Wu-Tang is forever - Eva Ries - E-Book

Wu-Tang is forever E-Book

Eva Ries

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Beschreibung

Die größte Challenge ihres Lebens: Eva Ries und der Wu-Tang Clan Sie sind unangepasst, wütend und stets auf Ärger aus – und sie erfinden den Hip-Hop neu. Von Beginn an lehren die Members des Wu-Tang Clan, allen voran der völlig irrationale Ol' Dirty Bastard, jeden das Fürchten. Doch die junge Musikmanagerin Eva Ries lässt sich davon nicht abschrecken. In New York City erarbeitet sie sich den Respekt des Clans und gehört über zwanzig Jahre lang zum engsten Kreis der größten Hip-Hop-Band der Welt. In diesem Buch gibt sie exklusive Einblicke in die Welt des Wu-Tang Clan und das Musikbusiness der 90er Jahre. - Die berühmten amerikanischen Rapper hautnah erleben: Unveröffentlichte Stories und exklusives Insider-Wissen - Ein authentisches Buch mit Nostalgiefaktor: Zeitreise in die frühe Zeit des Hip-Hops - Wu-Tang Diskografie: Das Debütalbum »Enter the Wu-Tang (36 Chambers)« und andere Meilensteine der Musikgeschichte - Musik-Bildband mit zahlreichen großformatigen Fotos Gangsta-Rap, Exzesse und FBI-Geheimakten: Welcome to the World of Wu! »Dass ausgerechnet ich, die weiße, aus Mannheim stammende Marketing-Expertin, die internationale Karriere der Band nach vorn bringen soll, klingt wie ein schlechter Witz. Wie zum Teufel soll das denn gehen?« Trotz aller Zweifel stellt sich Eva Ries der Herausforderung. Denn Aufgeben ist keine Option! Bei ihrer Arbeit mit den amerikanischen Rappern sind Konfrontationen, Unzuverlässigkeit und Streitereien (insbesondere innerhalb der Band) an der Tagesordnung. Eva Ries bleibt sich selbst treu und gewinnt mit ihrer Ehrlichkeit nach und nach den Respekt und das Vertrauen des Wu-Tang Clans. Mit ihrer Biografie erzählt sie ein Stück Musikgeschichte – persönlich, ungeschönt und hoch spannend!

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Seitenzahl: 344

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EVA RIES

MIT ANNETTE UTERMARK

wu-tang is foreverIm engsten Kreis der größten Band der Welt

FÜR MELINA XANADU

EVA, YOU OPENED THE DOOR TO THE WORLD FOR US.

RZA

inhalt

PROLOG

ES GIBT KEINEN WEG ZURÜCK

1

TRÄNEN AUF HAWAII

NEW YORK CITY, HERE I COME!

2

HARIBO FÜR SONIC YOUTH UND KRIEG MIT NIRVANA

3

WELCOME TO THE WORLD OF WU

MEIN STEINIGER START MIT DEM CLAN

4

CULTURE CLASH

SHAOLIN ISLAND, STREET GANGS UND SCHIESSEREIEN

5

DER CLAN AUF ABWEGEN

EINE FBI-AKTE, EIN KONFISZIERTES ALBUM UND PASSPORT-ANTRÄGE MIT HINDERNISSEN

der Wu-kosmos

6

EIN HOLPRIGER TOURNEEAUFTAKT IN LONDON UND EINE NACHT-UND-NEBEL- ENTFÜHRUNG

7

INVASIONBEIM BAYERISCHEN RUNDFUNK

EIN NOBELITALIENER UNTER VERGIFTUNGSVERDACHT UND DIEBESGUT IN DER DAUNENJACKE

8

WU-TANG FOREVER

DAS ONE-MILLION-DOLLAR-VIDEO UND SALUTSCHÜSSE IN CROWN HEIGHTS

9

LOSTIN BRÜSSEL UND SKANDALE IN SCHWEDEN

10

OL’ DIRTY BASTARD

WUNDERBAR UND GLEICHZEITIG WAHNSINNIG

11

EIN HITAUS MANNHEIM

EPILOG

THE SAGA CONTINUES

DISKOGRAFIE

DANK

BILD- UND TEXTNACHWEIS

PROLOG

ES GIBT KEINEN WEG ZURÜCK

New York City, Anfang der Neunzigerjahre: Die Millionenmetropole regiert sich weitgehend selbst. Korrupte Cops, Drogen und Kriminalität beherrschen die Schlagzeilen, der Manhattaner Mafiaboss John Gotti – »Dapper Don« – treibt immer noch ungestört sein Unwesen, und der einflusslose demokratische Bürgermeister David Dinkins steht kurz vor seiner Abwahl. Nach dem Börsencrash Ende der Achtzigerjahre blüht das Finanzbusiness gerade wieder voll auf. Die New-Economy-Blase wird größer und größer, Dotcoms schießen wie Pilze aus dem Boden, High Noon bei geldgierigen Zockern und Day-Tradern. »Get big fast and burst« (»Wachse schnell und lass es platzen«) – so lautet der Schlachtruf in der atemlosen, überhitzten Stimmung. Geld, Koks und rauschende Partys in Superclubs wie Limelight, Tunnel und Roxy prägen das exzessive Nachtleben. Es ist die Zeit des hemmungslosen Hedonismus – auch in der Musikszene.

Glamouröse Superstars wie Madonna, Michael Jackson, Mariah Carey und Whitney Houston feiern Welterfolge. Zeitgleich – und im Kontrast dazu – entwickeln sich in den Ghettos der amerikanischen Großstädte immer mehr Hip-Hop- und Rap-Gruppen, die wütend über ihren gewaltbeherrschten Alltag in den Projects rappen, begleitet von dumpfen, monotonen Bassbeats. Die Musikhelden der Schwarzen-Ghettos heißen Cypress Hill, Ice Cube, Onyx, Naughty by Nature und … Wu-Tang Clan. Neun vorbestrafte Kleinkriminelle aus den Projects in Staten Island und aus Brooklyn mit einer Vorliebe für brutale Lyrics und asiatische Kung-Fu-Filme haben sich zusammengetan und stehen 1993 kurz davor, mit ihrem Debütalbum Enter the Wu-Tang (36 Chambers) Hip-Hop-Geschichte zu schreiben. Die Texte sind stark autobiografisch. So handelt der Song »C.R.E.A.M.« von Armut, Vaterlosigkeit, Kriminalität, Geld, Waffen und Drogen. »Cash rules everything around me« beschreibt, wie Geld ihre Welt regiert.

Von Beginn an lehren die Members des Wu-Tang Clan, allen voran der völlig irrationale Ol’ Dirty Bastard, jeden das Fürchten. Nicht nur optisch gleichen die Neun mit ihren Daunenjacken und Baggy Jeans, mit ihren grimmigen Mienen und goldenen Grillz auf den Zähnen einer gefährlichen Street Gang. Auch ihr unangepasstes Verhalten macht eine Zusammenarbeit mit ihnen fast unmöglich. Sie lassen sich von niemandem etwas sagen, halten sich nicht an Abmachungen und Anweisungen, sind ihre eigenen Chefs. Selbst innerhalb des Clans führt das immer wieder zu Konflikten. Alle neun zusammen zu einem Termin, geschweige denn auf die Bühne zu bekommen, ist eine Meisterleistung. Kein Plattenboss, Manager oder Promoter sieht sich in der Lage, mit diesem anarchistischen Haufen dauerhaft zu arbeiten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich zwielichtige Gestalten aus dem Freundes- und Familienkreis als »Berater« und »Manager« aufspielen. Unerfahrene Trittbrettfahrer, die vom Erfolg der Band profitieren – meist nicht gerade zum Besten ihrer Protegés. Aber sie sind die Einzigen, die das Vertrauen der Members genießen.

Dass ausgerechnet ich, eine weiße, aus Mannheim stammende Marketing-Expertin, die internationale Karriere der Band nach vorn bringen soll, klingt vor diesem Hintergrund wie ein schlechter Witz. Wie zum Teufel soll das denn gehen? Als ich das schicksalhafte Jobangebot in New York bekomme, bin ich Ende zwanzig, lebe und arbeite für das berühmte Plattenlabel RCA Records in Los Angeles, das sich über eine Kooperation mit Loud Records auf einen Deal mit dem Clan eingelassen haben. Ich bin kein großer Fan vom dreckigen, lauten New York, würde viel lieber an der sonnigen, warmen Westküste bleiben, doch eine neue berufliche Herausforderung reizt mich. Dass sie Wu-Tang Clan heißen und die Band die wohl größte Challenge meines Lebens werden würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ansatzweise ahnen.

Ich habe das Angebot angenommen und an einem eiskalten Januarmorgen im fünfunddreißigsten Stock des RCA-Firmengebäudes direkt am Times Square meinen Vertrag unterschrieben – einen Tag nachdem Los Angeles vom schlimmsten Erdbeben seit Jahrzehnten in Schutt und Asche gelegt wurde. Von diesem Tag an wusste ich: Meine Zukunft heißt New York und Wu-Tang Clan – es gibt keinen Weg zurück.

1

TRÄNEN AUF HAWAII

NEW YORK CITY, HERE I COME!

Meine allererste Erfahrung mit dem Wu-Tang Clan kann ich guten Gewissens als gnadenlos gescheitert bezeichnen. Es war im Februar 1994, und ich war im Honeymoon mit meinem Ehemann Nico auf Hawaii. Genauer gesagt auf der kleinen Nebeninsel Kauai, die wegen ihrer üppigen Vegetation auch als »Garteninsel« bezeichnet wird. Ein wunderschönes, kaum bewohntes Fleckchen Land mitten im Pazifik, wo die atemberaubend schöne Natur mit ihren sattgrünen tropischen Regenwäldern, den schneeweißen Stränden und dem türkisfarbenen Meer uns ein Paradies auf Erden präsentierte – Tausende Kilometer entfernt von der Realität auf dem Festland. Wir wollten uns eine Auszeit vom Alltag gönnen, uns einmal etwas ganz Besonderes leisten, und dafür waren wir hier genau richtig.

Dass ich eine Musikkassette des ersten Wu-Tang-Clan-Albums in unsere Flitterwochen mitgenommen hatte, ergab da schlichtweg keinen Sinn. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass New Yorker Gangsta-Rap und Honeymoon auf Hawaii sich nicht wirklich miteinander vertragen. Aber ich war nun mal zu diesem Zeitpunkt in Sachen Hip-Hop noch recht unerfahren. Und da ich gerade meinen Vertrag bei RCA Records unterschrieben hatte und es als internationale Marketing-Managerin zu meinen Hauptaufgaben gehören würde, den Clan in Europa zu promoten, dachte ich, es könnte ja nicht schaden, mich erst mal ganz in Ruhe mit der Musik vertraut zu machen.

SO ETWAS HATTE ICH NOCH NIE GEHÖRT: DIE BEATS KLANGEN ROH, MINIMALISTISCH UND UNMELODISCH, DIE STIMMEN DÜSTER, ROTZIG, FAST BEDROHLICH.

Alles, was ich bisher über die neun Bandmitglieder wusste, war, dass sie aus New Yorker Ghettos kamen, Rap-Newcomer waren und wegen ihrer Herkunft und krimineller Vorgeschichte nicht leicht zu managen sein würden. Deswegen war mein Chef Dwayne auch heilfroh gewesen, endlich eine Person gefunden zu haben, die sich bereit erklärte, mit dem Clan zu arbeiten. Ich war also relativ unvoreingenommen und gut gelaunt, als ich zum ersten Mal die Kassette abspielte. Das änderte sich leider sehr schnell. So etwas hatte ich noch nie gehört: Die Beats klangen roh und minimalistisch, die Stimmen düster, rotzig, fast bedrohlich. Vor allem eine Stimme blieb mir im Gedächtnis, weil sie so heißer, rau und raspy war. Natürlich wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, wer welchen Song rappte, aber im Nachhinein kann ich sagen, dass es vor allem Method Man war, der mich mit seiner Stimme und seinen Texten komplett befremdete. Der grausame gesprochene Skit, der Dialog zwischen Method Man und Raekwon, direkt vor dem Song »Method Man«, war voller Hass. Beide beschreiben sehr detailreich gruselige Foltertechniken, wobei nicht klar wird, wer das Opfer ist. Es hörte sich an, als würden Sadisten ihre kranken Fantasien verbal zum Besten geben. Heute weiß ich, dass es hier um »boasting« geht, nichts weiter als ein witziger angeberischer Wettbewerb zwischen Meth und Rae, wessen »torture scene« die bessere und absurdere ist.

Ich war nicht zart besaitet, und als berufserfahrene Labelmanagerin für Rock- und Metalbands wie Guns N’ Roses, Nirvana und Sonic Youth konnten mich explizite Songtexte wirklich nicht schocken. Das gehörte bei vielen Bands schließlich zum Image. Aber was für ein perverser Mist war das denn? Brutale Folterszenarien, in einen Rapsong verpackt – wer sollte so was denn hören? Selbst wenn ich bislang noch keine Erfahrung mit Hip-Hop gemacht hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand auf dieser Welt freiwillig Geld dafür bezahlen würde, sich diesen Text reinzuziehen. Während ich also mit Nico am Strand spazieren ging und ihm erzählte, wie furchtbar ich die Musik des Wu-Tang Clan fand, kamen mir aus lauter Verzweiflung tatsächlich die Tränen. Wie sollte ich mit Menschen zusammenarbeiten, die solche Texte verfassten? Und wie um Himmelswillen sollte ich das in Europa promoten und verkaufen? Die Leute dort hatten so was doch noch nie in ihrem Leben gehört. Ich war davon überzeugt, dass ich kläglich scheitern würde. Und stellte von einem auf den anderen Moment alles infrage: Warum hatte ich mich ausgerechnet für diesen Job beworben? Wie sollten der Wu-Tang Clan und ich jemals vernünftig miteinander auskommen? Das machte alles überhaupt keinen Sinn. Ich hätte auch nach Nashville ziehen können, denn Countrymusik fand ich genauso furchtbar, aber dort hätte ich wahrscheinlich ein friedlicheres, entspannteres Leben als in New York City.

Ich sagte Nico, der als Musiker zum Glück Ahnung von der Materie hatte und in diesen Angelegenheiten oft mein bester Berater war, dass ich den größten Fehler meines Lebens gemacht hätte und es zutiefst bereute, den Job bei RCA/Loud angenommen zu haben. Er tröstete mich und beteuerte, dass es schon nicht so schlimm werden würde und ich mich erst mal reinfinden müsse. »Gib den Jungs wenigstens eine Chance.« Ich bezweifelte das, sah aber in diesem Moment auch keine Alternative. Meinen Vertrag hatte ich bereits unterschrieben, und sobald der Antrag für mein Arbeitsvisum genehmigt wäre, sollte es losgehen. Das Label hatte bereits in mich investiert, den Umzug bezahlt und rechnete fest mit mir. Allein aus diesen Gründen wäre es schwierig geworden, aus der Sache rauszukommen.

Aber viel mehr noch wollte ich mir vor mir selber keine Blöße geben. Aus Selbstrespekt. Vielleicht sollte ich den Job einfach als meine neue berufliche Herausforderung betrachten, der ich mich stellte, auch wenn sich zu diesem Zeitpunkt noch alles in mir dagegen sträubte. »I’m not a quitter«, war meine Maxime – ich war keine, die aufgab. Ich redete mir in den nächsten Tagen ein, dass ich mich von ein paar verstörenden Songtexten, brutalen Folterszenen und von irgendwelchen befremdlichen Rappern aus New York nicht beirren lassen würde. Ich hatte so hart dafür gearbeitet, diesen Job überhaupt zu bekommen. Wofür das alles, wenn ich auf einmal hinschmiss? Mein Weg dorthin war schließlich alles andere als ein Spaziergang gewesen.

MEIN WEG INS MUSIKBUSINESS

Anfang der Neunziger boomte die Musikbranche. Das Big Business mit CD-Verkäufen erreichte seinen Höhepunkt, und Plattenfirmen verdienten damit Millionen. Viele kleine Labels – Independents – wurden innerhalb kürzester Zeit erfolgreich, und Hip-Hop, der immer größer wurde, warf noch mehr Player auf den Markt. Die Big Four (Warner, Universal, Sony und EMI) kauften sich nach und nach bei den Independents ein oder vereinnahmten sie komplett. Im Musikgeschäft zu arbeiten war wirklich etwas Besonderes – schillernd, glamourös, aufregend. Es war die Zeit vor dem Internet-Hype, viele Begegnungen fanden auf persönlicher Ebene statt, und oft entwickelte sich daraus sogar ein direkter Kontakt zu den Artists. Wer bei einem angesagten Label arbeitete, hatte nicht nur einen illustren und spannenden Job und ständig Einladungen zu den besten Partys, sondern auch die Chance, Stars persönlich zu treffen. Jeder noch so unbedeutende Posten in der Branche war extrem begehrt, denn wer erst mal den Einstieg geschafft hatte, der konnte mit Talent, Know-how, Networking-Skills und einer guten Portion Ausdauer richtig Karriere machen. Ich betone das, weil ich auch mal als ziemlich kleines Licht angefangen habe.

Meinen Start in die Musikbranche in den USA verdankte ich der Carl Duisberg Gesellschaft. Ich hatte meine Ausbildung als Fotografin bei der Lette-Schule in Berlin beendet, einen Abschluss als Werbefachwirtin in Stuttgart gemacht und war nun bereit, ins Musikbusiness einzusteigen – am liebsten bei einem Plattenlabel. Meine Bewerbungen scheiterten leider alle kläglich. Ich hatte kein BWL studiert und deshalb anscheinend auch nicht die notwendige Qualifikation. Also versuchte ich es über einen anderen Weg – mit einem Auslandspraktikum. Ich erfuhr, dass die Carl Duisberg Gesellschaft in Köln verschiedene vollfinanzierte Studien- und Berufserfahrungsprogramme im Ausland anbot. Das Gute daran: Wer angenommen wurde, konnte als Praktikant in den USA arbeiten und leben – in meinem Fall hieß das, Flüge, Wohnung und Verpflegungsgeld wurden für ein Jahr bezahlt, den amerikanischen Arbeitgeber kostete es keinen Cent. Das war natürlich eine Topgelegenheit für US-Unternehmen, an günstige Arbeitskräfte zu kommen.

Die Duisberg Gesellschaft hatte einen guten Ruf, war hervorragend mit Dependancen deutscher Firmen im Ausland vernetzt, aber zur Musikbranche hatte sie leider keinerlei Kontakte. Also kümmerte ich mich selbst um mein Praktikum und schaltete ein Inserat in der lokalen Branchenzeitschrift Music Magazine in Los Angeles. Tatsächlich bekam ich wenig später eine Antwort: Enigma Records, ein kleines Independent Record Label in Culver City, das sich auf Alternative, Punk und Heavy Metal spezialisiert hatte, bot mir einen Praktikumsplatz an. Zu den bekanntesten Artists von Enigma gehörten Mötley Crüe und die Red Hot Chili Peppers, die aber beide später zu Major Labels wechselten. Ich fühlte mich musikalisch bei der Firma gut aufgehoben, und nach einem telefonischen Bewerbungsgespräch hatte ich den Job. Nico bekam zeitgleich ein Praktikum im A&R Department bei MCA – besser konnte es für uns beide nicht laufen. Wir fanden ein kleines Apartment in Westhollywood, und nachdem auch noch unsere Visa-Anträge genehmigt wurden, stand unserer Zukunft in L.A. nichts mehr im Weg. Was für ein perfekter Start, dachte ich. Leider war das ein Trugschluss.

Bereits am ersten Tag bei Enigma spürte ich, dass ich hier nicht lange bleiben würde. Meine Chefin war eine herrische, unfreundliche und unkontrollierte Frau, die mich behandelte wie ihre Leibeigene. Sie wies mich an, ihre Büroschränke auszuräumen, alles in Kisten zu packen und das Inventar zu beschriften, da aktuell ein Umzug des Labels anstand. Ich war doch nicht zum Möbelpacken nach Los Angeles gezogen – aber danach sah es hier leider gewaltig aus. Was sollte ich denn in den Bericht für die Carl Duisberg Gesellschaft schreiben: »In den ersten Wochen habe ich bei Enigma den Umzug organisiert …« Dafür hatten sie mein Auslandsjahr sicher nicht gesponsert. Als ich nach einigen Tagen merkte, dass ich hier offensichtlich rein gar nichts über die Musikbranche lernen würde, suchte ich das Gespräch und erklärte meiner Chefin meine Unzufriedenheit. Sie ließ mich nicht mal ausreden, wurde hysterisch und flippte total aus. Sie warf mir vor, respektlos und arrogant zu sein, und feuerte mich fristlos. Wie eine Schwerkriminelle wurde ich von zwei Security-Männern abgeholt und aus dem Gebäude eskortiert.

Mein erster Job in der US-Musikbranche entpuppte sich zwar ein absoluter Reinfall, aber ich war wirklich froh, dass ich bei Enigma raus war. Keinen Tag länger wäre ich freiwillig geblieben. Natürlich hatte ich später, als ich mit dem Wu-Tang Clan arbeitete, auch zahlreiche Jobs, die über die klassischen PR- und Marketing-Tätigkeiten hinausgingen, aber bei den Jungs fühlte ich immer ihre Wertschätzung (wenn auch oft erst im Nachhinein) für das, was ich machte, und ich wurde wenigstens gut dafür bezahlt. Bei Enigma wurde ich einfach nur ausgenutzt.

RAEKWON, EVA UND RZA BEIM MTV HIP-HOP OPEN, STUTTGART 2007

So erleichtert ich erst mal war, so dringend stellte sich die Frage, was ich nun meinem Sponsor sagen sollte. Ich musste ja ein Praktikum nachweisen, sonst gab’s kein Geld. Viel wichtiger aber: Ohne Anstellung verlor ich meine Aufenthaltsgenehmigung in den USA. Es war schon damals keine gute Idee, es sich mit der US-Immigration zu verscherzen. Darüber belehrte mich auch Frau Schott von der Carl Duisburg Gesellschaft in New York, als ich ihr am Telefon von meinem Dilemma berichtete. Sie legte mir nahe, mich schnellstens nach einem neuen Praktikum umzusehen. Sollte ich innerhalb von vier Wochen keines haben, sei sie gezwungen, mich der INS zu melden, und es drohe mir die Ausweisung, sagte Frau Schott im Tonfall einer strengen Gouvernante. Okay, verstanden.

Ich wollte auf keinen Fall so schnell wieder zurück nach Deutschland, brauchte also rasch ein Musikunternehmen, das mich als Praktikantin einstellte. Da kam die Heavy-Metal-Messe »Foundations Forum«, die in diesen Tagen in Los Angeles stattfand, sehr gelegen. Mein Plan war, mich dort reinzuschmuggeln und mit einer Offensiv-Bewerbung bei den Label-Executives mein Glück zu versuchen. Heavy Metal war zu dieser Zeit mein Lieblingsgenre, damit kannte ich mich um einiges besser aus als mit Hip-Hop – etwas fachzusimpeln und Namedropping zu betreiben war überhaupt kein Problem. Aus meiner Zeit als Fotografin hatte ich noch einen deutschen Presseausweis, über den ich mir eine Akkreditierung für die Veranstaltung besorgte. Das klappte reibungslos, obwohl der Ausweis längst abgelaufen war. Ehe ich mich’s versah, stand ich mit einem laminierten Fotopass um den Hals zwischen Label-Vertretern und Rockmusikern auf der Messe – in meiner Hand eine Mappe mit zehn kopierten Bewerbungen und Lebensläufen von mir. Ich beobachtete ein wenig das Treiben und stellte fest, dass ich die Labelchefs am ehesten abgreifen konnte, wenn sie nach ihrer Rede bei einem Panel das Podium verließen. Also stellte ich mich strategisch günstig neben die Bühne.

Tom Corson, damals Head of International bei dem Label A&M, heute COO von Warner Records, war der Erste, den ich ansprach. Wie bei einem Sechzig-Sekunden-Elevator-Pitch stellte ich mich kurz vor, schilderte mein Anliegen und drückte ihm dann meine Bewerbung in die Hand.

EVA UND MATHEMATICS, 2017

Irgendwie schien ihm meine unverblümte, spontane Art zu gefallen. Er grinste mich freundlich an und meinte, er sähe sich die Unterlagen an und würde sich bei mir melden. Tatsächlich bekam ich wenige Tage später eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch im A&M Headquarter in Hollywood. Corson brauchte eine neue Assistentin und wollte mich einstellen. Da ich aber weder Sekretärinnen-Skills hatte noch einen bezahlten Job annehmen durfte, musste ich ihm leider absagen. Er nahm’s professionell und empfahl mich an seine Kollegin Bonnie Goldner von RCA Records in Promotion weiter. Bonnie hatte tatsächlich eine Praktikumsstelle für mich und stellte mich ein.

Vom ersten Tag an fühlte mich bei ihr sehr gut aufgehoben. Auch wenn ich typische Praktikantinnen-Jobs erledigte wie Schränke mit CDs auffüllen, Pressemitteilungen kopieren oder Promo-Material für Journalisten rausschicken, konnte ich endlich das tun, was ich immer wollte – in der Musikbranche arbeiten. Und ab und zu fielen auch mal Gratis-Tickets für ein gutes Konzert ab – was wollte ich mehr? Bonnie entwickelte sich zu einer wunderbaren Mentorin, die mir sehr viel beibrachte. Aus Sorge, dass ich noch mal ohne einen Job dastehen würde und mich deshalb wieder bei der resoluten Frau Schott in New York melden müsste, besorgte ich mir noch ein zweites Teilzeit-Praktikum bei Polygram in Universal City. Jetzt arbeitete ich also drei Tage in der Woche bei RCA in der Radiopromotion und zwei Tage bei Polygram im Vertrieb.

Dort hatte ich mich gleich in den ersten Wochen hervorgetan, weil ich erfolgreich ein VIP-Dinner für die Scorpions in einem schicken deutschen Restaurant in L.A. organisiert hatte. Normalerweise hätten sie so eine Aufgabe niemals einer Praktikantin gegeben, aber aus eher pragmatischen Gründen (»die Scorpions sind deutsch, du bist auch deutsch«) trauten sie mir das offensichtlich zu. Es klappte reibungslos, alle waren happy, und die Scorpions haben bei einer späteren Begegnung noch mehrfach von dem Abend gesprochen und lobend betont, wie gut ich das hinbekommen hatte. Was mich dabei besonders freute, war, dass sie mich trotz meiner unbedeutenden Funktion so positiv wahrgenommen hatten.

Diese Wertschätzung war für mich noch mal ein Beleg dafür, dass ich mit meiner Kündigung bei Enigma alles richtig gemacht hatte. Hätte ich mich damals nicht gewehrt, würde ich wahrscheinlich immer noch Dienstbotenarbeit für diese furchtbare Frau machen. Und hätte ich mir nicht zugetraut, dieses wirklich wichtige Scorpions-Dinner zu organisieren, wer weiß, ob ich bei Polygram für den Rest meines Praktikums weiter nur CDs und Pressemitteilungen hätte eintüten müssen. Es ist wichtig, die Chancen, die einem geboten werden, zu ergreifen, auch wenn man dafür erst mal ins kalte Wasser springen muss. Diese Erfahrung sollte ich auch bei meiner Arbeit mit dem Wu-Tang Clan machen. Es gab viele Situationen mit der Crew, auf die ich völlig unvorbereitet war und in denen mich die Jungs komplett auflaufen ließen. Doch bevor dieses Abenteuer auf mich zukam, musste ich erst noch einige andere schwierige Hürden meistern.

ES IST WICHTIG, DIE CHANCEN, DIE EINEM GEBOTEN WERDEN, ZU ERGREIFEN, AUCH WENN MAN DAFÜR ERST MAL INS KALTE WASSER SPRINGEN MUSS.

Ich war zwar recht zufrieden bei Polygram und RCA, hatte nette Kollegen, und meine Arbeit machte mir Spaß, aber dennoch fühlte ich mich beruflich noch nicht ausgefüllt. Ohne arrogant klingen zu wollen: Mit meinem Vorwissen war ich eigentlich überqualifiziert für das, was ich da tat. Ich beschloss deshalb, zusätzlich an der University of California noch Abendkurse in Music Business zu belegen und etwas über die geschäftlichen Mechanismen der Branche zu lernen – so was wurde einer Praktikantin schließlich nicht beigebracht. Dieses theoretische Know-how war eine gute Grundlage, von der ich später noch sehr oft profitierte.

Kurz bevor mein Praktikum nach einem Jahr auslief, nahm mich Bonnie zur Seite und fragte, was ich danach vorhätte. Ich antwortete ihr, dass ich am liebsten in Los Angeles bleiben würde, aber noch keine Idee hätte, wie ich das anstellen sollte. Bonnie konnte mich bei RCA leider nicht einstellen, empfahl mich aber an ihren Mann weiter, der bei Geffen Records arbeitete. Geffen galt zu diesem Zeitpunkt mit Bands wie Aerosmith, Sonic Youth, Guns N’ Roses und Nirvana als eines der angesagtesten Rocklabels. Und da es so erfolgreich war, baute Geffens Mutterfirma MCA Music Entertainment damals überall in Europa nationale Headquarter auf, auch in Hamburg. Auch wenn ich keine Lust hatte, wieder nach Deutschland zurückzukehren, hörte ich mir erst mal an, ob Geffen mir ein gutes Angebot machen würde.

Mein Vorstellungsgespräch hatte ich bei Mel Posner, Head of International, der fürs internationale Geschäft bei Geffen zuständig war. Posner war eine Institution in der Branche und hatte schon mit den Doors und Bob Dylan zusammengearbeitet. Er war ein smarter, gebräunter Businessman, knapp über sechzig, der sich mit Golfspielen fit hielt. Er hatte ein sympathisches Lächeln und einen trockenen Humor. Zu Beginn machten wir etwas Small Talk, er plauderte ganz locker mit mir und erzählte lustige Anekdoten, zum Beispiel wie er in jungen Jahren den Doors-Hit »Light My Fire« verantwortete und mit Jim Morrison die Partyszene aufgemischt hatte. Dann meinte er, dass er vielleicht einen Job für einen Label- und Product-Manager bei Geffen in Hamburg hätte und ob ich denn auch einen Marketingplan schreiben könne? Ich hatte noch nie in meinem Leben einen Marketingplan erstellt, antwortete aber wie selbstverständlich: »Ja klar, kein Problem.«

Oh Mann, ich kam mir wirklich vor wie eine Hochstaplerin. Er fragte weiter, welche Musik ich gut fände. Jetzt ging es wahrscheinlich darum, die Vorzeige-Acts des Labels zu nennen. Spontan zählte ich die Bands auf, deren Gold- und Platinscheiben in Mels Büro an der Wand hingen: »Guns N’ Roses, Aerosmith …« Ich war sicher, Mel durchschaute sofort, dass ich mich hier etwas überverkaufte, aber er lächelte mich nur entspannt an und sagt: »O.k., Eva, I think you’ll get the job.« Ich war überwältigt und ehrlich gesagt auch leicht verunsichert. Vor allem, weil mich Posner nach unserem Gespräch wieder für die darauffolgende Woche einbestellte und zum internen Marketing-Meeting einlud. Er machte mit mir die Runde durch alle Abteilungen des Labels und stellte mich am Ende des Tages bei David Geffen, dem Gründer des Labels, und Eddie Rosenblatt, dem CEO von Geffen Records, stolz als die »neue Labelchefin in Deutschland« vor. Das war ich beim besten Willen nicht, aber ich hätte einen Teufel getan, ihm vor seinen Chefs zu widersprechen.

Obwohl ich noch nichts unterschrieben hatte, behandelte mich Posner seit diesem Kennenlernen, als wäre ich bereits bei Geffen angestellt. Die Ausarbeitung meines deutschen Arbeitsvertrags dauerte noch, aber ich nahm bereits an Marketing-Meetings teil und bekam interne Informationen mit. Solange ich noch in Los Angeles war, sollte ich so viel wie möglich über Geffen Records lernen, meinte Posner. Mein Gehalt wurde im Vertragsentwurf mehrmals nach oben korrigiert – wo gab’s denn so was? Offensichtlich hielt er große Stücke auf mich und wollte, dass ich für meine Arbeit gebührend bezahlt wurde.

Sosehr ich mich darüber freute, so wenig kam das bei meinem neuen Vorgesetzten in Hamburg an. Mein Chef ließ mich das vom ersten Tag an, den ich bei ihm arbeitete, spüren. Er betrachtete mich als Posners Gesandte, die auf einen wichtigen Posten gesetzt wurde, ohne dass er dabei Mitspracherecht gehabt hatte. Aber nicht nur mir gegenüber, auch gegenüber meinen Kollegen war er oft schlecht gelaunt und unkollegial. Zwar genoss ich im Gegensatz zu meinen Kollegen die Rückendeckung von Posner – und hatte während meiner knapp zwei Jahre bei Geffen in Deutschland unvergessliche Begegnungen mit Nirvana und Guns N’ Roses (dazu noch später) –, aber ich vermisste etwas. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich wertgeschätzt wurde und beruflich vorankommen würde. Worauf also noch warten? Geduld war schon damals nicht meine Stärke, weshalb ich den Entschluss fasste, mit Nico wieder in die USA zurückzukehren. Es war eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens, denn sie brachte mich einen Schritt näher zum Wu-Tang Clan – wenn auch mit einem kleinen Umweg über Los Angeles; dort, wo ich ja auch meine ersten Erfahrungen mit der Musikbranche gemacht hatte.

LIVE BEI DEN SOURCE AWARDS, NEW YORK 1994 (IM VORDERGRUND U-GOD)

BACK IN L.A. – UND DIE ERDE BEBTE

Nico und ich waren große Fans von Kalifornien. Das schöne Wetter, die Natur, das Meer, der Lifestyle, die Mentalität – alles, wovon wir träumten, was wir in Hamburg aber nicht hatten, bekamen wir in Los Angeles. Für uns stand fest, dass wir wieder zurück an die Westküste mussten. Ich bewarb mich bei dem kleinen Aufsteigerlabel Zoo Entertainment, das zu BMG gehörte, und bekam eine vorläufige Zusage, dort im internationalen Marketing zu arbeiten. Wir besorgten uns ein schönes Apartment in der Laurel Avenue in West Hollywood mit einem wunderschönen Ausblick auf L.A. Nachts leuchtete das Lichtermeer der Stadt vor unseren Augen, tagsüber konnte man an klaren Tagen von unserem Balkon aus kilometerweit bis zum Los Angeles International Airport sehen. Alle Zeichen standen auf Go, bis mir plötzlich mitgeteilt wurde, dass der Abteilungsleiter von Zoo Entertainment einen Gehirntumor hätte und die Geschäfte nun erst mal ruhen mussten. Mist, darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. So tragisch der Grund der Absage war – ich musste mir ganz schnell einen neuen Job besorgen, denn davon war nicht nur unser Lebensunterhalt abhängig, sondern auch unsere Aufenthaltsgenehmigungen. Wir beschlossen, zur Not auch nach New York zu ziehen, wenn ich in L.A. nichts bekommen würde. Hauptsache, nicht wieder zurück nach Deutschland.

Ich verschickte wieder Bewerbungen – unter anderem auch an die International Marketing Abteilungen von RCA und Arista Records in New York. Aus Versehen steckte ich aber meinen Brief an RCA in den Umschlag, auf den ich die Adresse von Arista geschrieben hatte, und umgekehrt. Eine ziemlich unprofessionelle Aktion, die mir heute noch peinlich ist. Die Empfänger der vertauschten Post hätten allen Grund gehabt, die Bewerbungen einfach in den Müll zu schmeißen. Roy Lott von Arista rief mich dann auch an, zog mich wegen der misslungenen Aktion auf und meinte, er habe bereits einen Bewerber eingestellt. Er versprach mir aber, meinen »Dear Dwayne«-Brief an seinen Kollegen Dwayne Welch bei RCA Records weiterzugeben. Tatsächlich meldete sich dieser einige Tage später und lud mich zu einem Gespräch ein. Er suchte eine International Marketing Managerin – ich sollte am 18. Januar 1994 nach New York fliegen und mich einen Tag später im BMG-Headquarter am Times Square vorstellen. Das Datum war deshalb so bedeutend und schicksalhaft, weil Los Angeles einen Tag zuvor von einem schweren Erdbeben heimgesucht wurde.

Am Montag, den 17. Januar 1994, hat gegen 4:31 Uhr Ortszeit ein schweres Erdbeben den Süden Kaliforniens erschüttert. Das Beben erreichte nach Angaben des amerikanischen Erdbebendienstes die Stärke 6,7. Das Epizentrum lag bei North Ridge, im Nordwesten der Millionenstadt Los Angeles. Der Erdbebenherd befand sich 11 bis 12 Kilometer unter der Oberfläche. Im Großraum Los Angeles gab es 60 Tote und Tausende Verletzte. Die Schäden gingen in die Milliarden.

So lautete die offizielle Meldung zur Katastrophe. Menschen, die in Los Angeles leben, wissen natürlich, dass jederzeit ein Erdbeben in ihrer Stadt ausbrechen kann. Sie bereiten sich immer wieder darauf vor, trainieren regelmäßig den Ernstfall am Arbeitsplatz, zu Hause und in der Schule. Viele haben sogar einen Notfallrucksack mit allen wichtigen Utensilien gleich neben ihrem Nachttisch oder Bett liegen. Auch Nico und ich hatten uns so eine Notfallausrüstung angeschafft – kurioserweise eine Woche vor dem Erdbeben, als hätten wir eine Vorahnung gehabt. Ich schickte Nico sogar extra noch mal zum Geldautomaten, damit er genug Cash in kleinen Scheinen für jeden von uns besorgte, für den Fall, dass die ATMs nach dem Beben ausfallen würden. Außerdem packten wir Astronautennahrung, Wasserfilter, Socken, Unterwäsche und noch verschiedene andere wichtige Dinge in den Rucksack. Und wir probten sogar mehrmals den Katastrophenfall, stellten uns dafür eine Stoppuhr, damit wir möglichst innerhalb von sechzig Sekunden angezogen und ready to go waren. Wir hätten nicht besser vorbereitet sein können auf das, was wir eine Woche später erlebten.

DAS GEFÜHL, WENN EINEM DER BODEN UNTER DEN FÜSSEN WEGBRICHT, IST FÜRCHTERLICH. ES GRÄBT SICH SO TIEF INS GEDÄCHTNIS EIN, DASS MAN ES NIEMALS WIEDER VERGISST.

Kurz vor Sonnenaufgang fing unser Bett fürchterlich an zu wackeln, und ich hörte, wie in der Küche irgendwas Schweres auf den Boden donnerte. Obwohl ich gerade noch geschlafen hatte, war ich auf einmal hellwach. »Nico, es ist so weit, it’s showtime!«, schrie ich Nico an, der sofort kerzengerade im Bett saß und mich mit aufgerissenen Augen ansah. Warum ich hier von »showtime« sprach, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht weil wir diese Situation wie eine Bühnenshow unzählige Male geprobt hatten und dann die Stunde der Wahrheit schlug – quasi unsere Live-Performance. »Scheiße, kein Strom!«, schrie Nico. Wir schnappten im Dunkeln unsere Kleidung und Schuhe, gingen unter dem Esstisch aus massivem Holz in Deckung und zogen uns dort an. Eine der Grundverhaltensregeln im Erdbebenfall lautet, unter massiven Möbeln wie großen Tischen oder im Türrahmen Deckung zu suchen, um sich vor herunterfallenden Gegenständen oder splitterndem Glas zu schützen. Innerhalb kürzester Zeit verließen wir angezogen und mit unseren Rucksäcken unsere Wohnung und gingen über die Außentreppen von der dritten Etage ins Erdgeschoss. Hauptsache, raus aus dem Gebäude und zum Innenhof, wo der Pool lag. So stand es ja auch im Emergency Plan. Dort hatten sich auch schon einige andere Bewohner versammelt, barfuß im Pyjama oder mit Hausschuhen und in zusammengewürfelten Klamotten, die sie sich in der Hektik und Dunkelheit schnell übergeworfen hatten. Alle sahen ziemlich verstört aus, einige weinten, kleine Kinder klammerten sich verängstigt an ihre Eltern. Ich konnte es erst gar nicht glauben, aber Nico und ich waren tatsächlich die Einzigen, die fertig angezogen und mit ihren Notfallrucksäcken hier aufgekreuzt waren. Im Vergleich zu den Nachbarn in Pantoffeln und Nachthemden sahen wir aus wie professionelle Ninjas, die in den Krieg zogen, ganz in schwarzen Sport-Outfits, sogar mit Taschenlampen und Wasserflaschen bewaffnet. Wir waren in unserem Herzen eben doch typisch deutsch, dachte ich.

Das Schlimmste bei einem Erdbeben sind die Verwüstung und die Ungewissheit, was danach passiert. Ob es zum Beispiel Nachbeben gibt, die womöglich noch stärker sind als das eigentliche Beben. Von überall her hörten wir Feuerwehrund Polizeisirenen und das monotone Hupen der Auto-Alarmanlagen, die durch die Erschütterung einfach losgegangen waren. Eine apokalyptische Stimmung, die durch die vielen Stromausfälle noch verstärkt wurde. Stromkästen explodierten, und Häuserteile und zerbrochene Fensterscheiben lagen auf den rissigen Asphalt-decken der Straßen – das Lichtermeer von Los Angeles war nicht mehr zu sehen; die City hatte sich in eine düstere Gespensterstadt verwandelt. Wir wussten nicht, ob und wann wir überhaupt wieder zurück ins Haus konnten.

Das Gefühl, wenn einem der Boden unter den Füßen wegbricht, ist fürchterlich. Es gräbt sich so tief ins Gedächtnis ein, dass man es niemals wieder vergisst. Ich habe später immer wieder leichte Beben erlebt, und jedes Mal war dieser Januarmorgen sofort wieder präsent. Nico war von diesem Erlebnis so sehr traumatisiert, dass er sich nur mithilfe von angstlösenden Medikamenten und mit großem Zureden wieder in die Wohnung zurücktraute. Sosehr wir diese Stadt liebten, aber nach dem Erdbeben stand für uns fest: Wir fühlten uns dort nicht mehr sicher und wollten Los Angeles so schnell wie möglich den Rücken kehren.

Am nächsten Morgen saß ich auf dem Weg zu meinem Vorstellungsgespräch im Flieger nach New York. Es war der erste Flug, der nach dem Erdbeben vom Los Angeles International Airport abhob – American Airlines 001. Nico brachte mich zum Flughafen. Wir brauchten knapp drei Stunden mit dem Auto für eine Strecke, die normalerweise nicht mehr als vierzig Minuten dauerte. Viele Straßen waren gesperrt, die Stadt glich einem Trümmerfeld. Vor dem Abflug musste unsere Maschine mehrmals die Startbahn wechseln, weil diese zahlreiche Risse hatte und nicht befahrbar war. Als die Maschine endlich abhob und langsam in Richtung Horizont emporglitt, spürte ich eine große Erleichterung. Hier oben war ich sicher. Es konnte doch kein Zufall sein, dass ich ausgerechnet jetzt meiner Zukunft mit dem Wu-Tang Clan in New York entgegenflog …

WU-TANG CLAN, STUTTGART 2013

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HARIBO FÜR SONIC YOUTH UND KRIEG MIT NIRVANA

Bis zu meinem ersten Treffen mit dem Wu-Tang Clan sollte es aber noch gut zwei Jahre dauern. Bis dahin war ich bei Geffen Records in Hamburg angestellt und für die Rock- und Metal-Größen des Labels zuständig. Gleich in meiner ersten Arbeitswoche hatte ich eine handfeste Auseinandersetzung mit Nirvana, die in der Branche und Presse für Furore sorgte – was ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Kurt Cobain sprach die unrühmliche Episode im Interview mit dem englischen Musikmagazin Melody Maker an, das ich später zitiere (ich bin die »representative from MCA«), und sie schaffte es auch in eine Nirvana-Biografie. Dabei hatte ich es garantiert nicht auf eine Konfrontation angelegt. Vielmehr war das Ganze eine Verkettung von ziemlich vielen unglücklichen Umständen …

Im August 1991 startete ich als Geffen Label Managerin bei MCA Music Entertainment Germany in Hamburg. Die neue Plattenfirma gehörte zu RCA/BMG und war noch im Aufbau. Unser Team bestand aus gerade mal fünf Personen, ich war die einzige Frau. Meine Aufgabe war, die deutschen Album-Releases vorzubereiten und Marketingkampagnen und -pläne zu entwerfen. Als eingefleischte »people person« fand ich es spannender, die Künstler, die bei Geffen unter Vertrag waren, persönlich kennenzulernen und zu betreuen, als nur Verkaufszahlen zu prognostizieren. Mein erster Auftrag wurde gleichzeitig auch so etwas wie meine Feuertaufe, und das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes: Ich traf Nirvana – die damals noch relativ unbekannte Grunge-Band aus Seattle.

Nirvana war die Vorgruppe der New Yorker Indie-Legende Sonic Youth, mit denen sie durch Europa tourten. Ein Konzert war im Rahmen des Überschall-Festivals im Bremer Aladin geplant. Mel Posner, unser Head of International in L.A., schickte uns ein Fax mit der Bitte, den Geffen-Neuzugang unbedingt persönlich kennenzulernen. Konkret hieß das: Jemand von uns sollte sich bei Kurt Cobain, Dave Grohl und Krist Novoselic vorstellen. Wahrscheinlich war es Mel wichtig, dass die Jungs sich bei dem Label, das sie gerade erst unter Vertrag genommen hatte, gut aufgehoben fühlten. Mel war Vollprofi, und ich bin mir sicher, er hatte eine Vorahnung, dass Nirvana einmal richtig groß werden würde. Der Launch ihres legendären »Nevermind«-Albums stand kurz bevor, und es gab jede Menge Promo-Termine.

Leider waren wir in Deutschland ziemlich ahnungslos, was da auf uns zukam – sowohl was Nirvanas späteren Erfolg betraf als auch die Attitüde der Band, jede Bühne (und nicht nur die …) während der Tour in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Eigentlich hatte ich nicht wirklich Lust, am Sonntagabend von Hamburg nach Bremen zu fahren. Aber irgendwie war ich auch neugierig auf die Newcomer, die Mel so wichtig waren. Und es reizte mich, Sonic Youth persönlich kennenzulernen und auf der Bühne zu sehen. Also sagte ich zu, fragte Nico, ob er mitkommen würde, und so fuhren wir zusammen nach Bremen.

Als kleines Willkommensgeschenk für die Band besorgte ich unterwegs an der Tankstelle noch ein paar US-Magazine wie Newsweek und Time, und mehrere Tüten Haribo. Einen batteriebetriebenen Basketball-Papierkorb, der jubelte, wenn man den Korb traf, nahm ich auch noch mit. Ein bisschen kitschig zwar, aber ja auch irgendwie lustig und amerikanisch.

In Bremen angekommen, machten Nirvana gerade Soundcheck. Ich brachte meine Geschenke schnell in die Band-Garderobe, dann stellten Nico und ich uns bei den Jungs vor. Etwas Small Talk, und mit einem entspannten »See you after the show« verabredeten wir uns zum Dinner nach dem Auftritt. Läuft doch, dachte ich. Ich erinnere mich noch, dass ich mir ernsthaft darüber Gedanken machte, ob ich Sonic Youth vernachlässigen würde, wenn ich während ihrer Show schon mit Nirvana essen gehen würde. Ein schlechtes Gewissen beschlich mich. Meine Sorge war allerdings unbegründet, denn es kam nie zum geplanten Dinner …

Sonic Youth, bei denen wir auch vorbeischauten, straften mich erst mal mit Ignoranz. In ihren Augen war ich eine Repräsentantin der ausbeuterischen Corporate World, des Großkapitals – eine Welt, die sie verachteten. Anfang der Neunzigerjahre wurden Alternative Music und Grunge immer populärer, gleichzeitig distanzierten sich viele der US-Bands von den mächtigen, kommerziellen Plattenfirmen, den Major Labels. Sie waren lieber bei kleinen Indie-Labels unter Vertrag. Das internationale Business lief aber aus logistischen Gründen meist nur über die großen Plattenfirmen. Mit deren Mitarbeitern abzuhängen war komplett verpönt, und das ließen mich Sonic Youth bei dieser ersten Begegnung auch spüren. Egal, ich machte mir nichts draus und legte einige Tüten Gummibärchen und ein paar Magazine in ihre Garderobe. Damit habe ich immerhin einen bleibenden Eindruck hinterlassen, denn bei späteren Begegnungen mit Sonic Youth – die sympathischer verliefen – war es zwischen Kim Gordon und mir ein Running Gag, dass ich mir unangekündigt Zutritt zur Sonic-Youth-Garderobe verschaffen würde und die Band mit ihren geliebten Haribo versorgte, egal wo sie gerade auftraten …

FRAU RIES, NIRVANA HABEN DEN GESAMTEN DRESSING ROOM ZERLEGT, ALLES IST KAPUTT. DA IST EIN SACHSCHADEN VON 17 000 DM ENTSTANDEN, DEN MÜSSEN SIE BEZAHLEN.

Nirvanas Auftritt im Aladin vor knapp tausend Fans war laut und rough, und er endete wie eigentlich alle ihrer Gigs damit, dass Kurt Cobain völlig vollgedröhnt über die Bühne taumelte, seine Gitarre durch die Luft schmiss und Daves Schlagzeug in Einzelteile zerlegte. Das Publikum jubelte und war begeistert: Die Kids liebten diese kaputte Show. Nach dem Auftritt setzte die Band ihre Zerstörungswut allerdings backstage fort und schlug in ihrer Garderobe alles kurz und klein. Der Veranstalter, den ich bis dahin noch gar nicht gesehen hatte, kam mir wutschnaubend und mit hochrotem Kopf entgegen, fuchtelte wild mit seinen Armen und brüllte mich empört an: »Frau Ries, Nirvana haben den gesamten Dressing Room zerlegt, alles ist kaputt. Da ist ein Sachschaden von 17 000 DM entstanden, den müssen Sie bezahlen. Die sind doch bei Ihnen unter Vertrag!« Er war völlig außer Rand und Band. Und ich leicht irritiert, weil ich mich fragte, wie er so schnell auf die genaue Schadenssumme gekommen war und warum er dann auch noch meinte, ich persönlich solle dafür aufkommen. Nur weil ich die Plattenfirma von Nirvana vertrat, war ich doch nicht für ihren Zerstörungswahnsinn verantwortlich. Bevor ich ihm das groß erklärte, wollte ich mir erst mal selbst ein Bild von der Situation machen. Leider war die Garderobe wirklich komplett verwüstet. Der Tisch, auf dem vorher noch Getränke, Sandwiches und Snacks standen, war einmal komplett abgeräumt und in seine Einzelteile zerlegt worden. Dosen, Flaschen und alle Essenssachen (auch meine Haribos) lagen quer über den Fußboden zerstreut, wahrscheinlich waren sie wild durchs Zimmer geschleudert worden. Irgendwelche undefinierbaren Flüssigkeiten, Cola, Ketchup oder so, klebten an den Polsterbezügen und der Zimmerwand; kein Möbelstück war verschont geblieben. Was für ein widerlicher und erbärmlicher Anblick. Dass sie ausgerechnet den Garderobenspiegel heil gelassen hatten, wunderte mich. Extrem kränkend empfand ich allerdings, dass inmitten dieser Verwüstung meine zerknüllte Visitenkarte auf dem Boden lag und darauf neben meinem Namen in schwarzen Großbuchstaben und drei Ausrufezeichen »FUCK YOU!!!« stand. Ich war fassungslos und geschockt. Sofort kroch kalte Wut in mir hoch. Was glauben diese Idioten eigentlich, wer sie sind, schoss es mir durch den Kopf. Rockstar-Image hin oder her. Von mir aus konnten sie alles kurz und klein schlagen, aber dass sie meinen Namen so durch den Dreck zogen, war das Allerletzte. Respektlos und unverschämt. Das ließ ich mir von niemandem bieten, schon gar nicht von drei durchgeknallten Musikern aus Seattle.

Der Veranstalter redete weiterhin panisch und in weinerlichem Ton auf mich ein, aber ich nahm ihn eigentlich gar nicht mehr wahr und hielt ihn mir mit abwehrenden Gesten so gut es ging vom Leib. Ich war innerlich schon einen Schritt weiter und beschloss, diese miesen Übeltäter zu stellen und ihnen gehörig meine Meinung zu geigen. Die drei hatten sich allerdings rechtzeitig verkrümelt, und niemand konnte mir sagen, wo sie sich versteckten. »Wie bei einem Kindergeburtstag«, dachte ich noch und schmunzelte innerlich über so viel Unreife … Ihre Taschen und Klamotten lagen allerdings noch in der zerstörten Garderobe verteilt, weit konnten sie also nicht sein. Rasend vor Wut ging ich den Backstage-Gang entlang und öffnete jede Türe. »Fucking cowards – verdammte Feiglinge, jetzt sind sie auch noch abgehauen«, dachte ich, und einen Roadie, der mir entgegenkam und amerikanisch aussah, fuhr ich an, wo zur Hölle die Jungs wären. Der Arme wusste gar nicht, wie ihm geschah, und fragte sich wahrscheinlich: Was hat diese Irre vor? »Don’t know«, antwortete er unsicher. Ich glaubte ihm kein Wort. Ich fragte ihn nach einem »Sharpie« (ein Edding). Er zog einen schwarzen Stift aus der Hosentasche, ich nahm ihn, kehrte zum Dressing Room zurück und schrieb, so groß es ging, auf den Spiegel: »FUCK YOU TOO, ASSHOLES!« Dann setzte ich noch meinen Namen darunter.