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Die Autorin durchforstet das Werk Nietzsches' unter der Perspektive und Interdependenz von Zeit und Verlust. Die Methode ist hermeneutisch-interpretativ. Grundlage bilden ausgewählte Textstellen des Werks. Der Einstieg über erkenntnistheoretische Positionen Nietzsches führt über verschiedene Stadien seines Werkes zu einer Erläuterung der als-ob Metaphysik Nietzsches, seiner 'Wiederkehr des ewig Gleichen', einer Interpretation, die der französischen Philosophie von Gilles Deleuze nahesteht.
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Mein ganz herzlicher Dank für inhaltliche, computertechnische und moralische Unterstützung geht an Thomas Fluri, Catherine Kupper, Daniel Strassberg, Michael Pfister, Edith Eymann, Roman Günter und Georges Wieland.
„Am Ende gibt es überhaupt kein beständiges Sein, weder in unserem Wesen noch im Wesen der Dinge und wir und unser Urteil und alle sterblichen Dinge fliessen und wogen unaufhörlich dahin. So lässt sich nichts Gewisses vom einen zum anderen ermitteln und der Urteilende und das Beurteilte sind in fortwährender Wandlung und Schwankung begriffen“.
Michel de Montaigne, Essais
Einleitende Gedanken
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn
Historie. Unzeitgemässe Betrachtungen
Die genealogische Methode
Der Tod Gottes. Ueberwindung einer traditionellen Metaphysik
Einführende Gedanken zu Nietzsches Zeitkonzeption
Nietzsches Prozessontologie, eine ‚Als-ob-Metaphysik‘
Die ewige Wiederkunft des Gleichen
Das grösste Schwergewicht
Von der Erlösung
Der Torweg
Chronos und Aion, der flache Augenblick, Kairos
Der Geist der Schwere
Der Hirte und der Biss
Der Genesende
Die hohe Zeit des Mittags. Zeitlosigkeit. Utopische Menschheitsentwicklung
Der Spielcharakter von Nietzsches Zeitfigur
Lust und Ewigkeit
Philosophie der Gleichgültigkeit
Reflexionen über Nietzsches eWkdGl und Aspekte von Verflechtungen zwischen dem Denken Nietzsches, der Psychoanalyse und von Deleuze
Das verlorene Objekt
Die ‚leere Zeit‘
Todestrieb und primärer Masochismus
Lebensintensität
Prozessontologie
Literaturverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Der Ursprung dieser Arbeit geht auf persönliche Erfahrungen zurück, auf eigene und Erfahrungen, die ich in meiner psychoanalytischen Arbeit gemacht habe. Es gibt eine spürbare Veränderung in der subjektiven Zeiterfahrung, im Zeiterleben, wenn einschneidende Verluste zu bewältigen sind: Tod, Liebesverlust, Verlassenwerden, Krankheit, Gebrechlichkeit, Krieg, Verlust der Heimat, Verlust der eigenen kulturellen Umwelt und Sprache. Die Selbstverständlichkeit des Voranschreitens der Uhrzeit - die Vulgärzeit - die unseren Alltag sehr nachhaltig prägt und die uns der gefühlsmässigen und stimmungsgeprägten Zeiterfahrung entfremdet, bricht bei Verlusterfahrungen ein. Es kommt vermehrt zu Reflexion oder mindestens diffuser Wahrnehmung und Empfindung darüber, was die Zeit ‚ist’, resp. eben nicht ist, oder mit anderen Worten über das Werden und Vergehen unseres Lebens und der Welt. Verlusterfahrungen haben oft Ereignischarakter, brechen alte Ordnungen auf und erzwingen Neuorientierungen. Verluste wirken als Zäsuren, sie unterbrechen Selbstverständlichkeiten. Es sind Aufbruchserfahrungen, aus denen Neues erwachsen kann und damit potentiell auch ein neues, bewussteres, lebendigeres Lebensgefühl. Zeit wird wertvoller, nachhaltiger. Verlusterfahrungen können aber auch zum Scheitern führen, zum Stillstand persönlichen Werdens, Entdifferenzierungen hervorbringen. Das Nachdenken über die psychopathologischen Phänomene des veränderten Zeiterlebens im Zusammenhang mit schwerwiegenden Verlusten hat mich angeregt, diese Fragen über meine psychoanalytischen Erfahrungen hinaus auch in philosophischer Reflexion zu vertiefen.
Die Frage nach der Zeit war in der Philosophie lange eng mit der Frage nach dem Sein verknüpft. Das Begreifen dieses Zusammenhanges umfasst die unterschiedlichsten Interpretationen.1 Da ich bereits einige Schriften Nietzsches kannte und fasziniert war (und bin) von diesem Philosophen, der auch so sehr Psychologe ist, entstand das Projekt, die Interdependenz von Zeiterleben und Verlust anhand ausgewählter Textstellen aus Nietzsches Schriften genauer zu untersuchen. Es hat sich bald gezeigt, dass diese Fokussierung für Nietzsches Werk sehr fruchtbar ist. Er ist einer, der mit Furor traditionelle Ontologie problematisiert und so Zeit unter dem Aspekt des Verlustes einer ewigen und allgültigen Wahrheit neu begreift. Ein Metaphysikverächter ist er dennoch keineswegs. Seine ‚Ontologie’ – so man dies denn so nennen will - ist, ich nehme es voraus, eine radikal immanente Prozessontologie. Sein Seinsverständnis entzieht sich jeglicher Substanzialisierung, ist bewegt, ist ganz grundlegend und zutiefst verzeitlicht. ‚Sein` kann nur Bewegtes sein, i.e. Werden, genauer: Geschaffenwerden und Geschehen, also Setzung und Fatum zugleich. Zeit ist primordial für sein Denken. Zahlreiche philosophisch konotierte Zeitbegriffe werden in dieser Arbeit auftauchen: Ewigkeit, Unendlichkeit, Ursprung, leere Zeit, Augen-blick, Jetzt, Moment, die Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Zeitsynthesen, Zeitbezeichnungen der Permanenz wie früher, später, Rhythmisierung, Periodizität; des weiteren Fragen, die Bezüge von Zeit und Raum, Ordnung und Chaos anbelangen u.a.m. Im Zentrum steht Nietzsches Zeitfigur ‚die ewige Wiederkunft des Gleichen’ (eWkdGl).
Zeit ist eine notwendige Grundbestimmung. Lebensphilsophische, subjektive und objektive Zeitdeutungen laufen ineinander. Dennoch gilt, dass je nach Fragestellung und Methode in den Philosophien und Wissenschaften die Fragen nach der Zeit unterschiedlich beantwortet werden (Zimmerli 1993). Bei Nietzsche ist der Zugang zur Frage nach der Zeit in seiner Sinn, Werte und Kräfte/Mächte analysierenden genealogischen Methode begründet, die ein komplexes Zeitverständnis beherbergt, das von Nietzsche aber nirgends systematisiert oder gesamthaft dargestellt wird. Das gilt auch für die eWkdGl, die in Form einer ‚Alsob-Metaphysik’, eine offene Zeitfigur von Werden, Vergehen und Wiederkommen darstellt, im Zentrum seiner Philosophie steht und mit der Genealogie zusammen gelesen werden muss. Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht meine Bemühung, das Zeitverständnis Nietzsches - soweit es mir möglich ist – heraus zu meisseln. Dabei wird sich zeigen, dass die Verlustthematik und die Zeitfigur Nietzsches eminent miteinander verwoben sind. In dieser Auseinandersetzung rund um die Fragen nach der Zeit bei Nietzsche sind implizit zahlreiche Sichtweisen und Positionen der europäischen Philosophie präsent. Eine philosophiegeschichtliche Einbettung seines Denkens ist im Rahmen dieser Arbeit aber nicht Thema.
Im Verlauf meiner Auseinandersetzung um die Fragen nach ‚Zeit und Verlust’ habe ich realisiert, dass zahlreiche philosophische Kommentare zu Nietzsches Denkfigur der eWkdGl kosmologische, mythologische und metaphysische Ausdeutungen favorisieren. Aber das hat mich nicht sehr fasziniert, sodass ich diese umfangreiche Rezeptionsgeschichte nicht darstellen werde. Wichtig und inspirierend hingegen für mich sind die Arbeiten von Deleuze geworden. Es ist eine Philosophie von einer geradezu experimentellen Vielfältigkeit, die sich gut mit Nietzsches Denken verbindet. Die Schriften von Deleuze öffneten mir einen kreativen Zugang zu Nietzsches Reflexionen über die Zeit, insbesondere durch seine `Zeitsynthesen`. Diese Zusammenhänge werden jedoch nur teilweise explizit einfliessen, da eine ausführliche Darstellung der Zeitsynthesen von Deleuze den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Die Anregung durch Deleuze bezieht sich neben der Thematik ‚Zeit‘ auch auf einzelne Aspekte der `Philosophie der Differenz`. Teile dieser Lektüren fliessen bei der Textbearbeitung ein, werden dort kommentiert und haben mir ermöglicht, die weitgespannte europäisch-philosophische Zeitreflexion in der Philosophie implizit mitschwingen zu lassen. Ausgangspunkt meiner Gedanken und Argumente bleibt dabei grundsätzlich die Auseinandersetzung mit den Textstellen selber.
Der erste in dieser Arbeit kommentierte Text aus Nietzsches Werk ist die Schrift ‚Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn’. Es ist dies ein früher sprachphilosophischer Text, der es erlaubt, grundsätzliche erkenntnis-theoretische Positionen Nietzsches zu skizzieren. Diese Textbearbeitung ist darum relativ umfangreich geworden. Auf diesem Hintergrund wird dann die Erläuterung seines Historieverständnisses dargestellt. Dies umfasst Textteile aus den ‚Unzeitgemässen Betrachtungen’, eine erste Thematisierung des ‚Augenblicks’, ein Beispiel aus ‚Jenseits von Gut und Böse’ zur Illustration der ‚genealogischen Methode’, d.h. kritischen Analyse, sowie Hinweise auf den ‚Willen zur Macht’. In einem kurzen Einschub (Einführende Gedanken zu Nietzsches Zeitkonzeption) stelle ich einige orientierende Fragen bezüglich dessen, was Zeitvorstellungen überhaupt an Problembewältigung zu leisten haben. Dann wird Nietzsches Zeitfigur ‚die ewige Wiederkunft des Gleichen’ anhand von Textstellen dargestellt, primär aus ‚Zarathustra’, unter dem Titel ‚Nietzsches Prozessontologie‘, mit den Unterkapiteln: ‚Das grösste Schwergewicht’ ‚Von der Erlösung’, ‚der Torweg’ und damit die Thematisierung von ‚Augenblick’ und ‚leerer Zeit’, einem Einschub zu: ‚Chronos und Aion’, der flache Augenblick und Kairos. Dann folgen die Textstellen ‚der Geist der Schwere’, ‚der Hirte und der Biss’ und ‚der Genesende‘. Im oben erwähnten zentralen Text ‚der Torweg’, welcher den Namen ‚Augenblick’ trägt’, taucht die Verwobenheit von Zeit und Bewegung auf, resp. etwas, das man ‚leere Zeit’ nennen kann. Darin schlagen sich ‚Ereignisse’ im Feld von Sinngebungen und Kräften nieder, es kommt zu Verdichtungen und Verschiebungen, Vergangenes kommt aus den Tiefen hoch und stülpt sich - sich wiederholend und insistierend - aus. All dies macht die zentrale Zeitfigur Nietzsches aus, seine prozessontologische Schöpfung, eine ‚Als-ob-Metaphysik’. Ich versuche dieses Thema über die ausgewählten Textstellen - zum Teil kryptische, dichterische Ausführungen - zu erschliessen. Dann wird die ‚hohe Zeit des Mittags’ thematisiert, eine Ewigkeitserfahrung ohne Gott. Darauf folgt eine Ausführung zum Spielcharakter von Nietzsches Zeitskulptur und anschliessend der berühmte Text zu ‚Lust und Ewigkeit’. Die Textstellenbearbeitung endet mit der Thematisierung der ‚Philosophie der Gleichgültigkeit’ aus den nachgelassenen Schriften. Damit überschreitet Nietzsche sein Denken in Richtung einer zum Teil absurden, d.h. zufälligen, nicht Sinn-vollen Philosophie und akzentuiert damit eine gewisse Distanznahme gegenüber seiner pathischen Lebensphilosophie. Das ist der Ort des ‚Amor fati’, der Rolle des Schicksals. Es folgt ein Anhang mit weiteren Reflexionen zu Nietzsches eWkdGl, sowie Aspekte von Verflechtungen zwischen dem Denken von Nietzsche, Deleuze und der Psychoanalyse, wo es darum geht die Thematik von Zeit und Verlust aus einer abstrakteren Perspektive nochmals zu fokussieren.
Es wird also ein philosophisches Bemühen um Zeit und zwar implizit lebensphilosophischer Art. Damit sind erkenntnistheoretische und ontologische Aspekte und eine damit einhergehende Vernunftkritik gemeint. Der Hauptfokus des Verlustaspektes liegt hier beim Verlust eines, dem Menschen vorgegebenen, orientierenden Sinns, dem Verlust einer genuinen Wahrheit. Dies beinhaltet primär eine sprachphilosophische Kritik an metaphysischem Denken. Die entsprechende Kritik führt in Nietzsches Philosophie zu Auseinandersetzungen um Fragen von ‚Sein’, ‚Sprache’ und ‚Erkennen’ und deren Verzeitlichung, von ‚Wirklichkeit’(Aktualität) und ‚Möglichkeit’ (Virtualität), resp. ‚Konstruktion und Interpretation’. Des weiteren werden mehr oder weniger explizit im Umkreis der Texte Nietzsches die Themenkreise von ‚Freiheit und Notwendigkeit’, ,Amor fati’ ‚Seele’, ‚Ich’, ‚Subjekt’, ‚Vernunft und Gefühl’, ‚Ereignis’, ‚Unmittelbarkeit’, ‚Differenzen und Dezentrierungen’, ‚Zeitsynthesen’, ,Immanenz’, ‚Gesetz vs. Wiederholung und Differenz’, ‚Allgemeines und Singuläres’, ‚Serialität’ und natürlich damit und darin ‚Zeitvorstellung und Verlust‘ thematisiert. In Nietzsches Metaphysikkritik ist dabei nicht die erfolgte Abschaffung des Metaphysischen das ‚hehre’ Ziel der Auseinandersetzung, sondern die Analyse der Kräfte, die in ihr wirken. Nietzsche verarbeitet diesen Verlust ganz im Sinne einer Neuorientierung, einer kreativen Umwälzung hergebrachten Denkens. Bei ihm wird der ‚Tod Gottes’ zum Ausfalltor einer neuen Philosophie.
Heutzutage spricht man zunehmend von Konvergenzen zwischen historischem, physikalischem und lebensweltlichem Zeitverständnis (Zimmerli 1993). Die Technologisierung und Medialisierung unserer Zeit wirkt sich selbstverständlich auch auf die Strukturen unserer Zeiterfahrungen, Zeitwahrnehmungen und Zeitkonzeptionen aus. Jede Zeit hat ihre Zeitauffassungen, jeder Rationalitätstyp, jede wissenschaftliche oder ästhetische Disziplin hat ihre ihr zugehörige Zeitkonzeption entwickelt. Es gibt nicht nur verschiedene Zeittheorien mathematischer, physikalischer, psychologischer und philosophischer Art, sondern auch Zeitparadigmata, die in die Richtung von Denkparadigmata zielen, von Denkformen, von kulturell/geschichtlich geprägten Welterschliessungsweisen. Ich denke, Nietzsches Figur eWkdGl beinhaltet ein solches Denkparadigma.
Da ich mich dazu entschlossen habe, mein Thema über ausgewählte Textstellen abzuhandeln, wird der Aufbau der Arbeit auf ein systematisches Vorgehen verzichten und den Charakter eines Essais haben. Dabei habe ich Nietzsches Wort ‚der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit’ im Ohr. Ich werde textkommentierend, mäandernd, philosophiegeschichtlich vor- und zurückgreifend, meinen Interesseschwerpunkt fokussieren. Die Bezüge auf philosophische Zeitvorstellungen anderer Denker werden dabei nicht systematischer Art sein. Durch die Textstellenlesungen wird es möglich werden, dem eigenwilligen Schreibstil Nietzsches zu begegnen: Aphoristik und Theatralik, Argument und Poesie, wissenschaftliches Arbeiten und Pathos, Ernüchterung und Beschwörung, Analyse religiöser Dogmen, Verheissung, Paradoxien und Metaphern verweben sich. Nietzsche ‚will nicht verstanden werden’. Er will nicht Gedanken zu Wahrheiten verbreiten. Er schreibt mit Leidenschaft, sein Denken ist bewegt und wandelt sich demgemäss im Verlaufe seines Werkes. Entsprechend wird der Duktus dieser Arbeit nicht ein traditioneller sein. Ich lote die Textstellen aus, um in ihnen explizite und implizite Verweise auf Zeit und Verlust aufzuspüren. Die Methode ist hermeneutisch-interpretativ. Das hat durchaus seine Tücke, ist doch Nietzsches Philosophie eine Philosophie kritischer Interpretation.
1 Bei Parmenides z.B. heisst es: ‚Entstehen verlöscht und verschollen Vergehen’. Sein wird als unbewegt verstanden. Siehe zum Vergleich die ganz anders orientierte Auffassung im einleitenden Zitat von Michel de Montaigne.
Als ersten Text nehme ich die Schrift Nietzsches von l873 ‚Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn’ (KSA l, 1873). Die spezifische Art und Weise, wie Nietzsche denkt und dichtet, wird in der Auseinandersetzung mit diesem Text gut ersichtlich. Im Zentrum stehen sprachphilosophische Ueberlegungen, welche das Thema von Zeit und Verlust und - damit einhergehend - epistemologische Fragen aufwerfen.
Wie steht es um das menschliche Erkennen? Erkenntnis wird mit dem Menschengeschlecht geboren und stirbt mit ihm, sagt Nietzsche: Sie ist menschenspezifisch, menschengemacht.
„In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden.
Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte’: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. – So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.“ (KSA I, 1873, 875, UeWuL)
Irrelevant sind die menschliche Erscheinung und der menschliche Intellekt im kosmischen Geschehen. Unsere Erkenntnisse haben den Charakter von flüchtigen Erzählungen, von Fabeln, von Erfindungen. Unser Erkenntnisvermögen ist historisch, unser Denken ist verzeitlicht und bringt keine ‚ewigen’, sondern bloss vergängliche Erkenntnisse hervor, Erkenntnisse, die zusammen mit uns spurlos verschwinden werden. Nietzsches ironisch-poetische Formulierungen deuten darauf hin, dass er der menschlichen Erkenntnisbemühung keine bewundernde Referenz zollt.
Und Nietzsche fährt fort - ich paraphrasiere: Mittels seines Intellekts wähne der Mensch sich bedeutsam, ja reagiere hochmütig, obwohl er doch ein unglückliches, delikates und vergängliches Wesen sei, und das, was sein Intellekt ihm zu erkennen gebe, vor allem Täuschungen bewirke. Der Intellekt sei dem Menschen eine Waffe, diene ihm, sich im Kampf ums Dasein zu behaupten und entfalte seine Wirkkraft in der Verstellungskunst, so im Lügen und Trügen, Schmeicheln, Repräsentieren, also in Eitelkeiten aller Couleurs.
Trotz dieser menschlichen Verfasstheit, so Nietzsche, gebe es so etwas wie einen reinen Trieb zur Wahrheitssuche, obwohl doch der Mensch eingetaucht sei in Illusionen und Traumbilder. Ich werde zeigen, dass diese geradezu sarkastisch ironische Situierung des Menschen und seines Erkenntnisinteresses keineswegs in eine undifferenzierte Diffamierung der Vernunft mündet, sondern dass er die traditionelle Verknüpfung von Vernunft und Erkenntnis radikal problematisiert.
„Was weiss der Mensch eigentlich von sich selbst! Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu percipiren? Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedärme, dem raschen Fluss der Blutströme, den verwickelten Fasererzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschliessen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.“(KSA I, 877, ibid.)
Und, so Nietzsche, gelänge es dem Menschen ab und zu doch, etwas über sich selber zu erahnen, weil er neugierig sei, dann sähe er alles andere als Beruhigendes: Ein wildes Tier, ausgestattet mit einem trügerischen Bewusstsein; Bewusstsein als abstruse Zufallsentwicklung der Natur? Wie kommt es, dass der Mensch trotzdem nach Wahrheit sucht? Die Lage, in der er ist, zwingt ihn dazu. Aus Not und Langeweile organisiert er sich gesellschaftlich, weil er überleben will (Hobbes) und ordnet sein Zusammenleben durch Gesetz und somit durch Sprache. So wird fixiert, was gültig sein soll. Es entstehen verbindliche Bezeichnungen der Dinge und die Gesetzgebung der Sprache (Syntax und Grammatik, SF) prägt die Gesetze und damit die ‚Wahrheit’. Das heisst Begriffe werden gebildet, den Phänomenen zugeordnet und so als gültig und wahr hingestellt. Das, was Wahrheit ist, wird gesetzt. Der Mensch begehre die angenehmen Folgen eines geordneten und damit sicheren Lebens und damit installiere sich ein Interesse an ‚Wahrheit’. Wir richten uns in der Welt ein, und so ist sie sicher und ‚wahr’. Eigentlich will der Mensch nur das hören, was ihm passt, der Rest ist ihm egal. Die Suche nach Erkennen kommt also aus einer inneren Unruhe und aus einem Bedürfnis nach Sicherheit. Das ist eine spöttische Haltung bezüglich der Erkenntnissuche! Gleichzeitig kann der Mensch den Drang zu forschen, seine Neugierde und seine ihn beunruhigenden Fragen nicht zum Schweigen bringen; so treibt er denn die Suche nach Erkennen aus innerer Unruhe und aus dem Bedürfnis nach Sicherheit voran.2
Der Mensch komme zur `Wahrheit`, indem er vergisst, dass seine Wahrheiten hergestellt wurden, dass es Setzungen sind, sagt Nietzsche. Seine Vergesslichkeit ist es, die ihm vorgaukelt, absolute Wahrheiten zu besitzen. Die Konventionalität seiner nur durch Sprache vermittelten Weltordnung gibt der Lüge Vorschub. Nietzsches Metaphysikkritik ist hier sprachphilosophisch begründet. Der Mensch richtet sich in seinen sprachlichen Konstrukten ein, sagt zu diesem `reich` zum anderen `arm`. Es sind dies willkürliche, - genauer - Zuordnungen im Kontext spezifischer Machtkonstellationen. In späteren Schriften analysiert Nietzsche diese Setzungen vertieft und entwickelt ein sehr dynamisches Vorgehen in seinen Analysen, seine ‚genealogische Methode’ Nietzsche vertieft seinen sprachphilosophischen Zugang und fragt:
„Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes zuerst in Laute. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde. Wie dürften wir, wenn die Wahrheit bei der Genesis der Sprache, der Gesichtspunkt der Gewissheit bei den Bezeichnungen allein entscheidend gewesen wäre, wie dürften wir doch sagen: der Stein ist hart: als ob uns ‚hart` noch sonst bekannt wäre und nicht als eine ganz subjektive Reizung!“ (KSA 1, 878, ibid.)
Wortbedeutungen sind also lediglich phantasievolle und interessegeleitete Meinungen, Einbildungen, sagt Nietzsche und fährt fort:
„Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus dem Wolkenkukuksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge. Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?“ (KSA 1, 879, ibid.)
Unsere Welterkenntnis ist durch und durch anthropomorph. Dies umfasst sowohl Empfindung als auch Vorstellung. Sie ist in der Eigenart der Grammatik gefangen: Sprache gliedert nach Subjekt, Objekt und Prädikat. So ist sie grundsätzlich vergegenständlichend und implementiert eine Subjekt-Objekt Ordnung in die Welt. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt gehöre zu den Schlingen der Grammatik, schreibt Nietzsche in den ‚Fröhlichen Wissenschaften’ (1882). In den Strukturen der Sprache steckt ein metaphysischer Glaube, der sichere Instanzen und moralische Wertordnungen behauptet. Das ‚Ding an sich‘ können wir mit der Sprache nicht fassen, da ist Nietzsche mit Kant einig. Doch er geht mit seiner sprachanalytischen Arbeit andere Wege. Wir bauen uns die Welt so, wie die Sprache es uns ermöglicht. Ein Sinnesreiz evoziert ein Bild, dieses transformiert sich phonetisch in Laute und diese dann wiederum in komplexe Lautgebilde, in das, was wir Begriffe nennen. Das Wolkenkuckucksheim ist unser Zuhause. 3
Nietzsche vertieft sich nun in die Eigenart der Begriffsbildung:
„Jener Trieb zur Metaphernbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum
gebändigt. Er sucht sich einen neuen Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst.“ (KSA l, l873, 887, ibid.)
Nietzsches Denken ist von Grund auf über einen weiten Bereich im Aesthetischen angesiedelt. Literatur und Poesie sind für ihn philosophisch verbindliche Weisen des Denkens. Wie wir sehen werden, versteht Nietzsche ‚Zarathustra’ als Dichtung. Als Dichter will er philosophieren. Auch sein Zeitbegriff wird diesen – nicht der traditionellen Logik, Mathematik oder Physik unterstellten - Duktus haben.4
Mit seinem Angriff auf das üblicherweise als ‚vernünftig Gedachte’ versucht Nietzsche zu einem vertieften, kritisch reflektierten Wahrheitsverständnis zu gelangen. Worin besteht dieses? Vielleicht in diesem ständigen Ueberwinden jeder Gestalt der Wahrheit, die als solche sich zu fixieren trachtet? Es gibt so nur vergängliche Statthalter der Wahrheit, nicht aber die Wahrheit. Die Sprache selber trägt in sich eine zeitliche Note, eine Note der Nicht-Präsenz, der Ungleichzeitigkeit. Begriffe sind Ereignisse und keine Dinge. So bleibt für Nietzsche durch sein gesamtes Werk die Antinomie zwischen der Wahrheit als Einsicht in diesen Schein, in dieses Begriffsgespinst, das uns ermöglicht uns in unserem Leben zu orientieren einerseits, und andererseits das Streben nach Erkennen dieser Umstände, mit eben diesem Instrument, ein lebenslanges Thema. Es gibt, so verstanden, nur noch konventionelle Dimensionen der Verständigung. ‚Verstehen’ wird in seinem Charakter des ‚Missverstehens’ fokussiert. Die unmittelbaren Sinnansprüche des Bewusstseins werden als Illusionen entlarvt.5
Seinen philosophischen Blick in den, unter einer scheinbaren Ordnung liegenden, Chaoscharakter unserer menschlichen Existenz hat er auch in seinem Tragödienbuch 1881, in seiner Anleihung und Umschreibung der Spannung zwischen einem apollinischen und einem dionysischen Daseinsverständnis, zur Sprache gebracht.