Z. wie Zersetzung. Stasi und andere Verbrechen - Ludwig P. Fromm - E-Book

Z. wie Zersetzung. Stasi und andere Verbrechen E-Book

Ludwig P. Fromm

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Beschreibung

„Mit der Z. (operative Zersetzung) wird durch verschiedene politisch-operative Aktivitäten Einfluß auf feindlich-negative Personen, insbesondere auf ihre feindlich-negativen Einstellungen und Überzeugungen in der weise genommen, daß diese erschüttert und allmählich verändert werden bzw. widersprüche sowie differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften hervorgerufen, ausgenutzt oder verstärkt werden. Ziel der Z. ist die Zersplitterung, Lähmung, desorganisierung und isolierung feindlich-negativer Kräfte, um dadurch feindlich-negative Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend zu verhindern, wesentlich einzuschränken oder gänzlich zu unterbinden bzw. eine differenzierte politisch-ideologische rückgewinnung zu ermöglichen. die politische Brisanz der Z. stellt hohe Anforderungen hinsichtlich der wahrung der Konspiration.“ Ministerum für Staatssicherheit: Wörterbuch zur politisch-operativen Arbeit, Stichwort „Zersetzung“

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© 2020 Verlag Ludwig

Holtenauer Straße 141

24118 Kiel

Tel.: 0431-85464

Fax: 0431-8058305

[email protected]

www.verlag-ludwig.de

Alle Grafiken/Illustrationen © Ludwig P. Fromm

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-86935-398-2

Auch als Print-Book erhältlich: ISBN 978-3-86935-387-6

Inhalt

Vorwort

Grenzsprung

Kleiner Grenzverkehr

Reiseunterbrechung

Berlin (West)

Vorwort

Dreiundzwanzig Jahre habe ich in der DDR gelebt. Die ersten dreiundzwanzig Jahre meines Lebens. Als Siebzigjähriger schaue ich zurück. Nicht, um eine Biographie zu verfassen; das ist nicht das Thema dieses Buchs. Das Selbst des Erzählers bleibt verborgen, ist nicht Ziel, sondern Hintergrund. Als nicht zu exemplifizierende Struktur bestimmen Erfahrungen aber das Erzählen, das weder der Selbstfindung noch biografischer Selbstdarstellung verpflichtet ist. Mosaikhaft gruppierte Befindlichkeiten und ihre situative Einbettung sind der Erzählstoff. Das befreit vom Zwang historischer Kontinuität und faktischer Kohärenz und ermöglicht einen Selbstbezug der Erzählung in episodenhaftem Aufbau.

Der Autor versteht sich als Archivar von Gefühlswelten. Leben und Erleben sind an Raum und Zeit gebunden. Diese lassen sich situativ beschreiben und bilden das Medium emotionaler Realitäten. Erzählte Gefühle in einem erkennbaren Situationszusammenhang lassen sich an den historisch geführten Diskurs anschließen; sie wollen und können ihn aber nicht ersetzen. Jenseits statistischer oder systemtheoretisch orientierter Zeitbetrachtung, die nur Handlungen, aber nicht die Verfasstheit der Handelnden kennt, können erzählte Gefühle in ihrer situationsbezogenen Einbettung den Bogen zum menschlichen Erleben schlagen und die Grundlage für eine Art emotionaler Klimabestimmung in historischen Räumen bilden.

Die Erinnerungen an Fluchtversuch, Verhaftung, Prozess, Verurteilung, Haft und Entlassung nach Berlin (West) generieren heute, siebenundvierzig Jahre später, einzelne Bilder; eine Folge von Szenen, deren Eigenständigkeit die Konstruktion einer zusammenhängende Erzählung aber nicht zulässt. Je nach Art der Annäherung – in einem Gespräch, während einer Befragung oder in nächtlicher Einsamkeit – werden unterschiedliche Erinnerungscluster abgerufen, die Stimmungsmuster ganz eigentümlicher Art und Intensität erzeugen. Erinnerte Situationen sind das Gerüst für die Charakteristik, Platzierung und Wertung von Gefühlen. Ihre Struktur – und nur diese – garantiert die einzuhaltende Nähe zwischen dem Erleben aktueller Ereignisse und der zeitversetzten Reproduktion ihrer Stimmungsmomente; wohlwissend, dass Verzweiflung wie Freude nur in ihrer örtlichen und zeitlichen Situation den Anspruch an Realität erfüllen. In der Erinnerung mischt sich das entstehende Bild mit den Farben des gegenwärtig Erlebten. Erst in wiederholter Begegnung werden Gefühle erzählbar.

Der vorliegende Band versammelt vier unterschiedliche Texte. Hinter dem Titel Grenzsprung verbirgt sich eine Phantasie über ein skurriles, aus heutiger Sicht aber durchaus mögliches Geschehen. Keine Traumbilder oder Fiebervisionen stellten die Vorlage bereit. Tatsächlich war die Idee aus den sich langsam verschärfenden Konturen des real existierenden Wahnsinns zweier deutscher Staaten leicht ableitbar. Die bereits 1986 – im Jahr der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl – geschriebene Episode kann trotz der rätselhaften Ereignisse getrost als eine wahre Geschichte gelesen und verstanden werden.

Auch Kleiner Grenzverkehr ist eine fiktive Geschichte mit Wahrheitsanspruch. Alle aufgeschriebenen Ereignisse haben stattgefunden. Das gilt auch für den Ost-West-Handel von Gemüse im Schatten der Tschernobyl-Wolke. Fiktiv hingegen sind Reihung und Bedeutung der geschilderten Ereignisse. Die Handlung von Kleiner Grenzverkehr verschränkt sich mit den Erzählsträngen der beiden nachfolgenden Geschichten Reiseverzögerung und Berlin (West). Zusammen bilden sie eine Art Clustertext, der über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren unter verschiedenen Blickwinkeln über das reale Leben in und mit der DDR Auskunft erteilt.

Kiel, im März 2020

Ludwig P. Fromm

Grenzsprung

Eine Grenze – Lehnwort aus dem Altpolnischen, vgl. altslawisch, (alt-)polnisch: granica, »Grenze« – ist der Rand eines mathematischen, geometrischen, sozialen, kulturellen und in historischer Zeit bestehenden Raumes.

Was Sie wissen sollten

Diese Geschichte wurde 1986 geschrieben. Es war das Jahr der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl.

Im Frühjahr machte ich eine Grenzlandtour mit dem Fahrrad. In fast drei Wochen – wir hatten eine Zwangspause im Büro – fuhr ich von Witzenhausen an der Werra bis Fladungen, also von Hessen nach Bayern, immer möglichst dicht an der deutsch-deutschen Grenze entlang. Das bedeutete, kleinste Straßen, Wald- und Feldwege, aber auch Felder und Wiesen zu nutzen, um an ausgesuchten Orten ganz dicht an die Grenzanlagen heranzukommen. Kuriose Bilder belohnten die Anstrengungen.

In einem Dorfgasthof – ich aß dort eine Linsensuppe zum Mittag – lief ein über dem Tresen befestigter Fernsehapparat. Neueste Meldungen wurden verlesen, die ich nicht weiter beachtete. Erst ein mehrfach genannter Ortsname, für mich damals ein russischer, erregte meine Aufmerksamkeit. Ein seltsames Szenarium wurde präsentiert. Irgendein Atommeiler hatte eine Havarie. Gott sei Dank weit weg, dachte ich. Und völlig unpassend fiel mir eine russische Redewendung ein: Russland ist groß und der Zar weit. Dieser Unfall würde mich jedenfalls nicht betreffen. Ich zahlte und schwang mich auf mein Fahrrad. Die Grenze rief.

Zwei oder drei Tage später las ich in einem anderen Dorfgasthof die dort ausliegende Regionalzeitung. Von einer atomar verseuchten Staubwolke war die Rede, blieb aber für den Moment von mir unbeachtet. Stunden nach der Lektüre, wieder zurück auf meinem Grenzgang, wurde mir mit Blick auf einen Wachturm – warum es gerade ein Wachturm war, weiß ich nicht mehr – meine verrückte, ja schizophrene, wenn man will, begrenzte Situation schlagartig klar. Plötzlich sah ich mich in einem Raum zwischen den Dingen. Grenzen lösten sich auf. Schufen neue Gebilde, neue Barrieren. Ein Atomreaktor hatte seine Form verloren. Er konnte seinen tödlichen Inhalt nicht mehr verwahren, und der vagabundierte nun, alle Grenzen negierend, im Raum.

Vor mir fräste sich ein Grenzbauwerk in die Natur, scheinbar unvergänglich und unverzichtbar. Aber auch Grenzen haben ihre Geschichte, sind an die Zeit gebunden, erscheinen endlich.

An diesem Tag war mir ein Ort nördlich von Bad Sooden-Allendorf aufgefallen. Dort bildet der Fluss einen kleinen Bogen, an dessen östlicher Seite der Ort Kleinwahlhausen liegt. Dessen Besonderheit ist seine Lage, die mich auch jetzt, im Moment der Erinnerung, immer noch auf eigenartige Weise berührt. An Flüssen gelegene Orte haben für gewöhnlich Brücken, die sie mit dem Umland auch über das trennende Wasser hinaus verbinden. Die Werra ist ja schließlich nicht der Rhein. Doch hier gab es keine Brücke, keinen Weg auf die andere Seite. Die Werra hatte hier schon immer den Charakter eines Grenzflusses. »Kleinwahlhausen«. Plötzlich begann der Name zu sprechen, auf seinen Ursprung zu verweisen, sich als einen Flecken Heimat, als einen Wohnort der Wahl anzubieten. Seine Vorsilbe, die Verkleinerungsform, verniedlicht, macht sympathisch. Was sich mir unmittelbar aufdrängte, was ich dann sah, was mir der Blick auf Kleinwahlhausen freigab, war kein Traum, auch keine Vision, es waren die sich langsam verschärfenden Konturen des real existierenden Wahnsinns deutsch-deutscher Realität, zu einer Zeit, als das inzwischen vereinigte Deutschland noch ein Zwei-Deutschland war.

Früher Morgen

Rechts und links der Zonen – respektive der Staatsgrenze West – herrschte Unruhe, die sich schleichend in Panik verwandelte. Politiker, Funktionäre, Beamte, Kollegen wie Genossen hatten schon lange vor dem Mittagessen die immer frisch gebügelten Oberhemden komplett durchgeschwitzt.

Telefonanlagen von Ministerien, Landtagen, Bezirks- und Kreisräten brachen immer wieder zusammen. Überall Verwirrung, trotz oder besser wegen der alles überrollenden Flut von Informationen aus Kleinwahlhausen. Doch niemand gab Auskunft, weder im Osten, noch im Westen. Einigendes Schweigen beherrschte die Szenerie. Die Situation wurde gemeinschaftlich als ernst eingestuft und das gleichlautend von Autoritäten in beiden Hälften Deutschlands.

Und für das auferlegte Schweigen bedurfte es in dieser Situation keiner Absprachen, keiner hochrangig besetzten Konferenzen, auf denen gewöhnlich die besonderen Sprachregelungen zwischen Ost und West gefunden werden. Den immer Witzigen war ihr Grinsen zur Grimasse erstarrt, Pessimisten hingegen sahen sich am Vorabend eines Dritten Weltkriegs.

Der Morgen davor

Es dämmerte gerade, als Bauer Kirchberg seinen Traktor anwarf. Er wollte in die Kreisstadt, zwei Schweine abliefern. Schon seit Tagen hätte er fahren müssen. Die Kühe brauchten dringend Futter. Das bekam er von der LPG, der »Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft«, für sein »Deputat«, die abgelieferten Tiere.

Gerade, als er die Dorfstraße verlassen wollte, die in einem leichten Schwung in eine Pappelallee einmündet, kam ihm ein Mopedfahrer entgegen, bremste scharf, zeigte in Richtung Pappelallee, aber auch in alle anderen Richtungen, redete viel zu schnell und viel zu laut Unverständliches. Dann raste er wieder los, hinunter ins Dorf.

Das war doch der Kunkel, dieser Saisonarbeiter. Der auf’ Zuckerfabrik malocht, schoss es Kirchberg durch den Kopf. Ja, an Werktagen war Kunkel gewöhnlich der Erste, der das Dorf verließ. Sie fingen früh an, in der Zuckerfabrik, und mit der »Schwalbe« brauchte er gut eine halbe Stunde bis in die Stadt. Dem Bauer Kirchberg war in Folge des plötzlichen Bremsmanövers der Motor seines Treckers abgesoffen. Ärgerlich startete er ihn neu. Was der Kunkel wohl wollte? Viel hatte der Bauer nicht verstanden! Also los, er hatte schon genug Zeit verloren. Noch immer kopfschüttelnd, auch das Wenige schon vergessend, musste er wieder ganz plötzlich bremsen – und auch diesmal soff ihm der Traktor ab!

Saisonarbeiter Kunkel war inzwischen im Dorf angekommen. Eilig und zielstrebig steuerte er auf eines der beiden Einfamilienhäuser zu, das, noch unverputzt, neben der Schule stand. Den Georg wollte er sprechen. Und das um diese Zeit! Er klopfte. Fast hätte es die Tür gekostet. Doch dann kam Georg. Öffnete die von Faustschlägen noch dröhnende Haustür, zog sich die grüne Uniformhose zurecht, knöpfte umständlich ihren Bund zu. Jetzt wollte er aber Erklärungen. Kunkel gestikulierte, redete, nein, schrie, blieb unverstanden.

Georg Neureuter, der in Kleinwahlhausen für Recht und Ordnung zuständig war, hatte sich nach seiner Armeezeit bei der Polizei gemeldet. Jetzt war er war der »Abschnittsbevollmächtigte« seines Heimatdorfes und stolz, wenn die Dörfler ihn den »ABV-Georg« nannten. Dann war er Vertreter der Staatsmacht, wie in diesem Moment, in dem er ein Nervenbündel dazu bringen musste, eine verständliche Aussage zu machen.

»Heinz, mal langsam, ich verstehe kein Wort.«

Heinz war rot angelaufen, Schweiß stand auf seiner Stirn. Er starrte seinem Gegenüber in die Augen. Blieb einen Moment lang regungslos. Er dachte nach.

»Die haben uns abgesperrt«, sagte er dann langsam, fast emotionslos und wartete.

»Wer hat uns abgesperrt?«, wollte Neureuter wissen.

»Weiß ich auch nicht.«

»Was, was abgesperrt?«

Neureuter war jetzt ganz Polizist. Er trat einen Schritt vor, fasste Kunkel bei den Schultern und wiederholte seine Frage: »Kunkel, was haben die abgesperrt?«

»Die Straße nach Weilhausen.« Kunkel wirkte niedergeschlagen.

»Eine Baustelle?«, fragte ihn der ABV.

»Nein, keine Baustelle, die Fünf-Kilometer-Zone haben sie dicht gemacht.« Kunkel flüsterte, als ob er Geheimnisse ausplaudern würde. Neureuter blieb skeptisch.

»Quatsch, das wüsste ich. Komm! Ich will mir das selbst ansehen.«

Als sie die Biege passierten und in die Pappelallee einbogen, stießen sie auf Bauer Kirchberg. Auf seinem Traktor sitzend, starrte er vor sich hin. Sein rechter Fuß drückte immer noch das Bremspedal durch. Eines der Bremslichter leuchtete schwach.

Das Unglaubliche

Etwa zeitgleich mit diesen Ereignissen war in der Grenzkompanie Ernst Thälmann Wachablösung. Die Posten von den Türmen und aus den Erdbunkern wurden ausgetauscht und Meldungen gemacht; ins Wachbuch die Worte Keine besonderen Vorkommnisse notiert.

Nur der Posten V aus dem Grenzabschnitt B/24/3, der in dieser Nacht allein Dienst in einem Erdbunker hatte, meldete sich krank. Kurz nach Mitternacht hatte er Schwindelanfälle gehabt und erbrechen müssen, fühlte sich immer noch schwach. Ein Oberfeldwebel wurde beauftragt, den Unterfeldwebel Großmann, so hieß der kranke Grenzschützer, zu beobachten und, wenn nötig, in die Poliklinik der Kreisstadt zu begleiten. Sonst war alles wie an jedem Morgen.

Beim OVD, dem Offizier vom Dienst, klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab. Aus der Ohrmuschel schrie ihm Major Bräutigam entgegen. Der OVD stand auf, nahm Haltung an.

»Morgen, Genosse Bräu... jawohl, Genosse Bräutigam … kümmere mich sofort … wird sich aufklären … Rufe dann sofort zurück … jawohl, Genosse Bräutigam.«

Der OVD setzte sich wieder. In Gedanken gab er sich den Befehl Rührt euch, atmete tief durch und legte bedächtig den Hörer auf.

»Scheiße«, hörte er sich sagen. Im Nachklang dieses unerwarteten Verbalbeschusses brachte das durchaus Erleichterung. Er hatte den Begriff ausatmend, erweiternd ausgesprochen. Es war der Ton, die unpersönliche Kürze, mit der Bräutigam ihn informiert, ihm befohlen und ihn gleichzeitig verurteilt hatte.

»Scheiße«, wiederholte er, diesmal leise und nur zu sich selbst.

Dann, zur offenen Tür gewandt, gab er im Befehlston eine kurze und präzise Anordnung.

»Genosse Stühler, lassen Sie einen Wagen kommen, sofort, ich muß zum Grenzabschnitt B/ 24/3.«

Ein Trabant Kübel fuhr vor, der OVD stieg ein, nach seinem Befehl fuhr der Fahrer zum gewünschten Grenzabschnitt. Der Wagen verließ das Areal der Kompanie, passierte Posten und Schlagbäume, erreichte die Staatsgrenze West. Folgte ihr ein paar hundert Meter, bog dann ab und fuhr, jetzt im Wald auf einem Forstweg in Richtung der alten Landstraße, die, hält man sich rechts, direkt nach Kleinwahlhausen führt. Auf den letzten zweihundert Metern ist die Straße eine Pappelallee. Ihre Bäume sollen durch Napoleons Soldaten gepflanzt worden sein. Aber so genau wusste das keiner mehr. Noch einen Hügel, dann würde das Dorf zu sehen sein …

»Was soll denn das da unten?«, wollte der OVD wissen.

Auf der Pappelallee nach Wahlhausen standen der Schulbus, ein Milchauto, ein Lieferwagen der Großbäckerei und zwei PKW. Einer davon, ein Trabant, gehörte der Erzieherin Frau Grohte, die erst seit kurzem in der Kita in Kleinwahlhausen arbeitete und am Monatsende endlich auch dort wohnen würde. Der Wartburg war der Dienstwagen vom Veterinär, dem »Leiter der staatlichen Tierarztpraxis Kleinwahlhausen«. Auf ihn wartete eine Nachgeburt. Aber das wusste er in diesen frühen Morgenstunden noch nicht.

Männer und eine Frau standen auf der Straße und diskutierten. Als sich der Trabant von Kübel der Gruppe näherte, rannte einer der Männer ihm entgegen.

»Genosse Oberleutnant, Genosse Oberleutnant, … die Grenzanlagen …!«

Oberleutnant Karl-Heinz Reitner war ein Altgedienter. Es kostete ihn Mühe, sich an die Zeit ›davor‹ zu erinnern – vor seiner Entscheidung Soldat der Nationalen Volksarmee, der NVA, zu werden. Vielleicht wollte er es nicht, vielleicht konnte er es auch nicht mehr. Deutlich älter als seine Klassenkameraden, hatte er die Schule nach der 8. Klasse verlassen und umgehend Arbeit in einer Fabrik gefunden. Seine Aufgabe bestand darin, Rohlinge an Drehbänke und Fräsmaschinen der Facharbeiter zu bringen und die bearbeiteten Teile von dort zur Auslieferung zu transportieren. Gefallen hatte ihm diese Arbeit nie. Als er endlich achtzehn und damit volljährig war, stellte er sich bei seinem zuständigen Wehrkreiskommando vor. Als er es nach gut zwei Stunden verließ, hatte er sich freiwillig verpflichtet, zehn Jahre Dienst bei der NVA zu leisten. Diese Zeit sollte die wichtigste in seinem Leben werden. Er fand einen Platz in der Welt und lernte viel. Später, als er zu den Grenztruppen verlegt wurde, wollte er das schützen, was ihm über alles ging: seine Heimat, die Deutsche Demokratische Republik und die Errungenschaften des Sozialismus.

Und nun, an diesem verfluchten Morgen, stand er hier an seiner Grenze und glaubte, versagt zu haben. Das da unten betraf ihn direkt. Er spürte es genau. Die Grenze, er sah es mit eigenen Augen, hatte einen Sprung gemacht. Nur, auch das war ihm klar, Grenzen springen nicht. Aber es war geschehen, etwas war geschehen, das er hätte verhindern müssen.

»Genosse, Genosse ...«

Die Umstehenden meinten ihn. Jetzt erst bemerkte er die Ungeduldigen. Natürlich wollten sie wissen, was geschehen war. Was das sein sollte, was sie da vor sich sahen. Und er musste es doch wissen.

»Ja, ja ... nein!«

Er wusste gar nichts. Zurück, zurück. Er wollte nur zurück in die Garnison. Er gab die nötigen Befehle. In der Garnison würde sich alles klären und aufklären lassen. Dort erwartete man ihn schon. Ein Major mit Befehlen von »ganz oben« forderte zum Besteigen eines Hubschraubers auf. Ein Aufklärungsflug sollte Sicherheit bringen. Die Motoren liefen schon. Mit den Anderen, alle waren sie höhere Offiziere, bestieg er wie befohlen die Flugmaschine. Sie hoben ab. Grenzabschnitt B/ 24/3! Karten und ältere Luftbilder wurden zu Rate gezogen, mit der Geographie verglichen. Das Ergebnis war so eindeutig wie unverständlich. Der Verlauf eines ganzen Abschnitts der Staatsgrenze West hatte sich über Nacht und offensichtlich unbemerkt geändert. Von Norden nach Süden verlief die Grenze in gerader Linie auf Kleinwahlhausen zu. So, als wollte sie das Dorf durchteilen. Doch kurz, bevor sie auf das Dorf treffen würde, knickte die Linie ab, umschloss das Dorf auf der westlichen Seite, ein leicht deformiertes »U« bildend. So jedenfalls war es noch vor einem Tag gewesen. Jetzt wirkten die Grenzanlagen wie das Spiegelbild ihrer früheren Existenz. Die beiden Wachtürme nördlich und südlich vom Dorf standen unbeirrt, am Anfang und Ende des gespiegelten »U«. Aber auch sie hatten sich um viele Meter bewegt. Was bei den Türmen schon nicht erklärbar war (wie kann ein Bauwerk dieser Größe in einer Nacht, um mehr als hundert Meter bewegt werden, ohne von der diensthabenden Wachmannschaft bemerkt zu werden?), wirkte mit Blick auf den Erdbunker schlicht unmöglich.

Fest eingebunden in das mehrschichtige Grenzsystem, hatte sich der Bunker um zirka tausend Meter Richtung Osten zurückgezogen. Genauso unvorstellbar, jeder Logik entbehrend, präsentierte sich der Grenzverlauf zwischen den Türmen … Wie eine unter Spannung stehende Beule in einer Wagenkarosserie, die schon durch leichten Daumendruck von Innen nach Außen springt, war die Staatsgrenze West um eine imaginäre Achse rotiert und hatte Kleinwahlhausen dem politischen Gegner ausgeliefert.

Im Hubschrauber wurden keine Meinungen geäußert. Nur ein Bericht wurde verfasst. Er sollte sachlich sein, lediglich Fakten benennen und ging nach der Landung sofort den entsprechenden Dienststellen zu.

Verwirrung

In Georg Neureuters Wohnzimmer drohte die Stimmung zu explodieren. Neureuter, umringt von Bauern, versuchte zum x-ten Male, den Genossen Bräutigam und damit den Vorsitzenden des Rat-des-Kreises ans Telefon zu bekommen. Doch in seinem Vorzimmer fand sich keiner, der eine Verbindung herstellen wollte.

»Haben Sie doch Geduld, Genosse. Der Genosse Bräutigam meldet sich bei ihnen, wenn er mehr weiß.«

Wieder abgewimmelt. Geduld hatten die Bauern nicht mehr, sie wollten alles wissen, ausführlich und sofort. Drei Kinder, noch die Schulranzen auf den Rücken, drängten mit Neuigkeiten in die Mitte vor. Sie wollten dem ABV Wichtiges mitteilen.

»Seid doch mal still«, rief eine Bäuerin in die Runde, »die Kinder wollen uns was sagen.«

Plötzlich im Mittelpunkt, schrien die Erstklässler fast gleichzeitig: »Die Grenze ist weg!«

Dann herrschte Ruhe. »Die Grenze ist weg? Was soll das jetzt wieder«, fragte ein Aufgeregter aus der hinteren Reihe.

Die Kinder wurden befragt, waren unsicher, spürten die Spannung im Raum. Sie antworteten umständlich, für viele zu langsam.

»Ja doch, die Grenze hinter dem Fußballplatz, sie ist einfach weg.«

»Das will ich sehen!«

Erste rannten raus, der Rest folgte. Georg Neureuter griff instinktiv nach seiner Mütze, knöpfte seine Jacke zu, die Kleiderordnung beruhigte ihn. In der Uniform fühlte er sich sicherer. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Auf dem Fußballplatz stand eine Gruppe Diskutanten dicht gedrängt. Georg Neureuter zwängte sich durch die Reihen. Ganz vorn, mit Blick nach Westen, sah auch er es, als ein Hubschrauber ohne wahrgenommen zu werden, die Gruppe überflog.

Das vertraute Bild hatte Fehler. Da, wo noch gestern, hinter der Grenzanlage die BRD begann, standen zwei Autos. Das eine grün, das andere grau. Das grüne trug die Zeichen des Bundesgrenzschutzes, das graue die Signets der Zollbehörde der BRD. Eigentlich ein gewohnter Anblick. Nur, früher standen sie hinter etwas, hinter einem Zaun, eine Begegnung war ausgeschlossen.

Die Besatzungen beider Fahrzeuge waren ausgestiegen. Sie schwiegen. Waren angespannt, wie die Bauern es auch waren. Wie gebannt starrten sie auf die Bürger von Kleinwahlhausen und suchten gleichzeitig die Grenzanlagen. Jeden Tag dreimal standen dort oben Autos. Dreimal täglich Routine. Sie kannten sich längs, die von da oben und die aus dem Dorf. Unzählige Male hatten sie sich gegenseitig mit Feldstechern bestarrt. Viele von ihnen würden sich in anderen Situationen wiedererkennen, auf der Straße, in einem Wirtshaus, eben bei zufälligen Begegnungen. In all den Jahren waren sie sich vertraut geworden, Regelmäßigkeit schafft Vertrauen.

Dank seiner besonderen Topografie bietet Kleinwahlhausen eine überschaubare Situation für die Grenztruppen, den Bundesgrenzschutz, die Dorfbewohner und auch für die Gott-habe-wires-gut-Touristen, die aber gewöhnlich erst nach dem Mittagessen kamen (beim Grenzbummel verdaut es sich einfach besser). Sie machten täglich das Dorf für Stunden zum Zoo. Den Menschen in Kleinwahlhausen war es inzwischen egal, die Jahre brachten Gelassenheit.

Aber an diesem Morgen war davon nichts zu spüren.

Der Zaun fehlte und bei den Menschen, die sich da gegenüber standen, wandelte sich der Verlust in Angst und Angst in Erstarrung. Erst, als einer der Bundesgrenzschützer zögerlich und immer wieder zurück zur verschwundenen Grenzanlage schauend, langsam in sein Fahrzeug stieg, um mit seiner Dienststelle zu telefonieren, brach der Bann. Alle redeten plötzlich durcheinander, stellten Fragen, ohne Antworten zu erwarten, entwickelten Theorien, ohne wirklich an sie zu glauben.

Die Verwirrten bildeten einen Kreis. In seiner Mitte stand Georg Neureuter.

Das Unvorstellbare

Die Meldungen aus Kleinwahlhausen erreichten schnell Stellen höchster Zuständigkeit in beiden Teilen Deutschlands.

Die Militärs zogen Truppen zusammen, die Politiker beriefen Arbeitsgruppen ein. Erste Verhandlungen mit der anderen Seite sollten helfen, Zeit zu gewinnen. Noch am gleichen Tag saßen Vertreter der Alliierten am Grünen Tisch. Auch sie hatten besichtigt, ermittelt und beratschlagt. Militärische Aktionen als Ursache des Geschehenen wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Eine Erklärung des Vorgefallenen war damit noch lange nicht gefunden. Und – man fand sie auch an den folgenden Tagen nicht!

Karl-Heinz Reitner hatte die letzte Nacht nicht schlafen können. Immer wieder versuchte er, das Vorgefallene zu verstehen, Fakten aneinander zu reihen, zu ordnen, zu bewerten, Schlüsse zu ziehen. So etwas dürfte einfach nicht vorkommen. Nicht in seinem Grenzabschnitt. Nirgendwo! Aber wie sollte er etwas verhindern, das er nicht kannte, nicht verstehen konnte? Wie sollte er vorbeugend tätig werden, wenn er nicht wusste, wogegen?

Auch für das Krisenmanagement hatte es keine Ruhe gegeben. Immer wieder hatten sie Theorien gebildet, auf Tauglichkeit geprüft und wieder verworfen. Experten wollten noch nichts ausschließen, sich nicht festlegen lassen. Die Gedankensplitter, mehr war es nicht, ergaben kein Ganzes. Weiterführende Wege wurden nicht gefunden. Übernatürliche Einflüsse? Auch diese Frage wurde zugelassen. Aber niemand glaubte an die Kräfte und Gewalten von Bewohnern ferner Sonnensysteme oder an das Wirken von nicht bestimmbaren Energien, die den »Grenzsprung« (dieser Begriff stand auf den meisten Aktendeckeln der Autoritäten) verursacht haben könnten. Tatsachen werden von der Politik geschaffen! So sollte es auch in diesem Falle sein. Handeln, schnelles Handeln war nötig, längst überfällig. Von Anfang an gesellte sich zur Ratlosigkeit im Fall Kleinwahlhausen der Zwang zum politischen Handeln. Das Geschehene kannte keinen Vergleich. Immer wieder saßen Vertreter der beiden deutschen Staaten an einem Tisch. Ihr Problem war schließlich ein deutsch-deutsches und konnte nur einvernehmlich, nur gemeinsam, eben gesamtdeutsch, gelöst werden. So wurde schließlich ein erstaunlich kreatives und geradezu weise formuliertes Papier erarbeitet. Es hatte den höchsten Geheimhaltungsgrad.

Punkt eins dieser deutsch-deutschen Verlautbarung war die Feststellung: Täter unbekannt. Weder ein Aggressor aus dem imperialistischen Westen noch eine Spezialeinheit aus dem sozialistischen Osten konnte verantwortlich gemacht werden. Die Bewohner von Kleinwahlhausen fielen als Verursacher bereits nach ersten Ermittlungen aus. Revanchistische Gruppierungen und Verbände, so die Meinung der Politikprofis, wären für Aktionen von dieser Größenordnung nicht genug ausgerüstet und organisiert. Weiter wurde unter Punkt eins der deutsch-deutschen Erklärung zu Papier gebracht, dass sich der linke Terrorismus nicht für Kleinwahlhausen interessieren würde, also als Verursacher gleichfalls nicht in Frage käme.

Punkt zwei der Verlautbarung regelte die Art des gemeinsamen Vorgehens der unterschiedlichen Lager: Alle Seiten strebten eine politische Lösung an und dies in kürzester Zeit.

Im Punkt drei erklärten sich beide Lager bereit, an der Aufklärung der Vorfälle gemeinsam und kooperativ zu arbeiten. Sofort zu fällende Entscheidungen sollten der Logik der Vereinbarungen folgend und mit Blick auf weitere Ereignisse modifizierbar angelegt sein. Für das deutsch-deutsche Verhältnis kein Novum, keine unbekannte Bedingung.

Auf dieser Grundlage wurde ein Status quo formuliert: Der neue Grenzverlauf wurde anerkannt. Der DDR sollen im Rahmen laufender Verhandlungen zum »Grenzverlauf Oberelbe« adäquate Ausgleichsflächen vom Territorium der BRD zugewiesen werden.

Die Einwohner von Kleinwahlhausen würden ab sofort entscheiden können, in welchem Teil Deutschlands sie zukünftig leben wollten – im sozialistischen Osten oder im kapitalistischen Westen (wo sie sich im Moment aus ungeklärten, ja mysteriösen Gründen ungefragt befanden). Noch am selben Tag sollten die Bedingungen für eine schnelle und unbürokratische Abwicklung beschlossen werden.

Ein pragmatisches Ende

Im Dorf war die Zeit nicht stehengeblieben. Abgeschieden, auf sich selbst gestellt, blieb den Fragenden nur das Spekulieren. Ein Gerücht jagte das andere. Krieg, Wiedervereinigung, Umweltkatastrophe, Putsch der Militärs … die verschrobensten Ideen, die haarsträubendsten Theorien erschienen am glaubwürdigsten.

Es stimmte aber auch nichts mehr in Kleinwahlhausen. Alle Telefonverbindungen zur Außenwelt waren gekappt. Die NVA – man stelle sich das vor – und der Bundesgrenzschutz teilten sich einvernehmlich die Aufgabe, das Dorf hermetisch abzuriegeln. Hubschrauber landeten und starteten in schneller Abfolge. Militärs machten Aufnahmen, interviewten, verhörten. Hausdurchsuchungen wurden gemacht. Die Fremden, in Kleinwahlhausen »Aktivisten der letzten Stunde« genannt, kamen aus Berlin, aus Bonn; viele von ihnen waren Ausländer, sprachen Deutsch oder Englisch, Französisch, auch Russisch.

Ja, es waren schlimme Tage für alle im Dorf. Und – sie endeten schließlich so unverständlich, wie sie begonnen hatten, nämlich unerwartet plötzlich. Am späten Nachmittag des dritten Tages hatten alle Ortsfremden das Dorf verlassen. Zügig und ohne Ankündigung war das geschehen. Die Bauern spürten zuerst die Ruhe, dann stellten sie, wieder neu verunsichert, das Fehlen der Fremden fest. Wieder gärte es in der Gerüchteküche. Ganz langsam füllte sich am Abend der Gemeindesaal. Allein, zu Hause, wollte keiner sein. Wenn es Neuigkeiten geben sollte, würde man sie zuerst hier erfahren. Und, es sollte Neues geben! Schon bald!

Zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr (den genauen Zeitpunkt bezifferte man später auf 20 Uhr 35) fuhren ein Benz und ein Volvo auf den Dorfanger; sie parkten, nebeneinander, direkt vor der alten Scheune. Bedächtig stiegen Männer aus, zogen dunkle Jacketts über weiße Hemden, prüften den Sitz der Krawatten: Sie orientierten sich.

Die Kunde von einer zu erwarteten Erklärungen machte die Runde. So viele Menschen hatte der Gemeindesaal noch nie gleichzeitig beherbergt. Alle waren da. Von den Alten saßen einige in Rollstühlen, die Kleinsten wurden getragen oder tummelten sich bei ihren Müttern auf dem Schoß. Andere standen. Der Rest saß auf Stühlen und Tischen, den viel zu knappen Platz verteidigend.

Gesprochen wurde leise. Die Versammelten wirkten ängstlich, was ihre ruhelos umherirrenden Blicken verrieten. Als die Deutsch-Deutsche-Regierungsdelegation den Gemeindesaal betrat, herrschte plötzliches Schweigen. Es hielt an.

Erst lange, nachdem die schwarzen Autos das Dorf wieder verlassen hatten, waren von Bauer Kirchberg zwei Worte zu hören, mit denen er das allgemeine Schweigen brach. Mit leicht zitternder Stimme sagte er: »Ich gehe!«

Unbemerkt verschwunden

Schließlich wieder Dienst nach Vorschrift. Ruhe war eingekehrt. Keine Generäle, keiner der Bonzen vom Bezirk oder aus Berlin hatten sich angesagt.

Karl-Heinz Reitner stand allein in seinem Dienstzimmer. Er betrachtete abwechseln die ihm so vertraute Karte seiner Grenze und einen Stapel von Luftbildern. Die neuen Fotos hatten durchsichtige Deckfolien. Auf ihnen war, die heutige Situation überlagernd und entsprechend alter Luftaufnahmen, der alte Grenzverlauf eingezeichnet. Eine Strich-Punkt-Linie zeigte an, wo noch vorvorgestern Markierungssäulen, Grenzsteine, Metallgitterzäune, Spurensicherungsstreifen, Kolonnenweg, Lichtsperre und Schutzstreifen-Zaun, einschließlich der komplizierten Alarmtechnik, das Territorium der DDR zu schützten hatten.

Ein erprobter, ausgeklügelter, fünfzig Meter breiter Grenzstreifen hatte sich in Wiesen und Wald verwandelt.

Wie in Trance folgte Reitner mit einem Finger der Strich-Punkt-Linie, hoch und runter, hoch und runter, immer wieder die gleiche Strecke. In Gedanken war er auf Kontrollgang. Jetzt verweilte sein Finger auf dem Erdbunker und er entsann sich an einen Eintrag im Wachbuch. Er suchte nach dem Dokument; als er es fand, blätterte er, einer plötzlich erscheinenden Spur folgend, im Berichtsbuch ... da, Nachtschicht ... Posten Erdbunker ... ein Unterfeldwebel ... Großmann mit Namen ... Krankmeldung ... Übelkeit ... keine weiteren Vorkommnisse ...

Dieser Unterfeldwebel Großmann hat sich also krankgemeldet und wollte von nichts etwas wissen, wollte nicht gemerkt haben, dass er sich mit seinem Erdbunker bewegt hatte, wollte nichts gesehen, nichts gefühlt haben! Er war in die Garnison auf neuen, ihm unbekannten Wegen zurückgekehrt, ohne jeden Verdacht. Ist das möglich?

Reitner ließ den Unterfeldwebel Großmann kommen. Als der erschien, fragte ihn Reitner ohne Begrüßung: »Sie hatten sich vor Tagen krankgemeldet. Haben Sie noch Beschwerden?«

Nach der erwarteten Verneinung ließ sich Reitner noch einmal berichten, was in jener Nacht aus der Sicht des Diensthabenden vorgefallen sei. Nichts Neues war in dem Bericht zu erkennen. Aber Reitner wollte mehr und fragte den inzwischen völlig blass gewordenen Unterfeldwebel nach besonderen Ereignissen am Grenzabschnitt B24/3. Ja, der Unterfeldwebel hatte davon gehört, wusste aber nichts Genaues. Reitner nahm die Luftbilder von seinem Schreibtisch, sah sie sich wieder – fast zwanghaft – an, und sofort begannen seine Gedanken zu vagabundieren, verließen Raum und Gespräch, wurden erst durch Telefonklingeln aus dem Vorzimmer zurückgeholt. Jetzt gab er eines der Bilder Großmann. Der erkannte Topografie, Grenzanlagen und Bunker. Hoch erfreut teilte er das Erkannte seinem Vorgesetzten mit. Als ihm Reitner das zweite Foto in die Hand gab, wurde der Unterfeldwebel unruhig.

»Sehen Sie den Bunker, Unterfeldwebel? Vor drei Tagen war dieser Bunker noch hier!«

Reitner zeigte auf das Luftbild, das seine Hand leicht zittern ließ, und traf genau die Stelle, an der der Erdbunker gestanden hatte.

»Wieso haben Sie mir nicht gemeldet, dass sich dieser verdammte Bunker am Ende ihres Dienstes nicht mehr dort befand, wo sie ihn zu Beginn ihrer Schicht bestiegen hatten?«

»Ich ..., ich ...«, der Unterfeld begann zu schwitzen. »Ich ...«

Während Großmann unausgesprochene Worte zwischen Gaumen und Zunge knetete, ordnete er seine Gedanken.

»Es war dicker Nebel, als wir Wachablösung hatten. Die Sicht betrug weniger als 15 Meter! Ich habe es einfach nicht bemerkt, Genosse Oberleutnant.« Etwas Bittendes hatte sich als Unterton in die Stimme Großmanns eingeschlichen.

Reitner hatte den jungen Mann genau beobachtet. Belog ihn dieser aufgeregte, schwitzende Unterfeldwebel, der wie ein verängstigter Schuljunge gerade auf seinem Stuhl saß und seine Hände knetete? Reitner wusste es nicht.

»Keiner hat etwas bemerkt!«

Großmann war sichtlich verzweifelt. Reitner begriff, dass er nicht mehr erfahren würde.

»Is’ in Ordnung. Sie können gehen. Und ... alles Gute!«

Wieder alleine, stützte Reitner seinen Kopf zwischen beide Hände. Zwischen seinen Ellenbogen lag eines der Fotos von dem Grenzabschnitt auf dem Schreibtisch.

Hat nichts bemerkt! Will nichts bemerkt haben!

Aber er glaubte diesem Großmann, was die Lage für ihn nun noch rätselhafter machte. Todmüde und fassungslos zugleich, starrte er auf das Unbekannte, Unverständliche, für ihn Inakzeptable.

Auf dem Sofa

Bauer Kirchberg saß in der guten Stube. Aus dem Gemeindesaal war er direkt hierher gekommen, auf seinen Platz auf dem Sofa, der Kommode gegenüber. Er hatte die Mütze vom Kopf gezogen, automatisch, wie er es immer tat, wenn er diesen Raum betrat. Sie lag jetzt auf dem Tisch unter seinen schweren Händen. Neben ihm saß die Bäuerin, seine Frau. Sie war ihm gefolgt, aus dem Gemeindesaal die Dorfstraße hinunter, durch die Feldgasse auf den Hof, ins Haus, hierher auf das Sofa. Er hatte sie nicht bemerkt und sie hatte ihn nicht ansprechen wollen. Sie kannte ihren Mann. Vorhin, im Gemeindesaal, hatte seine Stimme gezittert, und jetzt, hier auf dem Sofa, sahen seine Augen mehr als sonst. Sie spürte es, ihr Mann schaute zurück, Jahre, Jahrzehnte, durch das Bild auf der Kommode hindurch in eine vergangene Zeit.

»Unser Hof«. Das war 1943 gewesen. Zwei Jahre später hatten »die Russen«, also korrekt gesagt, Angehörige der Roten Armee, damit begonnen, gleich hinter dem Dorf Pfähle in den Boden zu schlagen. Die Stangen hatten rote und grüne Streifen. Das war kein Weidezaun geworden. Mit den Pfählen kam die politische Teilung Deutschlands. In Kleinwahlhausen begriff man schnell Sinn und Bedeutung der eingeschlagenen Stangen. So nannten sie die Reihe der Pfähle schlicht, schon bald: »Die Grenze.«

Als Vermesser und Pfahleinschläger genug weit weg waren, traute sich der Bauer Kirchberg an die Pfähle heran, die eine Linie bildeten, die mitten durch sein Land ging. Sie hatten es geteilt: in einen Rest auf seiner Seite und in die Felder da drüben, jenseits der Grenze. Der Rest blieb ihm. Richtig, er hatte neues Land bekommen. Auf dem Hügel vor dem Dorf, nach der Bodenreform, wurde angrenzendes Gutsland aufgeteilt. Ein schönes Stück war ihm zugesprochen worden. Doch erst nach vielen Ernten hatte er von »unserem Land« gesprochen und »das Neue« gemeint. Dann kam die »Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft«. Schon damals hatte er weg gewollt.

»Vielleicht geben sie uns unser Land wieder?«

Ganz leise hatte das seine Frau gesagt. Jetzt zitterte ihre Stimme, auch ihr Blick ruhte auf dem vergilbten Bild vom Hof.

»Sollen wir etwa wieder von vorn anfangen? Wir, die Alten? Bauern, denen das Land wegläuft?«

Die Einen und die Anderen

Karl Georg Neureuter hatte Angst. Seit Minuten hielt er die Hände seiner Frau. So eng, Hand in Hand, hatten sie einander schon lange nicht mehr gespürt. Früher, ja, wenn sie in die Stadt fuhren, um auszugehen oder um einfach nur durch die Straßen zu schlendern, vor Schaufenstern zu stehen, miteinander zu reden, das gemeinsame Leben zu planen. Heute sollte sie die Nähe schützen. Der Kirchberg wollte weg und viele andere auch, nein, eigentlich die meisten! Sie wollten ihr Glück im Westen machen. Hier ist doch nichts mehr los. Wie oft hatte er diesen Satz in den letzten Tagen gehört? Und immer hatte es ihm wehgetan. Ist doch unser Dorf. Aber das wollte niemand mehr hören. Die Zeichen der Zeit deuteten nach Westen.

Sie wollten bleiben, Karl Georg Neureuter und Mimmi, seine Frau. Gerade hatten sie das Haus gebaut. Sicher, fertig war es noch lange nicht. Vieles fehlte noch. Aber: es war ihr Zuhause. Wie viele Mühen hatte es gekostet, das zu schaffen, wieviel Arbeit steckte in diesen Mauern? Wie viele »guten Worte« waren nötig gewesen, um alles zu bekommen? Wie oft hatte er Dinge tun müssen, die er nicht hätte tun dürfen, er, der »Abschnittsbevollmächtigte«? Und jetzt, was sollte werden? Sie wollten bleiben. Irgendetwas würde sich schon finden. Das Leben musste doch weitergehen …

Wer erklärt mir das?

Auch Karl-Heinz Reitner, der Oberleutnant, war in das Räderwerk geschichtsbestimmender Kräfte geraten. Der Gedanke an die Enträtselung des Unvorstellbaren ließ ihn nicht mehr los. Er wollte Aufklärung. Um jeden Preis. Seine ganze Existenz hatte nur diesen einen Sinn. Alles opferte er dem Wunsch nach Wissen. Wochenlang stellte er Untersuchungen an, sammelte Material, entwickelte Theorien. Dann wurde es ihm verboten. Eine Kommission sei beauftragt. Er erschwere deren Arbeit, mische sich ein. Resigniert beantragte er im Folgejahr seine vorzeitige Freistellung. Die Genehmigung erfolgte in kürzester Zeit. Reitner wurde noch einmal für besonders Leistungen bei der Sicherung sozialistischer Errungenschaften ausgezeichnet – und dann in Ehren entlassen.

Der Grenzabschnitt B24/3 ist immer »sein« Grenzabschnitt geblieben. Einmal ist er noch zur Pappelallee gefahren, der Landstraße nach Kleinwahlhausen. Der Asphalt war inzwischen brüchig geworden. Gras brach an den schwächsten Stellen durch und Löwenzahn, der auf dem schwarzen Untergrund gelbe Punkte setzte. Die Straße war nicht mehr befahrbar. Ein Posten sicherte im Vorfeld. Der neue Grenzverlauf hatte sich ins Land gefressen. Der Pressetrubel war langsam eingeschlafen. Weder im Osten noch im Westen war Aufklärung erfolgt. Journalisten im westlichen Teil Deutschlands hatten das »mysteriöse« Verschwinden eines Teilabschnitts der Zonengrenze auch nur interpretieren, aber nicht erklären können. Die östlichen (gleichgeschalteten) Medien hielten sich an die viel zu kurzen (ebenfalls gleichgeschalteten) Verlautbarungen der Regierungssprecher beider Teilstaaten, von deren Glaubwürdigkeit aber niemand wirklich überzeugt war.

Alle hatten sie sich versucht – Zeitungen, Rundfunksender, das Fernsehen, im Westen Panorama, Kennzeichen D oder das legendäre ZDF-Magazin mit Gerhard Löwenthal. Der wurde ganz im Sinne eingespielter Rituale umgehend im östlichen Teil Deutschlands zitiert. Von wem? Was für eine Frage, natürlich von Karl Eduard von Schnitzler, im Schwarzen Kanal des roten Fernsehens. Schnitzer glaubte, ein neues Beispiel für Geschichtsfälschung im OriginaltonWest gefunden zu haben. Nach seiner Einschätzung hatten sich die abhängigen BRD-Journalisten vor den imperialistischen Karren spannen lassen. Und auch das wollte Schnitzler erkannt haben: Der ganze Trubel in den westlichen Medien sei nichts anderes als eine das Sommerloch füllende, verleumderische Stimmungsmache gegen die erfolgreiche sozialistische Entwicklung in der DDR.

Die offizielle Deutung der Ereignisse von Kleinwahlhausen hielt an der Formulierung »Grenzkorrektur als Ergebnis deutsch-deutscher Verhandlungen« fest. Lange geplant, um Zwischenfälle zu vermeiden; in der Öffentlichkeit nicht diskutiert, dafür in kürzester Zeit realisiert. Es gab schließlich Experten in Deutschland, die Erfahrungen mit der Errichtung von Grenzanlagen hatten. Die Aufregung um die mysteriösen Ereignisse im »Fall Kleinwahlhausen« verloren mit der Zeit an Intensität und damit an Interesse. Die Leitartikler wendeten sich aktuellen Skandalen zu, Kleinwahlhausen war vergessen.

Die Wende!

Ein Jahr später stieß Walter Bertram, Besitzer und Betreiber zweier Freizeitparks, bei der morgendlichen Zeitungsschau auf eine Meldung, die sowohl seine Aufmerksamkeit als auch sein Interesse weckte. Ein Lokalredakteur berichtete aus Kleinwahlhausen. Der Aufmacher:

Ehemaliger Volkspolizist züchtet TomatenEin Jahr danach: Der Bericht

Walter Bertram las diesen Bericht, ließ dann die Zeitung sinken, zündete sich eine Zigarette an (nur zehn sollten es heute werden), zog den Rauch tief in die Lungenflügel und las den Artikel ein zweites, drittes, viertes Mal. Dann fasste er einen Entschluss. Er beauftragte seine Sekretärin im Fuldaer Büro, alle seine heutigen Termine abzusagen, verließ Frühstückszimmer, Flur und Haus, öffnete das Gartentor, fuhr den Wagen heraus, winkte, wie an jedem Morgen, seiner Frau freundlich zu, fuhr ab.

Die Zeitung lag auf dem Beifahrersitz. Einen neuen ADAC-Atlas würde er sich kaufen müssen. In seinen Karten lag Kleinwahlhausen noch drüben, hinter der Zonengrenze. Die Fahrt ging schneller voran als erwartet und schon die erste Rundfahrt durch das Dorf hatte ihn vollständig überzeugt. Den Vopo, den »Volkspolizisten«, der jetzt Zivil trug, hatte er auch getroffen. Ein ganz patenter Kerl, dachte Bertram. Wenn der wirklich bleiben will, kommen wir ins Geschäft ...

Tage später wurde eine neue Arbeitsgruppe zusammengestellt. Auf den Aktenordnern stand »Kleinwahlhausen«. Diesmal führte ein Geschäftsmann, nämlich Walter Bertram, den Vorsitz. Er wollte Rechte erwirken, durch Kauf oder Verträge, die ihm die Nutzung sichern sollten, beides war gleich gut. Bezahlte Rechtsanwälte und Maklerbüros taten, was sie konnten. Fanden Eigentümer, Vormünder, Erbengemeinschaften, kauften, mieteten, schlossen Verträge ab. Bertram selbst verhandelte mit Banken, dem Innenministerium, dem Landtag, Parteien und Politikern, er bekam Vollmachten, Subventionen (es sollte schließlich im Zonenrandgebiet investiert werden) und gute Worte mit auf den Weg.

Nach einem Jahr die feierliche Eröffnung! Kleinwahlhausen war ein Freilichtmuseum geworden, das erste Zonengrenzmuseum Deutschlands. Das Motto »Eiserner Vorhang zum Anfassen« schlug ein. Bertrams Idee kam an! Auch der Untertitel »Die Zonengrenze zum Anfassen« war durchaus nicht übertrieben, da Bertram ein Stück materialisierte Abgrenzungsstrategie kunstvoll hatte nachbauen lassen. Kleinwahlhausen war zu einer Art Insel geworden, umgeben von Grenzen: Östlich das trennende Original, westlich zum Verwechseln ähnlich das Plagiat. Das Original blieb undurchdringlich, das Plagiat ließ Besucher mit Eintrittskarten durch – und Karl Georg Neureuter riß sie ab. Also war für ihn und Mimmi das Leben vor Ort weitergegangen. Wieder trug Neureuter eine Uniform. Sie ähnelte seiner alten. Nur an der Brusttasche seiner Jacke war ein Schild mit der Aufschrift Museumsdorf Kleinwahlhausen neu hinzugekommen.

So empfing er die immer zahlreicher werdenden Besucher. Manche, die ernsthaft Suchenden, mochte er, andere, die Sensationshungrigen, weniger. Seine Menschenkenntnis und sein professionell entwickelter Spürsinn halfen ihm, Interessierte von Neugierigen sicher zu unterscheiden. Aber alle wurden gleich behandelt. Niemand langweilte sich in Kleinwahlhausen.

Fotos mit Vopo und Grenzanlagen im Hintergrund waren Neureuters Spezialität geworden und brachten einen kleinen Nebenverdienst ein. Nach Sonnenstand und Wetterlage wählte er immer den richtigen Standort. Für Mr. Smith oder Mr. Miller aus Baltimore oder New Jersey blickte er auch schon mal bolschewistisch finster drein – aber sonst lächelte er und schaute über Kameras und Dorf mit Grenzanlagen hinweg, weit nach Osten, dorthin, wo eine Pappelallee nach Kleinwahlhausen führt.

Kleiner Grenzverkehr

Tod der Mutter