erledigt« – die Erde gelockert und die dunkel gefärbte oberste Bodenschicht gewendet, jahrzehntelang den Boden durchlüftet hast und das nach der Ernte zurückgebliebene gelbe Stoppelfeld des Roggens für Unser tägliches Schwarzbrot aus den Sautratten gib uns heute und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern und führe uns nicht in Versuchung sondern erlöse uns von allem Übel, mit dem du also die Erdschollen umkehren konntest, mit dem du die Feldmäuse und Asseln vertreiben konntest, wenn auch nicht die Maulwürfe, die sich in den Gängen und Nistkammern des Totenschädels und im Brustkorb des Judenmassenmörders verbarrikadiert hatten, die ihn ganz und gar zerbröselt und aus der Welt geschafft hatten. Irgendwann waren die stierblutrot angemalten Schare des Pfluges abgewetzt durch die schneidigen Globocnik-Knochen und glänzten und blinkten silbern in der Sonne, wenn der Pflug, der sein Werk gemeinsam mit dir getan hatte und am Rande der Sautratten abgestellt worden war, ehe er wieder an den frisch geweihten Traktor angekoppelt und vorbei am Manigwald, dem ehemaligen Galgenbichl, auf dem im Mittelalter die Henker gewütet und einen Delinquenten nach dem anderen aufgehängt haben sollen, auf deine Enznhube gebracht wurde. Nur am obersten Teil deiner stolzen Pflugscharen konnte man noch als glorreiche stierblutrote Sonnenuntergangsflecken den vom Pflügen der Erde und von den spießigen Knochen der Globocnik-Überreste unberührten Lack sehen.

Die mit Mehl bestäubten jahrzehntealten Spinnweben in der Getreidemühle und der Lockruf des Totenvogels

(…)

jedn farnacht

schtarbt in tol doss geschrej,

wen ss’fargejt di sun

un zu ir horn

klamert sich der barg.

(…)

Jeden Abendstirbt im Tal der Schrei,

wenn die Sonne versinkt

und sich der Berg

in ihr Haar krallt.

Da schickt der Herr den Pudel aus, / Er soll den Jockel beißen. / Der Pudel beißt den Jockel nicht, / Der Jockel schneidt den Hafer nicht / Und kommt auch nicht nach Haus.

millionen von schneeglöckchen blühen im Frühjahr im Sumpf des Manig am Galgenbichl zwischen unzähligen Erlen, Jahr für Jahr, heute noch und immer wieder, nur ein paar Meter von den Sautratten entfernt. Mit einem Buschen frischgeklaubter Schneeglöckchen in der Hand gingen mein Cousin Valentin und ich im Manig am Galgenbichl den steilen, grasbewachsenen Hang hinauf, blieben am Straßenrand stehen, winkten mit den Frühlingsblumen den vorbeifahrenden Autos zu, bis jemand stehenblieb und uns für die Frühlingsblumen ein paar Schilling gab. Den Verkauf der Schneeglöckchen am Rande der Sautratten beendeten wir enttäuscht, als einmal jemand anhielt, mir den dicken Buschen Schneeglöckchen abnahm und ohne auch nur einen einzigen Schilling zu bezahlen, frech hinter der Windschutzscheibe grinsend, mit seinem Auto davonfuhr. »Enz! Beim Arsch brennt’s«, haben die Dorfkinder gerufen beim Vorbeilaufen an deiner Enznhube mit einem Strauß Schnee- oder Maiglöckchen in der Hand oder mit einem Bündel langer Schilfkolben, die du, mein Tate, »Kanonenputzer« genannt hast, unter dem Arm aus dem Sumpfgebiet der Sautratten, unweit des Ufers der Drau, wo aus dem Kadaver des Judenmassenmörders die Kleeblätter blühten, Glücks- und Unglücksklee, die Türkenfelder gediehen, die Erdäpfel wuchsen und wo der Roggen für das Schwarz-Brot, der Weizen für das Weiß-Brot und der Hafer für das Pferdefutter reiften, die der Jockel Jahr für Jahr geschnitten hat. Nach der Erdäpfelernte haben wir das trockene Erdäpfelkraut über dem Skelett von Odilo Globocnik angezündet, ein ganzes Feld stand in Flammen und rauchte. Genußvoll haben wir ein Sirius-Zündholz nach dem anderen in das brennende, stark rauchende und stinkende Kraut geworfen und gierig das Lauffeuer der Flammen beobachtet. Abertausende Globocnikzungen loderten aus allen Ecken und Enden der Sautratten, die mich an die Höllenflammen auf einem Bild meines Religionsbuches erinnerten, wo der reiche Prasser, umschlungen von einer grünen Schlange, zwischen den hochlodernden roten Flammen liegt. Ein nackter dunkelroter Teufel mit Hörnern, Fledermausflügeln und spitzen Fingern beugt sich über den Mann, der in die Hölle gekommen ist, und gießt ihm aus einem Becher heiße Galle in den Mund.

Deine Mühle neben dem Plumpsklo, in der das Getreide aus den Sautratten für den Eigengebrauch, wie es hieß, gemahlen wurde, war erschreckend düster, ein verstaubter, ein paar Quadratmeter großer Raum, in dem ich mich aber auch oft heimelig fühlte und gerne, wenn die Mühle eingeschaltet war, das warme, duftende Mehl über meine Finger rieseln ließ, ich roch daran oder streckte meine nackten Arme bis zu den Ellenbogen in die immer höher wachsende Pyramide des feinen, warmen Mehls und lief vor dem Plumpsklo auf und ab, dachte an das Märchen mit dem Wolf und den sieben Geißlein, fuchtelte mit den weißbestäubten Händen und rief entzückt: »Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!« Jahrzehntelang lag derselbe weiße Staub auf den unzähligen in der Mühle an allen Ecken und Enden vom Gewicht des feinen Mehls durchhängenden Spinnweben. Wenn du den Motor eingeschaltet hast, hat der Trichter, in den du aus einem Jutesack das Getreide hineingeschüttet hast, heftig zu rütteln begonnen, langsam ist dabei das Getreide ins Mahlwerk eingesickert. Die immer noch nach dem Getreide aus den Sautratten riechenden Jutesäcke haben wir Dorfkinder mit großen Scheren auseinandergetrennt und Indianerkleider daraus geschneidert, haben aus Holz einen Tomahawk gezimmert und sind mit Kriegsbemalung – wir beschmierten unsere Gesichter mit schwarzer Holzkohle und dem rostroten Blütenstaub der hochgewachsenen weißen Lilien aus dem Garten der Mame – in den Wäldern herumgeirrt, den Tomahawk in der Hand, und sind auf unsere Schulfreunde und Schulfeinde grimmig losgegangen mit den auswendig gelernten Worten aus einem Winnetou-Buch: »Wo ist die Kröte von Atabaskah? Hier steht Winnetou, der Häuptling der Apachen, zu rächen den Tod seines weißen Bruders!« – »Ha, Winnetou, du Hund von Pimo! Fahr zum Teufel!« – »Die Schlange von Atabaskah wird nicht mehr zischen und den Häuptling der Apachen verächtlich einen ›Pimo‹ nennen!« Und als Skalp schlugen wir uns gegenseitig ein Stück rotgefärbtes Schweinsleder ins Gesicht. – Du warst, mein Tate, der einzige Bauer im Dorf, der über seiner Hose und seinem Hemd die blaue Arbeitsmontur eines Arbeiters getragen hat. Durch den Schlitz der Arbeitsmontur hast du, um noch einmal zu deinem Gewaltausbruch in der Küche zurückzukommen, in deine Hosentasche gegriffen und das zerknüllte, mich an eine hängende Fledermaus erinnernde Taschentuch herausgeholt und wolltest es an meine Nase halten, du hast mit dem weißen Fledermausflügel meine blutende Nase nur gestreift, denn ich bin zurückgewichen vor meinem Luzifer, ich wollte nicht, daß du mein Blut stillst, ich wollte, daß es rinnt und rinnt und nicht mehr aufhört zu rinnen, so lange, bis du es auffängst in deinen groben Bauernhandschalen und dein spitzes, immer gebräuntes Teufelsgesicht damit beschmierst, bis dein Arsch brennt, angezündet vom Sohn deines leibhaftigen Teufels, mein Tate, für immer! »Enz! Beim Arsch brennt’s!« hat es geheißen. »Teufel! Teufel! Doppelteufel! Achtmal Teufel!« hast du oft gerufen, wenn dir die Arbeit nicht so, wie du es gewünscht hast, von der Hand ging, eine Maschine nicht funktionierte oder, wie ich einmal beobachtet habe, eine Schnur riß und du hintenüber zu Boden gefallen bist. Oft hast du fluchend die große Getreidemühle repariert, wenn der Roggen aus den Sautratten im hölzernen Trichter der kaputten Maschine stockte, nicht ins stählerne Mahlwerk hinunterrieselte und zermalmt werden konnte. Mit noch blutender Nase habe ich der aus Angst und Verzweiflung schreienden Mame das Küchenmesser aus der Hand gerissen. Ob ich mich wohl dazwischengeworfen hätte, wenn sie versucht hätte dich zu erstechen? Oder ob ich der Mame nach den ersten bestialischen Messerstichen das Werkzeug aus der Hand genommen hätte, um dir endgültig den Garaus zu machen, Teufel! Teufel! Doppelteufel! Achtmalteufel! Und noch ein paar Stiche, Neunmal-, Zehnmal-, Elfmalteufel! … »Der Roggen geht rot auf, weil Kain den Abel erschlagen hat!« hast du einmal zu mir gesagt, mein Tate. Auf den Sautratten! Die Mame ist in die Schwarze Küche hinausgegangen, hat die Blutlache ihres Sohnes wortlos und devot aufgewischt, während du wieder hinausgegangen bist zu deiner Arbeit, ob auf dem Kirchenfeld am Rande der Friedhofsmauer, auf dem Spitzanger mit dem angrenzenden Tümpel, der umrandet war von unzähligen hochgewachsenen braunen Schilfkolben, wo sich haufenweise Frösche und Schlangen tummelten, oder auf die mysteriösen und vergifteten Sautratten, unweit vom Ufer der Drau, in die Nähe des Skeletts von Odilo Globocnik, der sich König und Globus nannte und stolz verlautbarte: »Zwei Millionen ham’ma erledigt!«