Würde und Vergebung - Shqipe Sylejmani - E-Book

Würde und Vergebung E-Book

Shqipe Sylejmani

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Beschreibung

Alles scheint perfekt in Shotes Leben: Luan hat sich in der Schweiz eingelebt, ihr erster Roman war ein Erfolg und die Recherchen für ihren zweiten Roman stehen an. Doch dieses Glück wird auf die Probe gestellt, als Luan die Schweiz verlässt, um seinen Traum als Regisseur zu verwirklichen. Plötzlich muss sich Shote zwischen ihrem neuen Zuhause, der Schweiz, und ihrer alten Heimat Albanien entscheiden. Inmitten der Recherche für ihren zweiten Roman, reist Shote nach Kosovo, in die Türkei, nach Italien, England und in die USA, um dort die Schicksale der Menschen einzufangen, die einst ihre Heimat für eine bessere Zukunft verliessen. Nun ist es Shote, welche die Weisheiten ihrer Vorfahren anhand der lehrreichen Anekdoten, Erzählungen und Legenden in die Welt trägt.

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Seitenzahl: 362

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Würde undVergebung

Geschichten zweier welten

Shqipe Sylejmani

Deutsche Erstauflage 2022

Copyright © 2022 LIBRAS Shqipe Sylejmani www.shqipesylejmani.com

Umschlagsillustration nach einer Fotografie von Valentina Pezzo

Portrait der Autorin von Valentina Pezzo

Buchillustrationen von Stefania Pezzo

Lektorat Dr. Ruven Karr

Layout und Gestaltung: Proacteam AG

ISBN Book: 978-3-033-09223-5

ISBN eBook: 978-3-756-29468-8

http://www.instagram.com/booksbyshqipe

Für Arjeta, Lidije & Vjosa.

Für alle Frauen, die ihrem Herzen folgten

und all jenen, die den Mut beweisen,

dies auch in Zukunft zu tun.

1

Mein Großvater pflegte stets zu sagen: «Erinnerungen sind das Tor in eine andere Zeit». Er erzählte wie wichtig es sei, Momente zu schaffen und diese so intensiv wie nur möglich zu leben, zu lieben und zu schätzen. Sie zu gestalten. Denn eines Tages werde man nur noch diese Augenblicke besitzen. «Momente schenken und die erhaltenen in Ehren halten», ergänzte er dann, lächelte zufrieden und zündete sich eine Marlboro an.

Seine Worte hatten eine besondere Bedeutung für mich. Sie verankerten sich tief in mir und traten oft dann hervor, wenn sich das Leben von seiner herausforderndsten Seite zeigte.

Wie viele Kinder der Diaspora war ich es gewohnt, in Abwesenheit meiner Großeltern aufzuwachsen. Ohne ihren Beistand oder ihre Nähe, doch dafür mit Erinnerungen an sie und an die Liebe, mit der sie uns jeden Sommer begrüßten und die mich für viele Monate nach dem Besuch der Heimat nähren würde.

Ich spürte, wie Baba, so nannten wir Großvater, seine Erinnerungen wie einen Schatz hütete: Diejenigen an seine verstorbenen Eltern. Dann diejenigen an seine Kinder, die er in die Welt hinausziehen ließ. Zuletzt die Erinnerung an meine Großmutter, deren Verlust eine zu große Bürde für ihn geworden war.

Doch Momente können mit der Zeit auch schwinden und durch unsere Gedanken rinnen wie Sand durch Finger. Großvater begann zu vergessen. Und mit jedem Tag, der verging, entfiel ihm auch ein weiteres Stück seiner Lebensgeschichte.

«Manchmal werden wir vom Schicksal beschenkt und etwas geschieht, das uns ein Tor in eine andere Zeit öffnet. Deshalb musst du achtsam sein, dir die Welt einprägen und sie in dir festhalten!», sagte er einmal zu mir.

Ich war dankbar, dass Baba mir diese Sicht auf das Leben geschenkt hatte. Er hatte mir so ermöglicht, durch Dinge in eine Zeit zu fliehen, in der das Bedauern in mir, welches sich so oft im Leben bildete, nicht mehr weilte.

So wie heute, als es langsam zu regnen begann und ein Tropfen mich berührte.

Er gesellte sich zu den Tränen, die mein Gesicht wuschen, als hätte der Himmel mit mir zu weinen, zu leiden begonnen. Der Blick hinauf zeigte mir die Wolken, die sich zusammengefunden hatten, ein Trauerfest veranstalteten, und obwohl in meiner religiösen Vorstellung ein Geist in den Himmel zurückkehren würde, schien die Natur zu verstehen, welchen Preis die Hinterbliebenen für diese letzte Reise einer Seele bezahlten.

Nun war es mein Großvater, der diese Welt verlassen hatte und in den Armen Gottes aufgefangen werden würde.

***

Als ich noch ein Kind war, gab es kaum ein größeres Gefühl für mich, als wenn endlich der Tag kam, an dem wir in die Heimat fuhren. Diese Vorfreude, die nächsten fast vierundzwanzig Stunden mit der ganzen Familie in einem Auto sein zu können, den Schildern der verschiedenen Länder auf unserem Weg nach Hause zu folgen, der Abendsonne entgegenzufahren und die Sterne über all die Städte bis nach Prishtina zu begleiten, gehörte zu den schönsten Erlebnissen in meinem Leben.

Meine Mutter belud das Auto stets mit Koffern voller Kleider, Kaffee, Schokolade und Geschenke für unsere Verwandten.

Nichts war vergleichbar mit der Freude in den Gesichtern der Familie, wenn wir endlich vor ihnen standen, einander in die Arme fallen konnten und das Wenige, was wir uns in der Schweiz erarbeitet hatten, mit ihnen teilten. Wahrscheinlich empfinde ich deswegen das Beschenken von anderen als so viel wertvoller, als selbst etwas zu erhalten.

Das wahre Spektakel war für mich jedoch die Fahrt selbst. Wenn sich der Abend dem Ende zuneigte, meine Brüder und Mutter langsam ermüdeten und in den Schlaf fielen. Nur mein Vater, der die Strecke durchfuhr und nur anhielt, um sich kurz die Füße zu vertreten, und ich waren dann noch wach und füllten unsere Herzen mit den alten Melodien der Lieder über Heimat, Trauer und Verluste.

Dies waren die Stunden, in denen wir uns am nächsten standen. Ab und an, zwischen zwei Liedern, traute ich mich, Vater eine Frage zu seinem Leben vor uns zu stellen. Er sprach höchst selten darüber und verstummte immer, wenn das Thema aufkam. Doch hier, in dieser Zeitspanne, in der es nur uns zwei gab, erzählte er mir manchmal von seiner Kindheit.

Wie er und seine Freunde mit dem ersten Motorrad durch Prishtina gerast waren. Wie sie ihre Lehrerinnen und Mitschülerinnen neckten und vom Maisbrot, das im Winter auf dem kilometerlangen Schulweg gefror und kaum essbar, jedoch das Einzige war, was sie hatten.

Mein Vater und ich teilten dabei eine Liebe zur damaligen Rockmusik. Neben Künstlern wie TRIX, Minatori oder Fisniket waren Elita 5 unseren steten Begleiter auf der langen Reise. Mit den Jahren wusste ich, wann Papa langsam müde werden würde, und holte die Thermoskanne mit dem Kaffee hervor. Während er aus dem kleinen Becher nippte, suchte ich die Kassette der Band heraus, spulte sie mit dem Finger zurück, und gemeinsam sangen wir leise mit, sobald die Gitarrenklänge ertönten. Immer wenn es regnete, spulte er zu meinem Lieblingslied: «E urrej shiun» – «Ich verachte den Regen».

So fuhren wir, die Herzen voller Erwartungen darüber, wie es der Heimat im letzten Jahr wohl ergangen war, voller Hoffnung, unsere geliebte Familie wieder zu sehen und mit genügend Demut im Wissen, wie schnell die Tage vergehen würden, die Strecke zurück nach Hause, während die Regentropfen zur Melodie des Liedes auf uns herab prasselten.

***

Der Sturm hatte sich langsam gelegt, der Regen, den der Himmel an diesem Tag verlor, nässte uns bis auf die Knochen. «E urrej, shiun kur bije», «Ich verachte den Regen, wenn er fällt», hörte ich im Geiste die Stimme des Sängers. Der Wind wehte noch und wir zitterten in der späten Herbstkälte, während die Männer langsam den Holzsarg hinunter in die Erde reichten. Der Hoxha, der Imam, sprach ein letztes Gebet.

Mama legte ihre Hand auf meine Schulter und ich wollte zerbrechen: Wir hatten Großvaters letzten Wunsch nicht erfüllen können.

Baba wurde in Prishtina beigesetzt, in der Nähe meiner Großmutter, doch weit entfernt von seinen Eltern und Geschwistern, die in Medvegja ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Ich erinnerte mich daran, wie wir das letzte Mal gemeinsam in seinem alten Elternhaus gewesen waren und er mir sagte: «Ich verabschiede mich erst von meiner Heimat, wenn ich hier unter der Erde liege.»

Ich sah den Schmerz in den Augen meines Vaters, die Erschöpfung und die Rastlosigkeit. Eines Tages würde ich an seiner Stelle stehen, auf das Grab hinuntersehen und wissen, dass die Menschen, die mir das Leben geschenkt hatten, die mich in allem, was ich war und wurde, geprägt hatten, nun nicht mehr existierten.

«Möge seine Seele in Frieden ruhen.»

Die letzten Worte waren gesprochen, die Erde über ihn gelegt.

Die Familie würde zurück zur Trauerfeier bei uns zu Hause einkehren, Gäste empfangen, des Toten gedenken. Der alte Stuhl in unserer Einfahrt, der schon bei meiner Großmutter den Verlust des Familienmitglieds bekundete, wartete bereits auf uns.

***

Es war erst ein paar Wochen her, seit ich Großvater das letzte Mal besucht hatte. Wir saßen auf dem Sofa und ich legte mein Buch in seine Hände.

«Babë, das ist es. Alle Geschichten, die ich dir von unserer Reise erzählt habe, sind hier vereint mit allen Anekdoten und Märchen. Deine Geschichten auch, Babë.»

Er schaute mich voller Bewunderung an, drehte das Buch um und zog die Augenbrauen hoch.

«So dick!», sagte er erstaunt und lachte stolz.

«Ja, Babë. Du hast mir ja auch sehr viele Geschichten geschenkt. Jetzt sind sie für immer hier drinnen, damit die ganze Welt sie lesen kann.»

Er presste die Lippen zusammen und nahm meine Hand.

«Danke, Shote.»

«Es gibt nichts zu danken, Babë. Ich habe das nicht für euch geschrieben – sondern für die Welt. Damit sie sehen, lesen und fühlen kann, dass unsere Heimat etwas hat, das man ihr nicht stehlen kann. Kein Land, keine Bodenschätze oder Gelder, sondern ihre Bevölkerung. Ihre Geschichten. Unser Erbe. All das, was du mir geschenkt hast und ich nun anderen weitergeben darf. Zumindest hoffe ich, dass die Menschen die Geschichten als Gabe annehmen.»

«Natürlich werden sie das, Shote. Wieso sollten sie auch nicht?»

Großvater wusste nicht viel über das Leben in der Diaspora. Wie unterschiedlich wir alle großgeworden waren. Von den Menschen, die mit nichts kamen und alles erreichten, bis zu denen, die heute noch die Kultur von damals lebten. Wir waren als Volk in der Schweiz auf so vielen Ebenen geeint, doch vieles gab Grund, uns auseinanderzuzerren.

«Ach, mach dir darüber keine Gedanken Babë! Jetzt ist das Buch hier und, wer weiß, vielleicht gibt es irgendwann ein zweites.»

Großvater zog an seiner Marlboro und ließ sie im Mund, während er in meinem Buch blätterte und auf der letzten Seite seinen Namen erblickte. Er lächelte und schüttelte den Kopf.

«Alles, was du dein Leben lang erduldet hast, hat dich hierhin geführt, Shote. Ich glaube nicht, dass deine Geschichte hiermit schon endet. Du etwa? Was hält dich davon ab, weiterzuschreiben?»

«Ich weiß es nicht, Babë. Vielleicht die Angst, nicht an dieses Buch hier anknüpfen zu können.»

«Ach, meine Kleine, lass mich dir etwas über die Angst erzählen.» Und Baba erzählte mir seine letzte Geschichte.

Die Angst vor dem Tod

Ein Maurer hatte beschlossen, das Minarett seiner Moschee zu restaurieren, da das heilige Gebäude schon in die Jahre gekommen war und langsam zerfiel.

Ein junger Mann ging am Minarett vorbei und sah den Maurer seine Arbeit verrichten. Er wünschte ihm gutes Gelingen und fragte, ob er sich denn nicht fürchte, so hoch oben zu arbeiten.

«Ich habe mich daran gewöhnt, und jetzt macht es mir nichts mehr aus», antwortete der Maurer.

Der junge Mann hakte nach:

«Das ist bewundernswert! Ist denn dein Vater nicht auch Maurer gewesen und beim Sturz von einem Minarett ums Leben gekom­men?»

Der Maurer dachte über diese Worte nach und fragte zurück:

«Junge, wie ist denn dein Vater gestorben?»

«Er ist friedlich in seinem Bett eingeschlafen», antwortete der junge Mann.

«Und du traust dich nach wie vor, jeden Abend in einem Bett zu schlafen?»

Dieser verstand die Anspielung und entschuldigte sich. Der Maurer gab ihm einen Rat mit auf den Weg:

«Angst ist eine Notwendigkeit des Lebens, um uns vor Gefahren zu schützen. Doch wer in ihr lebt, wird sein Leben lang gelähmt sein. Nur eines sollte man nicht vergessen: Man darf der Angst kein Freund sein, denn je öfter man sie reinlässt, desto öfter klopft sie an der Tür.»

«Und aus diesem Minarett ruft fünfmal am Tag der Imam deine Onkel, Tanten und Cousinen wie Cousins in Hajvali zum Gebet auf», beendete Großvater seine Geschichte. Ich musste beim Gedanken an die Moschee lächeln, denn ich teilte unendlich viele Erinnerungen an die Momente, in denen der Imam sein Gebet gesungen hatte.

«Rauchst du eine Zigarette mit mir, bevor du gehst?», meinte Baba und reichte mir eine. Mein Cousin saß neben uns deutete mir an, dass ich dem alten Mann keinen Wunsch mehr abschlagen solle.

Ich nahm die Marlboro und zündete sie an.

«Babë, habe ich dir je von dem Hirten erzählt, der mir eine Geschichte über das Rauchen überlassen hat?»

«Nein, mein Engel, aber jetzt kann ich sie hier lesen», und er zeigte auf mein Buch. «Auf dass deine Geschichten niemals enden!», sagte er und stieß mit seiner Zigarette die meine an.

Es war das letzte Mal, dass ich Baba sehen sollte.

2

Ich zog die Tür zu und schaute zu dem Taxifahrer nach vorn. Er lächelte müde und fragte, wohin er mich fahren dürfe. Ich erklärte ihm den Weg zu unserem alten Haus, wie ich es in Prishtina immer tat: «Wissen Sie, wo früher der BMW-Service war? Dort bei der Verzweigung nach rechts, und ein paar hundert Meter weiter vorne ist es gleich!»

«Beim EULEX? Ja, natürlich! Eh, den BMW-Service, das habe ich schon lange nicht mehr gehört! Sie sind wohl nicht von hier?», antwortete er und drehte sich kurz zu mir um. Seine Augen strahlten eine solche Güte aus.

«Sie haben mich ertappt!», sagte ich und erzählte ihm, dass ich aus der Schweiz zu Besuch in den Kosovo gekommen war. Ich erwähnte das Ableben meines Großvaters als Grund des Besuchs bewusst nicht, da ich noch nicht in der Lage war, die Beileidsbekundung eines Fremden zu ertragen.

«Wie wundervoll, dass Sie hier sind! Gefällt es Ihnen, zurück in der Heimat zu sein?»

Ich versuchte zu lächeln und nickte.

Die Stadt, die während der Fahrt an mir vorbeizog, wurde samt ihrer Bevölkerung immer grösser. Seit Jahren strömten die Menschen in die Hauptstadt und verwandelten Prishtina in eine Metropole des Balkans. All dies hinterließ seine Spuren.

«Nur eines stört mich hier immer wieder. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte niemandem etwas unterstellen oder behaupten, dass es in der Diaspora perfekt ist. Doch dieses Land ist unser Zuhause. Unsere Erde. Wenn ich auf die Stadt blicke, Plastikflaschen oder Abfall am Boden sehe, dann bricht es mir das Herz. Ich möchte nicht theatralisch klingen, doch für diesen Boden haben Menschen ihr Leben gelassen. Für dieses Land haben Menschen im Krieg gekämpft. Damit wir frei sein können. Um diesen Boden, diese Erde, zu ehren. Doch so behandeln wir sie.»

Der Taxifahrer wurde langsamer und blinkte, damit er am Straßenrand anhalten konnte. Plötzlich überkam mich eine Scham, dass ich die Unterhaltung losgetreten hatte – was fiel mir nur ein?

Der ältere Mann drehte sich zu mir um, und bevor ich die Worte fand, um mich entschuldigen zu können, hatte er seine Brieftasche hervorgeholt und zog ein Bild heraus.

Seine Augen waren mit Tränen gefüllt, als er mir das Foto reichte. Es war er, als junger Mann in einer Soldatenuniform.

Daneben stand ein anderer junger Mann, um den er den Arm gelegt hatte.

«Ich habe für die Freiheit unseres Volkes gekämpft – für diesen Boden und dieses Land. Mein kleiner Bruder hier», er zeigte auf den jungen Mann, der mir voller Willensstärke entgegenlächelte, «er hat für all dies sein Leben gegeben.»

Der Mann räusperte sich, doch sein Schmerz stürzte von Tränen begleitet aus ihm heraus. «Zweiundzwanzig Jahre alt war er. Hinterließ Frau und ein Mädchen. Statt ihn beschützen zu können, habe ich ihn sterben sehen, habe ihn und unsere Freunde sich aufopfern sehen und meiner Mutter erklären müssen, dass wir ihren Sohn zu Grabe getragen haben, ohne genau zu wissen, wo in diesen Wäldern er heute ist. Ohne dass sie je Abschied nehmen konnte.»

Der Mann vor mir hatte nichts von dem stattlichen Mann, den ich auf dem Foto erkannte. Als hätte er meine Gedanken lesen können, sagte er: «Mit wie viel Mut und Kraft wir diese Erde verteidigt haben. Doch trotz des Sieges sind selbst die Stärksten unter uns an dem Erlebten zerbrochen.»

Seine Worte holten etwas längst Verdrängtes in mir hervor und ich konnte nicht anders, als wie er die Tränen loszulassen. Ich wusste nicht, wie ich ihm gebührend für seine Opfer und seine Taten danken sollte.

«Ich war damals kaum achtzehn Jahre alt, als ich nach Albanien flüchtete, nachdem man mich als Soldat für den Krieg in Bosnien einberufen hatte. Man inhaftierte meinen Vater, prügelte ihn fast zu Tode und schickte ihn gebrochen wieder in unser altes Haus zurück, als er ihnen meinen Fluchtort nicht verriet. So erging es damals so vielen von uns, die sich weigerten, ins Militär einzurücken. Es hat unsere Familie zerrissen, und jahrelang konnte ich nicht in die Heimat zurückkehren. Erst als der Krieg im Kosovo ausbrach, die Menschen vor den Massakern flüchteten, entschloss ich mich, an der Seite meiner Brüder mein Land zu verteidigen.»

Wir kamen bei mir zuhause an und der Mann beendete seine Geschichte damit, dass sein Bruder fiel, mit dem Ende des Krieges und der Rückkehr in eine ungewisse Zukunft.

«Viele von uns haben vergessen, was wir für diese Freiheit alles geopfert haben. Jeder ist gebeutelt vom Leben, in einem Land, das kaum eine Perspektive bietet. Seien Sie froh, können Sie nach Ihrem Urlaub wieder weg.»

Einen Moment lang saßen wir beide da, sagten nichts und der Mann schüttelte den Kopf. Ich musste unweigerlich an die Geschichten meiner Onkel denken, die ebenfalls an der Front gekämpft hatten. Ich spürte die Erinnerungen an diese Zeit hochkommen und mit ihnen all das Leid, das mit den lange verdrängten Gedanken verbunden war.

Ich nahm meine Brieftasche hervor und wollte für die Fahrt ein Vielfaches des Preises bezahlen, doch der Fahrer lehnte vehement ab.

«Nein, nicht dafür», sagte er beschwörend.

«Es gibt nicht genug Geld, nicht genügend Worte oder Taten, um Ihnen für Ihre Tapferkeit und Ihren Dienst zu danken. Wenn ich daran denke, wie wir in der Schweiz all dem entkommen sind, ist es das Mindeste, was wir Ihnen allen hier schulden», versuchte ich meine Gefühle zu beschreiben und wusste nicht, ob ich respektlos erschien, etwas mit Geld bezahlen zu wollen, das seinem Opfer niemals gerecht werden würde.

Da saßen wir nun, zwei Fremde bei ihrer ersten Begegnung, und versuchten, den Sinn all dessen zu verstehen.

Plötzlich erwiderte er: «Zojë, wir haben alle unseren Beitrag geleistet. Ich habe unser Land im Krieg, auf den Straßen und in den Wäldern verteidigt, mit dem Gewehr in der Hand. Doch dieses Gewehr wurde mit den Mitteln finanziert, die unter anderem Menschen wie Sie, Ihre Eltern und die restliche Diaspora uns ermöglicht haben. Gott allein weiß, wie oft Sie alle den letzten Euro gewendet haben, bevor sie ihn ausgaben, nur damit ein weiterer für uns gespendet werden konnte. Wie oft Ihre Eltern hungrig ins Bett gingen, um nur einen weiteren Euro für die Spenden in die Heimat zu sparen. Wie sie gebeutelt von der Angst, nie wieder die Familie zu sehen, wieder aufstanden, um in eine Telefonkabine in der kosovarischen Heimat anzurufen, in der Hoffnung, irgendjemand würde den Hörer abheben und erzählen, dass es allen gut ging. Doch es läutete ins Leere.»

Er machte eine kurze Pause und schloss:

«Wir haben alle unseren Preis für diese Freiheit bezahlt. Jeder auf die Weise, wie er es konnte. Auf die Art, die uns ermöglicht wurde.»

Seine Demut schmerzte mich, denn wir wussten beide, welche Bürde schwerer wog.

«Sie erzählen dies, als ob Sie mit uns gemeinsam die Nächte durchgemacht hätten, in denen wir fast umkamen vor Verzweiflung. Als Beten das Einzige war, was uns noch blieb», sagte ich, überwältigt von meinen Gefühlen.

«Ich glaube, es gibt keinen Menschen in ganz Kosovo, der nicht einen Verwandten in der Diaspora hatte, der dies durchmachen musste.»

«Das könnte tatsächlich sein», gab ich zu, und wir beide fanden zu einem Lächeln, obwohl die Tatsache, dass ein so großer Teil der Bevölkerung auf der ganzen Welt verstreut war, so schmerzhaft wie die Situation selbst war.

«Gott sei Dank, dass Sie es damals nach Hause geschafft haben und dass Ihre Familie Sie wohlauf zurückerhalten hat. Jetzt müssen Sie nur noch den Verkehr in Prishtina überstehen, denn der scheint mir eine Gefahr für sich zu sein!»

Der Mann musste lachen und nickte. «Wir haben es halt alle eilig, und anders kommen wir kaum auf ein anständiges Einkommen», erzählte er und erinnerte mich an die Geschichte eines Gesprächs mit Großvater vor einem Jahr.

«Darf ich Ihnen, bevor ich gehe, noch eine Geschichte erzählen?», fragte ich und teilte das Erbe, das Baba mir hinterlassen hatte.

Über die Eile

Es war einmal ein Mann, der einen kleinen Stand am Bazar hatte und dort sein Gemüse verkaufte. Er war gerade zum ersten Mal Vater geworden, und als sich der Abend näherte und es langsam dunkel wurde, machte er sich auf den Nachhauseweg, um seinen Sohn vor dessen Schlafenszeit zu sehen.

Sein Weg führte am See Sateska vorbei.

Der Mann erblickte den gewaltigen See, den eine Eisschicht bedeckte. In seiner Eile entschloss er sich, diesen zu überqueren, voller Sehnsucht nach seinem Neugeborenen.

Doch nur einige Meter vom Ufer entfernt sollte das Eis einbrechen, und der Mann versank in den Tiefen des eisigen Wassers, wo der Tod ihn bereits erwartete.

Viele Jahre später feierte sein Sohn seinen Geburtstag. Die Mutter hatte nie ein Wort über das Ableben ihres Mannes verloren, und so wünschte er sich einzig, die Wahrheit über seinen Vater zu erfahren.

Schweren Herzens kam sie seinem Wunsch entgegen und berichtete, wie ihr geliebter Ehemann umgekommen war und man erst im nächsten Frühling seinen leblosen Körper aus dem See habe bergen können.

«Hat es denn keinen anderen Weg nach Hause gegeben?», fragte der Sohn.

«Doch, den gab es. Der andere Weg war jedoch viel länger und er wollte nicht zu spät zu dir kommen.»

«Aber wäre er den anderen Weg gegangen, wäre er dann bis heute angekommen, so dass ich zumindest jetzt mit ihm zusammen sein könnte?»

«Die Moral von der Geschichte ist: Ihre Kinder möchten Sie lieber später oder mit weniger Einkommen bei sich haben als gar nicht», schloss ich.

Der Fahrer nickte und dankte mir für die Anekdote. Es war ein Geschenk, die Geschichten auf diese Art weiterleben zu lassen, besonders an diesem Tag.

«Wissen Sie, ich glaube, dass einem Menschen nie zufällig begegnen», und er zeigte auf seine Uhr. «Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, für heute Schluss zu machen und zu meiner Familie zurückzukehren. Ich danke Ihnen für Ihre Gesellschaft, Zojë.»

«Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre – möge Gott Sie schützen», sagte ich und verabschiedete mich.

Der Schmerz nagte immer mehr an mir, als ich das Gespräch Revue passieren ließ und die Holztreppen zu unserem Haus hinaufstieg.

Die Zeit, in der wir aus der Ferne fassungslos dem Ende unseres Volkes entgegensahen, war nicht weit entfernt. Immer wieder war ich erstaunt, mit welcher Kraft die Menschen in der Heimat ihr Leben wieder zurückerobert hatten und bis heute alle Krisen bewältigten. Ich trug eine immense Bewunderung für sie in mir, und gerade in Momenten wie während der Fahrt spürte ich auch, welche Schuld in mir wach wurde.

Damals waren wir all dem entkommen. Doch heute fühlte es sich oft so an, als würde ich mit jedem Zurücklassen der Heimat auch die Menschen und das Land aus meinen Gedanken verbannen.

Die Liebe und Treue, die mich mit dieser Erde verbanden, waren Teil von mir, meiner Identität. Hier allein konnte ich mich immer wieder von Neuem finden. Hier fand ich eine Liebe, die durch nichts ersetzt werden konnte. Hier war ich ein Stück der Geschichte.

Das Opfer, welches die Menschen hier für die Freiheit erbracht hatten, würden wir niemals ermessen können, wir würden ihm nie gerecht werden. Doch wir konnten versuchen, einen Beitrag zu leisten. So, wie wir es damals getan hatten.

3

Regentropfen prasselten gegen die Fenster und ließen sie erzittern. Die alten Rahmen, deren Holzspäne wir Kinder früher zum Vergnügen abgerissen hatten, schienen dem gewaltigen Sturm draußen nicht standhalten zu können und sie bebten bei jedem Donnerschlag. Genau in diesen Augenblicken leuchtete die Stadt auf, und für eine Millisekunde war Prishtina zu sehen, die Lichter der immer größer werdenden Hauptstadt, die Gebäude, die zum Himmel ragten, und die wenigen alten Häuser, die ihr noch geblieben waren. Nun versanken sie im Schatten der modernen Neubauten, dem «neuen» Prishtina.

Auch unser Haus würde all dem weichen müssen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein würde, nach Kosovo zu reisen und nicht hierhin kommen zu können. Nicht unter dem Dach zu schlafen, unter dem ich nach meiner Geburt mein erstes Zuhause fand. Zwischen den alten Wänden, die so viel Freude, Trauer, neues Leben und alte Geister hier behalten hatten.

Seit Großvaters Tod waren sechs Monate vergangen und ich war bereits wieder in meine Heimat zurückgekehrt. In den letzten beiden Jahren hatte ich immer mehr die Sehnsucht verspürt, hierher zu kommen, und selbst die Trauer über den Verlust Großvaters, die mich immer wieder zu zerreißen drohte, fühlte sich in unserem alten Zuhause wie ein Sturm an, der sich hier endlich langsam zu legen begann.

Ich lag im Bett, drehte mich auf die andere Seite und schaute auf die Uhr. Sie zeigte mir ein kleines Zeichen des Schicksals an, das mir seit Wochen immer wieder begegnete: 02:02.

Davor waren viele Jahre vergangen, ohne dass ich an die Zeit dachte, in der diese Zahl mir etwas bedeutet hatte.

Bewusst versuchte ich, meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken: Ich war in Prishtina und es warteten anstrengende Tage auf mich: Lesungen und Interviews, meine Familie, Freunde und Bekannte – und ihre Gedanken und Meinungen über mein Buch.

Mein Buch.

Es gab Momente, in denen ich vergaß, dass dies alles tatsächlich passiert war. Dass ich die Reise mit dem Notizbuch meiner Großmutter als Roman veröffentlicht hatte. Was einst mit einem Scherz meiner geliebten Freundin Hava begann, hatte ein Ausmaß angenommen, das ich nie erwartet hätte. Kaum war der Roman auf Deutsch veröffentlicht worden, wurde er ins Englische und ins Albanische übersetzt. Die Veröffentlichung der beiden Werke stand in den nächsten Wochen an, und als ob dies nicht genug wäre, arbeitete ich bereits an der Fortsetzung meines Buches – denn wie Großvater es so schön vorausgesagt hatte: Es war noch längst nicht alles erzählt.

Doch die wohl schönste Fügung erfuhr ich mit Luan: Er war dabei, den Film zum Buch zu drehen.

Die letzten beiden Jahre waren wie im Flug vergangen, doch ich würde den Moment am Grab meiner Großmutter niemals vergessen. Ihr «Amanet», der letzte Wille, wie wir ihn nannten, war ein Wendepunkt in meinem Leben gewesen. Sie hatte mir die Freiheit geschenkt, zu meiner Heimat zurückzufinden. Zu mir zu finden. Mich dem Leben zu öffnen.

Ihre Hand hatte mich nicht nur durch all die Orte und die wunderschönen Landschaften geführt, sondern auch zu den Menschen, die mein Leben bereichern sollten.

Ein Ast schlug gegen das Fenster und riss Luan aus dem Schlaf. Er erschrak und schaute zu mir, zog mich zu sich und hielt mich fest.

«Hast du Angst?»

«Ein bisschen», antwortete ich leise, obwohl wir allein in dem alten Haus waren.

«Denk nicht daran. Denk an etwas Schönes», sagte er mit noch geschlossenen Augen und gähnend, «an die nächsten Tage, die auf dich warten. Stell dir vor, dass jedes Donnern wie das Blitzen der Kameras wird, die dich bei deinen Interviews fotografieren werden.»

Ich musste lachen – Luan würde das erste Mal an einer Lesung im Kosovo sein und ich fand seine Vorstellung davon amüsant.

«Nicht ganz, zemer. Aber ich freue mich auf den Abend der Lesung – auch wenn ich wahnsinnige Angst davor habe, was die Menschen denken werden.»

«Wieso sagst du das, Shote?»

«Ach, ich weiß auch nicht. Ich habe über etwas geschrieben, das ich so idyllisch erlebt habe, und dann über das Leben als Albanerin in der Schweiz. Was, wenn ich jemandem zu nahe getreten bin? Wenn ich jemanden mit meinen Worten verletzt habe? Oder noch schlimmer: wenn es den Menschen nichts bedeutet? Ich wollte einen Teil meiner Kultur teilen, doch was, wenn ich damit jemanden enttäusche?»

«Ach, mein Engel», sagte er und küsste mich auf die Stirn, «die Menschen werden in deinem Buch das finden, was sie suchen. Und was deine Bedenken angeht – ich glaube, ich kenne da eine sehr passende Geschichte.

Der fremde Wille

Ein Vater und sein Sohn wollten ihren Esel verkaufen und machten sich auf den Weg in die Stadt, die einige Kilometer weit entfernt lag.

Auf dem Weg begegnete ihnen eine Gruppe junger Mädchen. Beim Vorbeigehen hörten sie, wie eines der Mädchen sprach:

«Seht euch nur diese Bauern an! Sie laufen neben dem Esel her, dabei könnte der Junge ja auf ihm reiten! Wie traurig, dass der Alte ihn nicht lässt!»

Der ältere Mann war erstaunt, er wollte den Esel nicht überlasten, doch nach diesen Worten bat er seinen Sohn, auf den Esel zu steigen.

Etwas später liefen die beiden an einer Gruppe älterer Männer vorbei. Plötzlich hörten sie einen von ihnen rufen:

«Eh bre! Hier seht ihr nun, was ich immer predige: Die Jungen haben keinen Respekt mehr vor den Älteren! Seht euch diesen Faulpelz von einem jungen Mann an, der auf dem Esel reitet, anstatt dass er seinem armen alten Vater den Platz lässt!»

Der Junge stieg sofort vom Esel ab und half seinem Vater hinauf.

Ein paar Kilometer weiter passierten sie eine Gruppe älterer Frauen. Als eine von ihnen sie erblickte, rief sie: «Kuku, seht euch nur den alten Mann an. Wäre er weise, ließe er ein wenig Platz für seinen Sohn, so dass beide reiten können! Doch nicht jeder ist mit so viel Gutmütigkeit gesegnet!», meinte sie. Der Vater rutschte daraufhin nach vorne, so dass sein Sohn hinter ihm Platz nehmen konnte.

Sie waren fast bei der Stadt angekommen, als sie an einem alten Mann vorbeigingen. Dieser schüttelte den Kopf und meinte: «Ihr kümmerlichen Menschen, seht doch nur, was ihr dem armen Tier antut! Gott sieht alles! Anstatt dass ihr den armen Esel auf euren Schultern tragt, habt ihr euch wie Könige auf ihn gesetzt – schämen solltet ihr euch!»

Der Vater und sein Sohn hörten auch auf den alten Mann, nahmen ein Seil und banden sich den Esel um ihre Schultern. So trugen sie ihn bis in die Stadt.

Auf der Brücke, die zum Stadttor führte, sahen die Bewohner den alten Mann und dessen Sohn den Esel mühselig herumtragen. Ihr Gelächter und Geschimpfe waren so laut, dass der Esel erschrak, sich vor lauter Herumzappeln von seinen Fesseln löste und von der Brücke in den Tod fiel. Mit leeren Händen kehrten die beiden nach Hause zurück.

Als die Ehefrau des Alten ihre Geschichte hörte, sprach sie: «Das soll euch eine Lehre sein: Andere bringen kein Brot auf deinen Tisch, also höre auf ihre Meinung nicht!»

«Und die Moral von der Geschichte ist: Du wirst es nie allen recht machen können. Es wird immer Menschen geben, die nur Fehler in deiner Arbeit entdecken, doch das darf dich nicht daran hindern weiterzumachen. Du hast etwas geschaffen, das für dich einen unermesslichen Wert hat. Etwas, das so vielen Menschen ein Stück ihrer Heimat geschenkt hat. Also trag die Geschichten deiner Großeltern mit Stolz in diese Welt – denn sie haben alles dafür geopfert. Und du hast das auch.»

Luan hatte mich durch die Hölle gehen sehen, bis das Buch endlich in den Regalen der Schweizer Buchhandlungen stehen durfte, und er hatte mit mir gemeinsam die letzten zwei Jahre durchgestanden.

«Ach, Luan. Ich wüsste nicht, wo ich ohne dich wäre.»

«Wahrscheinlich noch immer in dem Café in Tirana, wo Hava noch heute von der Schriftstellerin erzählen würde, die eines Tages ein Stück albanische Kultur in die Welt hinaustragen würde. Oder du wärst von Rebellen entführt und verkauft worden!»

Luan lachte laut über seinen eigenen Scherz und umschlang mich innig.

«Gott sei Dank aber hast du mich gefunden», sagte ich lachend und küsste seine Hand, die mich seit unserem Entschluss, gemeinsam die Zukunft zu bestreiten, eng bei sich gehalten hatte.

4

Wir liefen den steilen Hang hinauf, und während Luan mit seiner Kamera Bilder der beeindruckenden Landschaft festhielt, gesellte ich mich zu den beiden jungen Frauen, die mich hierhin geführt hatten.

Der Frühling gab sich langsam zu erkennen und es war schön zu sehen, dass der Regen der letzten Tage den Boden genährt hatte, so dass die Bäume bald schon ihre Blüten präsentieren durften. «Me bereqet», beschrieb dies eine Freundin. Der Ausdruck, der mit «segenreich» übersetzt werden konnte, ließ selbst etwas Lästiges, Unschönes oder Störendes als einen Segen erscheinen.

«Die armen Reben!», meinte Erisa, die kurz stehenblieb, schnaufend ihre Sonnenbrille herunternahm und auf die Felder voller Trauben blickte, für die der vermeintlich segenreiche Regen eher einen Sturm der Verwüstung darstellte.

Erisa band ihre langen dunklen Locken zusammen und schaute in die Wälder, die uns umgaben. Ihre so sanfte Schönheit passte an diesen Ort: wie ein ständig wechselndes Spektakel, von dem man die Augen nicht abwenden konnte.

«Sind wir bald da, Janina?», fragte sie ihre Kollegin, die sich hier bestens auszukennen schien und bereits weit vor uns den Hang bestiegen hatte.

Janina lief weiter auf das Haus zu, das langsam sichtbar wurde, und winkte uns zu ihr. Ich schaute zu meinen Begleitern und lächelte. Das Schicksal meinte es gut mit mir.

***

Janina und Erisa hatten unverhofft in mein Leben gefunden. Die Anfragen aus aller Welt schienen mich zu überwältigen, und ich suchte Hilfe, auf die ich mich verlassen konnte. In meinem Leben hatte ich schon früh gelernt, dass eine Arbeit, die auf wundersame Weise erfüllt werden soll, in die Hände einer vielbeschäftigten Frau gelegt werden muss. Und ich hatte das Glück, gleich zwei davon zu finden.

Janina und Erisa hatten ihre eigene PR-Agentur in Prishtina aus dem Nichts aufgebaut und trotz aller Widrigkeiten und Herausforderungen, die sie mit Anfang zwanzig in einer von Männern dominierten Welt erfahren hatten, zählte ihre Agentur mittlerweile zu einer der erfolgreichsten in ganz Kosovo.

«Eine unscheinbare, aus dem Beton ragende Pflanze, die mächtige Wurzeln schlug und als Baum mit imposanter Krone in den Himmel hinaufreichte», umschrieb Janina poetisch ihre Firmengründung. Ihr Team aus fast fünfzehn jungen Frauen strahlte eine ungeheure Energie aus, als ich sie in ihren Räumlichkeiten im Dardania-Viertel in Prishtina besuchte.

Sie hatten Pläne und Ziele vorbereitet, stellten mir ihre Strategie vor und wie alles umgesetzt werden würde. Sie nahmen mir eine Last von den Schultern und verwandelten sie in eine Vision, die wir gemeinsam angehen konnten.

«Du sagst uns, was du brauchst, den Rest erledigen wir», beendete Janina ihre Präsentation, und ich war eingenommen von ihrem faszinierenden Organisationstalent. Janina schien sich nicht darum zu kümmern, welche bewundernden Blicke sie begleiteten. Sie strahlte eine solche Kraft aus, als ob sie mit nur einem Fingerschnippen die ganze Welt verändern könnte.

Eine Welt, die sich so sehr von dem unterschied, was wir in der Schweiz kannten. Die Zeiten, in denen im Kosovo die jungen Frauen einen Mann an ihrer Seite benötigten, um ihren Weg zu gehen, gehörten der Vergangenheit an. Janina und Erisa waren nur zwei Beispiele, die mir seit der Veröffentlichung des Buchs an bereichernden und erfolgreichen Frauen im Kosovo begegnet waren. Diese Entwicklung wuchs sich in immer größere Sphären aus und es inspirierte auch mich, wie die Beiden diese Unabhängigkeit vorlebten.

Betrachtete ich das Leben im Kosovo heute, fragte ich mich oft, ob wir als Diaspora nicht zu kurzsichtig gehandelt hatten. Ob wir den Menschen zwar in gutem Willen geholfen, sie jedoch zugleich auch gebremst hatten, indem wir die Flucht in ein vermeintlich besseres Ausland als einzige Lösung aus der Armut demonstrierten. Ich hatte in der surrealen Vorstellung gelebt, die Diaspora sei heute noch der lange, starke Arm des Kosovos, der dem Land sein Überleben sicherte. Ich hatte es verpasst zu erkennen, dass das Potenzial des Landes genau diese jungen Menschen waren, die nicht allein von vermeintlich Unerreichbarem träumten, sondern mit Fähigkeiten, Strategien und Wissensdurst nach diesen sehr wohl erreichbaren Zielen griffen, indem sie ihre eigenen Geschäfte aufzogen und damit so viel Licht, Hoffnung und Chancen zurück in ihr Land holten.

Diese Generation erhielt nicht die Hoffnung an eine bessere Zukunft im Ausland am Leben, nur um sich dort eine beständige Zukunft aufzubauen. Sie hatten das Beste genau hier gefunden.

Auch wenn die Diaspora heute mit Investitionen in die Heimat auch weiterhin einen wertvollen Beitrag zu all dem leistete, waren es die Menschen im Kosovo, die jede Möglichkeit, die sich ihnen bot, ergriffen und selbst aus dem hoffnungslosesten Projekt mit Können und Gewieftheit etwas zum Erstrahlen brachten. Diese Generation von jungen Menschen bestand aus Freiheitskämpfern, globalen Botschaftern der Fähigkeiten dieses Landes und unerschrockenen Unternehmern – denn sie waren die Samen der einst im Krieg Begrabenen und waren herangewachsen zu Menschen, die sich nichts mehr nehmen ließen. Es machte mich besonders stolz zu erkennen, dass zuvorderst an dieser Front die Frauen standen.

Erisa schnappte sich nach meiner Zusage zur Zusammenarbeit eine Flasche Roséwein und hielt mir und Janina je ein Glas entgegen.

«Lasst uns gemeinsam die Grenzen des Möglichen sprengen – gëzuar!», rief sie.

Darauf stießen wir an.

***

Die Holzhütte vor uns hatte kaum etwas von den lieblich-romantischen, perfekt bemalten, grünen Fensterläden mit eingekerbten Herzen, wie ich sie aus der Schweiz kannte, wo die Tische mit edlen Edelweiß-bestickten Tüchern gedeckt waren und der Duft des Käsefondues einem die Sinne beflügelte. Ich musste lächeln: Selbst nach all dieser Zeit unterließ ich es noch immer nicht, diese zwei Länder zu vergleichen.

Wir traten hinein und wurden von einer wohligen Wärme empfangen, die durch das lodernde Holz im Kamin ins Haus gefunden haben musste. Ich stellte mich vor diesen und genoss das Kribbeln auf meiner Haut, die von der Frische draußen gekitzelt wurde, während sich die anderen bereits einen Platz gesucht hatten und die Speisekarten studierten.

Ich ließ sie gewähren und wusste, Erisa und Janina würden wie gewohnt einige Menüs zusammenstellen. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich Luan seine «Vorspeisenparty» erklärten hörte – manche Dinge änderten sich, zum Glück, nie.

Am Tisch setzte ich mich zu Luan, lehnte meinen Kopf an ihn, während er seinen Arm um mich legte. Ich hatte seine Nähe in den letzten Wochen vermisst.

«Wie lange seid ihr beiden schon ein Paar?», fragte Erisa und schenkte vom Weißwein «Gresa» ein, dessen Trauben hier in Suharekë wuchsen.

Die Region war bekannt für ihren vorzüglichen Wein und ich genoss das Stück Kultur, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde, so dass eine Tradition entstehen konnte, deren Ergebnis ich nun selbst, weit entfernt von meiner Heimat, erleben konnte.

«Bald sind es schon zwei Jahre», antwortete ich und schaute zu ihm hoch. «Auch wenn die Zeit es nicht immer nur gut mit uns meinte, hat er es tatsächlich schon so lange mit mir ausgehalten», ergänzte ich, und wir stießen mit Luan auf die schönen und doch so fordernden Jahre an.

Luan hatte das für mich größte Opfer erbracht, das ich mir vorstellen konnte: Er hatte seine Heimat für mich verlassen.

***

Kaum war ich damals zurück in die Schweiz gekehrt, vermisste ich Luan bereits. Ich wusste damals, dass die Suche nach meinem Glück noch nicht abgeschlossen war, doch die Sehnsucht nach ihm, nach der gemeinsam erlebten Zeit, wurde immer größer. Ich reiste kurz darauf wieder zu ihm nach Tirana, dann nach Prishtina, wo er mich besuchte. Und schließlich, nach einem halben Jahr, fragte ich ihn, ob er zu mir kommen wolle. Ob er sich diese Zukunft mit mir in der Schweiz denn vorstellen könne.

Es war das schönste «Ja», das ich jemals gehört hatte!

Die Vorstellung, ein Leben ohne ihn zu führen, setzte mir zu, doch Luan seiner Heimat nachtrauern zu sehen noch weitaus mehr.

Es hatte sich vieles verändert in der Schweiz, seit ich Jahre zuvor in Ämtern für meine Eltern übersetzen ging. Nun boten ihm Informationsblätter auf Albanisch die Antworten auf all seine Fragen. Nur wie er den Schmerz verdauen konnte – das vermochten sie nicht.

Es half nicht, dass meine Familie unser Zusammenkommen für zu überstürzt hielt, das Zusammenziehen zu verfrüht. «Du bist nicht verheiratet, Mädchen. Was …», meine Mutter stockte zuerst, bevor sie die Frage zu Ende stellte. Doch ich wusste, welchen Ausgang ihre Worte finden würden.

«Was, wenn er dich nur als Ticket aus Albanien sieht? Und in fünf Jahren, wenn er die Papiere hat, dich fallen lässt?»

Sie war nicht die Einzige, deren Gedanken sich um diese Sorge drehten. Auch meine Freunde schienen diese Bürde zu tragen. Und all der Frust, der bei uns abgeladen wurde, fand sich in Luans Unsicherheit wieder. War er auf dem Papier zwar willkommen, schien die Gesellschaft ihn nicht aufnehmen zu wollen.

Integration hatte für mich immer einen bitteren Beigeschmack gehabt. Wir, die mit nichts außer dem, was wir bei uns trugen, in die Schweiz kamen, sollten dankbar sein, überhaupt eine Arbeit hier zu finden. Ich musste einsehen, dass selbst dreißig Jahre später die Tore zur Aufnahme in diese Gesellschaft fast undurchdringbar waren.

Luan hatte Mühe, sich einzugliedern, trotz seiner Fähigkeiten, trotz seiner Kenntnisse. In einem Lager fanden wir eine Arbeit als Logistiker für ihn.

«Für eine kurze Zeit», versprach ich, in der Hoffnung, dass diese als Schutz gedachten Worte mein Gewissen nicht auffressen würden.

Doch Luan kämpfte sich durch.

Und ließ er mich doch seinen Kummer nicht sehen, so spürte ich ihn mit jeder Berührung. Nach meinen Eltern war er der Nächste, der für mein Wohl, für meine Zukunft, das ihm Wertvollste aufgegeben hatte, das er besaß – seine Heimat.

Die Tage verstrichen, aus «für eine kurze Zeit», wurde sein nüchterner Alltag. Und während ich mit Presseterminen und Aufträgen meinen Traum erfüllte, stand er mir bei. Doch sein Leben hatte sich meinetwegen gewendet: Vom freien Menschen, dem alle Türen offen gestanden waren, war er nun nur noch eines – mein Begleiter. Seine Wünsche und Visionen hatten einem Gabelstapler, Helm und Sicherheitsschuhen weichen müssen.

Ich dachte bei mir, dass, wenn selbst all dies uns nicht zerstört hatte, wir für immer bestehen würden, jede Hürde nehmen könnten.

Doch so spielte das Leben nicht. Ich würde allzu bald erfahren, welche Prüfungen uns noch bevorstanden.

Luan und ich hatten gerade erst ein Stück weit Stabilität gefunden und begannen uns an den neuen Alltag zu gewöhnen, als er eines Tages einen Anruf erhielt: Er hatte meinen Roman als Drehbuch umgeschrieben und das Manuskript bei einer Filmproduktionsfirma in Tirana eingereicht. Sie waren begeistert und wollten den Film produzieren – mit ihm vor Ort.

Ich hatte Luan noch nie zuvor so glücklich gesehen, doch ich hatte nicht geahnt, was das für uns bedeuten würde.

***

Luan nahm eine Manti, seine geliebte Hackfleischpite, und reichte sie mir.

«Hier, mein Engel», sagte er sanft und küsste mich.

«Ach, ihr zwei seid richtig kitschig!», meinte nun Janina lachend und drehte an ihrem eigenen Verlobungsring. Als sie bemerkte, wie ich diesen bewunderte, fragte sie:

«Sag mal, Luan, wie lange willst du sie eigentlich noch so frei in der Welt herumreisen lassen, während du in Albanien drehst? Du weißt schon, dass sie in Kosovo schneller weg ist, als du bis drei zählen kannst! Vor allem jetzt, wo die nächsten Abenteuer anstehen. Wo wirst du denn überall hinreisen, Shote?»

Ich hatte Briefe und Nachrichten aus aller Welt erhalten, in denen mich Leser in ihre Heimat einluden. Sie erzählten mir wie sie die Kultur in den Ländern, in denen sie nun lebten, weiterführten und welchen Platz diese in der neuen Heimat hatte.

Ich antwortete auf jede Nachricht und mit einigen Lesern entstand eine Verbindung, die ich selbst erkunden wollte, und mit ihnen auch die Orte, von denen sie mir schrieben. Sechs von ihnen fragte ich an, ob ich sie mit Freunden besuchen dürfe, und erhielt Nachrichten voller Vorfreude zurück.

Das Buch hatte mir eine neue Reise ermöglicht, und dieses Mal ging es in die Welt hinaus.

«Ach, Janina, hör auf ihn zu necken! Und zu meinen Reisen: ­Zuerst geht es nach Istanbul, daraufhin folgt im Sommer Kalabrien und dann geht es nach London. New York und Boston in den USA sowie Prishtina folgen zum Schluss. Leider reicht die Zeit nicht für mehr Orte, aber vielleicht kann ich nächstes Jahr eine weitere Reise planen. Und jetzt bin ich mehr als gespannt, wie die Menschen sich in diesen Ländern von damals bis heute eingelebt haben. Es kommt mir wie ein Experiment vor, doch es wird mir helfen zu verstehen, wie andere Integration im Vergleich zu uns in der Schweiz erlebt haben. Und Luan wird mich übrigens auf einigen der Reisen begleiten können.»

«So ist es zumindest geplant. Also, keine Sorge, Janina, Shote weiß, zu wem sie gehört. Und wenn der Film erst einmal zu Ende gedreht ist, geht unser Leben an einem neuen Höhepunkt weiter. Das Fußballstadion ist jedenfalls schon vorgemerkt!», scherzte Luan, und ich musste schmunzeln beim Gedanken daran, dass er noch wusste, wie ich mir meinen Heiratsantrag vorstellte. Doch Janina hatte mit ihrer Frage einen wunden Punkt getroffen. Luan und ich entfernten uns seit Monaten immer mehr voneinander und das Schreiben meines zweiten Romans war dabei keine Hilfe.