Zeichensetzung - Stefan Lotze - E-Book

Zeichensetzung E-Book

Stefan Lotze

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Beschreibung

Wie erlernt man die Interpunktion und was nützen uns Regeln? Jeder kennt griffige Formeln, doch eignen sie sich für die Schule? Die Welt der Zeichensetzung ist eine Welt der Mythen, der Halbwahrheiten und Fehlauffassungen. Dieser Band lädt dazu ein, sich in mancher Vorstellung wiederzufinden, fachliche Hintergründe zu erkunden und dabei die erstaunlichen Leistungen Lernender zu würdigen. Verständliche Erklärungen machen den wahren Kern in jedem Mythos der Zeichensetzung sichtbar, was zu einer bemerkenswerten gedanklichen Neuordnung führt: Wer durchschaut, warum vor und manchmal ein Komma steht, blickt auf ein einfaches Gesamtsystem. Wer versteht, warum manche beim Imperativ lieber kein Ausrufezeichen setzen, positioniert sich souverän gegenüber Normfragen. Dieser Band belehrt nicht. Er nimmt ernst. Er ist eine Entdeckungsreise für alle, die sich für Sprachliches interessieren.

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Stefan Lotze / Kathrin Würth

Zeichensetzung

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823394587

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2566-8293

ISBN 978-3-8233-8458-8 (Print)

ISBN 978-3-8233-0314-5 (ePub)

Inhalt

1  Eine Welt der Mythen1.1 „Bücher liest man von vorn“1.2 „Mythen gibt es nur bei den alten Griechen“1.3  „Zeichensetzung ist mehr als Kommasetzung“2  Die Zeichensetzung im System von Schrift und Rechtschreibung2.1 „Man schreibt, was man spricht“2.2  „Rechtschreibung ist das System der Ausnahmen“2.3 „Die Zeichen hört man doch irgendwie“2.4  „Die Zeichen haben sehr verschiedene Aufgaben“2.4.1 Satz- und Wortzeichen2.4.2 Interpunktionszeichen zeigen Grenzen3  Grundfragen einer Rechtschreibdidaktik3.1 „Handlungswissen setzt deklaratives Wissen voraus“3.2 „Rechtschreibung lernt man in der Schule“3.3 „Rechtschreibung erlernt man durch Regeln“3.3.1  Kompetenzerwerb ohne Anleitung3.3.2 Regeln haben Fundamente3.4 „Regeln haben ausgedient“3.4.1 Ein altes Bedürfnis3.4.2 Regeln können steuern3.4.3 Regeln brauchen Fundamente3.4.4 Regeln müssen einen Sinn haben3.4.5 Ein Perspektivenwechsel3.5 „Rechtschreibkompetenz misst man an Fehlern“3.6 „Richtig schreiben lernt man durch Üben“3.6.1 Exkurs: Isoliertes Üben3.6.2 Eine Zwischenbilanz4  Nicht ohne Grammatik: Fundamente entdecken4.1 „Rechtschreibung und Grammatik unterrichtet man zusammen“4.1.1 Desaster Kommadidaktik4.1.2 Didaktische Reduktion?4.1.3 Lösungsansatz4.2 „Grammatik lernt man in der Schule“4.2.1 Kinder sind genial4.2.2 Die Rolle der Schulgrammatik4.2.3  Risiko Schulgrammatik4.3  „Zeichen setzt man nach Gefühl“4.3.1 Die Relativität des Gefühls4.3.2 Wenn das Gefühl nicht zu den Normen passt …4.4  „Nebensätze behandeln Nebensachen“4.4.1 Das Konzept Nebensatz4.4.2 Zur Terminologie4.4.3  Stilratgeber und Sprachkritik im Unterricht4.5 „Zusätze und Nachträge sind unüberschaubar“4.5.1  Das Konzept Zusatz/Nachtrag4.5.2  Weitere Erscheinungen4.6 „Reihungen sind Grundschulwissen“4.6.1 Das Konzept Reihung4.7  „Grammatikunterricht ist altmodisch“4.7.1 Der Verbenfächer: Sätze als Königreiche4.7.2 Das Feldermodell5  Das Komma und die syntaktischen Grenzen5.1 „Nach ganzen Sätzen steht ein Punkt“5.2  „Die Kommasetzung ist kompliziert“5.2.1 Die drei Regelbereiche5.2.2 Wenn das Kommagefühl stimmt5.2.3 Einfache und paarige Grenzsignale5.2.4 … auf andere Weise deutlich …5.2.5 Fazit5.3 „Die Kommaregeln sind kompliziert“5.3.1 Die gewichteten Kommaregeln5.3.2 Die Rolle der Gewichtung5.4 „Bei Infinitivgruppen können die Kommas weggelassen werden“5.5 „Die Kommaregeln müssen über die Jahre erarbeitet werden“5.5.1  Ein Resümee5.5.2 Typische Einwände5.6 „Vor und steht kein Komma“5.7  „Zwischen mehreren attributiven Adjektiven setzt man ein Komma“5.8 „Vor als oder wie steht ein Komma“5.8.1 Zur Vielfalt der Gebrauchsweisen5.8.2 Fehlerursachen5.9 „Vor Subjunktionen steht ein Komma“5.10 „Das Komma rettet Leben“6  Nicht ohne Absicht: Interpunktionszeichen als kommunikative Signale6.1 „Die Regeln zur Wahl der Zeichen sind eindeutig“6.1.1 Das pragmatische Prinzip6.1.2 Markierte und unmarkierte Satzzeichen6.2  „Die Schule soll nicht alle Zeichen thematisieren“6.2.1 Konkurrenz der paarigen Satzzeichen6.2.2  Konkurrenz der einfachen Satzzeichen6.3 „Man schreibt in ganzen Sätzen“6.4  „Aussagesätze enden mit einem Punkt …“6.4.1 Satzart und kommunikative Absicht6.4.2 Freiheiten entdecken lassen6.5 „In Anführungszeichen steht Wörtliches“6.5.1 Funktionen der Anführungszeichen6.5.2 Zeichensetzung bei direkter Rede6.5.3  Ideen für die Schulpraxis7  Denkanstößiges7.1 „Die Apostrophitis ist eine Epidemie“7.2 „Der Zweck der Anführungszeichen ist eindeutig“7.3 „Den Gedankenstrich findet man auf der Tastatur“7.4 „Emojis stellen einen Rückschritt ins Zeitalter der Hieroglyphen dar“7.5  „Die Silbentrennung macht der Computer“Lösungshinweise zu den AufgabenLiteratur

1 Eine Welt der Mythen

Die Welt der Zeichensetzung ist eine Welt voller Mythen: Sie finden sich im Alltag genauso wie in der schulischen Vermittlungspraxis, in Grundlegendem wie in Speziellem und bei Sprachprofis wie bei Kindern. Sieht man sie als fassbare Bestandteile komplexer Systeme aus Wissen und Traditionen, versteht man sie als Chance, ins Gespräch zu kommen über ihren Gegenstand, ihre Hintergründe und ihren Nutzen. Der vorliegende Band macht die „Mythen der Zeichensetzung“ deshalb zum Ausgangspunkt aller Betrachtungen. Jedes Kapitel ist untergliedert in griffige Formeln, die den meisten etwas sagen dürften und die schon auf den ersten Blick wenn auch selten ganz falsche, so doch häufig allzu enge Auffassungen widerspiegeln.

Die folgenden „Mythen“ der Einleitung sollen mit der Vorgehensweise vertraut machen und den Grundgedanken dieses Bandes weiter erläutern – zunächst mit einem Augenzwinkern. Unter dem Titel eines Abschnitts ist jeweils die Vorstellung ausgeführt, um die es geht. Darauf folgt ein bilanzierender Absatz, der mit dem WAHREN KERN DES MYTHOS beginnt.

1.1„Bücher liest man von vorn“

Da sie oft komplexe Argumentationen führen oder spannende Geschichten erzählen, könnte man meinen, Bücher seien stets von vorn bis hinten durchzulesen.

 

DER WAHRE KERN DIESES MYTHOS liegt in der Art des Buchs begründet. Wir empfehlen, Thriller von vorn zu lesen, denn Suspense braucht Erzähldynamik. Generalisieren lässt sich das aber nicht: Bei Nachschlagewerken wie Wörterbüchern und amtlichen Regelwerken raten wir entschieden davon ab.

 

Der vorliegende Band ist weder nur Lesebuch noch reines Nachschlagewerk. Auch wenn der Aufbau in recht losgelöst erscheinenden Mythen suggeriert, dass die einzelnen Themen abgeschlossen behandelt werden, folgt die Grundanlage einer übergeordneten Argumentation. Es empfiehlt sich daher, das Buch einmal insgesamt durchzuarbeiten und sich dabei von allerlei Fehlvorstellungen und Halbwahrheiten begleiten zu lassen. Nachher kann man auf Einzelthemen problemlos zurückkommen, wenn man zum Beispiel vor einer Konzeptions- oder Diagnoseherausforderung für den Unterricht steht. Für diese Nutzungsart geben wir eine Reihe von Querverweisen.

1.2„Mythen gibt es nur bei den alten Griechen“

Mythen seien etwas Antikes, das einem in der Gegenwart vielleicht noch im Literaturunterricht begegnet. Heutzutage komme man gut ohne sie aus.

 

DER WAHRE KERN DIESES MYTHOS fügte sich im alten Griechenland zu einer großen Mythologie: Als Begriff ist uns der Mythos dort besonders präsent. Doch begegnen uns Mythen überall und zu allen Zeiten; sie beschränken sich thematisch nicht auf Götter und Helden. Sie sind vielmehr von einer Bevölkerungsgruppe geteilte und akzeptierte Aussagen zu bedeutsamen Einsichten. Auf eine einfache Formel gebracht, scheinen sie den Austausch über komplexe Sachverhalte oder Fragen zu erleichtern. Aber Vereinfachung heißt oft Verkürzung – und die kann sich in Fehlvorstellungen manifestieren.

 

Unter einem Mythos verstehen wir eine Sichtweise, die einen wahren (oder wenigstens nachvollziehbaren) Kern enthält, in ihrer Absolutheit jedoch zu relativieren ist. Manche Mythen haben einen Wahrheitsanspruch; bei den hier verhandelten Mythen leitet sich aber aus dem wiederholten Weitersagen eher eine diffuse Vorstellung von Gültigkeit ab, die selten hinterfragt wird. Tatsächlich gibt es diverse Mythen in Varianten; zu einigen existiert auch ein „Gegenmythos“. Sich mit ihnen eingehender auseinanderzusetzen, ist lohnend, denn sie legen Verschiedenes offen:

Was sind die wichtigen Fragen? (Nur Relevantes ist „Mythos-würdig“.)

Welcher Teil eines Problems wird verstanden, welcher nicht?

Wo wird die Komplexität eines Phänomens nicht oder nur zum Teil durchdrungen?

Welche Vorstellung führt zu welcher Konsequenz?

„Mythen“ in Form von Teil- oder Präkonzepten eignen sich deshalb als Ausgangspunkt für didaktische Fragen. Denn sie eröffnen einen gedanklichen Rahmen, der an Vorwissen anknüpft und die nachfolgende Argumentation vorstrukturiert. In der Erschließung ihrer Gültigkeit entstehen gleichsam Transparenz, Überblick und Detailtiefe. Sie erlauben, Erkenntnisse zu rekonstruieren, anstatt sie zu demontieren.

1.3 „Zeichensetzung ist mehr als Kommasetzung“

Da das Interpunktionssystem eine Vielfalt an Satz- und Wortzeichen kennt, müsse in der Schule doch jedes Zeichen gleichermaßen behandelt werden, nicht nur das Komma.

 

DER WAHRE KERN DIESES MYTHOS liegt in dieser tatsächlichen Vielfalt. In der Zeichensetzungsdidaktik ist das Thema Nummer eins jedoch mit Abstand das Komma. Das hängt damit zusammen, dass die Kommasetzung eine Art Generalschlüssel für den Zugang zu weiteren Zeichen ist. Das ist der Punkt zwar auch, doch lassen sich um diesen kaum Vermittlungs- oder Erwerbsprobleme feststellen.

 

Auch im vorliegenden Band begegnet uns das Komma überproportional häufig. Neben dem Punkt (und dem Wortzwischenraum) ist es das basalste und didaktisch wichtigste Zeichen zur Kennzeichnung syntaktischer Strukturen. Seine zentrale Rolle in der Deutschdidaktik deuten wir daher nicht nur als Konsequenz aus der viel diskutierten hohen Fehleranfälligkeit, sondern als Eingeständnis seines Stellenwerts in der Erschließung des Gesamtsystems.

Dennoch ist Zeichensetzung mehr als Kommasetzung und auch zur Kommasetzung selbst gehört mehr und anderes als die Kenntnis der Kommaregeln, wie sie im amtlichen Regelwerk gefasst sind. Die Kapitel dieses Bandes behandeln darum im Einzelnen das nachfolgend Skizzierte.

Die Mythen in Kapitel 2 setzen sich mit Vorstellungen über das Verhältnis von Schrift und gesprochener Sprache auseinander. Das führt zur Frage, wo die Rechtschreibung im sprachlichen Gesamtsystem ihren Platz hat und wohin speziell die Interpunktion gehört. Den Blick ins innere System gewährt eine Übersicht über die Interpunktionszeichen mit ihren Hauptfunktionen.

Schriftsprachliche Regularitäten werden von Kindern in hohem Maße eigenaktiv erworben. Den didaktischen Konsequenzen für die Vermittlung von Regeln – und daraus folgend für die Korrektur von Fehlern – widmet sich Kapitel 3. Viele der zu klärenden Mythen weisen auf ein missverstandenes Verhältnis von deklarativen und prozeduralen Wissensbeständen hin. Die Beobachtungen zum Orthografieerwerb legen nahe, dass ein gelingender Rechtschreibunterricht an den Spracherfahrungen der Schülerinnen und Schüler anknüpfen muss. Explizite Regeln können diesen Lernprozess sehr bedingt zwar unterstützen, aber das eigentliche Wissen lässt sich nicht per Formel „von außen“ in die Köpfe Lernender einpflanzen. Aufgabe der Schule ist es daher, die richtigen Fundamente zu schaffen, die zur Eigenkonstruktion von Wissen anregen oder diese begünstigen.1

Die Zeichensetzung (und hier vor allem die Kommasetzung) signalisiert syntaktische Grenzen. Diese zu erkennen, setzt fundiertes Grammatikwissen voraus. Was darunter zu verstehen ist und welches Grammatikwissen benötigt wird (und welches nicht), ist Gegenstand von Kapitel 4. Die dort verhandelten Mythen klären den Zusammenhang zwischen Zeichensetzung und grammatischen Strukturen und legen dar, wie ein verengter, an deklarativ-normativem Begriffswissen orientierter Blick auf Grammatik das eigentliche Sprachkönnen der Lernenden verstellt. Die Spracherwerbsforschung belegt eindrücklich, über welch erstaunliche sprachstrukturelle Fähigkeiten Kinder implizit verfügen. Das Kapitel gibt methodische Hinweise, wie diese als Basis für die Vermittlung der Zeichensetzung genutzt werden können.

Das in schulischen Kontexten unbestritten wichtigste – und fehleranfälligste – Satzzeichen ist das Komma, das eine ganz eigene Mythenwelt eröffnet. Der zentralste Mythos lautet wahrscheinlich: „Die Kommaregeln sind kompliziert.“ Die zahlreichen Regeln und Unterregeln im amtlichen Regelwerk 2018 [kurz: AR] verstärken diesen Eindruck zusätzlich. Kapitel 5 legt dar, wie sich das System auf gerade einmal drei Grundregeln reduzieren lässt, vorausgesetzt, man versteht ihr geordnetes Zusammenwirken. Einige Mythen in diesem Kapitel sind zudem fehlerdiagnostisch wertvoll, denn sie greifen offen typische Eigenregeln auf, die von Schreibenden vorgebracht werden.

Im Kapitel 6 liegt der Fokus auf Interpunktionszeichen, die Lesenden über die syntaktische Gliederung hinaus Interpretationshinweise an die Hand geben. Die Mythen untersuchen, inwiefern normative Auffassungen mit dem kommunikativ-stilistischen Potenzial dieser Zeichen vereinbar sind. Schulisch wichtige Zeichen wie Ausrufezeichen, Fragezeichen und Anführungszeichen werden aus kommunikativem Blickwinkel beleuchtet. Daneben kommen diejenigen Zeichen zur Sprache, die das System ergänzen, im konkreten Unterricht gewöhnlich aber eine untergeordnete Rolle spielen.

„Die deutsche Sprache verfällt zusehends“ – auch das ist ein Mythos. Orthografische Fragen sind immer zugleich Normfragen. Dies spiegelt sich überdeutlich in den zahlreichen Leserkommentaren, Blogs, Kolumnen und Glossen, die sich über sprachliche Abweichungen wie „Deppenapostroph“ oder „Recycling-Sprache“ auslassen. Normabweichungen sind indes nicht zwingend ohne System. Als Ausgangspunkt für sprachliche Entdeckungsreisen bieten sie reichlich Material und das abschließende Kapitel 7 gibt dazu Impulse.

2 Die Zeichensetzung im System von Schrift und Rechtschreibung

Die Zeichensetzung als Teil des Schriftsystems gehört zur Rechtschreibung – oder auch nicht. Die Begriffe sind nicht sehr trennscharf und je nachdem, worauf man sich bezieht, meint Rechtschreibung manchmal primär Wortschreibung. So ordnen auch Lehrmittel die Zeichensetzung teilweise kurzerhand den Grammatikthemen zu. Das ist weder völlig falsch noch völlig richtig, vor allem ist es zunächst verständlich: Satz- und Wortzeichen haben keine Entsprechung im Lautstrom der gesprochenen Sprache. Was wird also hier verschriftet? Es sind Markierungen sprachlicher Strukturen, mitunter angereichert um eigene Bedeutungen.

Denkt man weiter über solche Zuordnungen nach, entdeckt man schnell, dass dasselbe für einen erheblichen Teil orthografischer Phänomene ebenso gilt: Wer hat zuletzt einen Großbuchstaben gehört? Wäre die Getrennt- und Zusammenschreibung so schwierig, wenn sie einfach an Intonationsverläufen oder gar Sprechpausen zu bemerken wäre? Hören wir, dass das Lid mit einfachem i geschrieben wird, wenn wir darüber singen?

In diesem Kapitel wird die Zeichensetzung in unsere Vorstellungen von Sprache und Schrift eingeordnet und als Teil des Rechtschreibsystems definiert, wodurch erkennbar wird, wie sie organisiert ist, was sie leistet – und was nicht.

2.1„Man schreibt, was man spricht“

Unsere Schrift ist eine Alphabetschrift: Ihre Buchstaben haben eine systematische Beziehung zu den Phonemen der gesprochenen Sprache. Heißt das nicht, die Schrift sei im Grunde nur eine visuelle Variante des sonst Lautlichen?

 

DER WAHRE KERN DIESES MYTHOS: Die systematischen Beziehungen zwischen den Einheiten Phonem und Graphem sind die Basis unserer Schrift. Doch wie die meisten wissen, erklären sich Schriftbilder nicht allein daraus. Wir schreiben nicht genau so, wie wir sprechen. Über die Laut-Buchstaben-Korrespondenzen hinaus gibt es eine Reihe weiterer Beziehungen zwischen Gesprochenem und Geschriebenem. Schreiben wir daher wenigstens, was wir sprechen? Weniger, als man denken mag, denn die Schriftsprache ist nicht einfach ein Abbild der gesprochenen.

 

Die Beziehungsrichtung vom Lautlichen hin zum Visuellen liegt auf den ersten Blick am nächsten: Schrift wird später erworben als gesprochene Sprache und initiale Zugänge zu Schrift und Schriftlichkeit rücken ihre Eigenschaft in den Mittelpunkt, Gesprochenes in grafischen Mustern festhalten zu können. Schrift muss die Fähigkeit zur Sprache überhaupt voraussetzen (vgl. Dürscheid 2012: 35 ff.). Solche und weitere Beobachtungen führen für sich genommen zur Dependenzhypothese: In älteren Beiträgen bildete sich ein Verständnis von Schrift heraus, wie es in de Saussures Vorstellung eines „sekundären Zeichensystems“ anklingt. Es handle sich schließlich um eine Art defizitäre Ausdrucksform, denn bei allem, was Schrift vermag, fängt sie einige Aspekte der gesprochenen Sprache nicht ein.

Aufgabe 2.1  Welche Aspekte gesprochener Sprache bildet Schrift nicht ab?

Diese Perspektive ist zu eng. Schrift kann zwar abbildhaft reduzieren, erweitert das sprachliche Handeln aber zugleich um ihr genuine Erscheinungen, denn:

Geschriebenes ist im Vergleich von bedeutender Dauer und hebt die Situationsgebundenheit von Sprache oft auf.

Schrift wird visuell verarbeitet und kann dadurch manche Informationen besser transportieren als die gesprochene Sprache.

So hat die Schrift eigene Elemente hervorgebracht, die uns im Lautstrom des Gesprochenen nicht begegnen:

Punkte, Kommas oder Leerräume zwischen Wörtern korrespondieren nicht systematisch mit Pausen beim Sprechen.

Textgliederungen wie Absätze, Tabellen oder Listen kennen keine eindeutigen gesprochenen Äquivalente.

Konzepte wie Fußnoten, Marginalien, Inhaltsverzeichnisse oder Indizes sucht man in der gesprochenen Sprache vergebens.

Vergleicht man die Systeme weiter, fallen insbesondere Unterschiede in Ausdrucksweisen auf:

Die Schriftsprache kennt eigene Normen und Stilebenen.

Von solchen Merkmalen der Schriftlichkeit ausgehend sieht die Gegenposition mit der Autonomiehypothese Schriftsprache als eigenen Bereich, der isoliert zu behandeln sei (vgl. Dürscheid 2012: 37 ff.).

Hinter den beiden Hypothesen stehen unterschiedliche Erkenntnisinteressen. Ihre Argumentation befasst sich mit recht verschiedenen und jeweils doch zutreffenden Eigenschaften zweier Systeme. Für den Gesamtblick eignet sich eine vermittelnde Auffassung daher besser: Die Interdependenzhypothese betont zwar Eigenständigkeiten, bezieht Abhängigkeiten aber ein – und zwar wechselseitige. Denn vor allem die normative Seite unserer Schriftsprachlichkeit wirkt auf das Sprachsystem insgesamt zurück.

Schrift ist im Normalfall1 also nicht einfach eine Technik, um gesprochene Sprache grafisch zu fixieren. Sie ist ein Gebilde, das uns in wichtigen Punkten eigenständig, aber nicht beziehungslos begegnet: Sie ist ein „Teilsystem des Systemkomplexes ‚deutsche Sprache‘“ (Gallmann 1985: 1). Zu erkennen ist das nicht nur an der Zeichensetzung, sondern u. a. daran, dass das Vorlesen eines Textes noch kein Referat sein muss oder umgekehrt das Protokollieren eines Gesprächs keinen Romandialog hervorbringt – und doch kann das alles in derselben Sprache Deutsch geschehen.

Aufgabe 2.2  Suchen Sie nach weiteren Besonderheiten, die die Schriftsprache von der gesprochenen Sprache unterscheiden.

Da wir sehr selten genau das schreiben, was wir auch sagen würden, erschöpft sich der Schriftspracherwerb nicht im Erlernen von Systembeziehungen. Er ist ein eigener kreativer Prozess, in dem die menschliche Fähigkeit zur Sprache eine weitere Ausprägung zusätzlich zum Sprechen erfährt. Die Schule hat die Aufgabe, Lernende beim Entdecken der Schriftsprache zu unterstützen. Das ist die Basis auch für die Didaktik der Zeichensetzung – und sie startet aus Lehrendenperspektive bei einem Einblick in das vermittelnde und zugleich selbstständige System der Rechtschreibung.

2.2 „Rechtschreibung ist das System der Ausnahmen“

Nicht nur diejenigen, die Deutsch unterrichten, wissen, wie leicht es ist, Kinder, aber auch Erwachsene bei Rechtschreibfragen hinters Licht zu führen. Das liege daran, dass das Orthografiesystem genauso komplex wie chaotisch sei. Reiht man alle Regeln hintereinander, offenbarten sich Widersprüche und Ausnahmen.

 

DER WAHRE KERN DIESES MYTHOS liegt in wenigen tatsächlichen Ausnahmen, in Regeln mit kann-Bedingungen und in Geflechten aus Unterregeln. Das hat verschiedene Ursachen u. a. in der Geschichte eines Beschreibungssystems, das die Schreibpraxis weniger vorgibt, als es ihr nachläuft (vgl. den LinguS-Band 3). Doch ist die Rechtschreibung deshalb keineswegs eine ungeordnete Sammlung willkürlicher Festlegungen. Sie ist ein hierarchisch gegliedertes System, in dem auch die Zeichensetzung ihren logischen Platz hat.

 

Schreibkonventionen entwickeln sich weitgehend natürlich, weil sich Einheitlichkeit sowohl produzenten- als auch rezipientenseitig lohnt: Schreib- und Lesefluss gelingen ungestörter. Daraus ist ein System hervorgegangen, das man am besten versteht, wenn man ihm eine dreistufige hierarchische Ordnung zugrunde legt, die vom Allgemeinen zum Besonderen führt:

Prinzipien: Sie sind die Grundsätze der Rechtschreibung.

Regeln: Sie halten in Generalisierungen fest, welche Prinzipien wo und wie umzusetzen sind.

Einzelfestlegungen: Sie erfassen Schreibungen, die sich nicht (bzw. nicht innerhalb des Systems) generalisieren lassen.

Die Prinzipien unserer Rechtschreibung hat nie jemand festgelegt. Ihre Formulierung ist daher als der Versuch zu sehen, die fundamentalsten Mechanismen unseres Schriftsystems zu beschreiben. Deshalb weichen die Auffassungen darüber, welche und wie viele Prinzipien es gibt, teilweise etwas voneinander ab. Wir folgen hier Gallmann/Sitta (1996: 38), die von sechs Prinzipien ausgehen:

Prinzipien

Typische Wirkbereiche (Auswahl)

Lautprinzip

Schreibe, wie du sprichst!

Laut-Buchstaben-Zuordnungen

Prinzip der morphematischen Schemakonstanz

Schreibe Gleiches möglichst gleich!

Umlautschreibungen wie Wald – Wälder (nicht: Welder)

Schreibungen bei Auslautverhärtung wie Staub, Staubes (nicht: Staup, Staubes)

Grammatisches Prinzip

Mach den grammatischen Aufbau sichtbar!

Großschreibung von Nomen

Getrennt- und Zusammenschreibung

Zeichensetzung (→ 4 und 5)

Semantisch-pragmatisches Prinzip

Hebe wichtige Textstellen hervor!

Großschreibung bei höflicher Anrede

Großschreibung bei Eigennamen

Zeichensetzung (→ 6)

Homonymieprinzip

Schreibe Ungleiches möglichst ungleich!

das Lied – das Lid

die Seite – die Saite

Ästhetisches Prinzip

Vermeide verwirrende Schriftbilder!

meist in Konkurrenz zu anderen Prinzipien: vgl. Härchen (trotz Haar), schrien (nicht: schrieen)

teilweise Tilgungsregeln der Zeichensetzung (→ 5 und 6)

Die Prinzipien haben in ihrer Wirkung keine scharfen Grenzen. Sie ergänzen und überlagern sich mitunter, denn die Bereiche unseres Sprachsystems, die sich hinter ihnen verbergen, stehen in vielfältigen Beziehungen zueinander.

Aufgabe 2.3  Recherchieren Sie im amtlichen Regelwerk (→ rechtschreibrat.com) alle Regeln, die das Zeichen Punkt behandeln, und versuchen Sie, die orthografischen Prinzipien (siehe oben) zu benennen, die den einzelnen Regeln jeweils zugrunde liegen.

Orthografische Regeln sind konkrete Schreibanweisungen, die eines oder mehrere dieser Prinzipien umsetzen. Daran erkennt man recht automatisch die Struktur, der das Rechtschreibsystem unterliegt. Für schulpraktische Fragen ist das oft von Bedeutung, denn die Rückführung einzelner Erscheinungen auf basale Zusammenhänge bringt Ordnung in Lehr-Lern-Strategien und erlaubt fundiertere qualitative Fehlerdiagnosen. Man versteht besser, „welche sprachsystematischen Regularitäten den jeweiligen Rechtschreibregeln zugrunde liegen“ (Lindauer/Schmellentin 2019: 11).

Selten wird ein Rechtschreibphänomen in einer einzigen Regel erfasst. Das lässt leicht ein verwirrendes System vermuten. Ein einfaches Beispiel:

Regel: Die Worttrennung am Zeilenende folgt den Sprechsilben.

Unterregel: Einzelne Vokalbuchstaben werden nicht abgetrennt.

Auch wenn sich der Zusammenhang in nur einer Regel ausdrücken ließe, können solche Regelkomplexe eine innere Ordnung schaffen. Wie vom Prinzip zur Regel führen Unterregeln vom Allgemeinen zum Spezielleren. Die Strukturierung des Wissens, die dabei vorgenommen wird, soll aber in der Schule nicht zur vermeintlichen didaktischen Reduktion verleiten. Denn führt man Unterregeln erst nach und nach ein, kann der Eindruck nie enden wollender Einschränkungen entstehen: „Was weiß ich sonst noch nicht?“, fragen sich Lernende insgeheim und die eigentliche Ordnung im System wird als unübersichtliches Gespinst aus Sonderfällen und Ausnahmen wahrgenommen. Lehrende sollten deshalb immer das Gesamtsystem im Auge behalten und Lernenden wenigstens nachgeordnet die Gelegenheit bieten, die Abgeschlossenheit eines Phänomens zu entdecken.

Aufgabe 2.4  Suchen Sie in den Regeln zum Zeichen Punkt aus Aufgabe 2.3 nach Regelkomplexen.

Die Rechtschreibung kennt ein paar wenige Fälle, die sich nicht praxisgerecht verallgemeinern lassen. Sie sind Einzelfestlegungen, die oft nur historisch und/oder aus anderen Systemen heraus begründbar sind oder bei denen die Prinzipien in einen Konflikt geraten. Dazu gehören einzelne Wortschreibungen, Fremdwortschreibungen, einige Festlegungen zur Getrennt- und Zusammenschreibung und wenige Beispiele aus der Groß- und Kleinschreibung (vgl. Gallmann/Sitta 1996: 57 f.). Sie werden im Zweifel im Wörterbuch nachgeschlagen.

Zugegeben, betrachtet man alles, was in der Rechtschreibung geregelt bzw. festgelegt ist, nur flüchtig, wirkt das System umfangreich und schwer zu fassen. Bezieht man eine Ordnung und Gewichtung ein, ist es aber weder sehr komplex noch findet man echte Widersprüche oder allzu viele Ausnahmen. Das gilt insbesondere für die Zeichensetzung: Sie kennt ausschließlich Regeln, Einzelfestlegungen gibt es hier nicht.

2.3„Die Zeichen hört man doch irgendwie“

Das Fragezeichen ist mit einem typischen Intonationsverlauf beim Sprechen verbunden. Auch andere Zeichen höre man doch recht gut heraus und sie seien umgekehrt eine Hilfe, beim Vorlesen die Atempausen zu finden.

 

DER WAHRE KERN DIESES MYTHOS ist ein indirekter Zusammenhang zwischen den beiden Teilsystemen geschriebene und gesprochene Sprache, der entsteht, weil beide auf dieselbe Grammatik zurückgreifen. Kommunikative Absichten und rhetorische Ausgestaltungen wirken sich in den Systemen jedoch unterschiedlich aus, sodass Lautliches nur bedingt mit der Interpunktion korreliert.

 

Klar ist, dass wir Interpunktionszeichen im Gegensatz zu Buchstaben- und Sonderzeichen (z. B. &, %, §, +) nicht mitsprechen. Die Zeichensetzung ist damit der Bereich unserer Rechtschreibung, der am deutlichsten über die Alphabetschrift hinausgeht. Doch woher kommt die häufig geäußerte Vorstellung, man höre die Zeichen dennoch, sei es auch nur zum Teil?

Satzmelodie und Rhythmus beim Sprechen hängen von zahlreichen Faktoren ab, die oftmals zugleich den grammatischen Aufbau von Sätzen beeinflussen. Solche Faktoren sind insbesondere die Äußerungsart und die Informationsverteilung. Es lassen sich zum Beispiel folgende Effekte beobachten:

Fragen werden anders artikuliert als Aussagen. Sie können zugleich grammatischen Satzarten entsprechen (→ 6.4).

Zusätze können stimmlich unterschiedlich abgesetzt werden. In der Grammatik erzeugen sie immer einen Bruch oder eine Erweiterung der Struktur (→ 4.5).

Im Text Kontrastives ändert die Intonation. Grammatisch rückt es an auffällige Positionen im Satz. Besondere Zeichen setzt man deshalb aber nicht (→ 4.3.2).

Satzgrenzen stimmen nicht selten mit inhaltlichen Grenzen überein, an denen man beim Vorlesen deutliche Pausen lassen kann. Grammatisch betrachtet sind diese Einheiten aber immer abgeschlossen – also Sätze (→ 4.4.1).

Die Beziehungen zwischen grammatischen Strukturen und Lautlichem erklären, warum man Art und Position der Satzzeichen gewissermaßen zu hören meint. Die Schrift macht schließlich von denselben Strukturen Gebrauch und Phänomene beider sprachlicher Teilbereiche fallen deshalb mitunter zusammen. Weil die Schriftsprache jedoch kein Abbild der gesprochenen ist, sind unmittelbare Rückschlüsse nicht möglich. Der Versuch, Regeln oder Hinweise für die Zeichensetzung aus dem Lautlichen abzuleiten, gelingt nicht systematisch genug, um für Schule oder Schreiballtag Taugliches hervorzubringen. Die Zeichensetzung ist ein eigener Aspekt der Schriftsprache und kein Reflex des Lautlichen.