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Die Welt ist nun mal so wie Du bist! Bewusst können wir höchstens ein 55´tausendstel dessen wahrnehmen, was sich tatsächlich gerade um uns ereignet und halten dies für die Wirklichkeit. Wir lassen diesen winzigen Anteil durch unsere Wahrnehmungsfilter, weil er zu uns passt und er eine Geschichte über unser Sosein und das der Welt bestätigt, die wir einstmals wählten zu glauben. Wir leben in einer Wirklichkeits-Trance, die ein ganzes Universum alternativer und eventuell größerer Wirklichkeit ausschließt. Gäbe es nicht die Chance zweier nennenswerter Auswege aus dieser sich immer von neuem selbst bestätigenden Gedanken- und Wahrnehmungsumlaufbahn, wir blieben für immer darin gefangen. In diesem Buch geht es sowohl um die Trance bzw. die Beschaffenheit unserer Wirklichkeit, als auch um jene beiden Chancen, die Achtsamkeit und Krise heißen. Auch der Mythos unserer Kultur ist lediglich eine Story, die wir wählten zu glauben. Wir alle leben in der Trance einer Konsens-Realität, die sehr reale Konsequenzen für unsere natürlichen Lebensgrundlagen hat. Die weltweite Krise der Menschheit ist eine Chance über den alten Mythos hinauszuwachsen und zu beginnen eine neue Story über uns zu erzählen, in der wir tief verbunden und achtsam, eine erwachsene Liebesbeziehung zur lebendigen Erde pflegen. Dies ist das Arbeitsfeld der Initiatischen Prozessbegleitung®, die, mit ihren Modellen und ihrer Praxis, Schicksalsschläge als Heimsuchung sowie Lebenskrisen als Wachstumsprozesse versteht, würdigt und begleitet. Mit der Königsmetapher wird in diesem Buch zudem ein Verfahren vorgestellt, dass uns die Souveränität über unsere eigenen Prozesse zurückgibt und uns in ein erfüllteres Leben, in Würde und zum Wohle aller, einlädt.
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Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für Fiona und Jan Helge
meinen geliebten Kindern
Damit sie verstehen, was ich die ganze Zeit gemacht habe, was mir im Leben wichtig war und um meinen kleinen Teil für ihre Zukunft beizutragen
Dank ist für mich ein Ausdruck des Bewusstseins darüber, wie wenig ich je alleine hätte erreichen können. Er ist für mich eine Reminiszenz an mein »inter-Sein« in einem allverbundenen Gewebe des Lebens. In diesem, so der vietnamesische buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh, würde es dieses Buch nicht geben, hätte es nicht auch den Waldarbeiter gegeben, der die Bäume fällte und den LKW-Fahrer, der sie dann zur Papierfabrik brachte. Dank gilt aus dieser Perspektive auch den Vorfahren des Waldarbeiters und den Regenwolken, die über jenen Wald abregneten sowie der Sonne, die ebenfalls mithalf, dass jene Bäume wachsen konnten.
Mein Dank gilt zuerst dem alles zusammennehmenden GEIST, der durch die Allverbundenheit wirkt, durch das Gewebe der Wirklichkeit, in der ich das Glück habe, eine Faser zu sein. Solange ich denken kann, werde ich schon aus der Fülle der Allverbundenheit mit allem versorgt, was ich brauche und konnte ich ebenso aus jener nie versiegenden Fülle geben. Dazu gehört auch dieses Buch, das lauter von mir weiter verdaute Gedanken, die zuvor schon von Anderen gedacht worden sind, enthält. So erinnere ich mit diesem Buch, ganz im Sinne der ethischen Haltung des Eschwege Instituts, lediglich an Dinge und Zusammenhänge, von denen wir alle schon immer wussten, die wir jedoch im Vielen des Alltags aus den Augen verloren.
Mein besonderer Dank gilt meiner spirituellen Lehrerin Hilde Uden. Sie rettete mein Leben, als ich 17 Jahre alt war, indem sie mit einem authentischen Blick in mein Herz schaute und es für gut befand. Sie erweckte den König und somit auch das Grundbild der Königs-Metapher in mir und inspirierte mich zu Inhalten des Kapitels »Der Dritte Pol«. Eine ähnliche, das Höchste im Menschen wertschätzende Haltung prägte mich, als ich Mitte der 80er Jahre die Findhorn Gemeinschaft kennen lernte. Ich danke auch den zahllosen anderen guten Lehrern*Lehrerinnen, die mich auf meinem Weg prägten. So z. B. meinen Gestalttherapie-Ausbildern, Zen- und Bioenergetik-Lehrern Adriaan Oomen und Clair Neger sowie Pieter Loomans, bei dem ich die Initiatische Leibarbeit kennen lernte. Besonderen Einfluss auf mich hatte auch meine Ausbildung bei Steven Foster und Meredith Little in Kalifornien, in der ich die Visionssuche-Leitung noch einmal tiefer verstand, nachdem ich bereits von Haiko und Verena Nitschke dazu ausgebildet worden war. Dankbar bin ich auch Gigi Coyle und Marlow Hotchkiss, die mich zu einem der ersten Council-Trainer Europas ausbildeten. Ich danke den Lehrern*Lehrerinnen meiner Lehrer*innen dafür, dass sie die Lineage der zum Teil uralten Tradition unserer Arbeit nie haben abreißen lassen und uns ihr Wissen heute immer noch zur Verfügung steht. Ich bitte all jene um Vergebung, die ich hier nicht persönlich nennen konnte.
Ich will auch den vielen Unterstützenden danken, die in den Aufbau-Jahren des Eschwege Instituts zu mir und meiner damaligen Ehefrau Gesa Heiten - wir haben uns vor Jahren im Guten getrennt - hielten, mit der zusammen ich das Institut und den Ansatz der Initiatischen Prozessbegleitung® konzipiert und aufgebaut habe und immer noch weiter entwickle. Ohne Thomas Kugel, mit dem ich die illustrierte Kurzfassung »IN CIRCLES« dieses Buches herausgab, hätte ich diese Langversion wohl nie vollendet und ohne den klugen Rat meines Lektors und Freundes Werner Pilz hätte sie nicht den richtigen Schliff bekommen und wäre sie voller Komma-Fehler gewesen. Ich danke Malu, die eine frühere Buch-Version korrigierte und Kunga, meinem Mentor, für seine Inspiration und Weisheit sowie für seinen Mut, meine Gedanken und Ansichten immer wieder zu hinterfragen. Insbesondere danke ich Gesa, der Mit-Geschäftsführerin des Eschwege Instituts, mit der mich bis heute eine beste Freundschaft verbindet. Sie hielt mir den Rücken frei, um dieses Buch schreiben zu können, das auch ein Dokument unseres gemeinsamen Lebenswerkes ist.
Mein größter Dank gebührt jedoch den wichtigsten Lehrern und Lehrerinnen meines Lebens: meinen beiden Kindern, unseren Teilnehmern und Teilnehmerinnen und der großen Natur, die mich immer wieder daran erinnern, was wirklich wichtig ist und denen ich dieses Buch in Demut überreiche.
Vorwort
TEIL 1 Die Initiatische Prozessbegleitung
®
(
IP) und die Königsmetapher
Trance und Chance
Die Königsmetapher
Die praktische Anwendung der Königsmetapher
TEIL 2 Die IP und die ihr zugrundeliegenden Modelle
Initiatische Prozessbegleitung® (IP)
Das grundlegende Modell »Die Vier Schilde«
Der Circle of Courage
Septare
Der Dritte Pol
Der Monomythos
TEIL 3 Die IP und ihre Praxis
Rituale
Kontemplatives Selbstverstehen
Kontemplatives Selbstverstehen
Spiegeln – Bestärkung zum Wachsen
Council
Die IP und ihre arbeitsethische Haltung
Schlusswort
Literaturliste
Über den Autor
Die Königsmetapher ist eine zentrale Herangehensweise innerhalb eines von uns »Initiatische Prozessbegleitung®«, nachfolgend auch »IP« genannten Ansatzes. Die IP hilft uns, die Souveränität über unsere eigenen Prozesse zurückzuerlangen und ein erfüllteres Leben in Würde und zum Wohle aller zu führen.
Die Initiatische Prozessbegleitung® wurde im Eschwege Institut aus diversen Ansätzen heraus entworfen. Sie wird dort gelehrt, praktiziert und ständig weiterentwickelt. Das Eschwege Institut steht diesbezüglich für eine gelebte Haltung, die in allen zunächst das Königliche sieht, anspricht und oft überhaupt erst erweckt. Dieses Buch soll neugierig auf die IP machen, indem es uns etwas Luft des Eschwege Instituts atmen lässt.
Die Geschichte des Eschwege Instituts ist so wundersam wie der Umstand, dass ein solcher Ort überhaupt entstehen konnte, als überall sonst Seminarhäuser schließen mussten. Es ist ein Wirklichkeit gewordener Traum, den meine damalige Ehefrau Gesa und ich Anfang der 2000er Jahre anfingen zu träumen. Sie muss kurz erzählt werden:
Gesa war eine international erfolgreiche Organisationsentwicklerin und Management-Beraterin mit einem Diplom in Psychologie und ich ein Psychotherapeut, der der klassischen stationären Sucht-Therapie gerade den Rücken zugewandt hatte, um sich dem Thema prophylaktisch zuwenden zu können. Gesa war die weltgewandte Businessfrau und ich eher ein Landei mit spiritueller Ausrichtung: Ein ungleiches Paar, mit der einzigen Gemeinsamkeit, schon damals zur Visionssuche-Leitung ausgebildet worden zu sein.
Wir lernten uns bei einem Seminar von Steven Foster und Meredith Little, die später Lehrer und Lehrerin von uns wurden, kennen. Ein Jahr danach wollten wir schon wieder aufgeben und uns trennen. Wir fanden uns aus diesem Grund zu einer Visionssuche bei Steven und Meredith in Kalifornien ein. Anders als gedacht erhielten wir während unserer viertägigen Solozeit in der Wildnis sehr eindrückliche Einsichten darüber, welche anderen Pläne das Leben mit uns hatte. Die Kernbotschaft war, kurz gesagt, dass eine Trennung nicht in Frage komme, da wir zu einem bestimmten Zweck zusammengebracht worden waren. Es hieß, wir sollten auf unsere innere Führung vertrauen sowie darauf, dass Wege beim Gehen entstehen würden und wir einfach vorwärts gehen sollten, so wie bisher. Wir blieben also zusammen, waren auf wunderbare Weise von allen vorherigen Zweifeln befreit, vertrauten und hatten jetzt die ganze Kraft zweier Mittdreißiger zur Verfügung, um loszulegen.
Nachdem wir im Jahr 2000 in einem kleineren Haus nahe Marburg angefangen hatten und Eltern des ersten unserer beiden Kinder geworden waren, erwarben wir dann 2004 das Hauptgebäude des jetzigen Eschwege Instituts. Es entsprach genau dem, was wir beim Universum bestellt hatten und wunderten uns nur wenig, als wir zwei Monate später dort mit einem Makler standen und es problemlos kaufen konnten. Wir vertrauten und wenig später kamen noch weitere Gebäude und Grundstücke dazu.
Wir glaubten an unseren Traum, auch als sich der Betrieb finanziell noch nicht selber trug. Gesa hatte ein Standbein im Business Bereich behalten und konnte finanzielle Engpässe anfangs immer wieder auffangen, während ich mich mehr um den Aufbau der Infrastruktur, von Werbebroschüren und Texten bis hin zu den nötigen Umbaumaßnahmen kümmerte. Von Anfang an nutzten wir die Gelegenheit und luden im Rahmen unserer IP-Ausbildung die international besten Lehrer*innen unseres Arbeitsfeldes ein. So hatten wir Gelegenheit, uns selbst weiter fortzubilden und wurden z. B. zu Council-Trainern, ohne dass wir dazu zur Ojai Foundation nach Kalifornien reisen mussten. Council war von Anfang an die Art, wie wir bis heute sowohl unser Institut als auch Familie und Beziehung führen. Auch unsere Trennung vor einigen Jahren haben wir damit gemeistert, leben und arbeiten weiterhin in Kreisen und entwickeln so gemeinsam unseren Ansatz und unser Seminarangebot immer weiter. Gesa brachte in den letzten Jahren immer mehr ihres umfassenden Wissens über die neurobiologische Bedingtheit des Menschen sowie die damit verbundene, vielfältige Praxis der Achtsamkeit ein. Auch war es ihre Leistung, gemeinsam mit unserem gemeinsamen Mentor und Ältesten Dr. Ron Kunga Lacoste, all unsere gemeinsam erarbeiteten Modelle und Praktiken in die Anforderungen der Business-Welt zu übersetzen. Dort bringt sie diese erfolgreich zum Einsatz und übersetzt sie von dort aus wieder zurück in unsere Arbeit. Ihrem wachen Geist, ihrem Mut und ihrer Gabe einzuschreiten, wenn sie erkennt, dass jemand aus der Trance alter Muster heraus handelt, sowie ihrer Größe, dem Nichtwissen Raum zu geben, haben wir einige der besten Ideen und Neuerungen auf unserem Weg zu verdanken. Wann immer ich in diesem Buch Formulierungen wähle wie »Wir machen das so …« oder »Wir sehen das so …«, dann sind mit dem »Wir« immer Gesa und ich, sowie seit einigen Jahren auch Dr. Ron Kunga Lacoste gemeint.
Gemeinsam haben wir einen Ort geschaffen, an dem wir nicht nur praktizieren und ausbilden, sondern der gleichzeitig auch eine lebendige geistig/ spirituelle Oase und Heimat für viele geworden ist.
Dieses Buch kann zwar kein Ersatz für eine fundierte Ausbildung in der IP sein, wohl aber ein tieferes Selbst- und Weltverstehen vermitteln, das uns erlaubt, uns selbst und die Ereignisse unserer Zeit in einen neuen ganzheitlichen Zusammenhang einzuordnen. Ganz im Sinne unserer Buchreihe CIRCLES FOR FUTURE sind die Modelle der IP sowie die davon abgeleitete Praxis zyklisch angelegt. Sie eröffnen im Zurücklassen des nur Linearen den Blick auf eine ganzheitliche Psychologie des Menschen, die im Kontext seiner natürlichen Verwobenheit mit einer sich ständig wandelnden Welt steht. Sinnstiftende Dimensionen wie die der »Mitte« oder der »Tiefe« bekommen darin wieder ihren Platz.
Wir werden zunächst die Königsmetapher und die Zusammenhänge, in die sie hineinwirken kann, vorstellen, um dann auch jene Modelle sowie die Praxis, auf denen sie fußt und mit denen sie arbeitet, kennen zu lernen. Erst in der Gesamtschau werden die Schönheit und die Schlüssigkeit der IP deutlich und wird es möglich mit ihr effektiv und in mehr als nur dem individuellen Kontext arbeiten zu können.
In der Reihe CIRCLES FOR FUTURE werden zukünftig weitere Bücher erscheinen, die sich jeweils detaillierter mit bestimmten Methoden und Modellen aus diesem Buch befassen und diese vertiefen werden.
Wir leben in einer Zeit großer historischer Umbrüche, in der uns, neben Klimawandel und Artensterben, jetzt auch die Corona-Virus-Krise kollektiv in einen Zustand des »Nichtwissens« versetzt. Ein Zustand, der, wie wir im Buch noch sehen werden, die Voraussetzung für echte neue Inspiration darstellt. Und so leben wir in einer Phase, in der wir über den Mythos unserer Kultur hinauswachsen können – über den Mythos einer Welt der getrennt und unabhängig voneinander existierenden Dinge. Die neue Story über uns und die Welt, die wir z.Zt. gemeinsam zu erzählen beginnen, muss das Neueste sowie das Beste aus allen Kulturen enthalten und diese miteinander verbinden. Die pan-kulturell angelegten zyklischen Modelle und die Praxis der IP können ein Beitrag dazu sein.
Für den Wandel hin zu einem nachhaltigeren kulturellen Mythos, der erzählt, wie alles mit allem, auch mit uns, verbunden ist, brauchen wir dringend genügend initiationskundige Mentoren und Mentorinnen, die den Bedarf an Prozessbegleitung auf allen Ebenen erkennen können und wissen, was zu tun ist. Wir brauchen die Zuversicht, die von in der Praxis der IP ausgebildeten Mentoren ausgeht (wir verzichten im Folgenden auf ein durchgängiges Gendern dieses Begriffes, wohlwissend, dass diese wunderbaren Helfer*innen jeden Geschlechts sein können). Sie können dazu beitragen, Wandlungskrisen wieder neu und als Wachstumsprozesse zu verstehen sowie ihnen mit Demut gegenüber treten zu können.
Der Begriff Mentor lässt indes viele Deutungen zu. Aus Sicht der IP ist ein Mentor ein*e initiations-kundige*r Begleiter*in und Förderer*in, der*die hilft, gute Fragen zu formulieren und respektiert, dass die besten Antworten immer bereits in dem*der Fragenden selbst angelegt sind.
Wenn Wandlung wieder den Tod und eine Phase unkontrollierbarer Leere und Emergenz beinhalten darf und immer mehr Menschen sich die Krone ihrer natürlichen Souveränität wiederaufsetzen und beginnen, ein verbundenes Leben in Würde und zum Wohle aller zu führen, dann eröffnen sich neue, bisher undenkbare Wege durch die Krise.
Beginnen wir also unsere Reise und nehmen zunächst mal die Beschaffenheit von dem unter die Lupe, was wir Wirklichkeit nennen.
Die Lebenszusammenhänge, in welche die Königsmetapher einwirken kann
»Wir mythologisieren uns ins Sein hinein.«
Meredith Little
Du bekommst nicht das, was du dir wünschst, sondern das, woran du glaubst. Wenn wir im Innersten glauben, wir seien nicht würdig, erfolgreich oder liebenswert zu sein, dann können wir uns das Gegenteil noch so sehr wünschen, es wird nicht eintreffen. Wenn wir uns im Innersten nicht für würdig erachten, ein schönes Haus oder eine schöne Wohnung zu haben, werden wir auch nie auf solche Weise wohnen, selbst wenn wir jeden Abend vorm Einschlafen darum bitten.
Während wir meistens recht genau wissen, was wir uns alles wünschen, ist nur den wenigstens bewusst, welche tiefer liegenden beziehungsweise grundlegenden Glaubenssätze ihr Leben bestimmen.
Alles aufrichtige Wünschen ist nutzlos, solange wir uns nicht klarmachen, was wir unterschwellig glauben und welche Geschichte über uns wir zu glauben gewählt haben. Diese erzählen wir uns wieder und wieder, denn, wie Meredith Little es sagte, mythologisieren wir uns, bewusst oder unbewusst, in das Sein hinein.
Die folgenden zwei Beispiele sollen veranschaulichen, was ich meine:
Als ihre Eltern mit ihr und gegen ihren erklärten Willen in eine andere Stadt umzogen, hatte eine Bekannte von mir im Teenageralter beschlossen, sich anderswo niemals zuhause und wohlzufühlen. Mit diesem Beschluss wollte sie trotzig einen letzten Rest von Einfluss ausüben und ihren Eltern eins auswischen, indem sie ihnen beständig vor Augen führen wollte, wie falsch ihre Entscheidung gewesen war.
Während es diese damals überhaupt nicht juckte, blieb meine Bekannte aufgrund ihres Beschlusses fortan irgendwie heimatlos. Ich kannte sie nur als jemanden, der nie lange an einem Platz wohnte und immerzu nach dem richtigen Ort suchte, an dem sie sich endlich zuhause und wohl fühlen würde. Hatte sie ein schönes Heim gefunden, dann schienen es die Umstände nicht zuzulassen, dass sie dort wohnen bleiben konnte. Mal meldete ein Vermieter Eigennutzen an, mal änderte ein ehemaliger Bewohner seine Meinung und verlangte sein Zimmer zurück.
Erst mit Mitte 50 stieß sie während ihrer inneren Arbeit auf den alten Beschluss und konnte beginnen, ihn zu entkräften. Heute lebt sie schon seit Jahren glücklich und zufrieden an ein und demselben Ort und es sieht so aus, als würde das auch noch lange so bleiben.
Ein anderes Beispiel beschreibt jemanden, der irgendwann und aus irgendeinem Anlass den Glaubenssatz wählte, dass man in dieser Welt niemandem trauen darf. Natürlich fand er für die Bestätigung des Satzes immer wieder Beweise. Mehr noch: er zog die Lügner und Betrüger sowie entsprechende Ereignisse und Erfahrungen an wie ein Magnet. Sobald er auf diese Art wieder Beweise für seinen Glaubenssatz gefunden hatte, glaubte er umso stärker an ihn und fand fortan noch mehr Beweise …
Das Unterbewusstsein
Um sich langsam einer genaueren Erklärung solcher Vorgänge anzunähern, können wir zunächst die bekannte Eisberg-Metapher von Sigmund Freud bemühen, nach welcher dessen sichtbarer Teil – unser Bewusstsein – nur etwa 10 % des gesamten Eisberges ausmacht. 90 % des Berges liegen unter der Oberfläche und bilden unser Unter- und Vorbewusstes ab. Diese sind voll mit alten Beschlüssen und Glaubenssätzen darüber, wie das Leben sich uns zeigt und vor allem, wie wir sind und zu sein haben. Sie sind mit Bildern und Erinnerungen gefüllt, die sich wie Filme über all unser Erleben legen und nicht selten mit dem Leben selbst verwechselt werden. Genau genommen kann unser Unterbewusstsein gar nicht zwischen solchen Filmen und der gegenwärtigen Wirklichkeit unterscheiden.
Ein Leben nach solchen Glaubenssätzen, Schutzbeschlüssen, Über-Ich-Anpassungen und erinnerten Bildern ist nur scheinbar ein Leben. Wir erfahren es durch eine Brille, die von totem Material und den Folgen längst vergangener Ereignisse getrübt ist.
Bis zum Alter von etwa 4 Jahren (andere Quellen sprechen von maximal 10 Jahren) ist unser mentaler Speicher mit Erinnerungen an maßgebliche Erfahrungen voll und nur wenig, meist Traumatisches, kann später noch hinzugefügt werden und ältere Programmierungen überschreiben.
Mit diesem Alter ist in unserem Archiv von Erfahrungen und daraus abgeleiteten Beschlüssen festgelegt, ob wir wertvoll, geliebt, begabt oder willkommen sind. Unser Unterbewusstsein, das sich zeitlebens zuständig fühlt, uns zu versorgen und zu beschützen, »glaubt«, dass diese Bilder wahr sind und ist fortan immer schneller zur Stelle als jedwede sich gegenwärtig tatsächlich ereignende Wirklichkeit.
Beau Lotto weist in seinem 2017 erschienenen Buch »Deviate: The Science of Seeing Differently« darauf hin, dass wir nur etwa 10 % dessen, was wir visuell wahrnehmen, tatsächlich unseren Augen verdanken. Die anderen 90 % werden von unserem »Predictive Brain« (vorhersehenden Gehirn) hinzugefügt und sind aus Bildern längst vergangener Ereignisse zusammengesetzt, die wir somit nur glauben, wirklich zu sehen. Die Zeugenaussage eines*einer einzelnen Zeugen*Zeugin gilt deshalb vor einem US-amerikanischen Gericht nicht mehr als belastbar.
Nachdem wir einmal eine heiße Herdplatte berührt haben und den Schmerz einer Hautverbrennung durchlitten haben, wird sich unser Unterbewusstsein mit diesem Bild fortan immer zwischen uns und einer erneuten Erfahrung mit einer Herdplatte stellen. Es ist seine Natur und das ist in diesem Fall gut und hilfreich.
Unser Unterbewusstsein tut dies jedoch mit allen je gemachten Erfahrungen. Nur als kleines Kind haben wir wahrscheinlich vollkommen gegenwärtig erlebt, wie es ist, eine süße Eiscreme zu essen, von einer frischen kühlen Meereswelle berührt zu werden, eine Katze zu streicheln, Holz im Unterschied zu Metall zu berühren und vieles mehr. Dies war möglich, weil die Erfahrung das erste Mal stattfand. In der Folge baut unser Unterbewusstsein die zu erwartende Erfahrung immer schon vor, weil es sich zu unserem Schutz beauftragt fühlt, alle möglichen Ereignisse vorherzusehen. So laufen wir mit einer uralten Landkarte herum, mit der wir auch nach all unseren neu gelebten Jahren immer noch versuchen, uns im gegenwärtigen Terrain zu orientieren.
Wirkliches Leben ereignet sich allerdings nur im Jetzt und Hier und kann nur erlebt werden, wenn wir wirklich da sind und neu sowie klar sehen. Das bedeutet im wahrsten Sinne des Wortes »mit Respekt«, hergeleitet vom lateinischen »re spectare«: »etwas wieder neu sehen«. Vielleicht ist das Jesus Wort: »Wenn ihr nicht umkehrt und wie kleine Kinder werdet, so werdet ihr auf keinen Fall in das Königreich der Himmel eingehen«, (Mat. 18:3), genau so zu verstehen.
Doch dies ist, wie wir alle wissen, leichter gesagt als getan. Unser Unterbewusstes, dieser mit erlernten emotionalen und sozialen Mustern angefüllte Automat, wie Danie Beaulieu den dafür zuständigen Hirn-Bereich in ihren »Impact-Techniken für die Psychotherapie« nennt, verhalte sich wie ein Elefant und der von ihr in »Diplomat« umbenannte Hirn-Bereich, der für unser kognitives Bewusstsein steht, wie »der kleine Mahut«, der diese ungleich größere Kraft zu lenken versucht.
Sobald der Elefant durch eine plötzliche und überraschende Bewegung im Unterholz oder einen vergleichbaren als potenziell gefährlich eingeschätzten Impuls zur Seite schreckt, zeigt sich, wie wenig der Mahut in der Lage wäre, den Elefanten zu beherrschen. Ein guter Mahut versucht vielmehr, sich mit seinem Elefanten zu verbinden, das heißt zunächst, in einen ständigen Dialog mit ihm einzutreten, um ihn davon zu überzeugen, dass es ungefährlich oder gar lohnenswert ist, mit ihm mitzugehen.
Um diesen Dialog in eine Beziehung übergehen zu lassen, ist es gut, unserem Unterbewusstsein ab zu dafür zu danken, dass es uns durch Phasen geleitet hat, während derer wir nicht immer achtsam und wach waren, wie etwa während einer längeren Autofahrt. Wie in jeder guten Beziehung darf es nicht darum gehen, unser Unterbewusstsein drängen oder manipulieren zu wollen. Dies würde nur zu Misstrauen und einem schwierigeren Zugang zu seinen Regungen führen.
Viele von uns müssen sich möglicherweise erst einmal fragen, ob sie sich auch mit ihrem Unterbewusstsein oder, wie die meisten Menschen, nur mit ihrem Bewusstsein identifizieren können. Welche Sichtweise ist zutreffender, fragt Jeru Kabbal in seinem Buch »Quantensprung zur Klarheit«. Dass der an der Oberfläche befindliche Eisbergteil noch ein Stück ins Wasser hinunterreicht oder, dass von dem unteren, größeren Teil noch ein Stück aus dem Wasser ragt? Hat der Hund einen Schwanz oder der Schwanz einen Hund? Oder ist es zutreffender zu sagen: Beide, der Schwanz und der Hund, sind der Hund?
Wahrnehmung
»Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen.
In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.«
Viktor Frankl
Wir re-inszenieren offenbar ständig einst gemachte Erfahrungen längst vergangener Ereignisse. Dabei lenkt die Art und Weise, in der wir wahrnehmen, unser Dafürhalten dessen, was wir als unsere Wirklichkeit bezeichnen.
Wie wir in einem späteren Kapitel noch genauer untersuchen werden, lehrt uns die Wahrnehmungspsychologie, dass wir unsere Wirklichkeit durch Wahrnehmungsfilter hindurch aufnehmen und aufgrund einer inneren Ökonomie bewusst nur ein winzigen Bruchteil der sich tatsächlich ereignenden Wirklichkeit erfassen können. Es gibt diesbezüglich leicht abweichende Quellen, die aber an der spektakulären Aussage wenig ändern.
Die größte Übereinstimmung besteht darin, dass wir etwa 11 000 000 Bits (Informationseinheiten) pro Sekunde unbewusst mit all unseren Sinnen wahrnehmen können. Davon verarbeiten wir bewusst jedoch nur etwa 40 bis max. 200 Bits pro Sekunde. Dies entspricht somit maximal einem 55 Tausendstel. Wenn wir uns jetzt fragen, was dafür sorgt, dass eben genau dieser (verschwindend geringe) Anteil der Informationsfülle durch unsere Filter gelangt, liefert uns das sogenannte Bewusstseinsrad eine gute Erklärung.
Das hier vorgestellte Bewusstseinsrad ist eine eher metaphorische und drastisch vereinfachte Darstellung hochkomplexer Vorgänge. Es enthält eine freie Adaption aus der Darstellung von Gedankenprozessen, wie sie in der Abhidharma, dem dritten Teil des buddhistischen Pali-Kanons, beschrieben werden, sowie aus Erkenntnissen der deutschen systemischen Psychologie und der amerikanischen Beratungspsychologie (in der vom »Awareness Wheel« gesprochen wird). Das folgende vereinfachte Modell soll uns erklären, wie wir unsere Wirklichkeit selbst miterschaffen:
Demnach beginnt alles mit einem ersten vorbewussten Erfahrungsaugenblick, wie es Jeremy Hayward (Physiker, Molekularbiologie und Senior-Lehrer des Shambhala Buddhismus) beschreibt. Die »Form« dieses Reizes beginnt zunächst in einem primitiven Stadium, das Innen und Außen noch nicht unterscheidet. Erst wenn die »Ur-Spaltung« im Laufe dieses ersten Prozesses vollzogen ist, setzt eine »Empfindung«, ein vorbewusstes Erkennen von Struktur im »Außen« ein. Der Reiz wird dann als von außerhalb des Menschen kommend empfunden – als irgendeine Wahrnehmung von irgendetwas oder irgendeinem Ereignis.
Dieser Reiz geht somit zunächst als unbewusste Sinneswahrnehmung in uns ein. Es folgt eine Reihe unbewusster Impulse wie beispielsweise eine emotionale Neigung, sich zu- oder abzuwenden.
In der buddhistischen Psychologie werden nun allein 18 verschiedene kleine Schritte unterschieden, die in uns vollzogen werden, bevor es zu der von Viktor Frankl oben beschriebenen Reaktion kommt. Im Bewusstseinsrad ist dies der Moment, in dem der Reiz bewusst wahrgenommen und unmittelbar von uns mit beispielsweise »gut« oder »schlecht«, »schön« oder »hässlich« etikettiert oder interpretiert wird.
Sobald wir dies getan haben, entzieht sich der folgende Vorgang oft weitestgehend unserem bewussten Einfluss. Die Bewertung führt jetzt nämlich zu einem durch sie ausgelösten Erleben des Reizes und dieses Erleben zieht gewisse damit einhergehende bewusst wahrgenommene Gefühle wie Freude oder Trauer nach sich. Es entfaltet sich eine Story der Erfahrung, etwas in uns sagt Dinge wie »Ah, genau wie immer« oder »Warum immer ich?«, aber auch »Es wird wunderbar werden«. Durch diese Gefühle beeinflusst, entsteht eine Absicht und diese führt schließlich zu einer entsprechenden Handlung, die unangenehme Gefühle minimieren bzw. zukünftige unangenehme Gefühle vermeiden soll. Angenehme Gefühle dagegen sollen intensiviert, wiederholt oder vermehrt werden. Solche Handlungen sind sozusagen die in der Welt sichtbar gewordenen Reaktionen auf den Reiz, sie werden daraufhin zu einer Gewohnheit.
Das für uns Interessante ist jetzt, dass es sowohl die Story als auch die folgenden Gefühle und die dadurch geprägten Erfahrungen und Handlungen sind, die unsere Wahrnehmungsfilter tunen, also feinstellen. Diese werden immer sensibler für Wahrnehmungen dieser Art. Die Filter sollen uns vor einer überfordernden Bilderflut schützen. Sie lassen deshalb nur den Bruchteil all dessen, was sich tatsächlich gerade ereignet, durch, der uns momentan betrifft, der uns im Sinne der Vermeidung oder Intensivierung von Gefühlen dient und den wir glauben, verarbeiten zu können.
Unsere Bewertung eines Reizes sorgt somit letztlich dafür, dass wir diesen bei nächster Gelegenheit wieder in der bekannten Weise wahrnehmen und unsere ursächliche Bewertung dadurch fatalerweise als bestätigt oder bewiesen empfinden. Dieses 55 Tausendstel, das unsere Wahrnehmungsfilter passiert, ist daher nicht nur in dem Sinne ein Spiegel innerer Vorgänge, indem es uns vor Augen führt, was wir gerade an Themen bewegen (das werden wir später noch unter die Lupe nehmen), es ist auch ein bedeutender Spiegel dessen, woran wir glauben und wie wir unsere Wahrnehmungen früher einmal bewertet haben.
Deshalb hat der Systemforscher Peter Senge Recht, wenn er sagt: »Was wir uns nicht bewusst machen, hält uns gefangen«. Denn nicht das, was wir uns wünschen, trifft ein, sondern das, was wir im Innersten glauben. Nicht das, was wir glauben, ist das Problem, sondern dass wir glauben, was wir glauben.
Der Mystiker Jeru Kabbal drückte das einmal so aus: »Nicht indem wir an unseren Problemen arbeiten erwachen wir, sondern dadurch, dass wir den Traum hinter uns lassen, in dem diese Probleme wirklich zu sein scheinen«.
Letztlich ist natürlich auch die soeben dargelegte Theorie des Bewusstseinsrades nur eine weitere Story, die uns versucht, die Welt zu erklären. Wir können wählen, sie zu glauben oder eben nicht.
Sind noch alle an Bord?
Es sind unsere eigenen Bewertungen oder Etikettierungen, die dafür sorgen, dass wir aus der Fülle der Dinge, die sich in der lebendigen Wirklichkeit ereignen, nur jenes 55 Tausendstel herausfiltern, das uns betrifft und unsere bereits einmal erfolgte Bewertung bestätigt.
Wenn mein oben erwähnter misstrauischer Bekannter einen Saal mit 50 000 Menschen betritt, von denen 49 999 grundehrlich sind und nur einer ein notorischer Lügner und Betrüger ist, dann können wir jetzt raten, mit wem er wohl vorzugsweise Bekanntschaft machen wird. Später wird er sagen können: »Siehst du, hab‘ ich doch gesagt, dass man niemandem trauen kann!«.
Dieses Beispiel mag übertrieben klingen, ist es aber nicht. Wenn wir wirklich vom Diktat alter unterbewusster Glaubensätze frei werden wollen, sollten wir anfangen zu verstehen und zu erkennen, dass unsere Wahrnehmung und Wirklichkeitsbildung genau so funktioniert.
Fragen wir uns nun, was in uns dafür sorgt, dass wir einen Reiz so oder so bewerten, dann kommen wir zunächst auf sehr lebenspraktische Gründe wie die Notwendigkeit, Gefahren zu erkennen, um auf sie entsprechend reagieren zu können.
Schnell wird jedoch klar, dass unser Unterbewusstsein für die Bewertung von Reizen alte Bilder, alte Erfahrungen, übernommene Werte und somit natürlich all unsere Glaubenssätze, Beschlüsse und Über-Ich-Anpassungen heranzieht. Unser immer um uns besorgtes Unterbewusstsein entnimmt aus der Fülle unserer Erfahrungen Indizien, die dafürsprechen, dass der Reiz etwas Gefährliches, Ekeliges oder Schönes darstellt.
Ein Leben, das diesem Vorgang gegenüber unbewusst bleibt, ist so gesehen kein wirkliches Leben, sondern nur ein fades Puppentheater, eine ständige Re-Inszenierung längst vergangener Ereignisse. Wie im Höhlengleichnis von Platon halten wir das Schattenspiel an der Höhlenwand vor uns bereits für die gesamte Wirklichkeit.
Um der reinen Existenz gegenwärtig zu werden, versuchen Buddhisten und viele andere Praktizierende von Achtsamkeitsübungen, den Bereich zwischen Reiz und Reaktion »der einzige Bereich unserer Freiheit« immer genauer zu erforschen, um möglichst früh in jenen Prozess bis zur Feinstellung unserer Wahrnehmungsfilter eingreifen zu können. Schon eine kritische Betrachtung der sich nach jeder Etikettierung entfaltenden Geschichte kann uns die Freiheit schenken, angemessener und bewusster agieren zu können.
Für die meisten von uns wird es indes schon ein hohes Maß an Achtsamkeit erfordern, sich dabei zu beobachten, wenn ein Reiz interpretiert wird. In einem nächsten Schritt können wir lernen, die gefühlte Fusion zwischen Reiz und Reaktion zu de-fusionieren, indem wir uns schrittweise immer mehr Zeit und achtsame Ruhe gönnen, bis wir auf einen Reiz reagieren. Wir könnten den Bereich der Freiheit noch erweitern, indem wir, so oft es geht, zunächst schlicht die Etikettierung »interessant« vornehmen und im Einklang mit den alten Griechen davon ausgehen, dass Dinge nie an sich schlecht sind, sondern nur so, wie man über sie denkt.
Jedes noch frühere Eingreifen in den nur Sekundenbruchteile andauernden Prozess bis zur Etikettierung muss als hohe Kunst der Achtsamkeits- und Meditationspraxis gesehen werden, ist jedoch grundsätzlich allen Menschen möglich.
Was das Bewusstseinsrad veranschaulicht, ist auch das, was C.G. Jung, der Begründer der analytischen Psychologie, eine Trance nennt. Wir nennen es eine Gedankenumlaufbahn, die wir dann für die Wirklichkeit, für unsere Wahrheit halten und die sich als solche immer weiter festigt, je mehr Beweise wir für sie finden. Theoretisch würden wir auf immer darin gefangen sein, gäbe es nicht Impulse von außen, die geeignet sind, uns aus dieser Umlaufbahn herauszustoßen. Gemeint sind beispielsweise ungeplante, unvorhergesehene oder schicksalhafte Ereignisse wie Erkrankungen, der Tod nahestehender Menschen, Unfälle und vieles mehr. Aber auch Eingebungen, Einfälle, Visionen, Impulse, die wie eine Inspiration (französisch: »einatmen«) von außerhalb unseres Systems kommen und unser bisheriges Glaubensgebäude, unser Selbst- oder Weltverständnis ins Wanken bringen.
Solche Ereignisse empfinden wir oft als vitale Bedrohung, als Sinn-Krise oder Schicksalsschlag. Ein anderes altes Wort dafür wäre »Heimsuchung«, welches heutzutage oft und fälschlicherweise mit dem Wort Schicksalsschlag in einen Topf geworfen wird, aber im ureigentlichen Sinne ein Korrektiv beschreibt.
Das Wort »Heimsuchung« besagt, dass wir durch etwas nach Hause oder zurück auf unseren Weg geholt werden, anders gesagt, dass wir davon abgehalten werden, weiter in eine falsche Richtung zu laufen und daran erinnert werden, wer wir eigentlich sind und welchen Seelenauftrag auszuführen, wir ursprünglich einmal angetreten sind.
Dann gibt es noch eine ganze Reihe biologisch bedingter Übergangskrisen wie die Geburt, das erste Zahnen bei Kindern, die Pubertät, das Erwachsenwerden, die Midlife-Crisis, das Altern und das Sterben. Sie alle bringen ebenfalls auf ihre Art unser fest gefügtes Selbst- und Weltverständnis ins Wanken.
Dies alles weist auf die Chance hin, die in jeder Krise liegt. Aus der gewohnten Gedankenumlaufbahn herausgeworfen, sind wir in der Lage, einmal über den Tellerrand des bisher Bekannten oder Möglichen schauen zu können. Wir können entdecken, dass es noch mehr gibt als das, was wir als Wirklichkeit erachten und dass wir selbst mehr sind und tiefer reichen, als wir bisher für möglich hielten.
Gerade in solchen Krisenzeiten kann uns bewusst werden, wie sehr das, was wir glauben über unsere Wirklichkeit zu wissen, darüber bestimmt, wie sich uns die Wirklichkeit zeigt. Wie wir im späteren Kapitel über Kontemplatives Selbstverstehen noch untersuchen werden, können wir nicht behaupten, die Welt sei nun mal so, wie sie ist, sondern müssen einsehen, dass sie vielmehr so ist, wie wir gerade sind. Denn wir können in unserer Wirklichkeit nie etwas anderes entdecken als uns selbst.
Fast 11 Millionen Informationseinheiten unserer sich tatsächlich ereignenden Wirklichkeit sind in unserer Wahrnehmung immer ausgeblendet und bekommen dadurch von uns keine Wirklichkeit zugesprochen. Lange bevor der Hype mit sogenannten Achtsamkeitstrainings begann, machte Ken Wilber, einer der großen zeitgenössischen Philosophen, bereits darauf aufmerksam, dass letztlich das Einzige, was man für sein persönliches Wachstum tun könne, die Erhöhung der Achtsamkeit sei. Deshalb sagen wir in der Initiatischen Prozessbegleitung® am Eschwege Institut: Wenn wir mehr darauf achtgeben, was wir wahrnehmen, erfahren wir auch mehr darüber, was in uns gerade selbst vor sich geht. Je mehr wir darauf achtgeben, was wir im Leben bekommen, wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten und fühlen und wie wir uns in sich wiederholende Situationen, in die wir bewusst gar nicht geraten wollten, hineinmanövrieren, desto schneller kommen wir unseren Glaubenssätzen auf die Spur.
Es geht dabei nicht darum, es schlicht anders zu wollen, sondern vielmehr darum, in einen immer lebendigeren Dialog mit unserem mannigfaltigen Unterbewusstsein einzutreten und diesen aufrecht zu erhalten. Der elefantenhafte Koloss unseres Unbewussten will und kann nicht gepuscht werden, jeder entsprechende Versuch unseres vergleichsweise zwergenhaften Bewusstseins würde nur zu Widerständen führen.
Unser Unterbewusstsein erinnert sich, so Jeru Kabbal, fortwährend an die ersten und einprägsamsten Erfahrungen eines hilflosen und schutzbedürftigen Babys. Es fühlt sich daher lebenslang zuständig, unser Leben zu schützen. Sobald es einen Reiz empfängt, der einer einmal gemachten Erfahrung in etwa ähnlich ist, wird es die Bilder dieser Erfahrung darüberlegen und es auf diese Weise bewerten. Alles, was wir danach wahrnehmen, wird Beweis dafür sein, dass diese Bewertung zutreffend war.
Die Schlussfolgerungen unseres Unterbewusstseins gehen, so Jeru Kabbal, letztlich auf eine Ur-Angst bzw. einen Ur-Wunsch zurück. Beide rühren von der Ur-Erfahrung her, dass wir allein nicht für uns sorgen und nicht überleben können.
Deshalb lässt sich bei genauerer Betrachtung hinter jeder Angst eine dahinter liegende erkennen. Befürchte ich, eine bestimmte Prüfung nicht zu bestehen, könnte ich mich fragen, was denn so schlimm daran wäre. Die Antwort könnte lauten, dass ich befürchte, dann nicht mehr in der Lage zu sein, den richtigen Job zu finden. Würden wir an diesem Punkt weiterfragen, käme vielleicht heraus, dass ich dann befürchten würde, nicht mehr zu der Gruppe gehören zu können, die mir so wichtig ist. Wenn wir noch ein wenig weiter forschen, werden wir auch hier auf das immer gleiche Ende des Gedankengangs stoßen: »Weil ich dann allein wäre und sterben müsste«.
Genauso verhält es sich mit Wünschen, die auch alle auf den Ur-Wunsch, nicht allein sein und somit nicht sterben zu müssen, zurückgehen. Ein Wunsch, so Jeru Kabbal, ist eine Angst, die in positiver Weise zum Ausdruck kommt und eine Angst ist ein Wunsch, der in negativer Weise zum Ausdruck kommt. Es gibt so gesehen keine neue Angst oder einen neuen Wunsch, es gibt lediglich neue Ausdrucksweisen ihrer Ur-Form.
Das Unterbewusstsein handelt folglich immer aus vitalen, existenziellen Beweggründen heraus. Es sieht schnell Hinweise darauf, dass unser Überleben bedroht ist, fühlt sich zuständig und greift in das Geschehen ein. Ihm mit unserem Bewusstsein unseren Willen aufzwingen zu wollen, wäre ein chancenloses Unterfangen.
Es kann jedoch auch nicht nur darum gehen, sich als Mahut möglichst gut festzuhalten, wenn der Elefant (aufgrund eines beschriebenen Reizes) mit einem durchgeht und wie von Sinnen durch den Wald peitscht. Statt hauptsächlich darauf aufzupassen, dass ihm nicht die dicken Äste ins Gesicht schlagen, wird ein Mahut versuchen, beruhigend auf seinen Elefanten einzuwirken und ihm mitteilen, dass es nur eine Maus war, die ihn in Panik versetzt hat und keine Gefahr mehr besteht.
Alles läuft darauf hinaus, dass wir einen ehrlichen Dialog mit unserem Unterbewusstsein pflegen müssen. Dieses kann eine alte Erinnerung nur mit Hilfe unseres wachen und achtsamen Bewusstseins von der sich momentan tatsächlich ereignenden Wirklichkeit unterscheiden.
Eine der vielen guten Wege, in einen lebendigen und nicht selten erstaunlichen Dialog mit unserem Unterbewusstsein einzutreten, ist das von uns sogenannte »Kontemplative Selbstverstehen«. Um dies in Gang zu setzen, unternehmen wir sogenannte »Intuitive Spaziergänge« in die Natur.
Dabei nutzen wir das oben beschriebene Phänomen, dass unsere Wahrnehmungs-Filter – neben den Beweisen für unsere Grundannahmen, überwiegend solche Informationen durchlassen, die mit unserem momentanen seelischen Befinden sowie mit Themen, die gerade in unser Bewusstsein drängen, zusammenhängen. Wir haben ja bereits festgestellt, dass das von uns Wahrgenommene viel mehr über uns als über die objektive Welt selbst aussagt.
Diesem Zusammenhang folgend, erfahren wir mehr über das, was in uns gerade vor sich geht, indem wir genauer darauf achten, was wir im Spiegel unserer äußeren Wirklichkeit wahrnehmen. So können Themen, Lösungsansätze und ungeahnte Potentiale, die gerade in Zeiten von Wachstumskrisen aus dem Vorbewussten ins Bewusstsein drängen und deshalb nicht durch Nachdenken erfasst werden könnten, untersucht, benannt und somit ins Bewusstsein gehoben werden.
Mit Hilfe von Kontemplativem Selbstverstehen können wir lernen zu verstehen, was uns unser Unterbewusstsein mitteilen will und aus welchen Beweggründen es momentan im Hintergrund handelt.
Diesem interessanten und wichtigen Verfahren der Initiatischen Prozessbegleitung® werden wir später noch ein ganzes Kapitel widmen und es genau erklären. Doch beleuchten wir zunächst weiter, wie wir selbst am Webstuhl unserer Wirklichkeit sitzen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Der persönliche Mythos oder wie wir über Narrative unsere Wirklichkeit weben
Der persönliche Mythos ist ein in der IP häufig verwendeter psychologischer Begriff. Er steht für ein Narrativ, das uns hilft zu erklären, warum alles so kam, wie es gekommen ist und wie wir daraufhin zu der Person wurden, die wir heute sind. Somit ist dieser Begriff nur ein anderes Wort für Identität. Diese wiederum steht im Zentrum unserer Selbstsicherheit, unseres Entscheidungs- und Unterscheidungsvermögens sowie unserer Beziehungsfähigkeit und Ausgeglichenheit. Deshalb gehört es zu unseren vitalen Interessen, diese Geschichte über uns, die wir uns selbst immer wieder erzählen, zu hüten und zu bewahren.
Ein persönlicher Mythos ist jedoch eben nur ein Mythos, der nur den momentanen Stand dessen abbildet, was wir für unsere Wahrheit über uns selbst halten. Wie sehr es sich dabei um eine subjektive Wahrheit handelt, konnten wir möglicherweise alle mal bei einem Klassentreffen nach 10 oder 20 Jahren erfahren, bei dem jeder Ehemalige eine eigene Variante der früheren Ereignisse erinnerte.
Ohne dass wir dabei wirklich lügen oder gar lügen wollen, legen wir uns unsere persönliche Wahrheit immer so zurecht, dass sie für uns Sinn macht und uns auf diese Weise dienen kann.
Da wir selbst »Natur« sind, unterliegen wir gleichzeitig jedoch, wie alles in der Natur, immerwährenden Wandlungsprozessen, die letztlich jeden noch so gut erzählten persönlichen Mythos mit der Zeit unterminieren. In den Wachstums- und Übergangskrisen, durch die wir im Leben gehen, müssen solche Mythen deshalb irgendwann zerfallen. Weshalb wir uns zeitweise haltlos und verloren fühlen, bis wir erkennen, dass nur eine weitere Schale wie eine »alte zu eng gewordene Haut« abgefallen ist. Unter dieser zeigt sich eine neue, eine tiefere Wahrheit über uns. In solchen Zeiten ahnen wir, dass es nicht die letzte Schale war, die fallen musste, und dass wir uns auf diese Weise auf dem Weg zu einem tieferen Kern befinden.
Ein persönlicher Mythos hilft uns in unserer persönlichen Entwicklung, indem er uns auf dem Weg von A nach B eine sinnvolle Erklärung gibt, weshalb und wie wir diesen Weg gehen sollten. Bei B angekommen und persönlich gewachsen, stellen wir fest, dass unser Mythos nicht mehr stimmt. Manchmal erkennen wir sogar, dass er nie gestimmt hat. Wir entdecken dann im Laufe des Umbruchprozesses eine neue und als tiefer empfundene Wahrheit, wählen jedoch Im Grunde genommen nur eine weitere Geschichte, die wir uns fortan über uns erzählen. Sie wird uns helfen, von B nach C zu kommen. Dort muss voraussichtlich auch sie zerfallen ...
Der so wachsende Friedhof unserer persönlichen Mythen, auf dem wir zwischenzeitlich Phasen von Orientierungslosigkeit, Depression und Angst aushalten müssen und der gleichermaßen voller Chancen ist, das Bewusstsein über unser Hiersein zu erweitern, wirft ein Licht auf diese erwähnenswerte Fähigkeit oder Eigenschaft von uns Menschen: Wir wählen Geschichten über uns selbst, die dadurch zu unserer Wirklichkeit werden, weil wir an sie glauben.
Es beginnt schon mit der Art und Weise, in der wir angenommen oder abgelehnt werden, wenn wir als völlig offene, zutiefst verbundene und liebevolle Wesen auf die Welt kommen. Diese Art der Ankunft legt den Grundstein für eine Geschichte, die wir uns fortan, bewusst oder unbewusst, über unser Hiersein erzählen. Sie bestimmt unsere Wirklichkeit mehr als alles, was danach folgt. Sie erzählt von Getrenntsein, Schutzlosigkeit sowie von Bedingungen, unter welchen wir der Liebe würdig sind.
Wenn diese erste Erfahrung nicht von einem bedingungslosen Willkommen und Geliebt-Sein geprägt ist, werden wir anfangen zu glauben, bestimmte Bedingungen erfüllen zu müssen, um der Liebe würdig zu sein.
Die kollektiven und individuellen Geschichten vom Getrenntsein und der Bedingtheit der Liebe sind die Quelle unseres Schmerzes. Sie werden uns gleichzeitig zu einer Rüstung, um uns gegen die Wiederholung des Schmerzes der Zurückweisung zu schützen.
Es braucht nicht nur Mut, diese Rüstung abzulegen und zu überprüfen, ob wir uns diese Geschichte noch weiterhin glauben wollen, wir müssen vielmehr schon lange genug gelebt und uns selbst erforscht haben, um diese Frage überhaupt ernsthaft stellen zu können.
Freiheit
Ein guter Astrologe würde in unserem Horoskop lesen und ein weiser Mentor uns bescheinigen können, dass sich mit der Art unserer Ankunft auf der Welt und deren Folgen lediglich so etwas wie ein kosmischer Wille erfüllt hätte. Die »heiligen Wunden«, die wir davongetragen haben, lassen uns, indem wir sie lebenslang zu heilen versuchen, wachsen und genau die entsprechenden Stärken entwickeln, die in unserem Leben, unserer Zeit und unserem Umfeld gebraucht werden.
Die philosophischen Überlegungen, die in diesem Buch dargelegt werden, wollen dies in keiner Weise in Abrede stellen oder gar den Anspruch erheben, irgendetwas besser zu wissen und einen »kosmischen Fehler« beheben zu wollen. Doch könnte sich nicht auch mittels eines bewussten »heilenden Eingriffs« in die Wunde ein kosmischer Wille vollziehen? Ein Wille, der auf einen nächsten Entwicklungsschritt unseres persönlichen, spirituellen Wachstums gerichtet ist. Um diesen Schritt zu gehen, müssten wir auf unseren Anfang zurückblicken und überprüfen, ob die alte Geschichte, die wir uns immer über uns erzählt haben, noch wirksam ist und ob es nicht längst angemessen wäre, in einer neuen, zuträglicheren zu leben.
Auf der Grundlage dessen, was wir durch den alten persönlichen Mythos gelernt haben und geworden sind, können wir nun eine andere Geschichte untersuchen, wie sie in den mystischen Traditionen der Weltreligionen seit jeher erzählt wird:
Im Buddhismus sowie in den mystischen Traditionen des Christentums und anderer Religionen gibt es die Idee, dass jegliche Konzepte des Getrenntseins vom All-Einen lediglich Illusionen sind. Aus dieser höchsten spirituellen Sicht gibt es weder einen Fluss, den wir überqueren, wenn wir sterben, um zu einer anderen Seite zu gelangen, noch eine Trennung von etwas Vorherigem, wenn wir geboren werden. Es gibt lediglich Geschichten darüber, die wir diesbezüglich wählten zu glauben. Solche Geschichten machen einen nicht unerheblichen Teil unserer Identität, unseres Weltverständnisses und der von allen geteilten Konsens-Realität aus, weshalb es nie leicht sein wird, an ihnen zu rütteln.
»Eine Trennung durch die Geburt hat es nie gegeben. Da war weder Willkommen noch Zurückweisung. Und doch haben wir uns alle eine Geschichte von Willkommen und Zurückweisung erschaffen.
Diese Geschichte ist gleichzeitig die Quelle unseres Schmerzes sowie die Medizin, die uns heilen kann.«
Dr. Ron Kunga Lacoste
Wenn es jedoch so ist, dass es nichts außerhalb der Allverbundenheit gibt, so gab es auch nie ein Getrenntsein davon und keinen Rauswurf aus dem Paradies, es gab immer nur das EINE. Die Geschichte, wir seien je aus dem Garten Eden herausgetreten, ist demnach die erste große Täuschung, genauso wie die Annahme, wir könnten aus irgendeinem Grund nicht mehr in der Gnade und Liebe der Allverbundenheit sein.
Das Gegenteil zu erzählen, wurde zu einer der erfolgreichsten Geschäftsmodelle institutionalisierter Religionen, zumal es sich auf einer anderen Bewusstseins-Ebene sehr wahr und echt anfühlt: wenn wir aus der perfekten Umgebung im Mutterleib in eine grelle, laute und kalte Welt ohne geborgenhaltende Grenzen geboren werden oder sich später der Garten der Kindheit, nachdem wir erstmals vom Baum der Erkenntnis von Gutem und Bösem gegessen haben, wie für immer hinter uns verschließt. Wir empfinden diese Momente als erste Ent-Täuschungen und meinen, nun mit dem wahren und eigentlichen Leben konfrontiert zu sein.
Aus Perspektive sowohl der erwähnten mystischen Anschauungen als auch der Königsmetapher gehen wir davon aus, dass unsere Grundannahmen über unseren Anfang zunächst nur Geschichten sind, die an Bord zu nehmen wir uns einst entschieden haben. Wir hätten genauso gut eine andere wählen können und können dies auch immer noch tun.
Ein weiteres Beispiel zur Veranschaulichung:
Eine Bekannte hatte eine schwierige Geburt, da Mutter und Vater von den Nonnen-Schwestern im Krankenhaus dabei allein gelassen wurden. Die Schwestern hatten gemeint, noch genügend Zeit für die heilige Messe zu haben. Die Erfahrung dieser Geburt, die Angst und das Entsetzen der Eltern sowie die späteren Anekdoten darüber wurden von der neuen Erdenbürgerin als Signal registriert, ungelegen zu kommen, nichts als Ärger zu bringen und nicht willkommen zu sein. Diese nie hinterfragte Grundannahme hat ein halbes Leben lang das Verhältnis zu ihren Eltern und anderen Menschen geprägt. Wo immer sie hinkam, fand sie Beweise dafür, dass sie wieder ungelegen kommt, irgendetwas durcheinanderbringt und deshalb längst nicht mehr willkommen ist. Erst in Gesprächen mit ihrem sterbenden Vater erfuhr sie, dass sie ein sehr erwünschtes Kind gewesen war. Eine andere Geschichte wurde offenbart: Der Vater und die Mutter seien mit der Geburt einfach nur überfordert gewesen. Seither erstarkt in meiner Bekannten eine andere, eine neue Geschichte. Erfahrungen von »nicht willkommen sein«, »ungelegen kommen und nichts als Ärger bringen« werden seltener.
Wenn es die tiefere Wahrheit ist, dass wir nie getrennt waren und wir nur deshalb in einer Story – in einem der vielen möglichen Szenarien des Getrenntseins – leben, weil wir uns diese gewählt haben, dann darf und muss die nächste Frage lauten, in welcher aller möglichen Stories wir denn von nun an leben wollen. Wie können wir über unsere alte Story hinauswachsen, wie könnte sie sterbebegleitet und zu Grabe getragen, »reframed« und neu geschrieben werden? Dies wiederum wirft die Frage auf, ob oder bis zu welchem Ausmaß wir eine solche neue Story willkürlich wählen können. Und dies führt zu der Frage, ob es ein ur-eigentliches Selbst, eine letzte Wahrheit über uns gibt, der wir uns durch das prozesshafte schrittweise Ablegen alter unzuträglicher Stories immer weiter annähern.
Oder ist prozesshafte Selbstwerdung auch nur eine der möglichen Stories, die unser Ego davor bewahren soll, mit der Alleinheit verschmelzen zu müssen? Eventuell stimmt beides: Vieles spricht dafür, dass prozesshafte Selbstwerdung ein wichtiger Antrieb ist, sich von alten, das ur-eigentliche Selbst verstellenden Konstrukten zu befreien. Das ur-eigentliche Selbst liegt dann vielleicht am Ende unserer Reise hinter einer letzten Tür. Wenn wir sie dann öffnen, ist eventuell der Griff zur Türklinke das letzte, was wir als Individuum noch erleben, weil wir dahinter wieder mit dem verschmelzen, von dem wir immer nur annahmen getrennt zu sein.
Eileen Caddy, die spätere Mitbegründerin der Findhorn Gemeinschaft, begann als erwachsene Frau zu meditieren und hörte dabei plötzlich eine Stimme. Es war für sie die Stimme Gottes. Da sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ganz normale Christin erzogen worden war, sprach diese Stimme sie als »mein geliebtes Kind« an. Im Laufe ihrer spirituellen Entwicklung wandelte sich diese Ansprache fast unmerklich zu »Meine Geliebte«. Am Ende ihres langen Lebens wurde ihr dann klar, dass diese Stimme ja sie selbst sei.
Auch dies eine Geschichte …
Wir alle tragen Geschichten in uns, die uns erklären, warum wir unseren Garten Eden verlassen mussten. Diese Geschichten folgen sogenannten prägenden Erfahrungen. Doch, wie in der Geschichte meiner Bekannten, scheint es – wie bei jeder geprägten Münze – darum zu gehen, welchen Wert wir ihr beimessen wollen.
Wie wir noch sehen werden, sind es zudem zwei Paar Schuhe, was wir uns auf geistiger Ebene an veränderten Verhaltensweisen vorstellen können und wie viel länger es braucht, bis auf der körperlichen Ebene die im wahrsten Sinne des Wortes eingefleischten neuronalen Muster alter Verhaltensweisen veröden.
Als achtsames und gegenwärtig lebendes Wesen lernen wir, dass wir uns nicht alles glauben müssen, was wir uns erzählen. Wir sind keine Maschinen, die stumpf abarbeiten, was ihnen zu tun einprogrammiert wurde – auch wenn sich viele so verhalten. Nein, wir sind frei, ein anderes Leben zu wählen und sodann in dieses hineinzuwachsen. Wir sind frei, aus der Story, dem persönlichen, aber auch dem kollektiven Mythos unserer westlichen Kultur auszusteigen und zu beginnen, uns eine neue Geschichte zu erzählen. Wir sind frei zu beginnen, einen Mythos über uns zu erzählen, der uns den Weg des menschlichen Lebens würdevoller als bisher gehen lässt und der mit der großen Lüge unserer Kultur aufräumt, wir seien etwas anderes als die Natur.
Die alte Story unseres momentan vorherrschenden kollektiv-kulturellen Mythos beinhaltet eine Hybris, die sich uns freundlich lächelnd anbietet: Sie besteht darin zu glauben, so etwas wie den anfangs erwähnten »Kosmischen Willen« nicht ernstnehmen zu müssen. Zunächst als vermeintliche »Krone der Schöpfung« und später in unserem heimlichen Selbstverständnis, »etwas anderes als die Natur« zu sein, glaubten wir, uns frei und unabhängig von den Gesetzen der Natur machen und uns über sie stellen zu können. Philosophisch gesehen ging es hier wohl auch um den Wunsch, der Tatsache des Todes nicht mehr hilflos und ergeben ins Angesicht schauen zu müssen. Je größer das Ego des Menschen sich ausbildete, desto größer wuchs auch die Angst vor der Vernichtung durch den Tod und der Ehrgeiz, ihn, wenn schon nicht besiegen, so doch ignorieren zu können.
Erst recht galt es, die Fesseln irrationaler, religiös-moralischer Vorstellungen mit Hilfe unseres rationalen Verstandes als unzeitgemäß abzulegen. So wurden wir seit der Epoche der Aufklärung zwar frei von solchen Fesseln, schütteten jedoch das Kind mit dem Bade aus. Die daraufhin entstandene und jetzt schon wieder veraltete kulturelle Story mit ihrem mechanistischen Weltbild fragte seither nämlich immer nur: »Dient es mir?«, und höchstens noch: »Dient es auch meinen Leuten?«. Ob es, zumindest im ökologischen Sinne, auch dem größeren Ganzen diente, musste nicht gefragt werden, weil ja schon die »Inter-Verbundenheit« aller Dinge und Lebewesen in Abrede gestellt bzw. gar nicht erst in Erwägung gezogen wurde. Wohin das führte und immer noch führt, ist bekannt.
Allzu gerne wünschen wir uns vielleicht, in diesem Buch eine weitere Methode zu finden, wie wir uns, jenen kosmischen Willen ignorierend, ein weiteres Mal über die (schadvollen) Konsequenzen unseres Handelns hinwegsetzen können. Vielleicht hoffen wir auf einen weiteren Trick, wie wir unbeschadet alle unsere Wünsche erfüllen oder unseren Willen durchsetzen und die Welt unseren Bedürfnissen anpassen können.
Doch darum kann und darf es nicht mehr gehen. Es ist buchstäblich existenziell, uns nicht mehr als rücksichtslose Egoisten*Egoistinnen zu benehmen, sondern uns als Ko-Kreatoren*Kreatorinnen zu begreifen, die einfach nur noch nicht ganz verstanden haben, bis zu welchem Grad wir »unseres eigenen Glückes Schmied« sein können. Es muss darum gehen, verstehen zu lernen, bis zu welchem Grad wir am Gewebe der Wirklichkeit mit weben können, bis zu welchem Grad wir gewebt werden und wir Teil dieses Gewebes sind.
Es kann hier auch nicht um eine Praxis gehen, mit Hilfe derer wir wie durch einen Zauber eine komplett andere Wirklichkeit erzeugen können. Wenn ich beispielsweise eine körperliche Behinderung habe, dann entspricht genau das meiner Realität, auch wenn ich versuchen sollte, mir eine anders lautende Geschichte zu erzählen. Dennoch habe ich durchaus die Wahl, mir die Geschichte darüber so oder so zu erzählen. Ich könnte mich darauf verlegen, das Opfer eines schweren Schicksals zu sein, dass mich von einem wahren und erfüllten Leben abschneidet. Andere sehen vielleicht sogar eine Strafe Gottes darin, für irgendetwas, das sie irgendwann verbockt haben, sodass sie jetzt eine Schuld abzutragen haben. Ebenso könnte mir eines Tages bewusst werden, wie mir durch die Auseinandersetzung mit meiner Behinderung eine besondere Fähigkeit zugewachsen ist, für die ich in der Folge dankbar werden könnte. So wie der Chiron der griechischen Mythologie letztlich Dankbarkeit für seine nie heilende Wunde, die ihm die Götter zugefügt hatten, empfand. Hatte sie ihn doch durch seine lebenslangen Bemühungen, sie zu heilen, zum bedeutendsten Arzt seiner Zeit werden lassen.
Die neue kulturelle Story sollte beinhalten, dass wir uns dem größeren Ganzen gegenüber verantwortlich verhalten. In der neuen Story werden wir gelernt haben, immer hinzuhören und wahrzunehmen, was gut für uns, unsere Leute und das größere Ganze ist. Sollten die Konsequenzen unseres Handelns nicht als positiv im Sinne dieses größeren Ganzen erscheinen, werden wir die entsprechende Handlung nicht ausführen wollen, da wir wissen, dass sie dann letztlich auch für uns und unsere Leute nicht dienlich sein wird. Da wir aber ebenso nicht immer wissen können, was gut für das größere Ganze ist, kommt der demütigen Haltung dem Nichtwissen gegenüber eine sehr große Bedeutung zu.
In unserer linken Hirnhälfte wohnt unser sogenanntes narratives Netzwerk, das immer bemüht ist, alle Ereignisse in seine bereits geschriebenen Geschichten einzubetten, um dann wieder einmal sagen zu können: »Ja, ich weiß«. So versuchen wir, unsere Welt zu verstehen, einzuordnen, aber auch zu kontrollieren. Dahinter steckt wie immer das Unterbewusstsein, das permanent glaubt, uns vor Unheil bewahren zu müssen. In unserer rechten Gehirnhälfte hätten wir nicht einmal Sprache zur Verfügung, um etwas durch einen »Begriff« begreifen und festhalten zu können. Mit ihr können wir uns im »Nichtwissen aufhalten« und empfangen Eingebungen, Einfälle, Intuition oder Inspirationen. Lauter Dinge, die sich der Kontrolle des rational analytischen Verstandes entziehen und in der Welt der alten kulturellen Story, die nur Messbares anerkennt, ungültig sind oder als esoterische Märchen belächelt werden.
»Solang Du Selbstgeworfnes fängst, ist alles Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn; erst wenn Du plötzlich Fänger wirst des Balles, den eine ewige Mit-Spielerin dir zuwarf, deiner Mitte, in genau gekonntem Schwung, in einem jener Bögen aus Gottes großem Brücken-Bau:
erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, - nicht deines, einer Welt.
Und wenn du gar zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest, nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest und schon geworfen hättest - (wie das Jahr die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme, die eine ältre einer jungen Wärme hinüberschleudert über Meere -) erst in diesem Wagnis spielst Du gültig mit.
Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; Erschwerst dir ihn nicht mehr.
Aus deinen Händen tritt das Meteor und rast in seine Räume«
Rainer Maria Rilke
Wenn wir den Zustand des Nichtwissens würdigen können und lernen, den Ball der ewigen Mitspielerin zu fangen, öffnet sich ein Raum der gegenwärtigen Achtsamkeit, der frei von den Konzepten unseres narrativen Netzwerkes ist und über den wir ein Angeschlossen-Sein an das größere Ganze erleben können.
Wie wir später noch sehen werden, haben wir an einem solchen Punkt plötzlich eine Ahnung, ein Gefühl, das tiefer als Fühlen und ein Gewissen, das tiefer als das Wissen ist, ob etwas dem größeren Ganzen dient oder nicht. Erst so spielen wir, in Rilkes Sinne, gültig mit.
In der neuen kulturellen Story wird das rationale Verständnis der Welt als genauso selbstverständlich gelten wie das gleichzeitige Angeschlossen-Sein an das größere Ganze.
In Würde und zum Wohle aller frei werden
Es gibt viele psychotherapeutische Wege, aus dem persönlichen, aber auch dem kollektiven Mythos auszusteigen. So wie es in allen mystischen Schulen der Weltreligionen Wege gab, den Vorhang einer nur scheinbaren Wirklichkeit beiseite zu ziehen.