Yoga und soziale Verantwortung - Alexandra Eichenauer-Knoll - E-Book

Yoga und soziale Verantwortung E-Book

Alexandra Eichenauer-Knoll

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Beschreibung

Ereignisse wie Umweltkrisen, Pandemien und Krisen der Asylpolitik machen deutlich, dass wir eine gemeinsame moralische Basis brauchen, um Probleme in gegenseitigem Respekt und auf demokratische Weise zu diskutieren und zu bewältigen. Mit diesem Buch schlägt Alexandra Eichenauer-Knoll eine Brücke zwischen dem eigenen Yoga-Übungsweg und der Einbindung der Yama- und Nyama-Prinzipien in den gesellschaftspolitischen Diskurs. Die Autorin befähigt Leser:innen dazu, durch Yoga politisch wirksam zu werden, und ermutigt zur Übernahme von sozialer Verantwortung. Das Buch ist eine Aufforderung zum Tieferdenken auf das Verbindende zwischen Spiritualität und Politik, zwischen moralischen Grundwerten und hinspürender Selbsterfahrung.

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Alexandra Eichenauer-Knoll

Yoga undsozialeVerantwortung

Sich gründen im Außen und Innen mit Yama und Niyama

1. Auflage 2022

© 2021 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Aitrang

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Andrea Barth | Guter Punkt

Illustrationen: Meike Haug

Lektorat: Eva Wagner

Layout und Satz: Marx Grafik & ArtWork

ISBN 978-3-86410-352-0

e ISBN 978-3-86410-364-3

www.windpferd.de

    Inhalt    

1. KapitelAuf dem Yogaweg sein – gerade in Krisenzeiten

Die Stärkung einer vertrauensvollen Basis

Was kann der Yoga zu gesellschaftlichem Engagement beitragen?

Welche Schritte werden wir in diesem Buch gehen?

Rückblick in die Geschichte

Der Schatz des Yoga – die fünf moralischen Grundprinzipien

Wie kann man moralische Grundwerte üben?

Selbstfürsorge oder die Rückbindung an das Selbst

2. KapitelDie Geschichte der sozialen Verantwortung

Ein aufklärerischer Appell an die Eigenverantwortung

Soziale Verantwortung wird zur Gesinnung

Die soziale Verantwortung wird ethisch

Die ökologische Verantwortung vermischt sich mit der sozialen Verantwortung

Soziale Verantwortung in postdemokratischen Zeiten

Verantwortung für strukturelle soziale Ungerechtigkeit im Kollektiv mittragen

Resümee

3. KapitelDie Moral und die Psychologie des Yoga-Sutra

Auf der Suche nach den Quellen

Was sind Yamas und Niyamas?

Das Übungsfeld abstecken

Der Moralitäts-Check

Ein Yama im Kontext von sozialer Verantwortungsübernahme

Die Eigenschaften einer zeitgemäßen Yoga-Moral

Bhavana – Yoga-Haltung üben

Die Erkenntnisse der Empathieforschung beflügeln das Mitgefühl

Die Herausforderungen des Übens

4. KapitelDie Yamas – Yoga-Moral für soziale Begegnungen

AHIMSA – Gewaltfreiheit

Die Deutung des Begriffes

AHIMSA im Moralitäts-Check

Yoga-Moral und Gefühle – vier persönliche Geschichten zu Ahimsa

SATYA – Wahrhaftigkeit

Die Deutung des Begriffes

SATYA im Moralitäts-Check

Yoga-Moral und Gefühle – vier persönliche Geschichten zu Satya

ASTEYA – Die Rechte anderer respektieren

Die Deutung des Begriffes

ASTEYA im Moralitäts-Check

Yoga-Moral und Gefühle – vier persönliche Geschichten zu Asteya

BRAHMACHARYA – gemäßigter Lebenswandel

Die Deutung des Begriffes

BRAHMACHARYA im Moralitäts-Check

Yoga-Moral und Gefühle – vier persönliche Geschichten zu Brahmacharya

APARIGRAHA – Nicht horten, lieber teilen

Die Deutung des Begriffes

APARIGRAHA im Moralitäts-Check

Yoga-Moral und Gefühle – vier persönliche Geschichten zu Aparigraha

5. KapitelDie Niyamas – Yoga-Moral für mehr Selbsterkenntnis

SAUCHA – Reinheit

Die Deutung des Begriffes

Die meditative Praxis

Vor jeder Stilleübung: Sich im Sitz gut einrichten

ÜBUNGEN IM STILLEN SITZEN

Erste Stilleübung: Abstand gewinnen zu Beginn der Stunde

Zweite Stilleübung: Die Gedanken sortieren

Dritte Stilleübung: Das Grundvertrauen stärken

Vierte Stilleübung: Verwechslungen klären

SAMTOSHA – Zufriedenheit

Die Deutung des Begriffes

ÜBUNGEN IM STILLEN SITZEN

Erste Stilleübung: Dem Körper Mitspracherecht gewähren

Zweite Stilleübung: Die Traurigkeit liebhaben

Dritte Stilleübung: Gute alte Freunde einladen

Vierte Stilleübung: Sitzen in Frieden

TAPAS – Disziplin

Die Deutung des Begriffes

ÜBUNGEN IM STILLEN SITZEN

Erste Stilleübung: Ankommen im Zustand des Yoga

Zweite Stilleübung: Über die Würze des Übens

Dritte Stilleübung: Mit der Sonne wächst die Tatkraft

Vierte Stilleübung: Ooooh, lass dich überraschen!

SVADHYAYA – Selbsterforschung

Die Deutung des Begriffes

ÜBUNGEN IM STILLEN SITZEN

Erste Stilleübung: Auf der Suche nach dem Unaufgebbaren

Zweite Stilleübung: Konfrontation mit den inneren Antreibern

Dritte Stilleübung: Den Traumgefühlen Platz einräumen

Vierte Stilleübung: Dem Unergründlichen Zeit geben

ISHVARA PRANIDHANA – Hingabe

Die Deutung des Begriffes

ÜBUNGEN IM STILLEN SITZEN

Erste Stilleübung: Der Moral eine innere Stimme geben

Zweite Stilleübung: Das Trennende zwischen uns überwinden

Dritte Stilleübung: Das Mantra des Atems lehrt Hingabe

Vierte Stilleübung: »Nur eine kleine Erleuchtung«

6. KapitelVertrauen – der rote Faden durch dieses Buch

Das Vertrauen in gute Lösungen – Kapitel 2

Das Vertrauen in die Methode – Kapitel 3

Vertrauensvolle Begegnungen ermöglichen – Kapitel 4

Gute Erfahrungen stärken unser Vertrauen – Kapitel 5

Danksagung

Fußnoten und Quellenangaben

Die Autorin

Link und QR-Code zu den Audiodateien

1. Kapitel

Auf dem Yogaweg sein – gerade in Krisenzeiten

»Im utopischen Denken liegt ein großes und starkes Freiheitspotenzial. Und jeder kann sich darin üben etwas zu denken, das nicht dem Mainstream entspricht, das Gesellschaften und Lebensbedingungen verändern, vielleicht sogar verbessern kann.«

Renata Schmidtkunz1

Die Stärkung einer vertrauensvollen Basis

Wie kommt es, dass eine Yogalehrerin ein Buch über soziale Verantwortung schreiben möchte? Ich unterrichte Yoga seit dem Jahr 2004 und habe fast zeitgleich angefangen, mich auch im Berufsverband Yoga Austria – BYO zu engagieren. Ich startete mit der Verantwortung für eine Mitgliederinfobroschüre, dann entwickelten wir einen Newsletter. Es folgten acht Jahre im Vorstand des Verbandes und bis heute die Mitarbeit in weiteren kommunikativen Belangen. Derzeit bin ich auch wieder im Vorstand des Verbandes aktiv. Ich erlebte und erlebe diese Übernahme von berufspolitischer Verantwortung sehr teamorientiert und im gemeinsamen Bemühen, die Grenzen der anderen zu respektieren.

Ganz anders entwickelte sich mein Engagement in der Begleitung von geflüchteten Menschen. Ein erstes Kennenlernen erfolgte ab 2013 beim Abhalten von ehrenamtlichen Deutschkursen für Asylwerber:innen, die in einer kleinen Pension im Nachbarort untergebracht waren. Es waren intensive und oft auch sehr heitere Begegnungen. Sie halfen den Menschen, die Traurigkeit zumindest stundenweise durch fleißiges Tun beiseitezuschieben, und vor allem das Grübeln über die völlig ungewisse Zukunft.

Mein Lebensgefährte entwickelte später die Idee, ein Begegnungshaus für »Hiesige und Zuagroaste« in unserem Heimatort zu eröffnen. Während wir noch an den Plänen und Konzepten für interessierte Fördergeber:innen tüftelten, überschlugen sich 2015 die Ereignisse, als sich die Grenzen nach Ungarn für kurze Zeit öffneten und unzählige Menschen auf der Flucht durch Österreich kamen oder hier um Asyl ansuchten. Ich erlebte, dass es möglich ist, selbstorganisiert zu handeln und gleichzeitig im Kollektiv mit anderen engagierten Menschen ähnliche Probleme zu meistern. So wurde mir bewusst, dass eine starke Zivilgesellschaft als autonomes Kollektiv Verantwortung übernehmen kann, und zwar ohne politische Beschlüsse abzuwarten. Es waren für mich sehr prägende Erfahrungen von Mitmenschlichkeit, Solidarität und Tatkraft. Zufälligerweise schrieb ich im Sommer 2015 eine Masterarbeit für mein Studium »Spirituelle Begleitung in der globalisierten Gesellschaft« an der Donauuniversität Krems. Ich vergleiche darin Konzepte von Mahatma Gandhi und Ideen der Tiefenökologie. Es war, als würden diese auf einmal wie Samen aufgehen, als könnte es wahr werden: Viele Menschen engagieren sich unabhängig voneinander für das Gute und wachsen zu einer großen Bewegung zusammen.

Die vielen Helfer:innen wurden rasch sehr selbstbewusst, erfuhren Selbstwirksamkeit und waren bereit, dafür ein hohes Maß an sozialer Eigenverantwortung zu übernehmen. Wenig später wurde allerdings offensichtlich, dass gerade ihre Autonomie den politischen Parteien unbequem wurde. Sie waren zu sehr bei den geflüchteten Menschen, sie sahen die Tatsachen zu differenziert und hinterfragten gängige Klischees und politische Äußerungen, die sich zunehmend auch am Potenzial einer verängstigten und zuwanderungskritischen Wählerschaft orientierten. Das ist schade, denn dieses Kollektiv an interkultureller Integrationskompetenz halte ich für sehr gesellschaftsrelevant.

Wir hatten Glück und starteten 2016 mit unserem Begegnungshaus, dem »Comedor del Arte« in Hainfeld – mit Deutschkursen, Spielnachmittagen, Workshops, Integrationsfesten und vielen, vielen guten Begegnungen. Das Projekt existiert bis heute.

Die Corona-Pandemie hat uns inzwischen andere und neue kollektive Erfahrungen beschert. Durchaus auch verbindlich Schönes, aber leider auch schmerzlich Trennendes. Die Diskussionen über die Pandemie spalteten unsere Gesellschaft in einem Ausmaß, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Vor allem sind jetzt, im Gegensatz zu 2015, wirklich alle Bürger:innen in irgendeiner Form in die Maßnahmen und Diskussionen involviert – von meinem fünfjährigen Nachbarsjungen bis zu meiner dreiundachzigjährigen Tante. War es 2015 eine Zivilgesellschaft, die durch direkten, persönlichen menschlichen Kontakt und horizonterweiternde Erfahrungen erstarkte, so verstärken und verbreiten sich heute Meinungsblasen durch kollektives »Liken« und Weiterleiten von algorithmengesteuerten Informationen. Die neue Protestbewegung ist diffus zu verorten, geeint jedenfalls in ihrer kollektiven Skepsis gegenüber den Maßnahmen und Zahlenveröffentlichungen der »Herrschenden«. Der Vertrauensverlust in das Establishment ist so enorm, dass sogar pauschal Journalist:innen verunglimpft und attackiert werden. Die Tatsache, dass durch mehrere Lockdowns persönliche Kontakte untersagt wurden, fördert natürlich auch diese Tendenzen. Ich will hier die Social Media nicht schlechtreden und nehme auch kritische Stimmen ernst. Ich fordere nur zu eigenem Denken statt automatischem, unreflektiertem »Teilen« auf.

Was mir am meisten Sorgen bereitet, ist der spürbare Vertrauensverlust in die politischen Entscheidungsträger:innen. Sie tragen mit ihrem manchmal schwer verständlichen Pandemiemanagement und empörenden Korruptionsskandalen natürlich selbst maßgeblich zu diesen Tendenzen bei. So ärgerlich diese Geschehnisse sind, so klar ist für mich trotzdem, dass es nur einen guten Weg geben kann: Wir müssen unsere Demokratie stärken und uns mit unserem Engagement, unserem Denken und unserer Bereitschaft zur Eigenverantwortung einbringen. Wir dürfen unser Schicksal weder den Algorithmen der Social Media noch den Eigeninteressen von politischen Eliten oder offensichtlich demokratiefeindlichen Kräften überlassen.

Für mich stellen sich jetzt Fragen wie diese: Wie überbrücken wir die Risse in unserer Gesellschaft, wie entwickeln wir neue heilsame Ideen für eine gemeinsame Zukunft? Auf welche gemeinsamen Werte können wir uns einigen? Und vor allem: Wie aktivieren wir wieder unser Vertrauen in eine funktionierende Demokratie und in die Wirksamkeit von sozial engagiertem, kollektivem Tun?

Die soziale Verantwortung ist im zwanzigsten Jahrhundert in die Liga einer moralischen Kategorie aufgestiegen und zu einem existenziellen Wert für die Weltgemeinschaft geworden. Um zu erläutern, wie es dazu gekommen ist, werde ich im folgenden Kapitel einen Blick zurück in die Geschichte werfen. Trotzdem ist die Idee, soziale Verantwortung für andere zu übernehmen, im Sinne davon, ganzheitlich zu denken und die Folgen für die Natur und für die nächsten Generationen in das eigene Handeln einzubeziehen, noch nicht so ganz in der Gesellschaft angekommen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander, neue Lebensentwürfe machen Hoffnung, aber auch Angst sowie individuelle Überforderung und Erschöpfung sind weit verbreitet.

Was wir allerdings alle spüren, ist, dass wir eine Zeit des Wandels erleben. Klimakrise und Flüchtlingsbewegungen und jetzt auch noch die Corona-Pandemie machen deutlich, dass unsere Probleme sich nicht regional und im Alleingang lösen lassen. Alles ist mit allem verbunden. Ich möchte meinen bescheidenen Beitrag dazu leisten, indem ich die Grundwerte des Yoga und auch die Übungsmethode Yoga in diese Diskussion über soziale Verantwortung hineintrage. Yoga hilft jedenfalls, das Grund- und auch das Selbstvertrauen zu stärken.

Was kann der Yoga zu gesellschaftlichem Engagement beitragen?

Der Yoga ist ein komplexes System aus moralischen Handlungsempfehlungen, Körper- und Atemübungen bis hin zu meditativen Techniken und spirituellen Weisheitslehren. Immer wieder fließt eins ins andere, ein laufend sich umschichtender Prozess – vom Groben ins Feine, vom Gedanken zum Atem, von außen nach innen, von der tiefen Erkenntnis zurück zum alltäglichen Tun … Wir lernen, uns selbst zu beobachten und unsere individuellen Belastungsgrenzen zu erkennen, aber auch, unsere Ressourcen zu stärken und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Mit der Übung wächst die Lust, sich zu erproben – auf der Matte und in den Begegnungen in der Gesellschaft. Yoga macht Lust auf selbstwirksame, soziale Begegnungen. Soziale Verantwortungsübernahme ist ein großes Übungsfeld dafür.

Yoga ist – trotz aller Lehrmeinungen, Schulen und der Entwicklung von unzähligen Yogastilen in den letzten hundert Jahren – immer ein Erfahrungsweg. Nur die Erfahrung macht das möglich, was Yoga ist – ein Ankommen im Hier und Jetzt, ein Seinszustand. Die Erfahrung entsteht durch das Hinspüren – auf das, was gerade präsent ist: Gedanken, Körpergefühle, Stimmungen … Yoga lässt uns die eigene Lebendigkeit spüren. Und damit wächst der Wunsch, auch zukünftige Begegnungen im Außen lebendiger und heilsamer zu gestalten. Yoga vermittelt uns eine Vision für ein achtsames, respektvolles Miteinander. Soziale Verantwortungsübernahme ist ein großes Erfahrungsfeld dafür.

Yoga basiert auf moralischen Handlungsanweisungen, sowohl für Begegnungen im Außen als auch für die eigene Lebensführung – die Yamas und Niyamas, auf die ich später genauer eingehen werde. Wir üben im Yoga, diese Prinzipien inwendig fühlbar zu machen und so von innen nach außen nicht nur eine bessere Aufrichtung der Wirbelsäule, sondern auch ein moralisches Rückgrat zu entwickeln, das uns im Alltag Haltung bewahren lässt. Wenn wir spürend verstehen, warum Haltung unverzichtbar ist, können wir sie auch selbstbewusster in die Gesellschaft hineintragen und vertreten. Das ist wichtig zu verstehen. Wenn ich beispielweise auf der Matte möglichst ohne Druck übe, also ohne Ehrgeiz und Anspannung, sondern stattdessen mit Hingabe und Wohlwollen, dann kann dieser achtsame Umgang mit Druck, der ja auch eine Form von Gewalt ist, auch meine sozialen Beziehungsmuster verändern. Yoga ist ein ganzheitlicher Weg, ein Lebensweg. Ich mache nicht Yoga und dann etwas anderes. Wenn ich danach mit jemandem spreche, bleibe ich trotzdem im achtsamen Spüren und bleibe meinen moralischen Prinzipien treu. Der Alltag und das Üben auf der Matte sind also auf einer tieferen Ebene nicht wirklich voneinander zu trennen. Die innere Haltung sollte dieselbe sein. Ich kann nicht einen Menschen verletzend behandeln und mich danach genüsslich auf der Yogamatte entspannen. Das ist nicht authentisch. Genauso vice versa: Ich kann kein ganzheitliches Leben führen, wenn ich zwar den anderen die Wahrheit einschenke, über meine eigenen Gefühle und Handlungsmuster hingegen lieber im Unklaren bleibe und meine eigene Selbsterforschung ablehne. Yoga wirkt immer in beide Richtungen – nach innen und nach außen. Yoga ist eine Haltung, die man im Leben einnimmt, und wird spürbar durch das moralische Rückgrat. Soziale Verantwortungsübernahme ist ein großes Betätigungsfeld, um Haltung zu zeigen.

Glücklicherweise gibt es genügend Menschen, die intuitiv richtig handeln und gute Taten setzen. Mit und ohne Yoga. Für alle verantwortungsbewussten Menschen ist es dennoch sinnvoll, die eigenen moralischen Werte und Positionen gelegentlich durchzudenken. Dies dient der Selbsterforschung und liefert eine gefestigtere Basis für konstruktive Gespräche und mehr Entscheidungssicherheit. Warum?

Der norwegische Philosoph und Umweltaktivist Arne Næss prägte Anfang der 1970er Jahre den Begriff »Tiefenökologie«, der später von der Amerikanerin Joanna Macy übernommen wurde. Die Tiefenökologie versteht sich demnach als »tief«, weil die Fragestellungen über Zweck und Wert tiefgründig sind, weil die Fragen bis an das Fundament reichen müssen.2 Damit unterschied Næss sich von dem, was er als »shallow ecology movement« bezeichnete, einen Umweltaktionismus ohne ethische Basis. Næss forderte einen gravierenden Paradigmenwechsel in den Industriegesellschaften und ging davon aus, dass dieser auf einer soliden Basis gegründet sein muss – auf sorgfältig begründeten Normen und Werten und logisch verknüpften Argumentationsreihen: »Mit anderen Worten: Der argumentative Zusammenhang zwischen den je relevanten Grundwerten und den konkreten Entscheidungen lässt sich im Einzelfall nicht immer nachvollziehen. Wie man von Grundwerten wie Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zur konkreten politischen Umsetzung dieser Prinzipien gelangt, ist auch heute noch ein Buch mit sieben Siegeln.«3 Denn in der Praxis fehlt oft der argumentative Mittelbau, also die argumentative Herleitung zwischen den Grundwerten und den konkreten Maßnahmen. Næss bringt ein Beispiel aus dem norwegischen Schulsystem: Im Curriculum wird zum Beispiel Hilfsbereitschaft gefordert, in konkreten Prüfungssituationen ist Hilfsbereitschaft aber verpönt.4

Ich versuche mich ebenfalls an zwei Beispielen: Hilfsbereitschaft hat einen hohen moralischen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Wenn allerdings Seenotretter:innen Geflüchtete aus dem Mittelmeer ziehen, werden sie behindert, möglicherweise sogar bestraft, zum Schutze der europäischen Außengrenzen – und was heißt das anderes als zum Schutze der europäischen Bürger:innen, und dazu zähle auch ich. Anderes Beispiel: Plastikvermeidung hat inzwischen einen hohen moralischen Stellenwert in unserer Gesellschaft, aber wenn ich beim dörflichen Kaufmann meines Vertrauens einkaufe, um diesen zu stärken und mein Auto nicht zu benützen, dann bekomme ich fast alle Lebensmittel in Plastikverpackung.

Wie löse ich mit meinen konkreten Handlungen diese moralischen Dilemmata? Was kann ich als einzelne Person tun? »Nichts kann ich tun« ist die schlechteste Antwort, denn was passiert, wenn unsere moralischen Ansprüche mit unseren konkreten Handlungen nicht mehr zusammenpassen? Unsere Sätze werden zu hohlen und unglaubwürdigen Phrasen, und unsere Herzen müssen sich vor den Argumentationen der Politiker:innen, die für uns keinen mehr Sinn ergeben, verschließen. Verdrängung alles dessen, keine Nachrichten mehr hören oder lesen?

Ich denke, viele Menschen sehnen sich nach moralischer Stimmigkeit und einem authentischen Leben. Der Yoga bietet einen wunderbaren Baukasten an moralischen Grundwerten. Es wäre also genug Rüstzeug da, um sich im Tieferdenken zu üben und den moralischen Mittelbau bis hin zu konkreten Handlungen durchzudenken. Wir streben im Yoga Stimmigkeit und Entfaltung an, im Körper wie im Atem, in unseren Gefühlen und Gedanken. Warum also nicht auch im Hinspüren auf unsere moralische Befindlichkeit im Hier und Jetzt?

Arne Næss entwickelte ein komplexes System, um moralische Werte von oben nach unten durchzudenken. Ich versuche in diesem Buch etwas anderes: die Yamas (Grundwerte) über konkrete, selbst erlebte Situationen zu reflektieren und dabei mit dem Wahrnehmen, was gerade ist, also mit Erfahrung und Fühlen zu verknüpfen. Das ist für mich Yoga – einen global existierenden Grundwert in meinem Mikrokosmos Mensch aufzuspannen und ganz auf mein eigenes Maß und meine Möglichkeiten zu hinterfragen. So regt mich Yoga zum Tieferdenken an. Soziale Verantwortungsübernahme ist ein großes Feld, um Grundwerte konstruktiv und authentisch in Handlungen umzusetzen.

Dass der Yoga als ein spiritueller Weg der inneren Einkehr gilt, ist dabei kein Widerspruch. Denn der Weg nach innen, die Mystik der Stille, hat in allen spirituellen Traditionen immer auch eine Kehrseite – einen Weg in die Begegnung, hin zu den anderen: die Mystik der Tat.

Welche Schritte werden wir in diesem Buch gehen?

Rückblick in die Geschichte

Als ersten Schritt werde ich im nächsten Kapitel im Zeitraffer aufzeigen, wie sich der Verantwortungsbegriff im Laufe der Geschichte geändert hat und warum soziale Verantwortungsübernahme heute so überaus bedeutsam ist. Ich denke, vieles lässt sich in der Gegenwart leichter verstehen, wenn man aktuelle Entwicklungen in einen historischen Kontext stellt.

Der Schatz des Yoga – die fünf moralischen Grundprinzipien

Dann kommen wir zu dem Schatz an Weisheit, den der Yoga zu einer gesellschaftlichen Entwicklung heute beitragen kann: zu den fünf Yamas als moralische Grundprinzipien, die uns richtungweisend darin bestärken können, Ziele zu formulieren und Haltung in der Gesellschaft einzunehmen. Die Yamas bilden die erste Stufe des Achtfachen Pfades in den Yoga-Sutren, der einen Weg der spirituellen Transformation beschreibt.

Ich möchte daher folgende These aufstellen: Ist nicht überhaupt ein heilsames Miteinandersein und damit auch die Übernahme von Verantwortung füreinander der erste Schritt auf dem Weg zu spiritueller Entwicklung? Braucht es nicht zuerst soziales Bewusstsein und Erfahrung im Miteinander, um dann diese Erfahrungen für eine authentische spirituelle Entwicklung zu nutzen? Braucht es nicht moralische Bewährung, bevor man in die Versenkung geht?

Es wird viele Yogaerfahrene geben, die das so lieber nicht formuliert haben möchten. Es wird auch Yogi:nis geben, die überhaupt verneinen, dass es beide Wege geben muss, und nur für die spirituelle Einsiedelei plädieren. Aber ich nehme an, dass Leser:innen, die sich für das Thema »soziale Verantwortung« interessieren, doch zumindest davon ausgehen, dass sich beide Ausrichtungen, Sinn im Leben zu erfahren, bereichernd ineinander verschränken sollten.

Für mich keine Frage: Spirituelle Praxis und Rückzug unterstützen uns dabei, gleichmütig und trotzdem energiegeladen in der Welt wirken zu können. Denn ohne eine Methode des Rückzugs und der Rückbindung an das beständig Heilsame laufen wir Gefahr, im selbstlosen Tun auszubrennen. Umgekehrt brauchen wir das sinnstiftende, gesellschaftliche Tun, um unsere Energie und unsere Einsicht in die Welt einzubringen und umzusetzen. Spiritueller Rückzug als alleinseligmachender Weg ist Weltflucht; ein Weg, der zwar keinen Schaden anrichtet, aber auch keinen Beitrag für ein erfüllendes Miteinander leistet.

Wie kann man moralische Grundwerte üben?

Sobald ein Yama definiert ist und uns klar geworden ist, warum es uns moralisch bedeutsam ist (ich nenne das im Folgenden »Moralitäts-Check«), können wir mit dem Üben beginnen. Ich möchte eine weitere These aufstellen: Moral, die nur im Kopf ist, wird möglicherweise im konkreten Tun schwer umsetzbar sein. Erstens, weil sie zu abstrakt ist und nicht auf die konkrete Handlung anwendbar scheint. Und zweitens, weil sie gar nicht verinnerlicht ist. Theoretisch ein Spiel beherrschen und die Regeln kennen ist etwas ganz anderes, als es praktisch geübt zu haben. Auch Moral braucht Übung. Ich habe daher zu jedem Yama vier Beispiele aus meinem Leben niedergeschrieben. Meine Gefühle haben mir die Fragen während des Schreibens eigentlich wie von selbst aufgetischt. Ich brauchte dann nur nachzufragen – warum, wieso? So, wie ich meine Schüler:innen im Yogaunterricht ermutige, mit wachem Forschergeist sich selbst bei der Asanapraxis zu beobachten, möchte ich mit meinen Geschichten in den fünf Abschnitten des vierten Kapitels anregen, die eigenen Alltagssituationen forschend unter moralischen Gesichtspunkten zu hinterfragen.

Es geht dabei nicht darum, die Moralkeule zu schwingen à la »Du sollst« und »Du sollst nicht«! Vor der Moralkeule verstecken sich die Gefühle, sie haben Angst davor, geschlagen zu werden. Wenn wir aber die Gefühle zulassen und diesen inneren moralischen Zwiespalt, dann haben wir zumindest die Chance, dass irgendwann ein innerer Impuls auftaucht, wenn man so will, eine Hinwendung, ein Hinabsinken in den tieferliegenden moralischen Grund. Dieser kann uns dann Sicherheit geben, wie einem Baum, dem weitere Wurzeln wachsen.

Moral soll sich stimmig anfühlen, soll diffuse Gefühle lichten, sorgenvolle Gedanken klären. Eine Moral, die nur funktioniert, wenn sie die Gefühle unter den Teppich kehrt, kann sich schwer festigen und wird vor allem dann Mühe haben, wenn es darauf ankommt. Wir müssen uns selbst vertrauen und uns Zeit geben. Übung hilft.

Ich gebe mit diesen Beispielen von meinem Leben etwas preis, weil ich Menschen darin ermuntern möchte, eigene Erlebnisse zu durchdenken. Meine Geschichten sind nur Beispiele – vielleicht regen sie zum Nachdenken an, aber sie sollen keinesfalls ein »moralisch vorbildliches Verhalten« demonstrieren. Die Beispiele sind bedingt durch meine Interessen, meine Stärken und Schwächen und mein persönliches Umfeld. Natürlich habe ich eine gesellschaftspolitische Haltung, sonst würde ich ja nicht über so ein Thema ein Buch schreiben. Die Geschichten sollen aber vor allem zum Weiterdenken und Selbstfühlen anregen und ruhig auch – zum Bessermachen!

Nur durch Durchdenken und Durchspüren kann man sich selbst besser kennenlernen und vielleicht das nächste Mal klarsichtigere Entscheidungen treffen. Wie das Leben eben so spielt, mal geht es leichter und fühlt sich freudvoll an, dann ist es wieder schwieriger, und Gefühle wie Hilflosigkeit und Traurigkeit stellen sich ein. Situationen wiederholen sich in ähnlicher Form. Darunter kann man leiden – oder man erkennt diesen wiederkehrenden Moment als zweite Chance.

Selbstfürsorge oder die Rückbindung an das Selbst

Im fünften und letzten Kapitel geht es dann um den Weg nach innen, die Rückbindung an das Selbst. Im Kontext von sozialer Verantwortung möchte ich diese Prozesse als Selbstfürsorge beschreiben, die im Yoga einen hohen moralischen Stellenwert hat. Das kann jetzt für manche Ohren, die es gewohnt sind, soziales Engagement mit Selbstaufopferung gleichzusetzen, befremdlich klingen. Genau darum ist es aber so wichtig zu verstehen, warum eigene Yogapraxis und ein Rückzug in Stille bedeutsam sind. Denn auch die beste Vision und die überzeugendste Moral bewahren uns nicht davor, im konkreten Tun auszubrennen. Dann nämlich, wenn wir uns mit unseren eigenen Erwartungen überfordern oder an den Spitzfindigkeiten der Realität zerbrechen.

Erst diese Rückbindung an meine inneren Ressourcen regeneriert mich und lässt mich wieder hinspüren zu dem, was es jetzt gerade braucht – für mich. Passt mein Engagement noch? Oder halte ich nurmehr an einem Dogma fest, das meine »inneren Antreiber« von mir einfordern? Die fünf Niyamas, moralische Verhaltensregeln uns selbst gegenüber, können uns helfen, unbeschadet durch einen Verantwortungsprozess zu kommen.

Zu jedem der fünf Niyamas habe ich abschließend vier Stilleübungen entwickelt. Eine Auswahl von fünf Übungen gibt es über einen QR-Code und einen Downloadlink auf Seite 221 auch zum Nachhören. Der Atem wird dabei unser freundlicher Reisebegleiter werden. Hier findet sich also die Brücke von der moralischen hin zur spirituellen Praxis. Es sind meditative, selbstreflexive Übungen mit sehr unterschiedlichem Fokus. Patanjali, der offizielle Verfasser der Yoga-Sutren, beschreibt eine Fülle von Methoden, wie der Weg in den stillen Rückzug, im Rückzug der Sinne von außen, gestaltet werden könnte. Wir haben gerade hier eine große Gestaltungsfreiheit und Wahlmöglichkeiten. Natürlich ist es vertiefend sinnvoll, sich einer ehrenwerten Tradition zu verpflichten und dann diese Form von Meditation, am besten in einer Gruppe, jahrelang zu üben. Vielleicht helfen Ihnen die verschiedenen Einstiegsmöglichkeiten ja dabei, auf den Geschmack zu kommen.

2. Kapitel

Die Geschichte der sozialen Verantwortung

»Wer über Verantwortung schreibt – und auch liest –, mag bisweilen an ihrer Vielschichtigkeit verzweifeln. Eine Unzahl an Aspekten scheint sich einer eindeutigen Klassifikation zu erwehren.«

Ann Elisabeth Auhagen5

Ein aufklärerischer Appell an die Eigenverantwortung

Eine bedeutende moralische Zeitenwende in Europa war die Epoche der Aufklärung, als deren berühmtester deutschsprachiger Philosoph, Immanuel Kant, in die Geschichte eingegangen ist. 1785 veröffentlichte er in Riga ein Buch mit dem Titel »Kritik der praktischen Vernunft«. Ich habe es mir aus Interesse gekauft, weil ich diesen Meilenstein an Denkkraft und Vernunft selbst in Händen halten wollte. Lesen kann ich den Text ehrlich gesagt nicht. Das ist etwas für Spezialist:innen. Aber diesen einen, so berühmt gewordenen Leitsatz, den möchte ich hier doch anführen:

»§ 7. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.«Und Kant erklärt: »Denn reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend.«6

Ich erkläre mir diesen Appell an die Ratio so: »Denk mal nach! Willst du wirklich, dass das, was du dir jetzt gerade für dich herausnimmst, zum allgemeingültigen Gesetz wird, und dass alle anderen auch so handeln können?« Es ist ein erster, großer Appell an die Eigenverantwortung, die wir heute, mehr denn je, aufgeregt diskutieren, ob es nun um Corona-Selbstbeschränkungen oder um richtiges Handeln zum Schutz der Umwelt geht. Denn es dämmert uns langsam, dass wir uns nicht nur auf staatliche Gesetze oder religiöse Gebote bzw. Verbote berufen, verlassen oder herausreden können, sondern endlich beginnen müssen, situativ und eigenverantwortlich zu entscheiden – allerdings im Bewusstsein, dass unser individuelles Verhalten auch dem Wohl der Gemeinschaft förderlich sein sollte. Kant stellte das schon vor über zweihundert Jahren zur Diskussion.

Die Philosophin Bettina Stagneth ist ausgewiesene Kant-Expertin und betont: »Es ist nicht so, dass Kant nicht auch gern ein Idealist gewesen wäre. Er hatte nur erkannt, dass uns dafür jede Voraussetzung fehlt. Das einzig Eindeutige, das alle Menschen jederzeit in sich vorfinden und auf das wir uns deshalb auch einigen können, ist unser Sinn für Stimmigkeit und Widerspruch unserer Vorstellungen, also die Vernunft in einfachster Bedeutung als Bewusstsein, das einfach immer da ist, bevor wir es auf unterschiedliche Weise gebrauchen, also mit anderen Erkenntnisvermögen verknüpfen.«7

Wie kann sich dieser Sinn für Stimmigkeit schärfen? Heute wissen wir, dass Gefühle Gedanken auslösen und steuern. Will die Vernunft alleine ganz praktisch entscheiden, so müssen zumindest vorher die Gefühle geklärt und beruhigt sein, damit wir zur selbstkritischen Reflexion fähig sind.

Die Zeiten Kants waren aufregend. 1789 wurde in Paris die Bastille gestürmt, und die Parolen der Revolutionäre faszinierten und verschreckten gleichermaßen das restliche Europa mit drei neuen Werten: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Soziale Verantwortung wird zur Gesinnung

Das darauf folgende 19. Jahrhundert war geprägt durch rasanten technischen Fortschritt und infolgedessen großer sozialer Veränderungen – auf die Revolution des Geistes und der Werte folgte eine industrielle Revolution mit gravierenden sozialen und auch politischen Auswirkungen. Das soziale Elend war in kurzer Zeit unfassbar groß geworden, auch Wien wurde zu einem unrühmlichen Beispiel. Extreme Wohnungsnot durch Zuzug und Landflucht führte zu Phänomenen wie den sogenannten Bettgeher:innen. Kinderarbeit, Ausbeutung und beinahe sklavenähnliche Zustände für die in den Ziegelbrennereien arbeitende Bevölkerung waren an der Tagesordnung. Gleichzeitig ließ sich das wohlhabende Wiener Bürgertum großzügige Palais erbauen und profilierte sich als Förderer der schönen Künste. In hochromantischen Liedern und Dichtungen verklärte man die ländliche Idylle, während die Menschen vom Land in Elendsquartieren ein paar Kilometer weiter weg darben mussten. Die Obrigkeit versagte in diesem Fall, weder Kirche noch Kaiser interessierten sich für die Verelendeten.

Der österreichische Arzt Victor Adler erkannte dieses Unrecht. Obzwar aus bürgerlichem Hause, hatte er beruflich persönlichen Kontakt zu den Ärmsten der Armen. Diese Unrechtserfahrung bewirkte bei ihm den Entschluss, für Menschen, die gar nicht seiner Gesellschaftsschicht angehörten, Verantwortung zu übernehmen und ihnen eine politische Stimme zu geben. Er ermächtigte sich freiwillig und ohne Auftrag von oben, einfach weil er erkannte, dass er gebraucht wurde und sein Gewissen und seine Vernunft ihm dies geboten. Victor Adler schaffte es, zur Jahreswende 1888/89 im niederösterreichischen Hainfeld alle Gesinnungsgenossen trotz Versammlungsverbot und staatlicher Bespitzelung zusammenzubringen und zu einer Bewegung zu einen, die sich später Sozialdemokratische Partei Österreichs nennen sollte.

Ich wohne in der Region. Gemeinsam mit der Historikerin Dr. Margarete Kowall habe ich das Stadtmuseum Hainfeld konzipiert und auch am sogenannten »Einigungsparteitagsraum« mitgearbeitet. Eine unserer Vorarbeiten bestand darin, die komplett erhaltenen Gesprächsprotokolle aus der Frakturschrift zu transkribieren, sie sprachlich behutsam zu modernisieren und auch zu digitalisieren. Wir arbeiteten in drei Teams, meist zu zweit. Die Reden dieser Delegierten, die keine Berufspolitiker waren und vom Leid von Ihresgleichen erzählten, waren zutiefst berührend. Ihr einendes Anliegen war es, endlich das Leid und die Ungerechtigkeit zu lindern. Ihre Sprache war klar und kraftvoll. Diese Männer (es waren damals leider nur Männer zugelassen, auch wenn Frauen sich angeboten hatten) übernahmen Verantwortung und bewiesen Rückgrat. Ihre Haltung wurzelte in der tiefsten Überzeugung, dass diese Art soziales Unrecht großes Leid provoziert und daher bekämpft werden muss. Eine Überzeugung, die zur Gesinnung wurde und in die Gründung einer Partei mündete. Interessanterweise ist das Wort Verantwortung kein einziges Mal im Text zu finden, dafür 26-mal das Wort Pflicht, sogar von heiliger Pflicht ist die Rede:8

»Rissmann (Graz): (…) Aber eines ist unsere Pflicht: dass wir das Volk über seine Verhältnisse und seine Stellung aufklären, alles andere aber ruhig dem Volk überlassen. Wir sind keine Aufwiegler.«

»Hybeš (Brünn): (…) Ich will also nur aufmerksam gemacht haben, dass eine solche Statistik unsere heiligste Pflicht ist, und wir haben in Brünn schon ein derartiges Material gegen viele Fabrikanten, die im heurigen Jahr noch nicht an einem einzigen Tag die Gewerbeordnung respektiert haben.«

Männer wie Victor Adler und seine Genoss:innen kämpften in der ganzen industrialisierten Welt für mehr Gerechtigkeit. Der Kampf, geeint durch eine parteipolitische Vision, lohnte sich, trotz der schweren Rückschläge während der NS-Diktatur und auch schon davor.

Die europäischen Wohlfahrtsstaaten des 20. Jahrhunderts gründen auf dieser Gesinnung. Inzwischen kommt es wieder zu einer schleichenden Erosion der hart erkämpften Rechte, und eine Solidarität unter den Arbeitnehmer:innen, wie sie damals möglich wurde, scheint heute aus den unterschiedlichsten Gründen wieder in das Reich der Utopien zu verschwinden.

Die soziale Verantwortung wird ethisch

Heute dürfen wir in Österreich soziale Errungenschaften genießen, wie sie in vielen Teilen der Welt nicht selbstverständlich sind. Trotzdem kann auch die beste moralische Gesinnung in die Irre führen, wenn sie sich von den ursprünglichen Zielen entfernt oder negative Auswirkungen ihrer Postulate vernachlässigt oder verleugnet. Darauf wies im Jahr 1919 der deutsche Soziologe und Nationalökonom Max Weber hin, und zwar in einem Vortrag zum Thema »Politik als Beruf«. Er machte damals klar, dass es einen Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik gibt. Diese Begriffe haben sich in die Lehrbücher von Student:innen der Politikwissenschaften und der Soziologie eingeschrieben:

»Als gesinnungsethisch wird ein Handeln bezeichnet, das sich strikt an einem Wertgesichtspunkt (etwa Gleichheit) oder einem abstrakten Prinzip (z. B. Pazifismus) orientiert, ohne die Folgen zu bedenken.

Verantwortungsethisch wird eine Handlungsweise genannt, bei der möglichst alle Folgen und Nebenfolgen für alle Betroffenen in die Kalkulation der besten Handlungsstrategie eingehen.«9

Mit dem Hinweis auf die Folgen mischt sich nun die Sorge um die Zukunft vermehrt in die Diskussion über die Verantwortung. Als junge Frau erlebte ich diesen Unterschied erstmals eindrücklich bei den Diskussionen rund um die Besetzung der Stopfenreuther Au östlich von Wien durch Umweltaktivist:innen im Dezember 1984. Damit sollte der Bau des Donau-Kraftwerks bei Hainburg verhindert werden. Besonders die Gewerkschaftsvertreter:innen setzten sich mit dem Argument der Arbeitsplatzsicherung für die Räumung ein. Nach einer gewaltsamen Polizeiaktion demonstrierten 40.000 Menschen gegen den Kraftwerksbau. Schließlich kam es zum »Weihnachtsfrieden« von Hainburg, und das Projekt wurde gestoppt. Die soziale Forderung »Arbeitsplätze schaffen« traf hier, für mich erstmals deutlich, auf einen neuen moralischen Wert: die Natur zu erhalten und zu schützen. 1996 wurde das Gebiet zum Nationalpark »Donau-Auen« ernannt.

Die ökologische Verantwortung vermischt sich mit der sozialen Verantwortung

Einer, der einen großen Beitrag zu diesem Umdenken leistete, nämlich dass der Schutz der Umwelt als ein moralisches Anliegen anzusehen ist und wir dafür Verantwortung übernehmen müssen, war der in Deutschland geborene Religionsphilosoph Hans Jonas. Nach seiner Emigration über England und Palästina lehrte er von 1955 bis 1976 als Professor an der New School for Social Research in New York. 1979 veröffentlichte er das Buch »Das Prinzip Verantwortung«, das als sein Hauptwerk gilt (und ganz aktuell im Jahr 2020 neu aufgelegt wurde). Darin fordert er zu nichts Geringerem auf, als Ethik völlig neu zu denken. Denn traditionelle Ethik verstehe die Umwelt als eine unveränderliche Konstante, und das sei aufgrund der unabschätzbaren, weltweiten Auswirkungen auf die Natur durch die moderne Technik und durch neue Technologien nicht mehr gegeben. Jonas warnte unter anderem vor nicht absehbaren Folgen durch die Gen- und Gehirnforschung und forderte zu einer Verhaltenskontrolle bei chemischen Substanzen auf.

Jonas referenziert auf Kants kategorischen Imperativ und schreibt ihn zu einem ökologischen Imperativ um: