Zeit des Zweifels - Peter Fritz - E-Book

Zeit des Zweifels E-Book

Peter Fritz

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Beschreibung

"Über die letzten zwei Jahrzehnte hat sich der Zweifel tief in unser aller Bewusstsein gegraben. Es ist Zeit, dem etwas entgegenzustellen." Was ist eigentlich schiefgelaufen? Warum ist der Zweifel zu einer dominierenden Emotion unserer Zeit geworden? Europa hat mit ungläubigem Kopfschütteln über den Atlantik geblickt, als die USA Donald Trump zum Präsidenten gewählt haben, noch mehr, als ein rechter Mob in den letzten Tagen seiner Präsidentschaft das Kapitol stürmte. Kann Joe Biden die Erwartungen, die Europa in ihn setzt, erfüllen? Wo steht Europa selbst? Erodierende Demokratien, Pressefreiheit unter Beschuss und Missachtung von Menschenrechten, all das ist dies- und jenseits des Atlantik zu beobachten. Welche Auswirkungen hat der Zustand des Zweifels auf Kernthemen unserer Gesellschaft? Zwei Jahrzehnte nach 9/11, dem Ur-Infarkt des 21. Jahrhunderts, betrachten Hannelore Veit und Peter Fritz politische wie gesellschaftliche Entwicklungen und sezieren dabei eine zuletzt strapazierte transatlantische Freundschaft im Wandel der Zeit.

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Peter Fritz und Hannelore Veit

ZEIT DES ZWEIFELS

DIE USA UND EUROPA 20 JAHRE NACH 9/11

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01294-2eISBN 978-3-218-01296-6

Copyright © 2021 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, WienAlle Rechte vorbehalten

Schutzumschlag: Sophie Gudenus

Unter Verwendung eines Fotos von Teresa Maier-Zötl/detailsinn.at

Satz und typografische Gestaltung: Danica Schlosser, danicagra ik.de

INHALT

Zum Geleit

Die Stunde der Gewalt – Terror als Instrument der Politik

Stadt in AngstPeter Fritz

January 6: Angriff auf die DemokratieHannelore Veit

Die USA, ein zerrissenes Land

Demokratie in der KriseHannelore Veit

Immigration – das Problem an der GrenzeHannelore Veit

Black Lives MatterHannelore Veit

Die Polarisierung der MedienHannelore Veit

Transatlantische Verhältnisse

WestlosigkeitPeter Fritz

Der InsiderPeter Fritz

Freundschaft mit BedingungenHannelore Veit

Sprachen der MachtPeter Fritz

Der Gipfel von Genf: Agreement to disagreeHannelore Veit

China, die aufstrebende Supermacht

Der Kampf um die weltpolitische VorherrschaftHannelore Veit

China in Europa: Rivale und PartnerPeter Fritz

Lebensadern der chinesischen ExpansionPeter Fritz

Herausforderungen der Zukunft

Der unsichtbare GegnerPeter Fritz und Hannelore Veit

Grenzen dichtPeter Fritz

Der New Deal für das KlimaHannelore Veit

Star WarsPeter Fritz

Wie weiter?

ZUM GELEIT

9/11: Der Schock

Hannelore Veit

Die letzten 20 Jahre haben unsere Verhaltensmuster und unser Verständnis von der Welt, wie wir sie kannten, über den Haufen geworfen. Begonnen hat alles mit dem Initialschock des 11. September 2001, und am Ende steht eine Pandemie, die noch einmal alles infrage stellt.

9/11, dieser Tag wird mir – und den meisten von uns – immer in Erinnerung bleiben. Für mich war er die größte Herausforderung in meinem Journalistenleben. An einige Momente dieses Tages kann ich mich so genau erinnern, als wären sie gestern passiert. Was in Wien als ganz normale Redaktionssitzung am frühen Nachmittag begonnen hatte, sollte die längste ununterbrochene Nachrichtensendung des ORF werden. CNN lief ohne Ton auf den Monitoren im Sitzungszimmer: „Da ist ein Loch im World Trade Center“, rief plötzlich ein Kollege aus den hinteren Reihen. Nach einer Schrecksekunde war der eingespielten Mannschaft klar, was zu tun war: Wir gehen auf Sendung. Und zwar sofort. Innerhalb weniger Minuten war ich on air, moderierte die ersten Stunden der dreitägigen Sondersendung. Eugen Freund, bis eineinhalb Wochen davor Bürochef in Washington, war als Kommentator an meiner Seite. Wir waren live dabei, als der United-Airlines-Flug 175 ein Loch in den Südturm des World Trade Center riss. Uns beiden war in diesem Moment klar: Das ist ein Terroranschlag. Peter Fritz, der damals neue Bürochef in den USA und als solcher Eugen Freunds Nachfolger, kommentierte die Geschehnisse vom Studio in Washington aus. Es ging Schlag auf Schlag, ein Flugzeug schlug ins Pentagon ein, live im Fernsehen sahen wir, wie Menschen in den Tod sprangen, wie die beiden Türme des World Trade Center nacheinander einstürzten. Viel Zeit zum Nachdenken blieb in diesen ersten Stunden nicht, das Gefühl, dass hier etwas passiert, das unser aller Leben verändert, stellte sich aber sehr bald ein. Unsicherheit, Zweifel darüber, wie es weitergehen könnte, waren die vorherrschenden Gefühle. In gewissem Maß halten sie bis heute an.

Das neue Jahrtausend hatte mit einer Zäsur begonnen – die USA waren auf eigenem Boden angegriffen worden. Als Folge und Reaktion darauf veränderten sich Landkarten, verschoben sich Werte. Jahre der Radikalisierung folgten: Die USA nahmen die Länder, die sie als Ursprung des Terrors vermuteten, ins Visier und begannen Kriege in Afghanistan und im Irak, zum Teil unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Nach 20 Jahren ist in Afghanistan der Abzug der US-Truppen vollzogen, die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch. Bleibt die Frage: Wozu das alles?

Und Europa?

Peter Fritz

In Europa wurde vor dem 11. September 2001 eine aus den USA stammende These sehr gerne geglaubt: Die Vorstellung, die Welt müsse sich quasi zwangsläufig in Richtung Siegeszug von Demokratie und Marktwirtschaft bewegen, fand viele Anhänger, vor allem in den jungen Demokratien des Ende 1989 zugrunde gegangenen Ostblocks.

Wirtschaftliche Weiterentwicklung und der Drang nach Demokratie würden Hand in Hand gehen, so lehrte es eine gängige Theorie. Und nach dem Ende des Kommunismus auf europäischem Boden schien in Europa vieles in diese Richtung zu deuten. Noch dazu, wo die USA nun auch in Osteuropa als Führungsmacht akzeptiert wurden. Aber die Zeit des Zweifelns an diesem Dogma begann vor 20 Jahren recht schnell. Die Geschichte kannte kein Ende, die Zweifel wurden größer. Ist ein Europa, das sich in Fragen internationaler Machtentfaltung bedingungslos dem Willen der USA unterwirft, ein Modell der Zukunft oder doch eher der Vergangenheit? Osteuropa setzte stärker auf die USA und ihren NATO-Beistand, Westeuropa betonte seine Eigenständigkeit und wusste dann doch nicht so recht, wie es diese glaubhaft verkörpern sollte.

Die Folgen der von den USA angezettelten Kriege in Afghanistan und im Irak bekam Europa dadurch zu spüren, dass immer mehr Betroffene in Flucht und Migration nach Europa einen Ausweg suchten. Auch das hat die Zweifel am Sinn des amerikanisch-europäischen Bündnisses genährt. Und beim Blick hinüber in die USA wurden die Europäer mitgerissen von der Achterbahnfahrt der Gefühle. Die wütende Reaktion der schwer getroffenen Supermacht, die rasch begonnenen Kriege und ihre lange andauernden Nachwirkungen – das alles führte die Politik und öffentliche Meinung jenseits des Atlantiks auf einen rasenden Ritt durch Höhen und Tiefen.

Gespaltene Gesellschaft

Hannelore Veit

Auch im Inneren der USA verschoben sich die Parameter. Was für unmöglich gehalten wurde, wurde 2008 möglich: Die Amerikaner wählten ihren ersten schwarzen Präsidenten. Ein schwarzer Präsident? Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe? Ein Teil der Gesellschaft jubelte, ein Teil konnte nicht begreifen, warum ihre Werte plötzlich nicht mehr gelten sollten. Am rechten Rand der Gesellschaft gärte es, White Supremacists und andere Rechtsextreme fanden immer mehr Zuspruch.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 wurde zwar von den USA verursacht, sie überwanden sie aber schneller als der Rest der Welt. Nur: Ein Teil der Bevölkerung wurde zurückgelassen. Gut bezahlte Jobs waren verloren gegangen, „Globalisierung“ wurde zum Schimpfwort. Amerikaner, die die Veränderungen nicht so rasch nachvollziehen konnten, fühlten sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt.

So gesehen sollte es nicht überraschen, dass Donald Trump mit seinen simplen Botschaften und seinem Motto „America First“ ins Präsidentenamt gewählt wurde. Es überraschte trotzdem, uns Journalisten und den Rest der Welt.

Unter Donald Trump schlitterten die USA von einer Krise in die andere. Die Verbündeten wussten nicht mehr, wie sie mit den USA umgehen sollten, mit oder ohne Trump waren und sind die Vereinigten Staaten nun einmal die größte Supermacht der Welt. Europa und die USA machten eine, wenn schon nicht Eiszeit, so doch unterkühlte Phase durch.

In den USA selbst schritt die Spaltung der Gesellschaft noch weiter voran. Selbst die Medien, die eigentlich das Geschehen analysieren sollten, wurden immer mehr zu Meinungsmachern, die die Welt in Schwarz und Weiß, in Pro und Kontra sahen. Grautöne hatten keinen Platz. Am Ende der Amtszeit von Donald Trump stand das Undenkbare: ein Angriff auf eines der Symbole der Demokratie in den USA, das Kapitol, den Sitz des Kongresses. Jetzt diskutieren die USA, die „älteste Demokratie der Welt“, wie sie sich selbst nennen, über ihr Demokratieverständnis.

Joe Biden soll den Schritt zurück zur Normalität vollziehen. Kein leichter Schritt in einer gespaltenen Gesellschaft. Kein leichter Schritt für jemanden, der versprochen hat, das Land zu einen.

Alles neu?

Peter Fritz

Nun blickt Europa aufs Neue mit Staunen und Bangen hinüber in die USA, wo der älteste Präsident, den das Land je hatte, eine Verjüngungskur einleiten soll – auch in den Beziehungen zur alten europäischen Welt. Gerne wird betont, der „Neue“ sei auf seine irischen Wurzeln stolz, und damit wird die Hoffnung verbunden, er fühle sich mit Europa schon allein dadurch fester verwachsen. Aber die Sicht auf die Welt hat sich auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans stark geweitet. Sowohl Europäer als auch Amerikaner blicken, weltpolitisch gesehen, heute vor allem nach Asien, wo dem wirtschaftlichen Aufstieg der letzten Jahrzehnte der politische und auch militärische Machtzuwachs ganz logisch zu folgen scheint.

Es könnte die Schlüsselfrage unseres noch jungen Jahrhunderts sein: Wird Asien, und dabei vor allem China, sich mit wirtschaftlicher Dominanz zufriedengeben? Oder werden wir ein Ringen um die politisch-militärische Vorherrschaft erleben, ein Ringen, das die Großmächte in einen neuen, verheerenden Krieg führen könnte?

Dieses Buch soll kein Rückblick sein, es soll zeigen, wo wir heute stehen – als logische Folge der Entwicklungen der letzten 20 Jahre – und in welche Richtung es weitergehen kann. Gezweifelt haben wir in diesen 20 Jahren an vielem, auch an unserem Weltbild.

Man sollte den Zweifel nicht geringschätzen. Es war der Philosoph René Descartes, der vor mehr als 350 Jahren das System des methodischen Zweifels erfunden und damit ganz wesentlich zum Aufstieg der westlichen Zivilisation beigetragen hat. An allem zu zweifeln, auch an dem, was früher ganz allgemein als natur- oder gottgegeben hingenommen wurde, das ist die Wurzel des Denkens der Moderne.

Aber unsere Zeit des Zweifels bringt ganz neue Ungewissheiten und Herausforderungen mit sich. Können wir lernen, auf diese neue Welt mit offenem Blick und ohne Panik zuzugehen? Wir möchten mit diesem Buch zumindest ein paar Wegweiser in den weltpolitischen Irrgarten der Zukunft stellen.

Wien, im Juli 2021

DIE STUNDE DER GEWALTTerror als Instrument der Politik

Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 war es für den damaligen US-Präsidenten George W. Bush eine naheliegende Maßnahme: Er rief zum „Krieg gegen den Terror“ auf. Aber schon damals wurde immer wieder eine Frage laut, auf die es bis heute keine verlässliche Antwort geben kann: „Wer kann in einem Krieg gegen den Terror jemals einen Sieg verkünden?“ Oder, anders gefragt: „Wie kann man jemals wissen, ob man diesen Krieg gewonnen hat?“ Jede Art von Siegesgewissheit kann schon am nächsten Tag zunichte sein. Es genügt ein einziger, zu allem entschlossener Überzeugungstäter, um einer stolzen Weltmacht ihr Versagen vor Augen zu führen.

Der Terror hat unseren Alltag verändert. Wir können in der Konfrontation mit diesem Phänomen meist nicht agieren, wir sind zum Reagieren gezwungen. Wir hinken dem Terror und seinen verschiedenen Spielarten immer hinterher. Für uns ist es völlig normal geworden, auf Flughäfen Sicherheitschecks über uns ergehen zu lassen. Aber wir müssen auch hinnehmen, dass dabei die Maßstäbe durcheinandergeraten und manchmal schon jeder Logik entbehren. Weil ein britischer Islamist versucht hatte, in einer Maschine mit Kurs auf die USA einen Sprengsatz in seinen Schuhen zu zünden, müssen alle Flugreisenden in den USA die Schuhe ausziehen und durchleuchten lassen, bevor sie an Bord einer Maschine gehen. In Europa dagegen besteht man normalerweise nicht auf dieser Maßnahme. Generell akzeptieren wir heute – in den USA wie in Europa – eine Fülle unterschiedlichster Eingriffe in unser Leben. Wir akzeptieren auch, dass die Behörden mit dem Argument der Terrorgefahr ihre Befugnisse erweitern – und dabei nicht selten übers Ziel schießen.

Das Szenario vom 11. September 2001 wird sich in dieser Form nicht wiederholen. Es ist nicht anzunehmen, dass es noch einmal gelingen kann, Passagierflugzeuge in fliegende Bomben zu verwandeln und einen Angriff mitten hinein ins Herz einer Millionenstadt zu fliegen. Aber Menschen, die bereit sind, zu einer Waffe zu greifen, um aus religiösem oder politischem Fanatismus auf andere Menschen loszugehen, wird es vermutlich immer geben. Vieles wurde versucht, es ihnen schwerer zu machen. Geheimdienste stellten ihre Lausch- und Schnüffelarbeit voll in den Dienst des Vorgehens gegen den Terror, schreckten auch vor Foltermethoden nicht zurück und hatten dabei immer vorwiegend eine Form des Fanatismus im Auge: islamistisch motivierte Gewalt, die Antriebskraft, die Osama bin Laden und seine Al-Kaida-Gruppe zum Exzess des 11. September getrieben hatte. Der Krieg gegen den Terror war ein Krieg gegen islamistischen Radikalismus, und wenn es zumindest einen Tag gegeben haben sollte, den man kurzfristig als Tag des Sieges in diesem Krieg empfinden konnte, dann war das der 2. Mai des Jahres 2011: der Tag, an dem ein US-amerikanisches Spezialkommando Osama bin Laden in der pakistanischen Stadt Abbottabad aufspürte und ihn mit tödlichen Schüssen niederstreckte.

Aber der jahrelange Fokus auf den islamistischen Extremismus nach der Spielart bin Ladens verdeckte andere Bewegungen, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Die Terrormiliz IS begann ihren Aufstieg im Irak und in Syrien, indem sie immer weniger wie eine heimlich agierende Terrorgruppe auftrat, sondern wie die Armee eines Staatswesens, das sie kurzzeitig sogar aufbauen und behalten konnte.

Anderswo entdeckten Rechtsextremisten ihre Chance, mit Gewalttaten auf sich und ihre gefährlichen Vorstellungen aufmerksam zu machen. Zu zwei ihrer schlimmsten Taten kam es ausgerechnet in Norwegen und in Neuseeland, wo niemand mit derart entschlossen auftretenden Tätern gerechnet hätte.

Und zuletzt hat politisch motivierte Gewalt auch noch eine ganz andere Dimension bekommen. Es war ausgerechnet ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der nicht mehr zum Krieg gegen den Terror aufrief, sondern ziemlich unverblümt zum Terror selbst, gegen den eigenen Staat und dessen verfassungsmäßige Ordnung, mit dem Sturm auf das Kapitol im Jänner 2021 als dramatischem Höhepunkt.

Wir schildern in der Folge mehrere Spielarten des Terrors, von einsamen Tätern, die sich mitten in der europäischen Zivilisation zu Kriegern für ein islamistisches Mittelalter hochstilisierten, bis hin zu hausgemachtem Terror, wie ihn Donald Trump vor dem Ende seiner Amtszeit von der Machtzentrale des eigenen Landes aus zu entfachen suchte.

Stadt in Angst

Peter Fritz

Zwei kurze, dumpfe Schläge. Ich höre sie sehr deutlich. Mit dem linken Ohr. Am rechten Ohr habe ich das Handy. Ich telefoniere, durch die weihnachtlich beleuchtete Altstadt von Straßburg flanierend, mit Bea, meiner Frau, in Wien. Ich denke mir in diesem Moment nicht viel dabei. Es hat für mein Ohr nicht nach Schüssen geklungen, eher nach harmlosen Böllern. Dann sehe ich Menschen auf mich zulaufen. „Schnell weg“, rufen sie. Noch immer will ich nichts wahrhaben von der Panik, die sich rundherum aufbaut. „Jetzt rennen die alle so nervös herum. Dabei war das sicher eine ganz harmlose Sache“, sage ich zu Bea noch, dann setze ich meinen Weg fort. Ich bin zum Essen verabredet, mit einer bunten Runde aus Medien und Politik, wie sie sich in Straßburg dutzendweise zu versammeln pflegen, wenn das Europäische Parlament dort tagt. Es ist der Abend des 11. Dezember 2018, kurz vor 20 Uhr.

Ich gehe weiter, bin aber rasch der Einzige in meiner engen Gasse. Ein hohes, durchdringendes Geräusch dringt an mein Ohr. Na bitte, denke ich mir. Wahrscheinlich eine Alarmanlage mit Fehlauslösung, was soll’s. Aber dann, zwei Ecken weiter, ist es mit dem Flanieren und der fest eingebildeten Harmlosigkeit vorbei. Das laute Geräusch ist ein durchdringender Schmerzensschrei, ausgestoßen von einer Frau, die die schlimmsten Minuten ihres Lebens erlebt. Vor ihr, mitten auf dem groben Altstadtpflaster, liegt regungslos ein großer, auffallend gut gekleideter Mann. Ich sehe auf den ersten Blick das Blut, das ihm aus dem Hinterkopf gesickert ist, und ich weiß nur eines: Das wird jetzt sehr, sehr ernst. Zwei Passanten kümmern sich schon um ihn, versuchen, Erste Hilfe zu leisten. Ich mache mit, so gut es geht. Die Haut des Mannes vor mir ist rosig, er wirkt unversehrt bis auf seine tiefe Wunde. Aber er ist zu keiner Lebensäußerung mehr fähig, Atmung und Herz stehen still. Ein paar Männer erscheinen, rufen laut: „Bringt ihn weg von hier!“ Noch komme ich nicht zum Nachdenken, aber nehme später an, dass die Männer Polizisten in Zivil waren, die das Opfer und auch uns, die Helfer, aus der Schusslinie bringen wollten. Denn was wir noch nicht wissen, das weiß die Polizei in dieser Minute schon genauer. Es handelt sich um ein Szenario mit mehreren Schauplätzen, mit mindestens einem Täter, der in der Altstadt um sich schießt und noch nicht gefasst ist. Wir tragen den Schwerverletzten mit vereinten Kräften zehn Meter weiter, in den Eingangsbereich des Restaurants „Au Pont Saint Martin“. Dort, in einem engen Durchgang des alten Fachwerkhauses, machen wir weiter mit unseren Erste-Hilfe-Versuchen, so gut es geht. Unter den Gästen des Lokals sind zwei Frauen aus Deutschland, offenbar medizinisch geschult und erfahren. Sie sind aus dem ersten Stock des Lokals heruntergekommen und übernehmen die Regie. Auch ihnen fällt auf, wie lebendig der Mann noch wirkt. Aber schon einige Minuten später wird immer deutlicher, wie vergeblich unsere Bemühungen sind. Die letzten Spuren des Lebens weichen aus seinem Gesicht, das sich rasch ins Blaue verfärbt. Und seine Frau, unverletzt, aber extrem getroffen, sitzt eineinhalb Meter weiter auf einem Sessel und bekommt, halb gelähmt vor Schock, mit, wie jede Hoffnung für ihren Mann zu schwinden beginnt.

Unterdessen sind schwer bewaffnete Polizisten anmarschiert, stehen Posten im engen Eingangsraum des Restaurants. „Wo bleibt denn die Rettung?“, schreie ich einen von ihnen an. Die zehn Minuten, die wir schon hier sind, fühlen sich an wie eine Ewigkeit. Aber er entgegnet kühl, es müsse zuerst einmal der „périmètre“ gesichert werden. Keine ärztliche Hilfe, keine Sanitäter. Außer der Hilfe, die wir zufällig Anwesenden leisten können, gibt es nichts. Später erfahre ich von einer sachkundigen Notärztin aus Tirol, dass das überall auf der Welt so gehandhabt wird. In eine „Rote Zone“ fährt kein Rettungsfahrzeug ein. Zu groß wäre die Gefahr, dass auch die professionell Helfenden zu Opfern werden. Es dauert fast zwei Stunden, bis ein Arzt erscheint. Für den 45-jährigen Anupong Suebsaman kann er nichts mehr tun. Er ist der Mann, dem wir nicht mehr helfen können. In Thailand besitzt er eine Nudelfabrik. Es ist der erste Tag der Europareise, die er mit seiner Frau Naiyana angetreten hatte. Und der Weihnachtsmarkt in Straßburg war nicht das ursprüngliche Ziel der Reise gewesen. Eigentlich wollten die beiden nach Paris. Aber die Lage war ihnen zu unsicher erschienen. Es tobten dort gerade die Proteste der „Gelbwesten“-Bewegung, begleitet von gewalttätigen Ausschreitungen. Daher also Straßburg. Wenige Stunden nach der Ankunft ist Anupong Suebsaman tot, und seine Frau wird gegen 22 Uhr von der mittlerweile erschienenen Rettung abgeholt. Der Arzt hat sie in eine Art psychiatrische Intensivstation eingewiesen.

Vollbesetzte Tische im Restaurant, Menschen, die nur stumm vor sich hinstarren können. Wer auf die Toilette muss, der muss mit einem weiten Grätschschritt über den am Boden liegenden Toten hinweg. Anders geht es nicht in diesem engen Altstadthaus.

Unterdessen habe ich versucht, mir per Handy ein Bild vom Geschehen zu machen. Auf Twitter kursieren Meldungen aller Art, nicht alle davon wirklich vertrauenswürdig. Aber es wird rasch deutlich, dass das hier ein Angriff war, der eine größere Zahl von Opfern gefordert hat. Und es gibt auch erste Hinweise auf die Motivation. „Allahu akbar!“ soll der Täter gerufen haben, Gott ist groß. Ich gebe per Handy erste Berichte für das Radio und für die ZiB2 durch, schildere in erster Linie das, was ich selbst miterlebt habe. In der Wiener ORF-Zentrale sind auch schon Meldungen und Bildmaterial eingetroffen, aus denen deutlich wird: Hier hat jemand zum Massenmord angesetzt.

Noch ist völlig unklar, ob es mehrere Täter gibt, ob die Gefahr noch weiter besteht. Gegen Mitternacht dürfen wir das Restaurant „Au Pont Saint Martin“ verlassen. Ich erfahre noch per Rundruf, dass alle, mit denen ich mich eigentlich für diesen Abend verabredet hatte, wohlauf sind. Und ich nehme dankend das Angebot des ORF an, am nächsten Tag Verstärkung zu bekommen. Unsere Paris-Korrespondentin Eva Twaroch reist an, hilfsbereit und kollegial wie immer.

Reporter sind normalerweise nicht sehr erpicht darauf, selbst Teil der Story zu werden, die sie in die Welt setzen. Aber in diesem Fall geht es nicht anders. Ich muss am nächsten Tag Auftritte und Interviews für viele Sender absolvieren, muss immer wieder schildern, was ich gesehen und erlebt habe. Und am Abend gehen wir aus reinem Trotz zum Essen ins Restaurant „Zuem Strissel“, wo wir eigentlich tags zuvor hinwollten. Es wird meine letzte Begegnung mit Eva Twaroch sein. Drei Wochen später stirbt sie völlig überraschend allein an ihrem Arbeitsplatz in Paris. Eine Gehirnblutung. Niemand kann etwas für sie tun.

Zwei Tage nach der Tat wird der 29-jährige Chérif Chekatt gegen 21 Uhr von einer Polizeipatrouille in der Nähe des Straßburger Fußballstadions angehalten. Er feuert auf die Beamten, sie schießen zurück, Chérif Chekatt stirbt auf der Stelle. Er hatte in der Tatnacht ein Taxi gekapert, unmittelbar nachdem er auf den Touristen aus Thailand gefeuert hatte, das letzte seiner fünf tödlich getroffenen Opfer in dieser Nacht. „Ich habe das für meine toten Brüder in Syrien getan!“, rief er dem Taxifahrer zu. Später wurde auch ein Video gefunden, auf dem er sich zur Terrorgruppe „Islamischer Staat“ bekannte. Er hatte trotz seines jugendlichen Alters schon 27 Vorstrafen gesammelt, zumeist für Einbruchsdelikte in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Vier Jahre seines Lebens hatte er in verschiedenen Gefängnissen verbracht, wo sein Weg zum religiös-politisch motivierten Gewalttäter begonnen haben dürfte. An dieser Geschichte mutet vieles seltsam bekannt an. Der Täter, Kind einer Einwandererfamilie. Der Weg ins Terrormilieu über kleinere, „gewöhnliche“ Delikte, und schließlich die Radikalisierung, auch auf dem Weg über Kontakte in der Haft.

Menschliche Zielscheiben

Wir haben ein ganz ähnliches Muster bei Salah Abdeslam, dem Mann, der als Haupttäter der Anschläge vom März 2016 in Brüssel gilt, wie auch bei Kujtim Fejzulai, der am Allerseelentag des Jahres 2020 in Wien ein Terrormassaker in der Innenstadt verübte. Es sind durchwegs männliche Täter in jüngeren Jahren mit wenig Perspektive für das weitere Leben, aber mit Einflüsterern, die ihnen großen Lohn im Jenseits versprechen, wenn sie im Diesseits Menschen in den Tod befördern. Einen islamistischen Gottesstaat zu errichten, das bleibt ihnen in Syrien genauso verwehrt wie in Straßburg, Brüssel und Wien. Aber die geistige Basis ihres Tuns bleibt bestehen. Sie hat sich in den Köpfen vieler junger Leute eingenistet, die nach irgendeiner Art von Orientierung suchen. Und das hat jetzt auch dafür gesorgt, dass sich unsere Städte mit Grundzügen der Festungsarchitektur vertraut machen müssen.

Ein weiches Ziel zu finden, eine Möglichkeit, so viele Menschen wie möglich auf einmal möglichst verheerend zu treffen, das wurde dem 24-jährigen Anis Amri am Abend des 19. Dezember 2016 ziemlich leicht gemacht. Zuvor, am Nachmittag, hatte er in Berlin-Moabit den polnischen Fahrer eines mächtigen Saab-Scania-Sattelschleppers erschossen. Der schwere Wagen war beladen mit 25 Tonnen Baustahl aus Italien, das machte ihn zu einem umso wuchtigeren Geschoß. Und das war genau der Zweck, zu dem Anis Amri seine Beute nun einsetzen wollte. Er steuerte mitten hinein ins Zentrum des alten West-Berlin, wo die weihnachtlich dekorierten Bretterbuden standen, die inmitten des Großstadtambientes ein bisschen besinnliche Stimmung schaffen sollten. Am Fuß der Gedächtniskirche war das kleine Weihnachtsdorf aufgebaut, auf einem Platz, der, rückblickend betrachtet, das größtmögliche Sicherheitsrisiko bedeuten musste für alle, die sich dort versammelt hatten. Denn seine Architektur war zum Durchrasen geradezu prädestiniert.

Der Breitscheidplatz in Berlin war nie ein richtiger Begegnungsort im Sinne einer „piazza“, wie sie seit dem Mittelalter Europas Städte prägt. Er war immer als Zentrum eines Sterns von sechs großen Straßen angelegt, mit der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Zentrum. Von der Kirche steht heute nur noch die Ruine ihres Turmes mit den gut erkennbaren Bombenschäden aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein imposantes Zeichen der Erinnerung. Und daneben, die Ruine auf beiden Seiten flankierend, der Neubau aus den späten 1950erJahren von Architekt Egon Eiermann. Das Kirchenschiff als Achteck und, davon abgesetzt auf der anderen Seite der Ruine, der Turm, beides mit durchscheinendem blauem Glas als Fest des Lichts und der Lebendigkeit komponiert.

Es war viel überlegt und gestritten worden rund um die Neugestaltung des Kirchenensembles nach den Jahren von Krieg und Zerstörung. Aber die grundsätzliche Konzeption des Platzes als Straßenkreuzungspunkt und als Verteiler von Verkehr stand nie in Zweifel. Nur der Kreisverkehr, der bis in die 1950er-Jahre hinein noch rund um die Gedächtniskirche führte, wurde aufgelassen. Aber das war nicht als Maßnahme gedacht, die Stadt weniger autofreundlich zu machen, im Gegenteil. Im Denken der Planer dominierte das US-amerikanische Ideal der autogerechten Stadt, noch dazu, wo sich im geteilten Berlin nach dem Jahr 1961 der Breitscheidplatz und der nahe Kurfürstendamm rasch als Zentrum des neuen West-Berlin herausbildeten, als Schaufenster auf einer Insel des Westens im kommunistischen Osten Europas.

Der Breitscheidplatz wurde nach und nach umgestaltet und zu einem Platz gemacht, zu dem man möglichst schnell zu- und von dem man auch schnell wieder wegfahren konnte. Die Stadtplanung machte „Spangen“ und „Achsen“ zu ihrem neuen Dogma. Es ging vor allem darum, wie man am Rand des Platzes möglichst schnell seinen Weg entlangsausen und wieder in eine andere, noch schnellere Fahrbahn einbiegen konnte, gerne auch in einen Tunnel, wie er bis in die 2000er-Jahre hinein in Richtung Osten vom Platz wieder wegführte.

Und so begab es sich, dass das Weihnachtsdorf vom Dezember 2016 mitten in einem Straßengeflecht zu liegen kam, das optimal auf einen Zweck ausgelegt war: auf rasches Beschleunigen in Richtung seines zentralen Punktes, und dann auf ebenso rasches Davonfahren. Nichts anderes tat Anis Amri an diesem Abend gegen 20 Uhr mit seinem LKW und seiner 25 Tonnen schweren Fracht. Die Gäste auf dem Weihnachtsmarkt, vor den Ständen mit Glitzerschmuck und den Buden mit Bratwurst und Glühwein, sie standen, von Anis Amri im Führerhaus aus gesehen, wie der rote Punkt im Zentrum einer Zielscheibe. Und die Berliner Stadtplanung hatte Anis Amri beim Zielen geholfen. Auf einer Verkehrsachse, der Hardenbergstraße, beschleunigte er voll und hielt Kurs – mitten hinein in die Gasse zwischen den Buden des Weihnachtsmarkts, mitten hinein in eine Menge von Menschen, die sich dort auf einer Insel der Ruhe gewähnt hatten. Und auf einer anderen Verkehrsachse, der Budapester Straße, wollte er wieder davonbrausen. Nicht die Stadtplanung hinderte ihn daran, sondern das automatische Notbremssystem seines Lastwagens, das den Wagen mitten auf der Budapester Straße zum Stehen brachte. Für elf Personen endete die Fahrt tödlich.

Anis Amri schaffte es noch so weit in die Achse der Budapester Straße hinein, dass er inmitten der allgemeinen Verwirrung zu Fuß die Flucht ergreifen konnte. Erst vier Tage später wurde er in Italien erschossen. Er hatte bei einer Routinekontrolle das Feuer auf Polizisten eröffnet – mit derselben Waffe, mit der er am Beginn seiner Mordserie den polnischen LKW-Fahrer in Berlin tödlich getroffen hatte.

Schon lange hatten die Behörden Anis Amri im Visier gehabt. Er galt als verdächtig, aber doch als eher kleiner Fisch im großen Teich der islamistischen Netzwerke im Untergrund. Noch dazu hatte er seit seiner Ankunft in Europa ständig die Identitäten gewechselt. Fünf Jahre vor der Tat hatte er Tunesien verlassen und Italien erreicht, auf einem Flüchtlingsschiff, das ihn auf die Insel Lampedusa brachte. Immer wieder fiel er als Kleinkrimineller auf. Das altbekannte Muster zeigte sich auch hier. Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, ihm rechtzeitig auf die Spur zu kommen, aber das Puzzle hatte zu viele Teile. Es mangelte an Zeit, Geld und Personal, um die Teile richtig zusammenzufügen, und es fehlte manchmal auch das persönliche Geschick bei der Beurteilung der Lage.

Aber noch etwas führte dazu, dass Anis Amri seine Tat so ungehindert und mit einem so verheerenden Ergebnis realisieren konnte: eine Stadtplanung, die jahrzehntelang ganz andere Ziele verfolgt hatte als jenes, auf mögliche terroristische Bedrohungen zu achten. Erst seit kurzer Zeit wird verstärkt darüber nachgedacht, dass Menschen in der Stadt lebende Zielscheiben darstellen können, und dass es auch Aufgabe der Stadtplanung und der Architektur ist, sie durch bauliche Maßnahmen nach Möglichkeit zu schützen.

Anti-Terror-Architektur