Zeit nachhause zu kommen - Holger Heiten - E-Book

Zeit nachhause zu kommen E-Book

Holger Heiten

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Beschreibung

In diesem Buch gehen wir der Frage nach, ob es einen paradiesischen Ort der Unversehrtheit in uns gibt, der mit offenen Armen darauf wartet, dass wir nachhause kommen, und an dem wir, wenn wir dort angekommen sind, feststellen können, dass wir ihn in Wirklichkeit nie verlassen, sondern nur nicht mehr für möglich gehalten haben. Wir begeben uns entlang einer kraftvollen Metapher auf die Suche nach diesem Ort. Dafür nähern wir uns der Erkenntnis an, wer wir aus tiefster spiritueller Sicht wirklich sind und nie aufgehört haben zu sein, sowie welche Art Nebel uns bisher die Sicht darauf verschleierten. Wir untersuchen, wie weit wir auf diesem Weg kraft unseres Willens und Könnens kommen können und ab welchem Punkt nur zu kapitulieren weiterhilft. Am Ende geht es darum, durch welche Praktiken wir mit jenem Ort verbunden bleiben können, wenn wir gleichzeitig in die Welt der 10.000 Dinge zurückkehren. Da dies alleine dauerhaft nicht möglich ist, zeigt das Buch ebenso eine Halt gebende Kultur auf, die wir dazu brauchen.

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Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Dank

Ich habe gelernt, dass wir einander brauchen, um uns gegenseitig daran zu erinnern, was wir im Grunde immer schon über unseren Weg nachhause wussten, jedoch im Alltag immer wieder aus den Augen verlieren.

Deshalb danke ich all den wundervollen Menschen, mit denen zu arbeiten ich regelmäßig das Glück habe und die mich zu diesem Buch inspirierten. Ich danke allen, die mich auf meinem Weg begleiten und mir unaufhörlich dabei helfen, mich zu erinnern. Ich verneige mich auch vor den spirituellen Meister*innen, die im Buch genannt werden und vor dem wunderbaren Erbe, das sie uns hinterließen. Dieses Buch erzählt so gesehen nichts Neues und ist lediglich mein Beitrag, uns einige Zusammenhänge in Erinnerung zu rufen.

Besonderer Dank gilt meiner im Jahre 2020 verstorbenen spirituellen Lehrerin Hilde Uden, die mir vorlebte, wie authentische Spiritualität aussieht. Auch Andrea, Dirk, Thomas und Werner möchte ich dafür danken, dass sie sich mit meinen Gedanken und Texten auseinandersetzten und mir wertvolle Rückmeldungen gaben. Ich danke Bettina Wollenhaupt, unserer guten Seele im Büro, die, während ich am Buch arbeitete, die Büroarbeit gehalten hat. Wie schon bei den letzten Büchern war Werner Pilz mein scharfsinniger Lektor, der mir half, den Texten ihren letzten Schliff zu geben, und war Thomas Kugel erneut für den schönen Buchsatz zuständig. Auch diesmal setzte meine Tochter Fiona meine Vorstellungen zu den Graphiken wunderbar um. Danke für eure Geduld mit mir. Dank auch an Gesa, mit der zusammen ich das Eschwege Institut als spirituelle Wasserstelle in der Wüste, an der ich seither selber viele Male meinen Durst stillen konnte, aufbauen durfte. Schließlich gilt mein Dank meinen beiden wundervollen Kindern, die mich täglich erfreuen und inspirieren, vor allem darin, für sie das aufzuschreiben, was mir im Leben wichtig ist.

Anmerkung zur geschlechtergerechten Sprache

Ich teile die gesellschaftspolitischen Motive sowie den emanzipatorischen Anspruch derer, die unsere Sprache gendern, und setze mich ebenfalls dafür ein, dass Menschen in erster Linie als Menschen gesehen werden und gleichberechtigt sind, völlig unabhängig davon, ob sie Mann oder Frau, Italienerinnen oder Tibeter sind. Da die momentane Form des Genderns unserer Sprache jedoch nur eine Krücke sein kann, bis eine nachhaltigere Lösung gefunden wird, nehme ich mir die Freiheit, auch in diesem Buch nach einer eigenen (Zwischen-)Lösung zu suchen. Die Wortungetüme, die das Gendern in unserer Sprache manchmal hervorbringt, stören den Lese- und Erzählfluss. Ich werde das Problem deshalb dadurch versuchen zu adressieren, dass ich durchgängig durch alle Texte, so, wie es der Erzählfluss erlaubt, mal die Form mit Sternchen und dann wieder im Wechsel die weibliche und die männliche Form der Substantive benutze.

INHALT

Vorwort

Einleitung - Wie wir sind

Wer wir sind

Da sein

Wir sind das All-Eine und dessen individueller Ausdruck

Wir sind, womit wir uns identifizieren

Wie wir uns verloren haben und wiederfinden können

Der Drill Officer „Über-Ich“ und seine Entmachtung

Patriarchale Überlegenheit hat einen Preis,der höher ist als die Belohnung

Wie können wir dem ein Ende setzen und heil werden?

Eine Eingebung

Das Land der Nackten und Schönen

Die eingegebene Geschichte

Ein Schatz in der Schublade

Der Spieltisch und das Spiel

Vom Spieltisch aufstehen

Durch die Hinterlassenschaften vieler Generationen

Ankunft und Aufbruch

Wie die Rüstung abfällt und sich die Tür öffnet

Im Land der Nackten und Schönen

Das ureigentliche Zuhause

Es wiederzuerlangen, war so mühelos, wie man zu Abend isst

Das Versprechen zurückzukommen

Der Stab der Spiritualität

Eine neue Kultur

Die neue Kulturelle Wirklichkeit wird bereits gewebt

Gegenläufige Kulturbildungen

Bildung

Neurobiologie und eine Pädagogik der Bewährung

Bewährung als Teil gelingender Übergangsprozesse

Körper, Seele, GEIST und Gesundheit

Die Heilung der Wissenschaft

Neue Kriterien zum Treffen von Entscheidungen

Gemeinsame Entscheidungen treffen

Es ist Zeit nachhause zu kommen

Heimsuchung

Gehe los

Segen

Vollständig Erwachsenwerden

Der Stab oder wie wir zwei Welten angehören können

Atmen

Hören

Gehorchen und Gehören

Springen wir! Ein Schlusswort

Literaturliste

Über den Autor

VORWORT

Wir werden heimgesucht. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, wer wir ureigentlich sind und dem, wie wir uns verhalten, zwischen einem ewigen Zuhause, das wir in unserer Mitte immer haben, und einem Davon-entfernt-Sein, in das wir uns verirrt haben. Heimsuchung ist, wenn das Spannungsfeld zwischen diesen Positionen all die schicksalhaften Ereignisse auf den Plan ruft, die geeignet sind, uns diese Diskrepanz vor Augen zu führen und uns zu helfen, sie wieder aufzulösen.

Wir haben Herausforderungen wie den Klimawandel, das Artensterben, Kriege und all die Zivilisationskrankheiten selbst zu verantworten und werden jetzt durch sie heimgesucht. Uns wird vor Augen geführt, dass wir nicht weiter in die falsche Richtung gehen können, und werden zurück nachhause gerufen. Kurz bevor die Systeme, die wir selber für unser vermeintliches Freiwerden erfanden, es uns gänzlich vergessen machen, haben wir immer noch die Chance, uns daran zu erinnern, wer wir ureigentlich sind, und nachhause zu kommen.

Dies alles stellt die großen Herausforderungen unserer Zeit und die Notwendigkeit, auf sie zu reagieren, nicht in Abrede. Wir können ihnen nur leichter begegnen, wenn wir wissen, dass wir immer noch ein Zuhause haben, das uns die nötige Kraft und Weisheit dafür schenkt.

Dieses Buch geht auch mit der endenden Gesellschaftsordnung des Patriarchats als eine der, bezüglich unserer ureigentlichen Identität, größten Nebelkerzen der Geschichte ins Gericht und macht Vorschläge für ein postpatriarchales, lebensgemäßes Miteinander. Dabei wird es nicht um absolute Wahrheiten und Rechthaben gehen, sondern um mögliche Perspektiven, die zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung darüber einladen sollen.

Als alternder weißer Mann fühle ich mich indes zu befangen und verletzlich für eine rein politische oder sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Patriarchat. Ich sehe meinen Beitrag vielmehr darin, eine mögliche spirituelle Perspektive auf das Thema zu eröffnen und Lösungen zu beleuchten, die es auf dieser Ebene geben könnte. Ich werde dazu von Anfang an Metaphern und Bilder zur Veranschaulichung verwenden, auf die ich mich im Verlauf des Buches immer wieder beziehen werde. Im Zentrum des Buches steht eine Geschichte, die mir im Alter von 17 Jahren wie eine Vision eingegeben wurde. Erst spät begriff ich, dass es sich bei ihr um eine Art metaphorische Wegbeschreibung zu einem mystischen Zuhause und unserer ureigentlichen Identität handelt, die wir in Wirklichkeit nie verloren haben.

Wie schon in meinem letzten Buch „Steine und Brot“1 verwende ich auch diesmal öfters das durch die Geschichte der Religionen hoch belastete Wort „Gott“. Ich verwende es jedoch stets nur als Platzhalter für ansonsten viel zu komplexe und dennoch nie ausreichende Umschreibungen einer all-einen Interverbundenheit, die uns alle jenseits Geschlechtlichkeit und spiritueller Positionierung geistig zusammennimmt und von der wir jeweils ein individueller Ausdruck sind.

1 Holger Heiten, Steine und Brot, BoD, Norderstedt, 2021.

EINLEITUNG - WIE WIR SIND

Da leben Menschen, weißerblühte, blasse, und sterben staunend an der schweren Welt. Und keiner sieht die klaffende Grimasse, zu der das Lächeln einer zarten Rasse in namenlosen Nächten sich entstellt.

Sie gehn umher, entwürdigt durch die Müh, sinnlosen Dingen ohne Mut zu dienen, und ihre Kleider werden welk an ihnen, und ihre schönen Hände altern früh.

Rainer Maria Rilke

Wir versuchen es zwar meist zu verbergen, als sei es ein Makel, aber bei genauerem Hinsehen können wir sofort erkennen, dass wir sehr zarte Wesen sind, dass wir hinter aller Fassade, hinter all unseren Selbstschutzmechanismen und Panzern sehr zarte und verletzliche Wesen sind. Deshalb sagt der Volksmund, auf uns Menschen gemünzt, dass die Schale der Auster so hart sei, weil ihr Inneres so weich ist. Die spätere Frage, wer wir sind, erschließt sich vielleicht erst, wenn wir uns vor Augen führen, wie wir sind.

In meiner Arbeit mit Kraft entfaltenden Ritualen in der Natur, wie etwa der Visionssuche, erlebe ich immer wieder, dass Teilnehmer*innen von einer solchen Erfahrung zurückkehren und von Wundern oder Magie sprechen, die sie erlebt haben. In Wirklichkeit aber haben sie sich lediglich in einem möglichst großen zeitlichen Freiraum und einem als „sicher genug“ empfundenen, schützenden rituellen Rahmen in der Natur aufgehalten. In diesem Freiraum getrauten sich feinste und hoch sensible Instrumente ihrer Wahrnehmung endlich wieder auf Empfang zu gehen. Diese Instrumente stehen im Grunde jedem Menschen zur Verfügung und was sie wahrnehmen können, hat nichts mit einem Wunder oder gar mit Magie zu tun, sie nehmen schlicht eine größere und feinere Wirklichkeit wahr, die immer um uns ist, nur dass wir sie im Alltag nicht mehr sehen können.

Da leben Menschen, leben schlecht und schwer, in tiefen Zimmern, bange von Gebärde, geängsteter denn eine Erstlingsherde; und draußen wacht und atmet deine Erde, sie aber sind und wissen es nicht mehr.

Rainer Maria Rilke

Für die meisten von uns ist der Alltag so laut und grob, ist die Bilder- und Informationsflut so gewaltig geworden, dass wir es uns nicht mehr leisten können, jene feinsten Instrumente der Wahrnehmung zu aktivieren. Die Wahrnehmung abzustumpfen, wurde uns, meist unbewusst, zur Überlebensstrategie im Alltag. Menschen, die aus großen Städten zu uns ins Eschwege Institut kommen, brauchen manchmal Tage, bis sie den Gesang bestimmter Vögel wieder bewusst wahrnehmen können.

Dass unsere physische Umwelt, die wir uns als Lebensort geschaffen haben, so wenig dazu passt, wie und wer wir ureigentlich sind, hat mit einer psychischen sowie gesellschaftspolitischen Bedingtheit zu tun, die uns dies vergessen ließ. Dieses Buch soll uns zunächst daran erinnern, wer wir wirklich sind, sowie welche Bedingtheit uns von uns selber so entfremdete. Danach aber soll es darum gehen, wie wir wieder zu uns und nachhause finden können.

In unserer Selbstvergessenheit und durch all die uns einhüllenden Schutzpanzer voneinander scheinbar isoliert, leben wir in ständiger Sorge um uns selbst. Wir leben in Angst vor einem Außen, dass uns nur als so bedrohlich erscheinen kann, weil wir auch nach innen und zur Tiefe hin keinen Zugang mehr zu dem pflegen, was in diesem Buch als Allverbundenheit bezeichnet wird. Derart verängstigt, besorgt und isoliert verhalten wir uns nicht mehr, wie wir uns natürlicherweise verhalten würden.

Wir haben Angst vor einander, vor Nähe und vor morgen. Gleichzeitig haben wir Angst davor, nicht geliebt zu werden, keine Nähe zu erfahren und dass sich die Mikroorganismen, aus denen unsere Körper ja zu mehr als der Hälfte besteht, gegen uns wenden und wir krank werden. Vieles, womit wir unsere kostbare Zeit auf Erden verbringen, hat mit dem vergeblichen Versuch zu tun, uns von den natürlichen Bedingungen des Lebens zu emanzipieren und uns abzusichern sowie unsere natürlich gegebene Umwelt in einen scheinbar sicheren Ort zu verwandeln. Inzwischen finden wir uns jedoch als Sklaven in einem großen lieblosen Gefängnis wieder, das wir uns für unser vermeintliches Freiwerden selber erschufen.

Wer jetzt gänzlich vergäße, wer wir wirklich und ureigentlich sind, wer außer Acht ließe, dass wir vom Ureigentlichen nur verstellt und deshalb so verworren sind, und wer aus der Distanz nur darauf schaute, wie wir uns benehmen oder miteinander sowie mit unserer Umwelt umgehen, dem oder der wäre es sicherlich schwer, uns besonders lieb zu haben.

Und andererseits braucht es manchmal nur ein schönes Wochenende mit lieben Menschen, das gemeinsame Erleben schöner Musik oder der großen Natur und die Erinnerung daran oder zumindest eine Ahnung davon, was Menschsein bedeutet, was für feine und liebenswerte Wesen wir sind, kommt zurück. Kaum fällt die alltägliche Bedrückung von uns ab, fassen wir uns wieder an den Händen und lachen.

Dasselbe gilt auch für Krisen, in denen die uns haltenden Systeme kurzzeitig wegbrechen, wie etwa nach einem schweren Erbeben oder in Zeiten des Krieges. Als Kind konnte ich das im Winter 1978/79 während der großen Schneekatastrophe in meiner ostfriesischen Heimat erleben. Menschen, die jahrelang dicht an dicht nebeneinander in ihren schmucken Einfamilienhäusern gelebt hatten, ohne je wirklich mehr als „Guten Tag“ zueinander zu sagen, standen jetzt beieinander und unterhielten sich.

Zuvor hatte es ausgesehen, als würden alle sich ständig nur kritisch beäugen. Man redete schlecht über einen, der seinen Rasen nicht oft genug mähte oder in irgendeiner anderen Weise die stillschweigend vereinbarte Norm verließ. Jetzt verhielten sich alle, als gehörten sie einer großen fröhlichen Familie an. In Ermangelung staatlicher Hilfe organisierten die Menschen sich ihre Hilfe selbst. Gemeinsam wurden Wege durch die mehr als mannshohen Schneeverwehungen geschaufelt und wurden die Alten und Gebrechlichen mit allem versorgt, was sie brauchten. Obwohl dies eine Katastrophe genannt wurde, hatte ich die Menschen in meinem Dorf nie zuvor so lebendig und miteinander lachend erlebt wie damals.

Der Religionsphilosoph und Anthroposoph Martin Buber sagt in seinem berühmten Werk, „Ich und Du“, dass alles wirkliche Leben Begegnung sei: Begegnung mit einem „Du“, das mit uns gegenwärtig ist und uns wirklich meint, hört und sieht. Erstaunlicherweise sagt er auch, dass es uns, wenn wir Begegnungen dieser Qualität nicht haben könnten, aus anthropologischer Sicht gar nicht geben würde.

Wir alle, die damals in Ostfriesland dabei waren, erinnern uns noch bis heute mit fast verklärtem Blick an dieses Erlebnis „wirklichen Lebens“. Und so geht es fast allen, die sich, ob in besonders schönen Momenten oder unter den Bedingungen einer Katastrophe, ihres Menschseins gewahr werden. Wir erinnern uns nicht an die Katastrophe oder den Anlass an sich, sondern vielmehr an die menschlichen Begegnungen sowie an das Erlebnis, dabei gespürt zu haben, dass es uns gibt.

In solchen Erinnerungen klingt dann eine Sehnsucht nach wirklichem Leben mit, die Sehnsucht danach, nachhause zu kommen, wo wir so sein können, wie wir wirklich sind, wo wir die sein können, die wir ureigentlich und dennoch oder gerade deshalb geliebt sind.

Wenn wir dieser Sehnsucht nachgehen wollen, ist es wichtig, von Anfang an einzusehen, dass wir nicht nachhause finden, indem wir uns für unser Verpanzert- und Verstellt-Sein oder für unsere Ängstlichkeit verurteilen und glauben, erst noch besser, gut genug oder freier werden zu müssen. Frei werden wir erst durch die Annahme und zeitlose spirituelle Zusage, dass wir aufhören können zu rennen und jetzt schon zuhause angekommen sind, dass wir jetzt schon geliebt und angenommen sind und dafür nichts mehr, aber auch gar nichts mehr tun und auch nie hätten tun müssen. Spirituelle Praxis bedeutet hier, genau diesen Muskel zu trainieren und unter anderem dadurch die Nebelschleier zu lichten, die bisher verhinderten zu erkennen, dass wir bereits zuhause sind.

Der Muskel, den es dafür braucht, ist der Muskel der Selbstannahme, der Selbstliebe und des Mitgefühls für sich selbst. Es braucht die Haltung, dass zunächst einmal sein darf, was ist, und wir, so verloren und fehlerhaft wir uns auch gerade fühlen mögen, geliebt und der Liebe wert sind. Es geht somit nicht um Selbstoptimierung, sondern darum, sich zu glauben, bereits gut genug zu sein. Es geht darum, dass aus dieser spirituellen Perspektive nichts, was wir tun oder lassen, schlimm genug sein könnte, um aus diesem Geliebt-Sein herauszufallen. Natürlich sollten wir auf der alltäglichen weltlichen Ebene wissen, dass wir Fehler, die wir dort begangen haben, wieder gut machen müssen, erst Recht, wenn wir dadurch andere verletzten. Dies fällt uns jedoch wesentlich leichter, wenn wir gleichzeitig wissen, dass wir aufgrund unseres Fehlers nicht unser Recht darauf verwirkt haben, in der Liebe zu sein.

Gott verschwendet seine Liebe auch an den Bösesten, wie dürfte der Mensch die seine mit strenger Buchhaltung nach Ehre und Verdienst verwalten!

Martin Buber

Aus der spirituellen Perspektive kommen wir immer gerade erst zuhause an, wie der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh es zu sagen pflegte, und sind unwissend wie Kinder, die alles zum ersten Mal erleben. Und um immer gerade erst ankommen zu können, brechen wir auch immer gerade erst wieder auf, hängen an nichts wie an einer Heimat, wie Hermann Hesse es in seinem Gedicht „Stufen“ zum Ausdruck bringt, um weiterhin „heiter Raum um Raum zu durchschreiten“. Der christliche Mystiker und Benediktiner Mönch David Steindl-Rast fasst dieses scheinbare Paradox der Gleichzeitigkeit von Angekommen- und Unterwegs-Sein wie folgt in der Haltung des Pilgerns zusammen: „Der Pilger weiß, dass jeder Schritt auf dem Weg überraschenderweise schon zum Ziel führen kann, er weiß jedoch auch, dass sich das vermeintliche Ziel, auf ebenso überraschende Weise, als doch nur ein weiterer Schritt auf dem Weg erweisen könnte.“

WER WIR SIND

Das Auge des Geistes

Wir beginnen mit der Einsicht, dass das wahre Selbst immer-gegenwärtiges Bewusstsein ist, auch wenn wir seine Existenz bezweifeln.

In dieser einfachen Wahrnehmung erkenne ich:

Ich bin mir meines Körpers bewusst, also bin ich nicht nur mein Körper.

Ich bin mir meines Geistes bewusst, also bin ich nicht nur mein Geist.

Ich bin mir meines Selbst bewusst, also bin ich nicht nur mein Selbst.

Vielmehr nehme ich beobachtend wahr, meinen Körper, meinen Geist und mein Selbst.

Ich kann meine Gedanken sehen, also bin ich nicht diese Gedanken.

Ich bin mir meiner Körperempfindungen bewusst, also bin ich nicht diese Empfindungen.

Ich bin mir meiner Gefühle bewusst, also bin ich nicht diese Gefühle.

Irgendwie bin ich aber doch das Subjekt, das dies alles wahrnehmen kann.

Doch wer oder was nimmt wirklich wahr?

Die alten Traditionen sagen: Das, was wahrnimmt, ist reiner

Geist, - ist Gott, ist Buddhanatur in ihrer Ganzheit, nicht begrenzt in Zeit und Raum und absolut leer.

Diese letzte, unbedingte Wirklichkeit ist nichts, was gesehen werden kann, sondern das, was immer-gegenwärtig „sieht“. Und darum ist dieses Bewusstsein nicht schwer zu erreichen, aber unmöglich zu vermeiden.

Da das, was sieht, selbst nicht gesehen werden kann, hören wir also auf, uns mit diesem und jenem zu identifizieren und nach dem zu suchen, was außerhalb nicht zu finden ist.

So bekommen wir eine Ahnung von der unbegrenzten Freiheit, auch wenn diese Freiheit selbst wiederum nicht gesehen werden kann.

Wenn wir unbesorgt verweilen, können wir erkennen, dass dieses einfache, immer-gegenwärtige Bewusstsein vollkommen mühelos ist. Denn es macht keine Mühe, Laute zu hören, Dinge zu sehen, die kühle Brise zu fühlen. Hellwach – ruhen wir einfach in dieser reinen mühelosen Achtsamkeit.

Und wieder erkennen wir, dass dieses zeitlose Gegenwärtigsein, keineswegs schwer zu erreichen ist, aber unmöglich zu vermeiden.

So schließen wir mit der Erkenntnis, dass das wahre

Selbst diese immer-gegenwärtige Bewusstheit ist, auch wenn wir ihre Existenz bezweifeln.

Rezitationstext nach Ken Wilber

Wir alle kennen Momente, in denen die Zeit plötzlich stillzustehen scheint und wir uns seltsam mit allem und allen verbunden fühlen. Momente tiefen inneren Friedens, in denen wir sicher wissen, dass wir geliebt sowie jetzt und immer am richtigen Ort sind und mit den richtigen Menschen das Richtige tun. Wir treten an einen Strand und das Rauschen und Wogen des Meeres sind uns plötzlich und unvermittelt wie das uralte Wiegenlied allen Lebens, das wir dann merkwürdigerweise in diesem Augenblick durch alle Zeiten und Räume hindurch selber sind. Wir hören eine Musik und fühlen uns seltsam mit Ereignissen und Orten verbunden, die wir selber nie erlebt, oder öffnen uns für ein Wissen, dass wir selber nie erlernt haben. In wunderbaren Orgasmen verschmelzen wir mit unserem Partner oder unserer Partnerin und wissen für ewige Augenblicke, dass wir nur die Finger ein und derselben Hand sind, die sich gerade berührten. Wir schauen uns an, wissen oder spüren es gleichzeitig und lachen.

Geben uns solche Seins-Erfahrungen, jenseits von allem, mit dem wir uns ansonsten identifizieren, Einblicke in das, wer wir wirklich und eigentlich sind, oder fallen wir dabei lediglich für kurze abnorme „Aussetzer“ aus unserer wirklichen Wirklichkeit heraus?

Damit wir uns mit den später hierauf folgenden Kapiteln nicht allzu sehr in den Niederungen hinderlicher Identifikationen und oberflächlicher Probleme der alltäglichen Welt verlieren, erscheint es mir wichtig, dass wir zunächst dieser Frage nachgehen, uns sozusagen daran erinnern, wer wir in der Tiefe unter all dem wirklich sind, und uns darin einen festen Stand verschaffen.

Sich ab und zu daran zu erinnern, wer wir wirklich und ureigentlich sind, ist auch unabhängig vom Inhalt dieses Buches eine gute Idee. Der Alltag mit seinen Verpflichtungen, Sorgen und unzähligen Angeboten sich in etwas zu versteigen, kann unsere Herzen und unseren Geist schnell verengen und lässt uns leicht die schier unfassbare spirituelle Dimension unseres Hierseins sowie das Geschenk, sie erleben zu dürfen, vergessen.

Was diese spirituelle Dimension angeht, so sind einige immer noch der Auffassung, sie hätte ausschließlich mit dem Spirit, also nur mit dem GEIST, zu tun und unser menschlicher Geist müsse über das Stoffliche auch in dem Sinne triumphieren, dass wir uns von den Bedürfnissen und Gefühlen unseres Körpers emanzipieren. Unser Körper ist jedoch in Wirklichkeit unsere wichtigste Brücke in jegliche Spiritualität. In ihm erst spüren wir wahre Präsenz und Anbindung im Hier und Jetzt, da es ihn immer nur hier und jetzt gibt.

Es gibt keine Sünde, die uns von Gott trennen könnte. Alles Körperliche, das reinen Herzens geschieht, ist Gottesdienst. Askese ist Verwirrung.

Martin Buber

Eine körperverachtende Spiritualität hingegen wird schnell abgehoben, lebensfremd und weltflüchtig. Deshalb beginnen wir unsere Forschungsreise darüber, wer wir sind, am besten dort, wo wir zunächst einmal in unserem Körper anwesend werden:

DA SEIN

Nimm Dir bitte kurz Zeit und halte inne! Setze Dich, wenn möglich, aufrecht hin und erlaube Dir zunächst das Gewicht Deines Körpers auf der Fläche, auf der Du sitzt, zu spüren. Erlaube mit jedem Ausatmen etwas mehr, Dich mit Deinem Gewicht an die Erde zu geben.

Jetzt sage mal „Hallo“ zu Deinem Körper, lege Deine Hände auf Deine Schenkel und spüre einfach nur, wie sie dort liegen …

Spüre jetzt weiter in Deinen Körper hinein. Wie sehr kannst Du Deine Schultern loslassen?

Wie sehr kannst Du auch andere Bereiche, in denen Du Anspannung vorfindest, loslassen?

Wie sehr kannst Du Dich in all diesen Stellen loslassen?

Viele von uns kneifen, wie man im Volksmund so sagt, ihren Hintern zusammen und geben diesem Tag damit schon mal die Botschaft, dass er etwas ist, das zu bewältigen ist, statt sich ganz entspannt von ihm tragen zu lassen. Spüre mal bis in den Schließmuskel, Deinen Anus, hinein – kannst Du Dich auch dort loslassen und entspannen?

Fasse Dir mit beiden Händen seitlich an Deinen Kopf und streiche all die sorgenvollen Monkey-Radio-Gedanken nach unten zu Deinem Herzen und vertraue darauf, dass sie sich dort in der Gegenwärtigkeit Deines Herzens auflösen werden. Berühre jetzt mit Deinen Fingern ganz leicht die höchste

Stelle oben auf Deinem Kopf und spüre der sanften Berührung nach. Achte jetzt auf Deinen Atem. Komme, wie Thich Nhat Hanh es empfiehlt, mit jedem Einatmen gerade erst an. Sage oder denke bei jedem Einatmen „Ich komme an“ und mit jedem erleichternden Ausatmen „Ich bin zuhause“. Komme immer gerade erst an, sei immer bereits zuhause, ohne noch irgendetwas dafür erreichen zu müssen. Atme so eine kurze Weile.

WIR SIND DAS ALL-EINE UND DESSEN INDIVIDUELLER AUSDRUCK

This is one of the greatest paradoxes, that each individual is universal, and yet individual. Each wave is part of the same ocean, yet each wave is unique; no other wave is like it, although all waves belong to the same ocean.

Osho

Wenn wir uns jetzt nochmal, wie weiter oben im Rezitationstext von Ken Wilber2, auf das konzentrieren, was da gerade durch unsere Augen schaut, in unseren Körper hinein spürt und horcht, können wir uns fragen, wer dieser zeitlose Zeuge ist, der sich seit allem Anfang schon genau so anfühlte und nicht zu altern scheint? Stellen wir uns diese immer-gegenwärtige Bewusstheit wie die Flamme einer Kerze vor, die zu keinem Augenblick noch dieselbe ist, die sie soeben noch war, und doch ununterbrochen da ist und scheint.

Die Frage, wer wir sind, obwohl wir sie hier ja nicht individuell, sondern nur sehr allgemein ansteuern, kann nicht endgültig beantwortet werden. Wir können uns dem nur religionsphilosophisch annähern und versuchen, eine Erinnerung wachzurufen, die dann in jedem und jeder eine eigene Erkenntnis-Dynamik entwickeln kann. Die Frage, wer wir sind, weist aus meiner Sicht immer zunächst auf unseren Ursprung hin, auf den Anfang von allem, auf das, woher wir kommen. Richten wir daher unseren Blick auf einen Urgrund, von dem aus selbst Zeit und Raum ihren Anfang nahmen, aus dem alles, was ist, auch unsere evolutionären Vorfahren und somit auch wir, hervorgegangen ist. Über diesen Urgrund, mit dem wir durch unsere Herkunft noch verbunden sind, sind wir demnach auch mit allem anderen, das durch seine Herkunft mit ihm verbunden ist, durch alle Zeiten und Räume hindurch verwoben.

Lassen wir uns jetzt auf das Wagnis ein, in einer Dimension jenseits unseres Zeitbegriffes zu denken, und stellen uns vor, die gesamte Entfaltung der Evolution hätte nicht diese unvorstellbar lange Zeit gebraucht, sondern dass sich das alles in einem beständigen „Jetzt“ ereignet. Wenn wir uns als Gedankenspiel kurz erlauben, dass dies alles „Jetzt“ ist, müssten wir nicht mehr erst durch die lange Geschichte des Kosmos zurück zu jenem Urgrund reisen und auch nicht von dort aus wieder die ganze Herkunftsgeschichte eines anderen Individuums hinaufreisen, um unsere Verbindung mit diesem nachvollziehen zu können. Wir wären einfach im Augenblick verbunden und eins. Aus dieser gewagten Perspektive „sind“ wir, über jenen Urgrund, diese Interverbundenheit von allem, was ist, sowie, wieder in Zeitbegriffen denkend, auch von allem, was jemals war und noch sein wird.

Zeit ist das, was das Licht von uns fernhält Es gibt kein größeres Hindernis auf dem Weg zu Gott als die Zeit

Meister Eckhart

Wir sind einerseits diese zeitlose Interverbundenheit und zugleich der ganz individuelle Ausdruck dessen in diesem Augenblick, somit unter den Bedingungen von Zeit und Raum. Es wird leichter, in diese Richtung weiterzudenken, wenn wir uns zunächst an Vorstellungen erinnern, die in den jüdisch-christlichen und hinduistischen Schöpfungs-Mythen ganz ähnliche Züge aufweisen. Dort heißt es, dass am Anfang von allem – im Urgrund – ein Klang ist. Ich sage „ist“, weil es sich bei diesem Klang nicht um ein historisches, sondern um ein immer-gegenwärtiges Ereignis handelt. Jenseits von Zeit, in einem Zustand, den der Heilige Augustinus „Nunc Stans“ nennt, „das Jetzt, das steht und nicht vergeht“, erklingt immer jetzt dieser Klang, ob nun als das „Wort“ des christlich-jüdischen Gottes, das „immer“ am Anfang ist, oder als der Ur-Klang „Aum“ der Hindus und Buddhistinnen, aus dem beständig jetzt die Welt entsteht. Das „Eine“ im Urgrund ist die Stille und durch diesen Ur-Klang fällt es beständig in die Dualität, in die „Zweiheit“ der Welt des Stofflichen, in der es dann auch oben und unten, hin und her, Schwingung zwischen zwei Polen und somit Zeit und Raum gibt.

2 Amerikanischer Autor und Philosoph. Einer der einflussreichsten zeitgenössischen Denker der Integralen Theorie und Transpersonalen Psychologie.

Eine Metapher zur Veranschaulichung

Meine spirituelle Lehrerin Hilde Uden erklärte mir die Gleichzeitigkeit von Interverbunden-Sein und dessen individuellem Ausdruck mit einer Scheibe, in deren Mitte ein Punkt ist, in dem keine Zeit vergeht, als Metapher für das Weltliche und Zeitliche. Rein physikalisch gesehen befindet sich auch in der absoluten Mitte der Achse, um die sich die Zeit messenden Zeiger einer Uhr drehen, theoretisch ein Punkt, der still steht, der keine Zeit misst und für den keine Zeit vergeht. So ist der Punkt in der Mitte jener Scheibe zu verstehen.

Während in der Mitte der Scheibe immerzu JETZT ist, vergeht auf der Scheibe des sie umgebenden Weltlichen die Zeit immerfort. Eine Scheibe steht in dieser Metapher für einen Augenblick, der jetzt schon wieder vergangen ist, … und auch dieser wieder und dieser… Die Scheiben vergangener Augenblicke schichten sich unendlich übereinander und man kann sich einen gewaltigen Turm der „Geschichte“ vorstellen, durch dessen absolute Mitte ein zeitloses Band oder eine Säule verläuft, die doch in sich selbst immer nur ein Punkt, immer nur das Eine und das zeitlose Jetzt ist.

Unsere physische Existenz findet in dieser Metapher auf dieser Scheibe und unter den Bedingungen von Zeit und Raum statt. Aus unserer Perspektive gab es irgendwo in der Geschichte der Augenblicks-Scheiben unter uns unseren Geburtstag und irgendwo in der werdenden, sich noch ereignenden Geschichte über uns unseren Todestag. Aus dieser Perspektive gibt es auch einen historischen Moment, an dem all dies hier begann. Wir erklären ihn uns als Urknall oder als einen Schöpfungsakt, als den Übergang von einer absoluten Einheit in die Polarität oder Zweiheit, von einem Zustand, in dem alle Gegensätze noch ineinander ruhten, hin zu einem, in dem sie sich gegenüberstehen. Dieser Ursprung, in dem alles, was je war, ist und je sein kann, noch ineinander ruhte und eins war, ist in der Mitte aller Augenblicks-Scheiben immer noch jetzt und unvergangen.

In dieser Metapher und für unsere Frage, wer wir sind, ist die Vorstellung entscheidend, dass jeder Mensch auf dieser Scheibe irgendwo im Feld um die Mitte herum einen einzigartigen Standpunkt hat und vertreten kann, der immer auf ihn wartet, da kein anderer Mensch diesen je ausfüllen bzw. ihn vertreten kann. Dieser jeweils einzigartige Standpunkt markiert unsere individuelle Mitte und nur von diesem unserem ur-eigenen Standpunkt aus sind wir im Stande, ein Lot in die Tiefe zu fällen. Wir können uns z. B. mittels Meditation und tiefer innerer Stille derart versenken, dass unser Lot bis an den Anfang und Ursprung von allem hinabreicht. Dies kann zu einer Erleuchtungs- oder Seins-Erfahrung führen, bei der wir uns, meist kurzzeitig, mit allem zeitlos verbunden und eins fühlen.

In der Vorstellung einer solchen Versenkung wird es jetzt deutlicher, wie wir einerseits das einzigartige Individuum sind, das sich aus Sehnsucht nach dem Zuhause in Gott derartig versenkt, und wir so gleichzeitig mit unserem Urgrund in Fühlung kommen können. Einem Urgrund, aus dem alles kam, auch der Mensch und jener Vogel oder jener Baum neben uns, einem Urgrund, über den wir mit allem, was war, ist und sein wird, verbunden sind. Es wird noch klarer, wenn wir uns vor Augen führen, dass es nicht nur möglich ist, sich bis zu jenem Urgrund hin zu versenken, sondern auch, dass etwas von jenem All-Einen zu uns hinaufreicht oder herüberreicht und die Verbindung mit uns hält. Diese Verbindung ist mühelos, beständig und sogar unvermeidbar, auch wenn wir versuchen, sie zu ignorieren. Deshalb werde ich sie im Weiteren als „Standleitung“ bezeichnen. Über sie werden uns manchmal Seins-Erfahrungen zuteil, ohne dass wir uns dazu absichtsvoll versenkten.

Die zwei Begriffe Gefühl und Gewissen eignen sich besonders, die Wirkweise der Standleitung zu beschreiben, da die Vor-Silbe „Ge“, solange sie keine grammatische Form wie etwa „ich bin gelaufen“ anzeigt, in der deutschen Sprache immer auf die Dimension der Tiefe hinweist. Tiefes Fühlen und Wissen, respektive Gefühl und Gewissen, sind so sehr etwas anderes als einfach nur fühlen und wissen, so, wie verliebt sein anders ist, als wirklich tief zu lieben. Tief empfundene Liebe ist ein Gefühl, während ein Verliebt-Sein eher Aussagen über ein weltliches Fühlen und über eine erotische Anziehung macht.

Der Psychotherapeut und Mystiker Karlfried Graf Dürckheim hat zwischen dem eher sozial geprägten kleinen und dem eher mystischen großen Gewissen unterschieden. Während uns das kleine Gewissen darüber informiert, dass es unanständig wäre, unsere Gemeinschaft z. B. mit einer bestimmten Arbeit allein zu lassen, informiert uns das große Gewissen über ganz andere und nicht selten zunächst sehr irrationale Dinge. Plötzlich wissen wir, dass wir etwas Bestimmtes tun müssen, obwohl wir dadurch den Unmut anderer auf uns ziehen werden. Plötzlich wissen oder fühlen wir über unser Gefühl, dass wir nicht dorthin fahren sollen, und erst später erfahren wir, warum. Das große Gewissen verbindet uns über den all-einen Urgrund mit der Inter-Verbundenheit des Lebens oder, anders gesagt, mit der lebendigen Wirklichkeit. Wirklichkeit ist hier ein passender Begriff, da er sich von „wirken“ ableitet, das wiederum ein altes Wort für „weben“ ist. Deshalb macht das Wort Wirklichkeit eine Aussage über die Verwobenheit allen Lebens. Im Sinne der Tiefe der Geschichte unter uns, die weit über die Spanne unseres Lebens hinausgeht, steht „Gewissen“ hier auch für Begriffe wie „Kontinuum-Wissen“ oder „Kollektiv unbewusstes Erinnern“ und macht der Ausspruch, „eine Ahnung“ von etwas zu bekommen, einen Sinn.

Jetzt könnte man anführen, dass jemand, der sich nach einer Verbindung zum göttlichen Urgrund sehnt, sich einfach mit der absoluten und zeitlosen Mitte der Augenblicksscheibe verbinden könnte, anstatt sich erst umständlich vom ur-eigenen Standpunkt aus bis zum Urgrund hin zu versenken. Dies würde jedoch genau die heilige Ordnung zerstören, in der wir zugleich einen ur-eigenen persönlichen Standpunkt in der Welt und eine Standleitung vom überweltlichen Urgrund her bis hinauf zu uns haben können.

Die Sehnsucht nach unserem Zuhause im überweltlichen Urgrund hat schon so manchen dazu verleitet, den ur-eigenen Standpunkt in der Welt zu verlassen und auf die Mitte der Augenblicks-Scheibe zuzugehen, genauso wie auch die Verlockungen des rein Weltlichen manche dazu bewegen, sich in die entgegengesetzte Richtung vom eigenen Standpunkt zu entfernen. Beide Bewegungen führen von unserer individuellen Mitte, unserem Standpunkt, weg und machen uns zu „Verrückten“, weil die Vorsilbe „Ver-“ in der deutschen Sprache fast immer auf die horizontale und weltliche Sinnrichtung auf der Augenblicks-Scheibe hinweist.

Wir verlieren schlichtweg den „Ver-stand“ und die einen werden zu weltflüchtigen spirituellen Spinnern während die anderen sich zu egozentrischen Selbstverliebten entwickeln, deren Leben nur mehr aus der Gier nach noch mehr Macht, Besitz, Aufmerksamkeit und Sensationen besteht. Ohne die Rückverbindung zum Urgrund bzw. der Interverbundenheit, die wir nur über unseren ureigenen Standpunkt haben können, vergessen wir schlicht, wer wir sind, und „verwahrlosen“, weil die Wahrheit über uns nicht mehr gefestigt ist.

Was uns vor dem Verrücktwerden bewahrt, uns ein einzigartiges Individuum sein lässt und zugleich mit dem Urgrund verbunden hält, ist die Haltung des „Einverstanden Seins“. Dieser Begriff beschreibt genau jene Gleichzeitigkeit, sowohl einen einzigartigen Standpunkt in der Welt zu haben, als auch, indem wir mit diesem eins sind und uns somit letztlich selbst voll und ganz annehmen, mit jener Standleitung vom all-einen Urgrund her verbunden zu bleiben.

Da ist einerseits, im Sinne des ursprünglichen Verständnisses von Religion3, eine Rückverbindung, ein Wissen um und Pflegen von unserer Herkunft und Inter-Verbundenheit möglich. Andererseits gibt es diese Art Standleitung vom Ursprung her bis hin zu jeder und jedem Einzelnen von uns, die auch dann besteht, wenn wir versuchen, sie zu ignorieren.

Diese Standleitung sowie unser einzigartiger Standpunkt in der Welt sind es in dieser Metapher, die uns zur Person bestimmen. Bestimmen sogar im wörtlichen Sinne, denn, wenn der Ursprung, wie wir bereits betrachtet haben, ein Klang ist, ein immer-gegenwärtiger Ton, dann klingt er über diese Standleitung bis zu uns und durch uns hindurch. Und nichts anderes bedeutet das Wort „Person“, das vom lateinischen „per sonare“ abgeleitet ist und mit „der Ton klingt hindurch“ übersetzt werden kann. Das Wort „Gesund“, das mit seiner Vorsilbe „Ge-“ wieder auf die Tiefendimension hinweist und mit „-sund“ auf die gemeinsame sprachliche Wurzel mit dem englischen „sound“ (Klang), kann wiederum mit „der Ton, der aus der Tiefe klingt“ übersetzt werden. So gesehen hat „gesund sein“ etwas damit zu tun, einverstanden in der eigenen Mitte zu stehen und dadurch mit der Standleitung vom Urgrund her verbunden zu sein.

Jeder Mensch hat seinen einzigartigen Standpunkt im Gewebe des Lebens und ist sein jeweils ganz ur-eigenes Instrument. Durch jede und jeden von uns klingt der Klang aus der Tiefe auf einzigartige Weise anders. Zusammen ergeben wir eine wunderbare Symphonie, vor allem in Momenten, in denen wir selber ganz bei uns und nicht „verstimmt“ und möglichst viele andere ganz bei sich, ganz sie selbst und im wahrsten Sinne „gesund“ sind.

Jeder und jede von uns hat einen eigenen Klang, ein ganz individuelles Lied oder, wie der Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann es einmal sagte, ganz individuelle Worte in sich, die nur er oder sie zu einem Gedicht formen können. Dieses Gedicht zu formen und dieses Lied zu singen, ist der Grund unseres Hierseins, ist das, was uns letztlich erfüllt. Egal wie hoch wir eine Erfolgsleiter im Leben emporgeklommen sind, wenn wir unser Lied nicht fanden oder schlimmer noch, es doch kannten und nie sangen, dann haben wir „gefehlt“ im Sinne von „nicht da gewesen sein“ und machten „Fehler“, dann waren wir „human doings“ statt „human beings“.

Jeder und jede von uns hat ein Recht hier zu sein und, mehr noch, einen einzigartigen Platz in dieser heiligen Ordnung, der durch niemand anderen eingenommen werden kann. Wie in einem hoch komplexen Ökosystem hat jeder und jede eine einzigartige Gabe sowie eine damit verbundene Aufgabe. Wir sind hier, um etwas ganz Bestimmtes in die Welt zu bringen, etwas, dass niemand sonst in die Welt bringen könnte: einen Duft, einen Gedanken, ein Lied, einen Tanz.

Wir sagen etwas aus einer Laune oder Eingebung heraus und ohne dass wir es jemals erfahren, wirkt dies in einem anderen Menschen weiter, weshalb er fünf Jahre später eine Entscheidung trifft, die er so sonst nie getroffen hätte. Wer war die Großmutter von Mahatma Gandhi und wer der Großvater von Nelson Mandela? Kaum jemand kennt ihre Namen noch, doch waren es womöglich ihre Liebe und Führsorge, waren es unzählige Augenblicke, in denen sie genau das Richtige taten oder sagten, die, ohne dass sie es wissen konnten, das Feld bereiteten, in dem ihre Enkel zu jenen werden konnten, als die wir sie heute kennen. Nichts, das zu tun uns eingegeben wird, ist geringer einzuschätzen als das andere, und auch wir können nicht wissen, für was oder wen wir gerade das Feld bereiten. Ein liebevoller wertschätzender Blick auf unsere Kinder ist genauso wichtig wie das Verfassen eines bahnbrechenden Buches, das Pflegen eines sterbenden Menschen in einer einsamen kleinen Wohnung so wichtig wie das Ringen um ein maßgebliches Gesetz in einem Parlament.

Alles, was die einzelnen Menschen tun oder lassen, ist durch alle Zeiten und Räume hindurch miteinander verwoben und webt mit an unserer gemeinsamen Wirklichkeit. Die Menschen der Hopi Nation, die in der Wüste Mais wachsen lassen konnten, indem sie ihn besangen, befürchteten die kosmische Ordnung durcheinander zu bringen, wenn sie nur einen Ton ihrer Lieder falsch sangen. Und doch ist auch mancher von uns dafür gekommen, eine zu eingewöhnte Ordnung zu stören, auf dass sie neu überdacht und mit neuem Leben erfüllt werden muss.

Denn wir sind letztlich nur Menschen, die manchmal fehlen, weil wir zeitweise Ziele verfolgen, die uns von uns selber, von unserem Weg entfernen und in die Irre führen. Manchmal überfordern wir uns, verschließen unser Herz und können die in allem waltende Liebe nicht mehr erkennen oder die leise Stimme der inneren Führung nicht mehr hören. Manchmal und meistens ohne es zu wollen, verletzen wir andere, und manche der so Verletzten werden über das beständige Heilen-wollen dieser Wunden selber zu Heiler*innen. Für manche sind wir im Laufe des Lebens so genannte „Arsch-Engel“, weil es unsere Aufgabe ist, sie mit etwas sehr Unangenehmen zu konfrontieren, was aber, ohne dass es ihnen oder uns bewusst sein konnte, letztlich notwendig war, um bestimmte Wachstumsimpulse auszulösen. Wir können davon ausgehen, dass, wann immer wir entscheiden, unseren Weg zu gehen und zu tun, was uns eingegeben wurde, sich irgendjemand auf den Schlips getreten fühlt. Niemand von uns kommt durch, ohne sich irgendwann die Hände am Leben schmutzig gemacht zu haben.

Wir sind nicht hier, um einander zu gefallen oder um die Erwartungen anderer zu erfüllen, wir sind hier, um auf unsere jeweils einzigartige Weise das „Überweltliche in der Welt zu bezeugen“, wie Karlfried Graf Dürckheim es sagte, und dementsprechend unseren Standpunkt in der heiligen Ordnung zu vertreten. Wir sind hier, um in Liebe wir selbst zu sein.

Dies ist ein dynamischer Prozess. Bei der sogenannten ersten Reise des Lebens geht es nämlich nach jeder Wachstums-Krise erneut darum, herauszufinden, wer wir jetzt sind, was jetzt unsere Aufgabe ist und wer jetzt unsere Leute sind. Nachdem wir dies immer tiefergehend herausgefunden und alles dafür getan haben, unsere Aufgabe zu erfüllen, können wir in unseren späteren Jahren die zweite Reise unseres Lebens antreten. Dabei können wir dann alles, was wir während der ersten Reise gelernt haben und dabei geworden sind, in den Dienst einer höheren Sache stellen.

Sei Du selbst, alle anderen gibt es schon

Oscar Wilde

Wie wir in späteren Kapiteln noch genau untersuchen werden, ist im Übrigen der häufigste Grund, warum wir unseren ureigentlichen Standpunkt in der heiligen Ordnung nicht einnehmen, darin zu finden, dass wir irgendwann den Glaubenssatz an Bord nahmen, unzureichend, nicht gut genug und so wie wir ureigentlich sind, der Liebe nicht wert zu sein. Wir nehmen deshalb neben unserem ureigentlichen Standpunkt, der für immer unser bleibt und leer bliebe, wenn wir ihn nicht einnehmen, eine konstruierte zweite Identität an. In ihr versuchen wir dann so zu sein, wie man uns hier braucht. Im Grunde genommen führt dieser Schritt jedoch zu der Illusion, ein von der Verbindung mit der Allverbundenheit getrenntes Leben führen zu können. Diese Illusion kann nicht lange bestehen, da zugleich ein Spannungsfeld zwischen jener konstruierten Identität und unserem ureigentlichen Sosein entsteht. Dieses ruft in unserem Leben all die Ereignisse auf den Plan, die notwendig und geeignet sind, um diese Illusion bzw. die Diskrepanz zwischen beiden Identitäten aufzulösen. Alles Schicksalhafte, alles was uns zustößt, erweist sich nach einer Weile als eine Heimsuchung oder Heimführung zu unserem ureigentlichen Platz in der heiligen Ordnung und einer gesunden Beziehung zu Gott. Wir alle werden sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene heimgesucht und wir werden in diesem Buch untersuchen, was wir tun können, um unseren Weg nachhause zu finden.

In meinem Buch „Trance und Chance“4 im Kapitel „Der dritte Pol“ beschreibe ich die hier nur umrissene Metapher von den Augenblicks-Scheiben viel ausführlicher. Dort gehe ich insbesondere darauf ein, welche Rückschlüsse sich auf unser zwischenmenschliches Verhalten daraus ziehen lassen.

Doch auch so wird schon deutlich, wie wir ganz individueller, persönlicher und einzigartiger Ausdruck des Ursprungs sind, aus dem wir alle kommen und der uns alle zusammennimmt. Damit wir uns als solcher individueller Ausdruck uns selbst und dem Gewebe des Lebens gegenüber nachhaltig „gesund“ verhalten, ist es einerseits notwendig, sich der inneren Führung durch jene Standleitung vom Urgrund her anzuvertrauen, und andererseits sich immer wieder, z. B. über eine spirituelle Praxis, seiner Herkunft und der Verbundenheit mit dem lebendigen Gewebe des Lebens zu erinnern.

In den Worten meiner spirituellen Lehrerin Hilde Uden ist das, was diese Metapher beschreibt, die heilige Ordnung in der lebendigen Wirklichkeit des Lebens.

Wir sind der uralte Turm, den Rilke umkreiste, sowie auch der Sturm und ein großer Gesang

Bevor wir jetzt etwas poetischer in die Erinnerung daran, wer wir ureigentlich sind, einsteigen, sollten wir zunächst noch einmal sicherstellen, dass wir dabei auch in uns anwesend sind.