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Würde E-Book

Mathias Schreiber

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Beschreibung

Was wir verlieren, wenn Würde verloren geht

Würde ist ein Begriff, der immer wieder beschworen wird, besonders in jüngerer Zeit, ob beim würdigen Rücktritt des Papstes oder beim unwürdigen Auftritt eines Politikers, bei der gezielten Würdelosigkeit von TV-Shows oder unbedachter Selbstentblößung im Internet. Viele haben das Gefühl, dass Würde in unserer Gesellschaft verloren geht. Aber was ist Würde genau? Und was bedeutet der Verlust von Würde? In einem Streifzug durch Philosophie und Geschichte beschreibt Mathias Schreiber die ganze Bandbreite und Tiefe des Begriffs – von der römischen dignitas bis zum deutschen Grundgesetz – und schildert die Würdeverluste der Gegenwart. Pointiert zeigt er, dass es nicht um eine Belanglosigkeit geht, wenn wir auf die Würde von Menschen oder etwa eines Amtes pochen.

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Mathias Schreiber

WÜRDE

Was wir verlieren, wenn sie verloren geht

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2013 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

In Kooperation mit dem SPIEGEL-Verlag, Hamburg

Typografie und Satz: DVA / Brigitte Müller

Lektorat: Antje Korsmeier

Gesetzt aus der Berling

ISBN 978-3-641-10609-6V002www.dva.de

Für Christina

Inhalt

Vorbemerkung

Szenen aus dem realen Würde-Elend – auch Lichtblicke

Leben vor dem Tod

Präsidenten und Netzwerke

Von altem Adel

Das Lächerliche, das Schickliche, die Ehre

Duelle und andere Meinungs-Zweikämpfe

Arm und Reich, Ausschluss und Teilhabe

Entwürdigende Folter-Androhung? Der Fall Jakob von Metzler

Fernseh-Elend

Papst und Pilger

Der Begriff der Würde

Definitorisches

Aristoteles, Cicero: würdevolle Gesten, Gewänder, Köpfe

Gottes Ebenbild, humane Exzellenz

Denker der Würde: Kant und Schiller

Autorität und Würde – die dezente Gesellschaft

Mystiker des All-Bezugs

Würde als Recht

Grundgesetz und Menschenrechte

Übergriff und Unantastbarkeit

Souveräne Völker und Frauen – ewige Würde

Würde unter Zeit-Druck

Der Wert des Bleibenden im Wechsel – ein Rückblick

Zeit als Psyche

Terror des Tempos – Die gemessene Zeit-Not

Schnelle Kommunikation: Denken im »Live-Ticker«

Entdeckung der Langsamkeit

Nähe und Distanz

Anstand und Manieren

Tod und Liebe, Scham und Schock

Ende der Intimität

Würde der Herrscher

Ritter und Paläste

Majestätische Bauten für die Republik

Goethes Geburtshaus

Streit um die »Bauhaus«-Würde nach 1945

Das Kanzleramt wagt Größe

Die Würde des Lateinischen

Rituelle Magie

Würde der Kreatur

Mitgeschöpfe im Würgegriff der Agrarindustrie

Natürliche Erhabenheit

Würdige Greise

Helmut Schmidt und Stéphane Hessel

Wenn kluge Alte dumm wirken

Liebe im Alter

Würdige Sprache

Loben ohne Maß

Modische Anglizismen

Jugendjargon

Würde als weltliche Religion

Der Kampf gegen Hass als Kampf für Demokratie

Medialer Ego-Wahn

Würde des Rückzugs und des Verzichts

Ende der Sklaverei

Thomas Clarkson: ein Held der Würde

Totale Institutionen

Ausblick

Transparenz und Geheimnis

Exerzitien der Schlichtheit

Literaturverzeichnis

Personenregister

»Große Spieler verabschiedet man mit Stil und Würde in den Ruhestand«

Fußballstar Günter Netzer über seinen jüngeren Kollegen Michael Ballack in einer Rückschau auf dessen Karriere in der deutschen Nationalmann-schaft, gesendet vom ZDF am 21.4. 2012

»Um seine Würde zu wahren, muss man eine Situation des Zwangs in eine der Freiheit verwandeln.«

Der französische Schriftsteller Tzvetan Todorov, Jahrgang 1939, in dem Buch Angesichts des Äußersten (1993)

Vorbemerkung

Je häufiger der Begriff der Würde hochgehoben und als disziplinierende Monstranz durch das laute und wirre Gewusel unserer Gegenwart getragen wird, desto mehr drängt sich uns der Verdacht auf: Das mit diesem Begriff Gemeinte könnte bald für immer verloren sein – vergessen, verplappert, verschlampt, verschwendet, versendet, verkauft; verkannt noch von jenen, die dessen wahren Sinn verteidigen wollen.

Viele Zeitgenossen handeln durchaus moralisch verantwortungsvoll, haben aber keinen Geschmack, zum Beispiel wenn sie vor anderen über sich reden, was das Zeug hält. Andere Zeitgenossen glänzen durch Diskretion, Geschmack und Eleganz, verhalten sich aber, etwa wenn es um berufliche Vorteile geht, wie Raubtiere. Beiden Typen fehlt Entscheidendes: Würde. Die Würde verbindet den guten Eindruck mit dem Gut-Sein. Sie ist ein Wert, der in jüngster Zeit häufig beschworen wird, egal ob beim »würdigen« Rücktritt des Papstes, beim »unwürdigen« Auftritt eines Politikers oder angesichts der Selbstentblößung vieler »Gemeinde«-Mitglieder sogenannter sozialer Internetforen. Repräsentanten der Linkspartei berufen sich ebenso auf die Würde, wenn sie Niedriglöhne beklagen, wie konservative Anhänger der lateinischen Sprache.

Wo der uralte Begriff der Würde auftaucht, muss er sich gegen alle möglichen Strategien der Flegelhaftigkeit behaupten: gegen eitle Unterhaltungs-Redehäuptlinge verschiedener Medien, bei parteipolitischen Schnellschuss-Rempeleien – Motto: möglichst rüde dem Anderen ins Wort fallen –, gegen radikale naturwissenschaftliche Positivisten, gegen Talkshow-Schwätzer, die ihre neuesten Bücher oder Platten oder Filmrollen schamlos eigennützig auch dann vor der Kamera anpreisen, wenn in diesen Produkten der alles verschlingende »Ego«-Wahn oder Eigennutz-»Kommerz« attackiert wird. Nicht zuletzt muss er der Aggressivität und Beliebigkeit jener Kommentare oder Beschimpfungen standhalten, die massenhaft und oft anonymisiert über das Internet rauschen.

Die Wiedergeburt öffentlicher Berufung auf Würde rüttelt am Vorrang lange gehätschelter Prägungen wie »Moderne«, »Fortschritt« oder »Kritisches Bewusstsein«. Auch die vielgeliebte »antiautoritäre Bewegung«, deren prominente Wortführer nach neueren Erkenntnissen zum Teil Antisemiten waren, verblasst neben dem dunklen Feuer der ein wenig magischen Würde. An Würde mag erinnern, wer geistige Moden meiden möchte. Was jedoch nicht passieren darf: dass die Würde selbst zum modischen Schlagwort verkommt.

Die folgende Untersuchung will dies durch Differenzierung der verschiedensten Würde-Szenarios verhindern. Sie will Belege für die wichtigsten Formen der Anrufung von Würde und Würdelosigkeit festhalten, dabei den Begriff der Würde genauer erörtern und ausführlich an seine Kulturgeschichte erinnern. Gerade die reichhaltige Vergangenheit der Versuche, die Würde als über den engeren sittlichen und rechtlichen Geboten schwebende, irgendwie erhabene Norm zu begründen, macht deutlich, welch zivilisatorischer und geistiger Verlust uns drohte, wenn uns der Sinn für echte Würde verloren ginge; und wenn das, was den Titel der Würde verdient, einerseits als Prinzip von wissenschaftsgläubigen Dogmatikern untergepflügt würde, andererseits als Kultur in unserer medial aufgeladenen, trendhörigen Augenblicks-Gesellschaft verschwände wie in einem Schneegestöber.

Winsen an der Luhe, im Mai 2013

Mathias Schreiber

Szenen aus dem realen Würde-Elend – auch Lichtblicke

Leben vor dem Tod

Fangen wir mit dem Ende an: Asche zu Asche. So spricht der Pfarrer am offenen Grab: »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub«. So nennt sich aber auch die Firma eines australischen Pyrotechnikers. Er bietet Interessenten an, die Asche ihrer verstorbenen Lieben mit Feuerwerksraketen in den nächtlichen Himmel zu schießen – »wie an Silvester«, was nur 4000 australische Dollar kosten soll. Der Firmeninhaber hat diese Explosiv-Beerdigung erfolgreich getestet: mit der Asche seines toten Hundes. Publik wird das Internetangebot im November 2012, eine Woche nach Allerseelen. Würdig?

Kaum würdiger als der Fall jener portugiesischen Totengräber, die einige Tage vor dem Weltauftritt des australischen Pyrotechnik-Irren damit auffallen, dass sie mit Luftgewehren ihre Zielsicherheit beim Beschießen von vier Skelettköpfen getestet haben. Die Polizei kann die mit Einschusslöchern markierten Totenschädel rechtzeitig sichern, um die Ermittlung wegen des Verdachts auf Leichenschändung einleiten zu können.

An deutschen Friedhofseingängen bittet in der Regel ein Schild um taktvolles Benehmen – mit dem Hinweis auf »Die Würde des Ortes«. In der katholischen Bestattungsliturgie heißt es »Gib ihm, o Herr, die ewige Ruhe« – requiem aeternam dona ei. Im Angesicht des endgültigen Endes einer Lebenszeit, des endgültigen Verstummens eines Menschen, ist das nachdenkliche Schweigen derer, die diesen Menschen zu Grabe tragen oder sein Grab besuchen, ein angemessenes Verhalten – würdig. Nicht so würdig ist es, wenn ein männlicher Verwandter der Verstorbenen während der kurzen Trauerreden neben dem frisch ausgehobenen Grab seinem Nachbarn auch für andere gut hörbar erzählt, das Wildschwein, das er letzte Nacht mit einem Präzisionsschuss am Dorfrand direkt vor einem Maisfeld erlegt habe, sei »einen schönen Tod« gestorben.

Ob der Mensch, der hier beerdigt wird, auch würdig gestorben ist, hängt vor allem davon ab: Er starb nicht abrupt durch blutige Gewalteinwirkung oder einen Unfall, der seinen Körper zerfetzte, auch nicht nach wochenlangem quälendem Siechtum; er starb womöglich nach einem erfüllten Leben entweder durch ein kurzes Hirn- oder Herzversagen oder etwa, palliativmedizinisch betreut, infolge eines durch Schmerzmittel gemilderten Leidens, von liebenden Angehörigen oder Freunden ummantelt beim Hinübergleiten ins Jenseits, möglichst in der vertrauten Umgebung der eigenen Wohnung oder in einem überschaubaren Hospiz.

Die 15 Jahre alte Hamburger Gymnasiastin Lenard S.berichtet, wie es gewesen ist, als ihre krebskranke Großmutter nach einem längeren Krankenhausaufenthalt in ein Hospiz gelangt war – auf eigenen Wunsch. »Gleich als ich das Hospiz S. in Barmbek betrat, wurde ich freundlich aufgenommen. Auch wenn dort viele Menschen sterben, ist die Stimmung gar nicht bedrückend, es ist gemütlich eingerichtet, und die Mitarbeiter sind gut gelaunt. Aber die Trauer wird auf keinen Fall ignoriert. Teilweise kamen wir mit 17 Leuten und uns wurde immer Kaffee und Essen angeboten. Sogar mein Großvater mit seinen 87 Jahren und Pflegestufe 2 konnte ohne Probleme dort übernachten. So konnte er die letzte Nacht mit seiner Frau verbringen« (Hamburger Abendblatt, 22.1.2013).

Die 1967 in England privat begründete Hospizbewegung, die angesichts der dramatisch zunehmenden Singlehaushalte immer wichtiger wird, bemüht sich ausdrücklich um eine »würdevolle« Zeit auf dem letzten Lebensweg der Todkranken. Angehörige oder engere Freunde, auch ehrenamtliche Helfer wirken mit bei dem Versuch, dem Sterbenden das Gefühl zu geben, dass er mit seinem Schicksal nicht allein ist; dass er als soziales Wesen die letzten Tage und Stunden mitten in der Gesellschaft verbringt – und nicht isoliert auf irgendeiner Klinikstation, umsorgt von weißen Wänden, einer überarbeiteten, miserabel bezahlten Krankenschwester, trostlosen Schläuchen, etwas unheimlich piepsenden oder summenden, Herzschlag und Blutdruck kontrollierenden Messgeräten, galgenartig herabhängenden Infusionsbehältern und grellem Neonlicht. Die Hospizkultur, egal ob stationär oder ambulant, widersteht der gesundheitsindustriellen Todesverwaltung und leistet einen substanziellen Beitrag dazu, dass der erbarmungslose Exitus eines Menschen nicht allzu würdelos geschieht. Sterbebegleitung ist auch würdiger als Sterbehilfe.

Präsidenten und Netzwerke

Zurück zum Leben. Mit einer ziemlich spektakulären Würde-Variante hat jener denkwürdige Tag im November 2012 zu tun, der dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama »vier weitere Jahre« im mächtigsten Amt der Welt beschert. Das selbstbewusste, auch etwas heikle Motto Obamas: »Das Beste kommt noch«. Die Nachricht von seinem Wahlsieg wird in der Nacht vom 6. auf den 7. November – über den Kurznachrichtendienst Twitter – so oft weitergereicht wie keine andere in der Geschichte dieses sozialen Netzes. Allein am 6. November sind 31 Millionen Nachrichten mit Bezug auf die Wahl durch das Twitter-Gate gesaust – die ersten Twitter-Wahlen der Weltgeschichte. Präsident Obama hält in Chicago am Morgen nach der Wahlnacht eine eindrucksvolle Rede, bedankt sich bei seinen extrem zahlreichen Wahlhelfern, dankt ausdrücklich jedem Bürger, der überhaupt gewählt hat, und beschwört das amerikanische »Versprechen der Freiheit und Würde (dignity) für jeden Menschen« als Basis des Friedens. Er spricht von seinem Glauben an ein »mitfühlendes, tolerantes Amerika«, das offen ist für die Aufstiegsträume eines jeden, egal »ob einer schwarz ist oder weiß, hispanisch oder asiatisch oder amerikanischer Ureinwohner oder jung oder alt oder reich oder arm, gesund oder behindert, schwul oder hetero«. Würdig, ja.

Würdiger jedenfalls als die Sprechblasen der Redakteure in der deutschen Fernseh-Wahlnacht. Sie übersetzen den großspurigen Superlativ, Obamas Wahlerfolg sei das Resultat des »teuersten Wahlkampfs aller Zeiten« (wer hat das so schnell ausgerechnet?), hartnäckig in das sedierende Klein-Klein penetranten »Du«-Sagens: »Tina, danke!« – »Markus, hast du Buch geführt?« – »Jörg!« – »Thomas, hinter dir ist Licht« – »Thomas, danke!« – »Sandra!«. Dass sich die Damen und Herren seit Jahren kennen, ist nicht weiter verwunderlich. Aber geht der Stand auf diesem Duzfuß die große Öffentlichkeit etwas an? Thema Würde: Es geht auch um die rechte Balance zwischen Distanz und Nähe. Aufdringliche Nähe am falschen Ort und zu unpassender Gelegenheit – amerikanische Präsidentenwahl! – ist unwürdig: bloß peinlich.

Allzu große private Nähe zu Unternehmern und sogenannten Eventmanagern, deren Interessen der niedersächsische Ministerpräsident direkt oder indirekt bedient haben soll – das ist der wohl heikelste Punkt in jener Affäre um den deutschen Kurzzeit-Bundespräsidenten Christian Wulff, die im Februar 2012 zum Rücktritt des Politikers führt. Die Staatsanwaltschaft Hannover hat zuvor ein Ermittlungsverfahren wegen »Vorteilsannahme« in mehreren Fällen gegen ihn eröffnet. Peinlicher als das ganze Verfahren sind die kleinkarierten Unkorrektheiten, um die es letztlich geht: etwa um die Übernahme der Werbungskosten für ein Wulff-Buch durch einen Finanzfreund des Politikers oder um den von einem Filmfinanzier bezahlten Besuch in einem Münchner Nobelhotel, in dem das Ehepaar Wulff während des Oktoberfests zwei Nächte geschlafen hat, ferner um ein von demselben Produzenten spendiertes Luxuswochenende auf Sylt. Wulff will die Auslagen des Produzenten »bar« erstattet haben, mit Geld, das seiner Frau geschenkt wurde!

Weniger läppisch scheint der Verdacht zu sein, das Land Niedersachsen habe eben diesem Filmfinanzier vor der Sylt-Geschichte eine beträchtliche Filmförderungssumme zugestanden. Außerdem hat der Ministerpräsident wohl die Firma Siemens animiert, als Sponsor die Verfilmung des Lebens von John Rabe zu unterstützen, der als Fabrikleiter für Siemens in China gearbeitet und dort – im zweiten Chinesisch-Japanischen Krieg – 1937 rund 250000 Chinesen vor dem Tod bewahrt hat (der Film »John Rabe« wurde 2009 in Berlin uraufgeführt). Verdacht erregen zudem mehrere längere Gratis-Urlaubsaufenthalte – auch eines Wulff nahestehenden Pressereferenten – in luxuriösen Ferienhäusern angeblich alter Freunde, die aber teilweise nur Lobbyisten sind und öffentliche Gelder für angeblich gemeinnützige Veranstaltungen erwarten, die sie, gewiss nicht unentgeltlich, organisieren.

Auslöser des Skandals ist die Nachricht, ein befreundeter Privatmann habe mit einem Kredit über 500000 Euro dafür gesorgt, dass der verschuldete Politiker ein neues Haus für sich und seine neue junge Frau bezahlen konnte. An dieser erstaunlichen Freundesgabe ist zunächst nichts unrecht, doch Wulff ist so ungeschickt, bei der öffentlichen Erörterung des Falles zunächst nur die halbe Wahrheit zu sagen. Er habe keinerlei geschäftliche Beziehung zu dem Geldgeber unterhalten, heißt es erst; später gibt Wulff zu, der Kredit sei über den Namen der Ehefrau jenes alten Freundes gelaufen … Schon diese penible Korrektur tut ein bisschen weh, denn man spürt sofort den Advokatentrick, das Strohfrau-Manöver. Immerhin hat Wulff den Ehemann der Geldgeberin als Gast der Landesregierung auf mindestens eine dienstliche Auslandsreise mitgenommen. Insider nennen solch diskretes Geben und Nehmen an der Grenze zwischen privaten und amtlichen Sphären »Landschaftspflege«; die prinzipielle Anrüchigkeit solcher wechselseitiger Vorteilsgewährungen ist nicht von der Höhe der dabei ausgetauschten Geldbeträge abhängig, so unerheblich sie auch sein mögen. Warum reichte kein Bankkredit, bei dem solche Abhängigkeiten von Freunden vermieden werden? Das fragt man sich.

Der nicht gerade epochale Casus zeigt auch, wie die verzweifelte Anstrengung um die Wahrung der Würdefassade zur Falle werden kann: peinlich für einen Mann, der inzwischen das höchste Staatsamt der Republik innehat, ein Amt, zu dessen Würde es gehört, dass sein Inhaber – der Repräsentant aller Bürger, somit des Staates als der Energie des Allgemeinen – über den Parteien steht und unabhängig von finanziellen Privatinteressen handelt. Es bedeutet auch, dass er möglichst die Wahrheit sagt, wenn diese Unabhängigkeit plötzlich öffentlich bezweifelt wird. Wulff reagiert wohl unfreiwillig in seiner Panik, die Amtswürde zu verspielen, wie ein kleiner Diktator, indem er dem Chefredakteur des Boulevardblattes, das diese öffentlichen Zweifel zu unterfüttern im Begriff ist, für den Fall der Publikation telefonisch unangenehme Konsequenzen androht. Er spricht sogar noch auf den Anrufbeantworter, der die Drohung konserviert, also zum Beweismittel macht.

Im September desselben Jahres schon veröffentlicht Wulffs Ehefrau Bettina ihre Erlebnisse im Berliner Schloss Bellevue, geschrieben mit Hilfe einer PR-Fachfrau, unter dem Titel Jenseits des Protokolls. Das suggeriert Enthüllungen aus dem intriganten Durcheinander in der Kulisse des offiziellen Amtswürden-Theaters. Aus der Perspektive eines Ehepaars, das selbst diese Amtswürde beschädigt hat, ist das eine dreiste Suggestion. Der SPIEGEL meint prompt, Bettina Wulffs Bekenntnisbuch verstöre »mit überflüssigen Intimitäten« wie dem Nachdenken über die allzu gute Hörbarkeit gewisser Beischlafgeräusche in Hotels und verletze »die Würde des Amtes«. Würdelos, wenn auch angesichts der so trivialen wie geltungssüchtigen Buchvorlage nicht völlig unverdient, ist in diesem Zusammenhang auch der anonyme Facebook-Kommentar zu einem Foto, das die beachtliche Rückfront der Buchautorin zeigt: »Es war nicht alles schlecht«.

Immerhin ist dieser leicht sexistische Kommentar witziger als der über Bettina Wulff ausgeschüttete shitstorm – zu Deutsch: »Scheiß-Sturm«. So heißt eine in vielen E-Mails formulierte, oft nur geblubberte, schwarmhafte Internet-Entrüstung; im Englischen signalisiert der Ausdruck übrigens nur allgemein eine unangenehme Situation. Im Fall von Frau Wulff enthält der shitstorm so nette Botschaften wie »Wer kauft den Mist?«, »Hure«, »Nutte!«, »wütende Essiggurke«. Die Anonymität, in deren Schutz solche Invektiven veröffentlicht werden können, ist eine Mitursache für deren Unverfrorenheit – würdelos extrem.

Anonym jemandem eine witzige Gemeinheit über E-Mail oder eine Nachricht bei Facebook zu schicken, gilt besonders bei vielen Jugendlichen als »cool«. Bei dieser Art von »Cybermobbing« werden schon mal Freundlichkeiten verbreitet wie »Nerv nicht und geh lieber sterben«. So mancher Jugendliche hält das nicht aus und reagiert mit Essstörungen oder Schlimmerem. Durch die Befragung von 600 Facebook-Nutzern haben Wirtschaftsinformatiker der Technischen Universitäten Berlin und Darmstadt Anfang 2013 herausgefunden: Ein Drittel ist angesichts der Erfolgsgeschichten, die ihre Internet-Freunde verbreiten, frustriert. Diese Geschichten erregen oft Neid, und dieser Neid macht unzufrieden.

Facebook lädt ein zum Vergleich, und jeder versucht, besser dazustehen als es der Wahrheit entspricht. Dieses Vergleichen erinnert an die uralte Konkurrenz unter Nachbarn – wer hat das bessere Auto in der Einfahrt stehen? Und wenn der Nachbar den schickeren Wagen vorzeigt: hat er ihn schon bezahlt? Aber soziale Onlineportale wie Facebook sorgen dafür, dass sich die Zahl dieser Neid-Vergleiche unglaublich erhöht und dass die entsprechenden Frustrationsprozesse schneller ablaufen. Psychologen der New Yorker Columbia Business School haben in einer Studie, die 1000 Facebook-Nutzer befragte, ermittelt: Nutzer, die besonders viele Freunde für sich gewinnen und »Gefällt mir«-Klicks sammeln konnten, neigten zu übersteigertem Selbstbewusstsein. Bei einer realen Überprüfung ihrer Lebenssituation entpuppten sich die größten sozialen Gewinnertypen allerdings als tendenziell übergewichtig und hoch verschuldet. Interaktiv erworbene Würde sähe anders aus.

Im Januar 2013 gibt das Ehepaar Wulff über einen Anwalt bekannt: Die eheliche Gemeinschaft ist zu Ende, die beiden leben fortan getrennt. Er ist aus dem Haus, das ihm das Genick gebrochen hat, schon ausgezogen. Gibt es das vielleicht doch: den Fluch eines Ortes?

Die Geschichte vom Aufstieg des Osnabrücker Anwalts zum Bundespräsidenten und vom tiefen Fall des Mannes, der sich kurz vor dem Gipfelsturm in die attraktive Pressesprecherin der Firma Continental verliebt, sie heiratet – und sich von der Mutter seiner ersten Tochter scheiden lässt –, dann aber abstürzt, dass dem Betrachter schon schwindelig wird: Diese Geschichte ist ein mustergültiger Klischeeroman über junge, kluge, gut aussehende Frauen, die sich in das Scheinwerferlicht eines Mächtigen drängen und den entsprechenden Mann erobern, diesen Mann aber verlassen, wenn die Aura des Erfolgreichen der des Verlierers weicht. Zugleich ist es der Klischeeroman über den aus bescheidenen Verhältnissen aufgestiegenen Karrieremann, der sich kurz vor dem Erreichen des Gipfels bei einer hübschen, deutlich jüngeren Frau neuen Schwung besorgt, die bestehende Familie – sie war wohl durchaus nicht zerrüttet – verlässt, neue, schillernde Geld-Freunde um sich schart, die bloß an seinem Glanz partizipieren wollen; der dann leichtsinnig wird, finanziell mit diesem Freundeskreis nicht so recht mithalten kann und Schulden macht, und der endlich an kleinen Unkorrektheiten, die aber – er ist ja prominent – ein riesiges Medienecho finden, scheitert. Ein Mann, der am Ende alles verliert, auch die neue Frau.

Beim Ehepaar Wulff geht es mehr um Feingefühl, Schicklichkeit, Anstand als um gravierende Rechtsbrüche – auch monatelange staatsanwaltliche Ermittlungen haben Wulff letztlich keinen gewichtigen Rechtsbruch nachweisen können, der ihn zur Aufgabe seines Amtes wirklich gezwungen hätte. Ende März 2013 bietet die Hannoversche Staatsanwaltschaft Wulff an, gegen Zahlung von 20000 Euro das Verfahren einzustellen. Wulff lehnt ab, er pocht auf klaren Freispruch. Seine Anwälte, zwei Strafrechtsprofessoren, erklären am 9. April vor laufender TV-Kamera: »Wir kämpfen für die Würde und die Rechte des Bundespräsidenten Christian Wulff.« Wobei sie nicht nur das Adjektiv »ehemaligen« vergessen, sondern großzügig suggerieren, »Würde« und »Rechte« seien in diesem Fall mehr oder weniger eine Einheit. Die Begriffe müssen aber getrennt bleiben: Auch wenn sich herausstellt, dass Wulff strafrechtlich nichts Relevantes vorzuwerfen ist und er insofern sein »Recht« bekommt, bleibt seine Würde beschädigt, vor allem durch das kleinliche Taktieren bei seinen Rechtfertigungsversuchen.

Wulffs Einverständnis zum Angebot des Staatsanwalts hätte dem Ex-Präsidenten nicht nur ein langwieriges Verfahren mit dem entsprechenden Medienecho erspart, sondern auch die Staatanwaltschaft entlastet von dem grotesken Eindruck, dass nicht weniger als vier Staatsanwälte und etliche Ermittlungsbeamte ein gutes Jahr damit beschäftigt wurden, eine Korruption aufzudecken, die mit Bestechungsgeldern knapp unter 1000 Euro die Sitten verdorben hat. Eigentlich ein unverhältnismäßiger Aufwand, selbst wenn man Verständnis dafür hat, dass Staatsanwälte in einem medial so eifrig kommentierten Fall mit Gratis-Eifer beweisen müssen: Vor Gericht gibt es keinen Prominentenbonus und wenn es um Prinzipien geht, sind auch kleinere finanzielle Gefälligkeiten eben Gefälligkeiten, die als strafbar gelten.

Die dennoch offenkundige Disproportion zwischen dem Anlass einerseits, dem immensen Justizaufwand und Medienwirbel andererseits lässt den Publizisten Giovanni di Lorenzo im Frühjahr 2013 unter der Überschrift »Die letzte Würde« das Fazit ziehen: »Christian Wulff war keineswegs frei von Makel.« Dies habe aber nicht »den Eifer« gerechtfertigt, mit dem viele Medien Wulff »verfolgt« hätten. Nachdem dem »vorverurteilten« Ex-Präsidenten »alles genommen« worden sei, bleibe »jetzt wenigstens noch Zeit, seiner fortdauernden gesellschaftlichen Ächtung Einhalt zu gebieten« (Die Zeit, 27.3.2013). Da wird die elementare Würde einer Person gegen deren selbstverschuldete Würde-Pannen in Schutz genommen – nobel, auf indirekte Weise sogar würdig. Störend an dieser hanseatischen Noblesse des intellektuell in Bayern sozialisierten Halb-Italieners Di Lorenzo ist nur der Umstand, dass er zwei Jahre zuvor mit ähnlicher Milde die oberpeinliche Plagiatsaffäre des ehemaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, eines guten bayerischen Freundes, kommentiert hat. Auf die Demaskierung Konservativer spezialisierte Internet-Rechercheure (merkwürdigerweise scheint es kaum Plagiatoren im linken Lager zu geben) hatten enthüllt, dass zu Guttenbergs Promotionsarbeit in erheblichem Umfang fremde Texte ohne Zitierzeichen und ordentliche Quellenangabe übernommen, also abgekupfert hatte; war wohl nichts mit dieser galawürdigen Kombination von Adels-, Amts- und Doktorwürde.

In der an sich kleinformatigen, durch etliche Details und Aspekte aber lehrreichen Affäre Wulff – immerhin das erste gegen einen Bundespräsidenten gerichtete Strafrechtsverfahren in der Geschichte der Republik – steht primär unwürdiges Verhalten auf dem Prüfstand, das Gerichte erst einmal nichts angeht. Pumpt man als Repräsentant eines großen Bundeslandes gute Freunde an, um ein Haus zu kaufen? Lässt man sich freihalten von einem Filmfinanzier, der von einem Schützenhilfe erwartet bei dem Versuch, von wem auch immer zusätzliches Geld für einen teuren Film zu bekommen? Leugnet man im Parlament die finanzielle Liaison mit einem Unternehmer, weil man nachweisen kann, dass das Geld, das man von ihm bekam, über das Konto von dessen Ehefrau geflossen ist? Und nimmt man als Mitglied des Aufsichtsrats der Firma Volkswagen einen besonders zinsgünstigen Kredit in Anspruch, wenn die süddeutsche Bank, die ihn gewährt, mit dem VW-Konzern gute Geschäfte gemacht hat?

Ein einziger, wenn auch nicht gigantischer Würde-Flop in mehreren Akten – wie kann das einem so intelligenten Mann wie Christian Wulff passieren? Wir lernen daraus: Würde ist kein notwendiges Resultat von Intelligenz und hohen Ämtern. Gesellschaftliche Höhenluft provoziert auch bei Intelligenzbestien zuweilen geistige Schnappatmung, Störungen des inneren Gleichgewichts, krankhafte Neigung zu aufdringlichen Lach-Explosionen und moralische Dickfälligkeit – meist knapp vor der eindeutigen moralischen Verfehlung. Würde verlangt gerade vom Erfolgsmenschen eine skeptisch grundierte Diskretion gegenüber dem eigenen Aufstieg, souveräne Bescheidenheit, kritische Selbstreflexion und standhafte Zurückhaltung. Das gilt umso mehr, wenn die Versuchung naht, sich Schwächeren haushoch überlegen zu fühlen oder persönliches Interesse und öffentliches Wohl zu vermischen oder auf andere Weise gebotene Distanz zu missachten.

Im März 2012, anlässlich des Amtsantritts von Wulffs Nachfolger Joachim Gauck, dem ehemaligen Pastor und Leiter der Berliner Stasi-Unterlagen-Behörde, schreibt der SPIEGEL (12 / 2012): »Im Vergleich zu seinem Vorgänger, der wochenlang nur über Anwälte mit seinem Volk kommunizierte, wird er dem Amt ohne große Schwierigkeiten jene Würde zurückgeben, die das Volk erwartet.« Dass Gauck ein würdiger Nachfolger ist, bezeugt auch seine Biografie. Als evangelischer Pastor hat er in Rostock Abstand zur Staatspartei SED und zu deren Staatssicherheits-Terror gewahrt, hat Ausreisewilligen geholfen, ohne selbst auszureisen. Sein Bekenntnis, er sei ein »Liebhaber der Freiheit«, ist keine Floskel – es ist ein Resultat gelebten Lebens. In Gaucks Buch Freiheit definiert sich die Würde als Souveränität des auf seine Freiheit bedachten Bürgers angesichts totalitärer Anmaßung und Übergriffe.

Distanzlosigkeit im Grenzbezirk von Beruf und Privatleben schadet der Würde, zumal der Würde des dem öffentlichen Wohl verpflichteten Politikers, das lehrt der Fall Wulff vor allem. Ungehörig und nervend kann auch eine zunächst läppische Distanzlosigkeit wie jene sein, die dem pfälzischen Ex-Minister Rainer Brüderle, Jahrgang 1945, zu später Stunde beim Umtrunk nach einer Parteiversammlung passiert, als er einer Hamburger Journalistin – mit deutlichem Blick auf deren wohl nicht ganz unauffälliges Dekolleté – zuflüstert, sie könne »ein Dirndl auch ausfüllen«, also eins jener weit ausgeschnittenen Folklore-Kleider bayerischer Art. Anstatt ihm mehr Sorgfalt im Umgang mit seinen Hormonen – oder mit dem Wein – zu empfehlen oder seinen Handkuss (noch kein Verbrechen!) mit einem Kratzer über seinen Handrücken zu parieren, veröffentlicht diese Journalistin den Vorfall ein Jahr nach der »Tat« – Brüderle ist gerade erst zum Spitzenkandidaten der Freien Demokraten für die deutsche Bundestagswahl 2013 gekürt worden – in einer großen Illustrierten unter dem pompösen Rubrum »Sexuelle Belästigung«. Auch dieses Timing, diese publizistische Überreaktion und nicht zuletzt die brüllende Maßstablosigkeit der darauf folgenden wochenlangen Mediendebatte sind würdelos.

Die Debatte dreht sich fast ausschließlich um die Frage, warum sich Brüderle nicht bei jener Journalistin »entschuldigen« wolle; diese Entschuldigung fordert schließlich sogar Andrea Nahles, die Generalsekretärin der SPD. Keiner fragt, welche Berechtigung nicht beteiligte Politiker haben, von Brüderle für eine private, nirgends objektiv dokumentierte geschmacklose Bemerkung eine öffentliche Entschuldigung zu verlangen. Brüderles Bemerkung fiel gegen Mitternacht an einer Hotelbar; sie ohne Autorisierung durch den Urheber zu veröffentlichen, verstößt eindeutig gegen das Berufsethos des ambitionierten Reportagejournalismus – den publizistischen Notstand, dass nur so schreiendes Unrecht im öffentlichen Interesse aufgedeckt werden konnte, wird die Autorin wohl kaum für sich in Anspruch nehmen wollen. Oder hat sie etwa an der Nachtbar ein offizielles Interview geführt? Auch dass der Politiker bei seinem leicht anzüglichen »Dirndl«-Kompliment übergriffig auf den Busen der Journalistin gestarrt habe, was den gewissen Satz erst richtig anstößig macht, lässt sich ja nicht beweisen – womöglich hat die Journalistin dies nur so empfunden. Solche Fragen der journalistischen Sorgfaltspflicht scheinen die medialen Anführer der gehässigen Brüderle-Soap nicht weiter zu interessieren. Was sie unter dem Vorwand, endlich eine große Debatte über den alltäglichen, gewiss diskutablen »Sexismus« deutscher Chefs führen zu wollen, offenbar interessiert, ist die nachhaltige Rufschädigung eines bis dahin beliebten und verdienten Politikers; dessen Partei hatte gerade überraschend gut bei der Wahl in Niedersachsen abgeschnitten, was sich bitte, so das mögliche Kalkül der Kampagnenführer, bei der bevorstehenden Bundestagswahl nicht wiederholen möge.

Anfang März 2013 formuliert Bundespräsident Joachim Gauck, in einem SPIEGEL-Interview, die treffendste Bilanz dieser ganzen Sexismus-Aufregung um Brüderle. Er könne »keine flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen hierzulande« erkennen. Im Übrigen sehe er in der Aufregung um Brüderles Fehlbemerkung das Walten eines »Tugendfurors«, vor dem wohl auch sein eigenes Verhalten kaum bestehen könne. Solche Gelassenheit provoziert: Prompt sammelt eine anscheinend weiblich dominierte Internetplattform namens »Aufschrei« Proteststimmen gegen Gauck, weil der einen Begriff wie »Furor« in diesem Kontext benutzt habe, wo doch »Furor« an »Furie« erinnere, demnach ein für Frauen tendenziell »verletzendes« Wort sei – ein humorfreier Einwand gegen Gauck, der diesem unfreiwillig Recht gibt.

Von altem Adel

Die Würde ist ein abstrakter Begriff, aber auch ein Ideal, das mit gefühlsträchtigen Bildern und Szenen – positiven wie peinlichen – gesättigt ist. Von dem, der dieses Ideal personifiziert, wird hohe emotionale Kompetenz verlangt: Gefühl für quälende Abhängigkeiten, für das passende Timing, für maßvolles Verhalten im Lift nach oben, für das, was Stil hat, sich schickt und nobel ist; und für das, was auch unter wütend aufgeklärten, trotzdem einigermaßen gebildeten Bürgern einfach nicht geht und ungehörig ist.

Adel verpflichtet: Kurz nach Wulffs Rücktritt plädiert Philip Kiril von Preußen, der 43 Jahre alte Ururenkel des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II., öffentlich für die Rückkehr Deutschlands zur Monarchie. Ein Monarch sei meist gegen Versuchungen gefeit wie jene, die zu Wulffs Rücktritt beigetragen hätten. »Entweder er hätte alten Familienbesitz oder eine Apanage – und es wäre unter seiner Würde, von Freunden Geschenke anzunehmen.«

Doch auch Hochadelige, die traditionell schon als Stand nichts als Würde auszustrahlen beanspruchen, erschüttern zuweilen den Glauben an ihr höheres, vom gemeinen Gewinnstreben abgehobenes Ethos. Der spanische König Juan Carlos, der im Jahr 2012 helfen soll, seinem stolzen Volk krasse staatliche Sparmaßnahmen schmackhaft und eine hohe Arbeitslosigkeit erträglich zu machen, wird mitten in der Wirtschaftskrise bei einer luxuriösen Safari, auf der Elefantenjagd in Botswana, ertappt, was nur herauskommt, weil er bei diesem Abenteuer gestürzt ist und sich die Hüfte gebrochen hat. Schlimmer als dieser Sturz ist der Crash für das Ansehen des Monarchen, der zu dieser Zeit auch als spanischer Ehrenpräsident der Naturschutzorganisation WWF amtiert: Auf einer spanischen Website unterzeichnen spontan über 50000 Nutzer eine Petition, die die sofortige Absetzung des Ehrenpräsidenten fordert. Und die berühmte Schauspielerin und Tierschützerin Brigitte Bardot schreibt einen offenen Brief an Juan Carlos: »Majestät, ich wünsche Ihnen keine zügige Genesung, wenn dies dazu führt, dass Sie Ihre mörderischen Reisen nach Afrika und anderswohin fortsetzen.« Dieses Abknallen wertvoller Tiere – Elefanten waren in alter Zeit beliebte Königsgeschenke, ein derartiges Präsent zierte den Aachener Zoo von Karl dem Großen – sei »widerlich und unwürdig für eine Person Ihres Ranges.« Unwürdig – in der Tat.

Im Fall Wulff verschwimmen die Grenzen zwischen dem Würdelosen und dem bloß Lächerlichen. Die letzte Formulierung ist nur halb korrekt: Was heißt »bloß lächerlich«? Im Würde-Umfeld hat die Distel der »bloßen« Lächerlichkeit besonders spitze Stacheln. So mancher erholt sich von ihren Stichen jahrelang nicht. Der SPD-Politiker und Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der immerhin mal Kandidat seiner Partei für das Amt des Bundeskanzlers gewesen ist, lässt sich kurz vor der Bundestagswahl 2002 in der führenden Klatsch-Zeitschrift Bunte porträtieren und ablichten – im Swimmingpool auf Mallorca, im schäkernden Plantsch-Duett mit seiner neuen Liebe, der eleganten Gräfin Kristina Pilati-Borggreve (geborene Paul), und das, während »seine« Soldaten vor einem riskanten Einsatz auf dem Balkan zittern. Von der Lächerlichkeit und Unangemessenheit dieses Auftritts hat sich der Mann, der nach seinem Rücktritt den Vorsitz im Bund deutscher Radfahrer übernahm, nicht mehr erholt. Dass er auch 2012 noch eine Sportart repräsentiert, in der seit Jahren durch Doping die Fairness verletzt und das Publikum betrogen wird, wie nicht nur der tiefe Fall des Tour-de-France-Helden Lance Armstrong beweist, hat auch diese bescheidene Vorsitz-Würde Scharpings noch überschattet. Ende Februar 2013 tritt Scharping, der sich zu den Dopingskandalen der Radfahrer nie substanziell geäußert hat, vom Amt des Radsport-Verbandspräsidenten zurück. Er schließt aber nicht aus, im Frühjahr abermals für dieses Amt zu kandidieren. Ende März wird er in diesem Amt bestätigt.

Das Lächerliche, das Schickliche, die Ehre

Die gebotene Angst vor der Lächerlichkeit ließ Scharping vermissen. Die meisten Menschen kennen diese Angst sehr wohl. Vor allem im beruflichen Alltag, bei wichtigen Konferenzen oder Verhandlungen, ist die Gefahr der Lächerlichkeit nicht selten karrierewichtig und bereitet dem, der sie fürchtet, Albträume. Sich durch ein falsches Wort, peinliches Unwissen, eine unhöfliche Geste oder auch nur unangemessene Kleidung »tödlich« zu blamieren, ist für viele Zeitgenossen oft bedrohlicher als das Katastrophen-Minus auf dem Girokonto.

Der Wert, den die Angst vor dem Lächerlichen zu wahren versucht, heißt Würde. Auf der ganzen Welt liegt den Menschen ihre Würde, wie diffus auch immer sie verstanden wird, besonders am Herzen. Auf sie berufen sich Prominente aus Kirche, Politik und Justiz ebenso inbrünstig wie marxistische Gottesleugner, verarmte Manager, gekündigte Warenhausangestellte, muslimische Familienväter und sogar niedergelassene Ärzte: Im Streit um die 2013 fällige Honorarerhöhung geißelt der Chef einer deutschen Ärztevertretung den vermeintlichen Geiz der Krankenkassen mit dem Vorhalt, der Versuch der Kassen, die Ärzte als »Abzocker« zu diskreditieren, sei nichts weniger als »ein Angriff auf die Würde eines ganzen Berufsstandes«. Der Begriff der Würde wird hier verkürzt zum guten Ansehen eines Standes.

Die kulturübergreifende Bedeutung der Würde bestätigt die seit einiger Zeit sogar in China wieder tolerierte Anhängerschaft des Ethik-Weisen Konfuzius (um 551 bis 479 v. Chr.). »Meister Kong«, wie er auch genannt wird, verabscheute »glatte Worte und schmeichelnde Mienen«; er lehrte die eher sperrige, würdige »Schicklichkeit« im Betragen des vornehmen, des »fürstlichen« Menschen. Damit ist die gesetzte, beherrschte Anmut der Gestik gemeint, vor allem aber respektvolle, fast demütige Höflichkeit, ja Pietät. Ursprünglich eine ständische Ethik, die für das Verhalten der Bauern gegenüber ihren Lehnsherren galt, wurde der Maßstab der Schicklichkeit auf das Verhalten der Jüngeren gegenüber ihren Eltern und Lehrern und auf das Verhältnis zwischen Untergebenen und Vorgesetzten übertragen. Fürsten, Soldaten oder Bürokraten mussten sich dieses Respekts der ihnen Anbefohlenen durch unbedingte Disziplin als würdig erweisen. Konfuzius lehrte auch, man könne den Charakter eines Menschen an der Art erkennen, in der er um seine verstorbenen Eltern trauere. Dass der Tod der Eltern deren Kinder erst zu Erwachsenen werden lässt, somit ein tiefernster Lehrmeister der individuellen Würde ist, gilt ja heute noch auf der ganzen Welt.

Von der besonderen Wichtigkeit der Würde sind auch Muslime überzeugt. Der in seiner Menschenwürde verletzte Anhänger des Propheten Mohammed bekräftigt seine Verachtung des Unwürdigen, indem er auf diesen seine Schuhe schleudert – sie gelten als schmutzig, darum darf ein Muslim mit ihnen auch nicht die Moschee betreten. Als der US-amerikanische Präsident George W. Bush 2008 in Bagdad eine Pressekonferenz gibt, attackiert ihn ein irakischer Fernsehjournalist mit zwei Schuhen; sie fliegen knapp am Kopf des Präsidenten vorbei, der beide Male geschickt wegtaucht. Die Schuhe, schreit der Werfer, seien ein »Abschiedskuss« für den amerikanischen »Hund«. Am ersten Tag der ersten demokratischen Wahl, die in Ägypten im Mai 2012 abgehalten wird, gibt in Kairo auch der Ex-Premierminister Ahmed Schafiq seine Stimme ab. Er wird von Anhängern der Aufständischen mit Schuhen und Steinen beworfen. Der Begriff der Würde wird im Islam mit einer Strenge gehütet, die ihn sonst allenfalls noch im orthodoxen Judentum schützt. Zusammen mit der – unter anderem durch das rigorose Abbildungsverbot gehüteten – »Heiligkeit« des Propheten gilt auch das von ihm unmittelbar gesprochene Buch, der Koran, als »heilig«, was ein Absolutum an Würde meint, hergeleitet von dem einzigen Gott (Allah), der über jeden »Teilhaber« erhaben ist, also auch keinen »Sohn« (wie die Christen ihn in Jesus verehren) hat und auch keinen Papst als irdischen Stellvertreter dieses Sohnes anerkennt. Knapp unterhalb dieser unanfechtbaren religiösen Würde-Sphäre melden sich die Ideale »Ehre« und »Stolz« zu Wort. Die Ehre der Familie oder auch des erweiterten Clans, der Verwandtschaft, wird besonders hochgehalten, höher oft als selbst die allgemeinen Menschenrechte. Ehre und Stolz können sich aber, etwa im sogenannten Ehrenmord des Bruders an der sexuell gefallenen Schwester, entsetzlich radikalisieren. Das Menschenrecht auf Leben und auf persönliche Selbstbestimmung, elementarer Bestandteil des Würde-Kanons, wird dann im Namen der Familienehre grob missachtet. Das kann keine noch so würdige Religion dieser Welt rechtfertigen.

Duelle und andere Meinungs-Zweikämpfe

Die sogenannten Ehrenmorde im Namen der muslimischen Familien-Würde sind so absurd wie die Duelle alter Zeit, obwohl im Duell auf Leben und Tod die beiden Duellanten immerhin gleiche Chancen haben zu überleben. Jeder potentielle Täter ist ein potentielles Opfer. Das Duell wurde in Europa über Jahrhunderte, etwa nach 1700, regelmäßig als bewaffneter Streit zwischen zwei »Ehrenmännern« nach bestimmtem Ritus ausgefochten, mit zwei »Sekundanten« und einem Arzt. So manchen Prominenten hat dieser Würde-Zweikampf das Leben gekostet: 1837 ist der russische Goethe, der Dichter Alexander Puschkin, bei einem Duell getötet worden.

Dieser meist durch persönliche Beleidigungen ausgelöste, nicht immer tödliche Streitkampf um die Standesehre war sogenannten besseren Leuten wie Adligen, Offizieren oder Studenten vorbehalten. Er wurde 1871 im deutschen Reichsstrafgesetzbuch geächtet, seine Blutspur reicht aber bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Zu seinen Wurzeln gehört der gerichtlich geregelte, germanische »Zweikampf unter Freien«, vor der Christianisierung ausgetragen als »Holmgang« auf dem abgesteckten Kampfteppich, mit Stock und Schild, später mit der Schwertaxt. Floss Blut auf den Teppich, durfte nicht mehr weiter gekämpft werden.

Nachdem selbst die Sachsen und ihr Führer, das »Waldkind« Widukind, Ende des 8. Jahrhunderts bekehrt sind, werden noch lange danach mittelalterliche »Gottesurteile« gefällt: Wenn vor Gericht Aussage gegen Aussage steht, kommt es zum Zweikampf. Wer den gewinnt, der hat die Wahrheit gesagt und bekommt Recht in Gottes Namen. Man setzt voraus, dass Gott dem Unschuldigen zum Sieg verhilft. Die »Eideshelfer«, die jeder der Streitenden benötigt, sind keine Tatzeugen im heutigen Sinn. Es sind meist Freunde oder Verwandte, die den geleisteten Eid des Beschuldigten oder Klägers mit ihrem Eid bekräftigen. In einer Variante dieses Gottesurteils erhält von zwei Kontrahenten derjenige Recht, der es länger als der andere schafft, beide Arme beim Stehen vor einem Kruzifix ausgebreitet zu halten.

Im Rechtsstaat von heute sind solche »Gottesurteile«, erst recht jene Zweikämpfe zwischen Männern oder Sippen im Namen der Ehre anachronistisch, trotzdem finden diese Zweikämpfe selbst in Deutschland immer wieder statt – meist als wilde Schlägereien angetrunkener Hitzköpfe auf Hinterhöfen, Bahnhofsvorplätzen oder Parkplätzen in Supermarkt-Nähe. Dabei kann doch jeder, der sich beleidigt fühlt, im Rechtsstaat seine Ehre vor Gericht verteidigen. Das Gewaltmonopol liegt in der Hand des Staates und seiner Organe. Wer es in die eigene Faust nimmt, misstraut damit der Gerechtigkeit des Staates. Die prügelnden Sippen-Rambos, die dieses Misstrauen ausdrücken und unfreiwillig bei anderen bestärken, haben kein Problem damit, im Namen der Gesetze desselben Staates im eigenen Interesse zu prozessieren, etwa gegen die drohende Abschiebung in die Heimat. Der gerechte Staat wird zugleich demontiert und um Hilfe gebeten. Die Würde jener Würderetter, die sich in solche Widersprüche verstricken, ist selbst zweifelhaft.

Der in solchen Fällen meist auf die Anklagebank geschobene Staat gewährt schon lange nicht nur das einklagbare Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, sondern auch das Recht, nicht diskriminiert zu werden. Wer andere beschimpft, verleumdet, aus ethnischen (als »Ausländer«) oder geschlechtlichen Gründen benachteiligt oder gar »böswillig verächtlich« macht, wird straffällig, auch wenn der Oberparagraf dafür den etwas altmodischen Titel »Volksverhetzung« trägt. Zusätzliche Bestimmungen, mit denen die »Diskriminierung« von Frauen, Ausländern oder Randgruppen verhindert werden soll, werden in den Medien ständig diskutiert. Sie wären unnötig, würden die bestehenden Gesetze nur konsequent befolgt.

In den Verfahren nach bestehendem Gesetz wird längst nicht mehr, wie oft behauptet, bloß um »Peanuts« gestritten. Im Dezember 2008 spricht das Arbeitsgericht Wiesbaden einer türkischstämmigen Versicherungsangestellten eine Entschädigung von 10800 Euro zu, weil ihr nach einem Mutterschaftsurlaub eine Stelle zugewiesen wurde, die effektiv schlechter dotiert war als jene, die sie vorher erfolgreich wahrgenommen hatte. Die Angestellte klagte nicht nach dem Mutterschutzgesetz, sondern weil sie sich wegen ihrer Herkunft und ihres Geschlechts diskriminiert fand.

So mancher rhetorische Schlagabtausch in den Meinungsduellen heutiger Politiker hätte vor zweihundert Jahren einen jener legendären Pistolen-Zweikämpfe auf einer Waldlichtung bei Sonnenaufgang zur Folge gehabt. Roland Pofalla, CDU-Politiker und Chef des Kanzleramts, lässt sich im späten Frühjahr 2012 während der Debatte zu einer der vielen Euro-Rettungsmanöver zornig gehen und wirft seinem Parteifreund Wolfgang Bosbach, der gegen den Parteikonsens zickt, die auf dem deutschen Parlamentsparkett ungewöhnliche Grobheit an den Kopf: »Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen.« Im ukrainischen Parlament hätte so ein Affront Faustkämpfe unvermeidlich gemacht. Bosbach indes, der im August desselben Jahres vom SPIEGEL gefragt wird, ob jener Pofalla-Fehltritt nicht zu den »Schattenseiten der Politik« gehöre, äußert sich generös: »Ach, der arme Roland! Er stand garantiert unter einem enormen Druck« – unter dem Druck der Fraktionsdisziplin, die den Kurs der Bundeskanzlerin Angela Merkel stützen sollte.