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Die Lakota und Dakota gehören zu den bekanntesten Urvölkern Nordamerikas. Unter dem Namen "Sioux" waren sie gefürchtet, weil sie dem Vordringen weißer Amerikaner harten Widerstand entgegensetzten. Heute kämpfen sie nicht mehr gegen die US-Kavallerie, sondern gegen Armut, Alkoholismus, Rassismus und Erdöl-Pipelines. "Zerbrochenes Rad" beschreibt ihre Geschichte vom Erstkontakt mit Europäern bis heute – ihre Wanderungsbewegungen, ihre Entwicklung von Bauern zu großwildjagenden Pferdenomaden, ihren Kampf um ihr Land und um ihre Lebensweise sowie ihren Umgang mit der modernen Welt.
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Seitenzahl: 444
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Titel und Impressum
Vorwort
1. Der Weg nach Westen
1.1 Im Land des rauchenden Wassers
1.2 Geheimnisvolle Hunde
1.3 Die Kultur der Plains-Urvölker
1.4 Die Gesellschaft der Lakota und Dakota
2. Die Spannung steigt
2.1 Wechselvolle Beziehungen
2.2 Vertrag am Horse Creek
2.3 Grattan will nicht hören
3. "Scheiße fressen": Aufstand der Santee
3.1 Katastrophe mit Ansage
3.2 Raserei und Schrecken
3.3 Auf der Flucht
4. Die Teton sind im Weg
4.1 Eine Straße durch das Powder-River-Land
4.2 Sieg
4.3 Und noch ein Sieg
5. Begehrte Berge
5.1 Custer sucht und findet
5.2 Wieder Krieg
5.3 Ein nutzloser Erfolg
5.4 Der Hunger bezwingt die Teton
6. Am Nullpunkt
6.1 Mageres Leben am Missouri
6.2 Das Rad zerbricht
6.2 Zerstörte Hoffnung aus der Geisterwelt
7. Armut und Neustart
7.1 Immer weniger Land
7.2 Eine andere Politik
7.3 Neues Bewusstsein
8. Die Lakota and Dakota heute
8.1 Finsteres Erbe
8.2 Schritte nach vorn
8.3 Erdöl und Wasser
Nachwort
Zeittafel
Glossar
Literaturnachweis
Nils Sandrisser
Zerbrochenes Rad
Die Geschichte der Lakota und Dakota
Für Victoria, Nikita und Arne
IMPRESSUM:
Nils Sandrisser
Niederurseler Landstraße 55
60439 Frankfurt am Main
Twitter: @NilsSandrisser
© 2018
5., erweiterte und aktualisierte Auflage, © 2023
Zum Autor: Nils Sandrisser ist Redakteur bei der Nachrichtenagentur epd in Frankfurt am Main. Historische, medizinische und gesundheitspolitische Themen bilden seine Arbeitsschwerpunkte. Er studierte Geschichte, Journalismus, Politik und Spanisch. Zuvor absolvierte er eine Ausbildung zum Rettungsassistenten und arbeitete im Rettungsdienst.
Das Wort "Indianer" ruft in uns Bilder wach. Bilder, die die meisten von uns aus Westernfilmen kennen. Vor dem geistigen Auge erscheinen wilde Krieger, das pechschwarze Haar lang und in Zöpfe geflochten, mit Federn darin. Bunt bemalt, mit Lendenschurz und Mokassins. Die typische Szene: Indianer brausen auf scheckigen Pferden auf eine Wagenburg zu und im Kreis um sie herum, schwingen ihre Tomahawks, spannen ihre Bögen. Eine gesichtslose, schreiende Masse aus wilden Reitern, die von den weißen Insassen der Wagen einer nach dem anderen abgeschossen werden.
Das Wort "Indianer" ruft aber nicht nur Bilder wach, sondern löst auch Assoziationen zu diesen Bildern aus. Im Kopf sitzt das Bild des "edlen Wilden", einerseits ein harter und wenig zimperlicher Krieger, der keinen Schmerz kennt, andererseits naturverbunden und spirituell. Vergleicht man diese Assoziationen mit jenen, die Europäer von Ureinwohnern aus anderen Erdteilen hatten und haben, ist das sogar nicht unbedingt das schlechteste. Zweifellos wurzelt diese romantische Verklärung in einem schlechten Gewissen und auch darin, dass die Verklärer ihrer eigenen industriellen Zivilisation reichlich überdrüssig sind. In Deutschland hat wohl vor allem Karl May das Bild des Indianers geprägt. Seine Leser glaubten ihm zunächst und übernahmen in ihre Vorstellungen die Geschichten und Figuren, die vor allem seiner Fantasie entsprangen. Aber es war eine durchaus wohlgesinnte Fantasie. Winnetou und viele andere indianische Helden zeichnet Karl May als überaus angenehme Persönlichkeiten, als edle Wilde eben. Das Wort "Indianer" klingt in der deutschen Sprache daher positiv.
Man darf darüber aber nicht vergessen, dass andere Nationen andere Bilder beim Wort "Indianer" vor Au-gen haben. Das Klischee sieht mitunter so aus: Ein Indianer ist eine Elendsgestalt, arm und arbeitsscheu, die würdelos um Whisky bettelt. "Indianer" kann also auch einen abwertenden Beiklang haben. Viele der heutigen amerikanischen Ureinwohnerinnen und Ureinwohner lehnen das englische "Indians" oder das spanische "indios" als Selbstbezeichnung ab. Sie bevorzugen als Eigenname "Native Americans", "First Nations" oder "indígenas", in jüngster Zeit auch "American Indians". Hinzu kommt, dass der Begriff "Indianer" auf dem geografischen Fehlgriff des Christoph Kolumbus beruht, der sich in Indien wähnte und daher die Menschen Indianer nannte, die jene Bahamas-Insel Guanahani bewohnten, auf der er am 12. Oktober 1492 zum ersten Mal amerikanisches Land betrat.
Menschen teilen die Welt in Kategorien ein, um sie besser begreifen zu können. Diese Kategorien sind Vorstellungen davon im Kopf jedes Einzelnen, wie die Wirklichkeit beschaffen sei. Und diese Vorstellungen werden auch über Sprachbilder transportiert. Sprachliche Begriffe tragen Stereotype in sich: Wir schreiben ihnen bestimmte Eigenschaften zu, und zwar meist ohne, dass uns das bewusst ist.
So gut wie jede Bezeichnung für eine Menschengruppe transportiert ein Stereotyp. Das lässt sich nicht vermeiden. Selbst die Bezeichnung "Deutscher" zum Beispiel weckt Assoziationen. Das allein ist noch nicht sonderlich problematisch. Aber wenn wir ein Stereotyp bewerten, ob positiv oder negativ, wird daraus ein Vorurteil. Und spätestens jetzt sollte klar sein, warum man Menschen nicht mit Begriffen bezeichnen darf, die negative Vorurteile transportieren.
"Neger" beispielsweise ist so ein Begriff. Das Wort war, seit es existiert, noch nie wertneutral gemeint, sondern immer abwertend. Vor allem in der Kolonialzeit bezeichnete es einen Menschen, der kulturell auf so tiefer Stufe stand, dass er geradezu froh sein musste, dass Weiße ihn kolonisierten, ihn regierten und ihn an ihrer Hochkultur teilhaben ließen. Die rassistische Bezeichnung "Neger" diente dazu, Unrecht zu rechtfertigen. Das disqualifiziert sie für den wissenschaftlichen und den Alltagsgebrauch.
Den negativen Beigeschmack, den das Wort "Indianer" im Englischen hat, hat es im Deutschen nicht. Nun sind positive Fremdzuschreibungen zwar auch nicht ganz unproblematisch, aber "Indianer" ist eine Vokabel, die man verwenden kann, zumindest in der deutschen Sprache. Denn sie ist hier nicht abwertend gemeint, und da Rassismus immer abwertend ist, ist sie nicht rassistisch. In anderen Sprachen kann das anders sein. Zudem stellt sich die Frage, ob man überhaupt den Begriff "American Indians", den vor allem die Indigenen der USA aktuell für sich als Eigenbezeichnung nutzen, sinnvoll ins Deutsche übertragen könnte. Im Englischen dient der Begriff zur Unterscheidung zu Indern, die hier ebenfalls "Indians" heißen. Hingegen ergäbe es im Deutschen wenig Sinn, von "Amerikanischen Indianern" zu sprechen, denn es gibt ja keine anderen.
Allerdings: Würde man im direkten Gespräch mit einem heutigen Ureinwohner auf dem Begriff "Indianer" auch dann beharren, wenn er ihm ausdrücklich missfällt, wäre das bestenfalls unsensibel und schlechtestenfalls herablassend.
Wenn man über die Bedeutung von Begriffen räsoniert, muss man sich auch Gedanken über das Wort "Sioux" machen. Es hat seinen Ursprung in der Ojibwa-Sprache und ist verächtlich gemeint. Auch im Englischen hat der Name "Sioux" keinen guten Leumund. Kein Wunder, vor allem die Lakota – oder "Teton-Sioux" – waren harte Opponenten der US-Regierung in mehreren Kriegen. In den 1860er und 1870er Jahren töteten Lakota und Dakota viele weiße Amerikaner. Insgesamt drei Mal musste die US-Armee im Kampf gegen Indianer Niederlagen einstecken, die keiner der beteiligten Soldaten überlebte, und jedes Mal waren Lakota die Gegner. Im Jahr 1868 schafften diese Indianer sogar etwas, was in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika ohne Beispiel ist: Sie gewannen einen Krieg gegen die US-Armee. Die vernichtende Niederlage, die eine Koalition von Lakota, Cheyenne und Arapaho der US-Kavallerie im Jahr 1876 am Little Bighorn River beibrachte, ist bis heute im kollektiven Gedächtnis der USA tief eingegraben. Wer immer bei solch einem historischen Ereignis auf der Gegenseite steht, trägt automatisch und für immer den Stempel des bösen Buben.
Freilich bezwangen die Indianer die Expansion der Weißen nur für kurze Zeit, einige Jahre später war ihre Niederlage vollständig. Ihre Geschichte ist deshalb so interessant und lehrreich, weil in ihr wie unter einer Lupe viele Faktoren im Kleinen sichtbar werden, die jenen großen Linien entsprechen, die sich so schlimm für die nordamerikanischen Indianer auswirkten.
Selbst im deutschen Idiom kann man sich als Autor nicht darauf zurückziehen, dass die Bezeichnung "Sioux" hier okay sei. Ist sie nämlich nicht. Ausgerechnet durch Karl May, sonst der Anwalt der roten Völker, ist der Name vorbelastet. Der Schriftsteller hatte sich nämlich dieses Volk als Oberfieslinge ausgeguckt, immer auf Raub und Mord aus. Dem Oglala-Stamm, den er "Sioux-Ogelallah" nannte, brummte Karl May die literarische Höchststrafe auf: Ihnen gedachte er die unrühmliche Rolle zu, den strahlenden Helden Winnetou zu meucheln.
Die sieben Völker, die in ihrer Gesamtheit den Euroamerikanern als "Sioux" bekannt waren, nannten sich selbst – je nach Dialekt – Dakota oder Lakota, was so viel bedeutet wie "Freunde" oder "Verbündete". Sie haben heute oft "Sioux" als Eigenname übernommen, zumindest dann, wenn sie sich selbst in englischer Sprache beschreiben. Sie heißen etwa "Standing Rock Sioux Tribe" oder "Yankton Sioux Tribe". Gleichwohl haben sie die Eigenbezeichnungen ihrer eigenen Sprache nicht vergessen. Auch wenn die Mehrzahl sie heute nicht mehr spricht, bevorzugen sie für sich die Namen Dakota oder Lakota. Es gibt keinen Grund, sie nicht so zu nennen, jedenfalls außerhalb angeführter Zitate. So viel Respekt sollte man schon haben für die Menschen, über die man schreibt.
Unbegrenzt lässt sich dieses Prinzip aber nicht anwenden – vor allem dann nicht, wenn am Ende ein lesbarer Text herauskommen soll, was einem Journalisten natürlich besonders wichtig ist. Würde man die Cheyenne ebenso konsequent "Tsetsêhestâhese", die Arapaho "Hinono‘eino" und die Ojibwa "Anishinabe" nennen, käme ein sperriges, unlesbares Konvolut heraus. Glücklicherweise haben die Fremdbezeichnungen Cheyenne, Ojibwa, Arapaho, Shoshone oder Crow nicht den gleichen despektierlichen Unterton wie das Wörtchen Sioux. Die Nachbarvölker der Lakota und Dakota dürfen in diesem Buch also die Namen weiterführen, unter denen die Welt sie kennengelernt hat.
Die Karte zeigt die die meisten der heutigen Reservate und die ungefähren Wohngebiete der Lakota und Dakota um das Jahr 1800. Danach büßten die vier Santee-Völker und die Yankton viel Land ein, und die Yanktonai sowie die Lakota zogen nord- und westwärts.Bildquelle: CC0, www.demis.nl
Militärische Zusammenstöße zwischen Dakota und US-StreitkräftenBildquelle: CC0, www.demis.nl
Militärische Zusammenstöße zwischen Lakota und US-StreitkräftenBildquelle: CC0, www.demis.nl
Der Schnee fällt in dicken Flocken. Die beiden französischen Forscher und Pelzhändler Pierre Esprit Radisson und Médart Chouart können wegen des schlechten Wetters kaum ihr Lager in den Wäldern um die Großen Seen verlassen, um zu jagen. Sie haben Hunger. Der Winter will im Jahr 1660 einfach nicht weichen.
Als der Schneefall schließlich nachlässt, finden die beiden gastliche Aufnahme bei einem Volk im heutigen Grenzgebiet von Wisconsin und Minnesota. Radisson und Chouart führen sich mit einem Knalleffekt bei ihren neuen Bekannten ein. Während sie in einer Hütte um ein Feuer sitzen und eine Pfeife rauchen, streuen die Indianer Tabak in die Flammen. Die Franzosen tun es ihnen mit Schießpulver nach, was ihre indigenen Gastgeber augenblicklich in alle Richtungen davonstieben lässt – und zwar "ohne jeden weiteren Verzug" und "ohne vorher zu schauen, wo die Tür ist", wie Radisson feixend notiert.1
Die französischen Kolonisten in Amerika kennen dieses Volk, das sich so gastfreundlich präsentiert, schon seit 20 Jahren von Hörensagen. Die Ojibwa, die nördlich der Großen Seen leben und mit den Franzosen Handel treiben, haben vom ihm erzählt und es "Nadoweis-siw" genannt, was so viel bedeutet wie "kleine Schlangen", frei übersetzt "Feinde, die man nicht allzu ernst nehmen muss". Den respektvolleren Begriff "große Schlangen" haben die Ojibwa für die südlich der Seen lebenden Irokesen reserviert. Anderthalb Jahrhunderte später allerdings sollten die Ojibwa die "Nadoweis-siw" als Feinde äußerst ernst nehmen.2 Die "Nadoweis-siw" bezeichnen sich selbst als Lakota oder Dakota, was "Freunde" oder "Verbündete" bedeutet. Für die Menschen dieses Volks sind Radisson und Chouart die ersten Europäer, die sie zu Gesicht bekommen. Die Franzosen verschleifen den Ojibwa-Begriff in "Nadouessioux", sie und die englischsprechenden Amerikaner verkürzen es später zu "Sioux".3
Den weiteren Beziehungen zwischen "Nadouessioux" und Franzosen ist der derbe Spaß Radissons und Chouarts nicht abträglich. Radisson besucht sie später noch zwei Mal, und als er seine Schießpulver-Nummer abermals aufs Tapet bringt, erzielt er nur noch Lacherfolge.4 Zwischen den Franzosen und den Lakota und Dakota herrschen in der Folgezeit recht freundliche Verhältnisse. Missionare und Händler besuchen sie. Ein Händler namens Nicholas Perrot lässt sich im Jahr 1686 mit einem Fort in ihrem Gebiet nieder.5 Neun Jahre später kommt einer ihrer Vertreter nach Montreal zum französischen Gouverneur, versichert ihm die Freundschaft der Lakota und Dakota und bittet ihn, weitere Händler zu ihnen zu schicken.6
Die mit Abstand wichtigsten Exportgüter der indigenen Völker, an denen die Franzosen ganz besonders interessiert sind, sind Felle. Im Gegenzug liefern sie dafür Gegenstände, die die Indianer selbst nicht herstellen können: Metallwerkzeuge, Glas und Feuerwaffen. Die östlichen Gruppen der Dakota haben vor allem Biber- und Bisampelze im Angebot, die westlichen Dakota und Lakota hingegen Bisonfelle.7 Das Verhältnis zwischen ihnen und den Franzosen ist zwar eher freundlich, aber nicht frei von Spannungen. Der Händler Perrot soll sich mitunter auch feindlich gesinnten Dakota gegenübergesehen haben. Im Jahr 1736 töteten Dakota 20 Franzosen beim Lake of the Woods, an der heutigen Grenze zwischen den USA und Kanada gelegen. Möglicherweise war das eine harsche Reaktion der Dakota darauf, dass die Franzosen auch mit ihren Feinden handelten, den Cree.8
Jenes Gebiet, das die Lakota und Dakota zu dieser Zeit bewohnten, umfasste den Oberlauf des Mississippi, westlich des Michigansees und des Oberen Sees, in den heutigen US-Bundesstaaten Wisconsin und Minnesota. Der Name "Minnesota" leitet sich aus ihrer Sprache ab. Mni šota heißt "rauchendes Wasser", gemeint ist der Nebel, der in dieser Region voller Wälder, Sümpfe und Seen häufig über den Gewässern hängt.9
Wo die Urheimat der Lakota und Dakota lag, muss allerdings wahrscheinlich für immer ungeklärt bleiben. In der Linguistik gab es Debatten darüber, ob die Siouan-Sprachen möglicherweise an der Atlantikküste entstanden sind, ungefähr in der Gegend des heutigen North Carolina. Eine andere Theorie argumentierte für eine Herkunft aus dem Ohio-Tal.10
Die weithin als die wahrscheinlichste anerkannte Variante geht davon aus, dass sich die Siouan-Sprachen vor rund 2500 Jahren im mittleren Mississippi-Tal entwickelten. Archäologischen Untersuchungen zufolge kamen die Vorfahren der Lakota und Dakota um das Jahr 800 herum in die Quellgebiete des Mississippi. Diese Ergebnisse sind freilich mit Vorsicht zu betrachten. Linguistische Rück-schlüsse beruhen oft auf theoretischen Überlegungen. Und archäologische Untersuchungen können nur kulturelle Ähnlichkeiten belegen, nicht jedoch, ob sich die Menschen, deren Überreste untersucht werden, als eine gemeinsame Ethnie sahen oder eine gemeinsame Sprache hatten. Es ist also unklar, ab wann genau sich die Lakota und Dakota als Lakota und Dakota betrachteten und bezeichneten.11
Im Großen und Ganzen ähnelte die Lebensweise der Lakota und Dakota jener der benachbarten Völker in dieser Region. Die Waldland-Indianer im Nordosten Nordamerikas lebten in Dörfern, die im Winter meist aus sechs bis acht Familien bestanden. Im Sommer, wenn es viel Nahrung gab, kamen größere Verbände zusammen. Zur Jagd oder für einen Kriegszug vereinigten sich manchmal mehrere Dörfer. Die Indianer bewohnten konische oder kuppelförmige Wigwams, die mit Birkenrinde oder Tierhäuten gedeckt waren, jagten in den Wäldern Hirsche und Kleinwild, fingen Fisch und betrieben Feldbau.12
Einige der Weißen, die die "Nadouessioux" besuchten, berichteten später, dieses Volk sei bäuerlich, andere hingegen erzählten, dass es keinen Feldbau betreibe. Wahrscheinlich stimmt beides: Einige Dörfer waren von Feldern umgeben, andere nicht. Für die Zeit, als die Franzosen auf die Lakota und Dakota trafen, sind Mais und Tabak als deren Feldfrüchte verbürgt. Vielleicht bauten sie auch Bohnen und Kürbisse an. Zumindest war der gleichzeitige Anbau von Mais, Bohnen und Kürbissen auf einem gemeinsamen Feld unter den indigenen Völkern in Amerika weit verbreitet.13 Und wenigstens für das 18. Jahrhundert ist gesichert, dass die Dakota diese drei Feldfrüchte kultivierten.14
Die Irokesen nannten diese Pflanzen "die drei Schwestern", weil sie sich hervorragend ergänzen.15 Am Mais rankten sich die Bohnen empor, während die großen Blätter der Kürbispflanzen den Grund abschatteten und so einerseits das Unkrautwachstum hemmten, andererseits den Boden feucht hielten und ihn gleichzeitig davor schützten, bei Starkregen weggewaschen zu werden. Überdies hielten die Bohnenpflanzen den Boden fruchtbar, denn Bakterien an ihren Wurzeln banden dort Stickstoff, der sie und andere Pflanzen düngte. Auch ernährungsphysiologisch ergänzen sich diese Ackerfrüchte. Mais enthält viel Stärke, aber weder Lysin noch Tryptophan – zwei Aminosäuren, die der menschliche Körper selbst nicht herstellen kann, sie aber braucht, um lebensnotwendige Eiweiße zu erzeugen. Eine Lücke, die die Bohne perfekt füllt, weil sie viel Lysin und Tryptophan enthält. Mais, Bohnen und Kürbisse, zusammen angebaut, halten also nicht nur die Böden gesund, sondern versorgen die Menschen mit einem Essen, von dem sie ohne Mangelerscheinungen zehren können.16
Dennoch ernährten sich die Lakota und Dakota zu einem beträchtlichen Teil nicht von der Frucht ihrer Felder, sondern von der Jagd, wobei vor allem die westlichen Gruppen in die Grasebenen der Great Plains vordrangen und dort Bisons erlegten. Die östlichen Gruppen dagegen nutzten den Wilden Reis.17 Diese Pflanze, die botanisch mit dem Reis nichts zu tun hat, wuchs massenweise im Uferbereich der Seen im Mississippi-Quellgebiet. Die Urbevölkerung erntete ihn, indem sie mit Kanus durch den Wildreis im flachen Wasser fuhr, die bis zu sechs Meter langen Halme niederdrückte und mit Stöcken die Körner aus den Ähren ins Kanu hinein drosch. Das Steuern der Boote war Männer-, das Dreschen Frauenarbeit. In einem mit Häuten ausgekleideten Erdloch zerstampften die Frauen die getrockneten Körner des Wildreises und lösten dabei die Hülsen ab.18
Im zeitigen Frühjahr, kurz nach der Schneeschmelze, begann das Einkochen von Ahornsirup. Dazu ritzten die Indianer der Region um die Großen Seen die Rinde der Ahornbäume ein und fingen den austretenden, zuckerhaltigen Saft in hölzernen Gefäßen oder in Kanus auf. Das Einkochen des Sirups war in der Regel die Aufgabe von Frauen, Kindern und älteren Männern, weil die jüngeren Männer um diese Zeit die Dörfer zum Jagen verließen. Stark eingekocht und zu Pulver zermahlen, hielt sich der Zucker das gesamte restliche Jahr. Die Ureinwohner verfeinerten damit ihre Wildreis-, Mais- und Fleischgerichte.19
Französische Händler beeinflussten die weitere Entwicklung der Lakota und Dakota ganz erheblich – wenn auch nur mittelbar und sehr wahrscheinlich ohne Absicht. Sie beeinflussten sie nämlich durch eines ihrer Handelsgüter: Feuerwaffen. Denn damit versorgten die Franzosen die Ojibwa, die relativ nahe an französischen Kolonien im heutigen Kanada lebten, recht ordentlich.20 Das freilich machte die Ojibwa den westlich von ihnen und damit weiter weg von den Franzosen lebenden indianischen Feinde drückend überlegen. Sie ließen sich ihre Chance nicht entgehen, richteten die französischen Gewehre gegen ihre roten Nachbarn und expandierten auf deren Kosten. Ab etwa 1740 gaben daher die Lakota und Dakota ihre gefährlich gewordenen Territorien auf und zogen sich nach Südwesten zurück. Sie gingen nicht alle auf einmal, sondern einzelne Gruppen zogen über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten fort.21 Ihr Schicksal teilten die bäuerlichen Völker der Cheyenne und der Arapaho, die ebenfalls in die Gewehrläufe der Ojibwa blickten und nach Westen auswichen.22
Die Gebiete, in die die Dakota und Lakota nun zogen, waren zuvor natürlich nicht menschenleer gewesen. Die Neuankömmlinge waren ihrerseits kaum angenehmere Nachbarn als die Ojibwa und verdrängten die Alteingesessenen nach Süden und Westen, vor allem, als sie selbst mit französischen und britischen Feuerwaffen wohlversorgt waren.23 Zunächst waren die Omaha die Leidtragenden. In deren Gebiet im südwestlichen Minnesota und nördlichen Iowa hatten die Lakota und Dakota Mitte des 18. Jahrhunderts Dörfer errichtet und die Omaha an den Missouri abgedrängt. In Minnesota spalteten die Sieger sich im sieben Gruppen auf, bewahrten aber das Gefühl, sich ähnlich zu sein und zusammenzugehören.24 Sie sprachen von sich als den oceti šakówiŋ, den "Sieben Ratsfeuern". Die Namen dieser Völker der sieben Ratsfeuer waren:
Teton,
Yankton,
Yanktonai,
Mdewakanton,
Wahpekute,
Wahpeton und
Sisseton.
25
Diese Ausdifferenzierung geschah auch entlang der Dialektlinien. Die Teton sind mit den Lakota gleichzusetzen, während die anderen Gruppen zusammen die Dakota bildeten. Daneben existiert ein dritter Dialekt, das Nakota, dessen Sprecher aber nicht Teil der oceti šakówiŋ waren. In der Hauptsache unterscheiden sich diese Sprachvarianten in der Verwendung der Laute L, D und N. Worte, die die Lakota mit L aussprechen, lauten im Dakota auf D und im Nakota auf N – wie die Eigennamen bezeugen. Alle drei Worte – Lakota, Dakota und Nakota – bedeuten "Verbündete" oder "Freunde". Das Wort "Vogel" heißt auf Lakota ziŋtkala, auf Dakota ziŋtkada und auf Nakota ziŋtkana.26
Lange gruppierte die Sprachwissenschaft die Yankton und Yanktonai in die Nakota ein. In der Tat sprechen sie einige Worte mit N aus, aber bei weitem nicht alle. Neuere Forschungen gehen daher davon aus, dass diese beiden Völker zu den Dakota zu zählen sind und die Westlichen Dakota bilden, während die Östlichen Dakota aus Mdewakanton, Wahpekute, Wahpeton und Sisseton bestehen, die gemeinsam unter dem Namen Santee bekannt waren.27
Unbestritten aber sind die Assiniboine Sprecher der N-Variante, also des Nakota. Sich selbst nennen die Assiniboine Nakota oder Nakonabi – auch in diesen Eigennamen wird die Verwandtschaft deutlich. Dennoch waren Assiniboine einerseits und Lakota und Dakota andererseits bittere Feinde. Die Assiniboine hatten sich schon vor dem ersten Kontakt zu Weißen von den Yanktonai abgespalten und waren nach Norden gezogen ins heutige Grenzgebiet der Vereinigten Staaten und Kanada. Dort hatten sie sich mit alten Feinden verbündet, mit den Cree und den Ojibwa. Die Lakota und Dakota nannten ihre Verwandten fortan hohe, „Rebellen“. Den Namen Assiniboine gaben ihnen die nun befreundeten Ojibwa. In deren Sprache bedeutet assi-nibo-in so viel wie „Jene, die auf Steinen kochen“. Dieser Name rührte von der Technik, Wasser zu erhitzen, indem man glühend heiße Steine hineinwarf - eine Technik, die die Assiniboine ebenso anwandten wie die Lakota und Dakota.28
Radissons Originaltext ist allerdings nicht erhalten, nur eine englische Übersetzung, vgl. Wisconsin Historical Society:
Voyages of Peter Esprit Radissonn, being an account of travels and experiences among the North American Indians, from 1652 to 1684, transcribed from original manuscripts in the Bodleian Library and the British Museum, S. 209
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Ibid, S. 8-10. Die Bezeichnung
oceti šakówiŋ
ist allerdings erst ab Anfang des 18. Jahrhunderts sicher verbürgt, vgl. DeMallie:
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Weit weg von den Lakota und Dakota, auf den Schlachtfeldern des Siebenjährigen Kriegs der europäischen Mächte, tat sich Bedeutendes für die Urbevölkerung im Norden Amerikas. Im Frieden von Paris musste Frankreich 1763 seine Kolonien im heutigen Kanada an Großbritannien abtreten. Schon zuvor hatten die Briten militärisch Fakten geschaffen und Montreal sowie Quebec erobert. Der offizielle Handel mit den Franzosen kam für die Indianer nun zum Erliegen. Allerdings machten viele französische Händler auf eigene Faust weiter und belieferten die Ureinwohner mit Waren im Tausch gegen Felle.1
Für die Lakota und Dakota war das kein Schaden, da ab etwa 1760 britische Forscher und Händler der Hudson's Bay Company zu ihnen kamen. Mit ihnen waren die Geschäfte noch besser als mit den Franzosen, schon bald übertraf der Umfang des Handels mit den Briten den mit den Franzosen um ein Vierfaches. Vor allem die Yanktonai entsandten Handelsdelegationen zu den Forts der Hudson's Bay Company im Red-River-Gebiet des heutigen Manitoba und schlüpften bald in die Rolle einer Drehscheibe für den Umschlag britischer Waren wie Messer, Pfeilspitzen und Kochgeräte sowie Feuerwaffen. Sie veranstalteten jährlich in ihren Dörfern Handelsmessen.2
Diese Geschäfte endeten allerdings 1821. In diesem Jahr stellte die Hudson's Bay Company den Handel mit den Dakota ein. Die Ojibwa nämlich, auch sie mit den Briten gut im Geschäft, hatten zunehmend darauf gedrängt, weil die Dakota immer mächtiger wurden, und diese Macht hatte sie nervös gemacht. Mehrfach waren Handelsdelegationen der Konkurrenten aneinandergeraten, als sie gleichzeitig an Forts aufgetaucht waren.3 Nachdem das Geschäft mit den Briten für die Dakota zu Ende war, handelten sie verstärkt mit den Métis. Das waren Nachfahren weißer Fallensteller und indianischer Frauen in Kanada. Sie spielten eine große Rolle als Zwischenhändler, wobei ihr Geschäftsmodell zu einem gewissen Teil aus Schmuggel beschränkter oder verbotener Waren über die Grenze bestand. Bei den Métis tauschten die Dakota, Lakota und andere Völker Felle gegen Feuerwaffen, Munition und Schnaps ein.4
Die zunehmende Macht der Dakota und besonders der Lakota lag vor allem an einem Wesen, dessen Bekanntschaft sie erstmals um das Jahr 1750 gemacht hatten. Das Pferd sollte ihre ganze Lebensweise oder zumindest die Lebensweise der Lakota von Grund auf ändern, auch wenn sie bis etwa 1750 brauchten, ehe sie dieses Tier zu einem zentralen Bestandteil ihrer Kultur gemacht hatten.5
Bekanntlich hatten die Spanier das Pferd in die Neue Welt eingeführt. Ganze 16 Tiere waren es zunächst, mit denen Hernán Cortés 1519 zur Eroberung des Aztekenreichs in Mexiko ansetzte. Berittene Krieger in gleißenden Brustharnischen versetzten die indigenen Mexikaner zwar nicht in helle Panik, wie man oft liest, aber Respekt hatten sie schon.6 Bei spanischen Vorstößen von Mexiko aus lernte später auch die Urbevölkerung im Norden des Doppelkontinents dieses Tier kennen. 1541 machte sich Francisco Vasquez de Coronado auf nach Nordosten, das sagenhafte Goldland Quivira vor Augen, das er zu finden hoffte. Seine 250 Reiter führten mehr als 1.000 Reservepferde und Maultiere mit. Obwohl er recht früh während seiner Expedition von einem Hagelsturm überrascht wurde, bei dem ihm der größte Teil der Reit- und Packtiere durchging, zog er bis ins heutige Kansas hinein, wo er mangels Goldländern schließlich umkehrte.7
Bis zur Wende zum 17. Jahrhundert hatten sich die nunmehr wildlebenden Pferde Coronados auf stattliche Herden vermehrt. Indianer gelangten in den Besitz einiger Tiere, lernten sie zu reiten, sie zu züchten.8 Viele Pferde gelangten außerdem in die Hand der Ureinwohner, als im Jahr 1680 die Pueblo-Indianer im heutigen Südwesten der USA revoltierten und den Spaniern dabei so hart zusetzten, dass diese sich fürs Erste wieder nach Süden zurückzogen.9
Die ersten richtigen Reitervölker in Nordamerika waren die Shoshone und die sich von ihnen abspaltenden Comanche. Ursprünglich in den Rocky Mountains von Idaho, Wyoming und Colorado beheimatet, erschloss sich ihnen nun ein ganz neuer Lebensraum: die Prärien, die Great Plains des Mittleren Westens der USA. Um 1700 waren die nämlich im Großen und Ganzen höchstens entlang der großen Flussläufe besiedelt, weite Gebiete waren menschenleer. Ein extremer Lebensraum: wasserarm, windgepeitscht, und übers Jahr Temperaturunterschiede von 70 Grad Celsius.10 Erst das Pferd machte ihn bewohnbar. Hoch zu Ross jagten die Shoshone und Comanche den Bison erfolgreicher. Aus den Häuten der Wildrinder fertigten sie große, kegelförmige Zelte, die im heißen Sommer kühl und im eisigen Winter warm blieben. Beritten konnten sie mehr Nahrung transportieren als zu Fuß. Ihre Kopfzahl nahm zu, und sie weiteten ihr Territorium gewaltig aus. Während die Comanche sich nach Süden zu den Prärien des heutigen Texas und Oklahoma orientierten, durchstreiften die Shoshone um 1750 ein riesiges Gebiet vom Arkansas bis in die heutigen kanadischen Bundesstaaten Saskatchewan und Alberta hinein und dominierten ihre unberittenen Nachbarn militärisch.11
Aber diese Nachbarn blieben ihrerseits nicht lange unberitten. Sie stahlen den Shoshone Pferde oder handelten sie bei ihnen ein, denn die Shoshone tauschten Waren gegen diese Tiere. Ihre Nachbarn wiederum handelten weiter östlich bei den bäuerlichen Völkern die Pferde gegen Agrarprodukte und andere Güter ein. Drehscheiben des Handels waren die mit Palisaden und Erdwällen befestigten Hüttendörfer der Arikara sowie der benachbarten Mandan und Hidatsa, dreier damals mächtiger Völker am Missouri beidseits der heutigen Grenze von North und South Dakota. Der Pelzhändler Charles Mackenzie erlebte 1805 in einem Dorf der Hidatsa, wie dort eine große Handelsdelegation der Crow mit einer Kaufkraft von 250 Pferden eintraf. Sie bekamen dafür Mais, Metallwerkzeuge und metallene Kochkessel – und 200 Gewehre mit je 100 Schuss Munition.12 Letzteres war besonders bedeutsam.
Franzosen, Engländer und später US-Amerikaner gaben zwar nie wirklich viel und selten wirklich gute Feuerwaffen an Indianer weiter, aber das war immer noch mehr als das, was die Spanier bereit waren zu geben. „Keine Gewehre an Indianer“ war deren strikte Politik. Pech für die mit den Spaniern handelnden Shoshone. Zuerst hatten deren Nachbarn durch den Erwerb von Pferden militärisch mit den Shoshone gleichgezogen, nun machten die Feuerwaffen sie deutlich überlegen.13 Ein alter Blackfeet-Indianer namens Saukamappee erzählte dem Forscher David Thompson von einem Kampf von Blackfeet und Assiniboine gegen einen großen Shoshone-Kriegstrupp um 1740, wahrscheinlich in Saskatchewan. Die beiden verbündeten Völker boten dabei zusammen zehn Gewehrschützen gegen die Shoshone auf und erzielten damit ein durchschlagendes Ergebnis, wie Saukamappee berichtete:
"Als die Schlangenindianer so viele der ihren tot und verwundet sahen, rührten sie sich hinter ihren Schilden nicht mehr von der Stelle. […] Unsere Schüsse riefen Bestürzung und Mutlosigkeit in der gegnerischen Reihe hervor. Gegen Mittag hatte der Kampf begonnen und die Sonne war noch nicht einmal halbwegs untergegangen, als wir sahen, dass einige ihre Schilde zurückgelassen und die Flucht ergriffen hatten."14
Mit der Herrlichkeit der Shoshone war es vorbei. Von Nordosten drängten die Blackfeet und die Assiniboine auf die Prärien. Aus dem Osten kamen die Cheyenne und Arapaho.15 Zum militärischen Druck kamen die Pocken hinzu. Eine Epidemie um 1780 traf die Shoshone besonders hart.16
Welches Staunen das Pferd anfangs auch bei den Lakota ausgelöst haben muss, sieht man an dem Namen, dem sie diesem Tier gegeben haben. Šuŋka wakhaŋ bedeutet übersetzt "geheimnisvoller Hund". Hunde waren die einzigen Haustiere, die Indianer zuvor kannten. Mit wakhaŋ – übersetzen kann man es sowohl mit "heilig, mysteriös" als auch mit "rätselhaft, geheimnisvoll" – bezeichneten Lakota und Dakota so ziemlich alles, was ihnen bislang nie untergekommen war, aber einen Namen brauchte.17 Feuerwaffen hießen bei ihnen zum Beispiel maza wakhaŋ, "geheimnisvolles Metall"18, Alkohol nannten sie mni wakhaŋ, "geheimnisvolles Wasser". Bei den Östlichen Dakota hießen die Pferde etwas weniger mystifizierend šuŋka taŋka – "große Hunde". 19
Vermutlich bekamen sie ihre ersten Tiere von den Arikara, die mit rund 20.000 Seelen etwa so viele Menschen zählten wie die Lakota und Dakota zusammen.20 Die ersten Kontakte zwischen beiden Nationen waren wohl Handelstreffen, wobei die Teton auch oft als Bettler auftraten, die um Mais und Bohnen baten. Schon bald aber unterstrichen sie ihre Bitten mithilfe ihrer britischen Feuerwaffen, von denen die Arikara kaum welche hatten. Aus Handelszügen wurden so allmählich Raubzüge. Die Lakota und Dakota erwiesen sich also wieder als Nachbarn, die man lieber von hinten sah. Zur bevorzugten Beute ihrer Unternehmungen gegen die Arikara gehörten natürlich ganz besonders Pferde.21
Handelsnetzwerke und Beutezüge sorgten dafür, dass sich im 18. Jahrhundert Pferde schnell Richtung Norden und Osten verbreiteten, während die Verfügbarkeitsgrenze von Gewehren sich langsam nach Süden und Westen schob. Den Lakota und Dakota öffneten beide Dinge nun denselben Lebensraum, den zuvor die Shoshone eingenommen hatten: die Great Plains.22 Und diese Herausforderung nahmen vor allem die Lakota an. Sie stellten ihr Leben komplett um und auf šuŋka wakhaŋ ein. Aber noch stießen sie nicht in die Ebenen westlich des Missouri vor. An diesem Fluss nämlich saßen die Arikara wie ein Sperrriegel – jedenfalls bis 1780. In diesem Jahr ließ die Pockenepidemie, die bereits die Shoshone so hart getroffen hatte, auch vier Fünftel der Arikara sterben. Die Zahl ihrer Köpfe sank von 20.000 auf 4.000, die ihrer Dörfer von 32 auf zwei.23
Jetzt war der Weg für die Teton frei, die von der Seuche kaum berührt worden waren. Zwischen 1780 und 1800 überquerten die Lakota in kleinen Gruppen den Missouri nach Westen. Ihre bäuerlich-halbsesshafte Lebensweise gaben sie auf und wurden reine Pferdenomaden.24 Ihr Name „Teton“ leitet sich vom Begriff Thítħuŋwaŋ ab, was sich mit „sie suchen einen Lagerplatz“ übersetzen lässt, und womit sie ihre Lebensweise bezeichneten.25
Um 1800 war die Völkerwanderung auf die und auf den Prärien so einigermaßen zum Stillstand gekommen. Die Shoshone hatten sich wieder in den Schutz der Rocky Mountains zurückgezogen. Die Lakota kontrollierten nun das Gebiet zwischen dem Missouri, dem Little Missouri, dem Platte River und den Black Hills. Diese Berge hatten zuvor die Kiowa bewohnt, die vor den Lakota ins heutige Texas und Oklahoma ausgewichen waren. Die Teton hatten auch die Cheyenne nach Westen und die Pawnee nach Süden gedrängt.26 Sie hatten sich mittlerweile in drei Stämme aufgespalten: die Oglala im Südwesten, die Brulé im Südosten, die Saone im Norden. Die Saone teilten sich kurz darauf noch einmal, so dass die Teton in sieben Stämmen auftraten:
Oglala,
Sicangu (Brulé),
Minneconjou,
Ohenunpa (Two Kettle),
Itazipco (Sans Arc),
Hunkpapa und
Sihasapa (Blackfoot Sioux, nicht zu verwechseln mit den Blackfeet).
27
Die Dakota hatten ebenso wie die Lakota das Pferd übernommen, aber gleichzeitig ihren Feldern die Treue gehalten. Sie waren östlich des Missouri geblieben und hielten an ihrem halb sesshaften, halb nomadischen Leben fest. Die Östlichen Dakota, also die Santee-Völker Mdewakanton, Wahpekute, Wahpeton und Sisseton, bewohnten das südwestliche Minnesota. Zwischen den Santee und den Teton hatten sich die Westlichen Dakota niedergelassen, die Yankton und die Yanktonai.28
Die Yankton erfüllten dabei die besondere spirituelle Funktion der Hüter der Pfeifentongruben. In ihrem Wohngebiet nämlich befanden sich jene Gruben, aus denen die Lakota und Dakota den Tonstein gewannen, aus dem sie die Köpfe ihrer als heilig angesehenen Tabakpfeifen schnitten. Welch enorme Bedeutung diese Tonsteingruben für die Yankton besaßen, lässt sich ermessen, wenn man ein Ereignis betrachtet, das der Maler George Catlin beschrieb. Catlin, der in den 1830er Jahren als einer der ersten US-Amerikaner die Great Plains bereiste, habe gemeinsam mit einem Begleiter diese Gruben besichtigen wollen. Auf dem Weg dorthin habe eine Gruppe Dakota – wohl Yankton – die beiden angehalten. Einer ihrer Wortführer habe ihnen bedeutet:
"Warum wollen die weißen Männer dorthin gehen? Ihr habt keine gute Absicht; wir wissen, ihr habt keine, und je eher ihr umkehrt, umso besser."29
Wie andere Völker der Plains-Kultur verstanden sich die Lakota und Dakota mit ihren roten Nachbarn fast durchweg schlecht.Nördlich von ihnen saß die Cree-Konföderation, der neben den Cree vor allem die Ojibwa und Assiniboine angehörten. Im Nordwesten des Lakota-Gebiets, heute Montana und Alberta, lebten die Blackfeet und die mit ihnen verbündeten Gros Ventre. Im Süden, im heutigen Nebraska, saßen die Pawnee, im Westen die Crow und die Shoshone. Sie alle waren ebenso das Ziel von Kriegs- und Raubzügen der Lakota und Dakota wie die sesshaften Völker am Missouri, die Arikara, Mandan, Hidatsa, Ponca und Omaha.30 Die Cheyenne und Arapaho im Südwesten zählten zunächst ebenso zu den Feinden der Teton. Nach etwa 1850 bildeten sie mit Teilen dieser Völker eine Allianz.31
George Catlin besuchte und malte die Tonsteingruben der Yankton.Bildquelle: CC0, George Catlin, "Pipestone Quarry on the Coteau des Prairies", Gemälde von 1837
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Kulturell ähnelten die Ureinwohner auf den Great Plains einander. Ob sie nun halbsesshaft oder vollnomadisch waren, Ackerbau betrieben oder nicht: Ihr materielles Leben basierte zum großen Teil auf der Jagd. Vor allem der Bison, der die Prärien in nach Millionen zählenden Herden bevölkerte, war die Grundlage ihrer Existenz. Rund 100 Verwendungen für Produkte, die vom Bison stammen, sind belegt: Aus den Häuten dieses Tiers fertigten die Indianer ihre Zeltplanen und warme Roben für den Winter, aus den Knochen kochten sie Leim, aus den Hufen schnitzten sie Löffel. Der Schwanz diente als Fliegenwedel, die Sehnen als Nähgarn, das dicke Leder aus den Nacken der Bullen als Sohlen für Mokassins. So gut wie jedes Teil des Tiers fand Verwendung. Den größten Teil des Fleischs machten die Ureinwohner durch Trocknen oder Räuchern haltbar für den Winter und für Zeiten geringen Jagdglücks.1
Allerdings stimmt es nicht ganz, dass die Ureinwohner nur so viel von der Natur entnahmen, wie sie brauchten, und nichts verschwendeten, wie der Topos erzählt. Eine der Jagdmethoden bestand darin, eine Bisonherde in Panik zu versetzen und sie über den Rand einer Klippe zu treiben. Auch wenn ein großer Teil des Fleischs konserviert wurde, war es bei einem so durchschlagenden Jagderfolg unmöglich, alles zu verwerten. Der Pelzhändler Alexander Henry kam 1809 im heutigen Alberta zu so einem Schlachtort. Er schrieb:
"Die Bullen waren überwiegend unversehrt, nur die guten Kühe hatte man zerlegt."2
Einige Jahre später beschrieb George Catlin, wie Indianer mitten im Winter auf Bisonjagd gingen. Zu dieser Jahreszeit hatten sie keine Chance, das Fleisch der Tiere haltbar zu machen. Ihnen ging es auch gar nicht um Nahrung, sondern um die Felle. Im Winter hatten diese nämlich eine höhere Qualität und konnten gewinnbringender bei euroamerikanischen Händlern eingetauscht werden. Das Fleisch, berichtete Catlin, habe man in der Regel den Wölfen überlassen.3
So ganz sparsam mit ihren Ressourcen war die Urbevölkerung also mitunter nicht, auch wenn sie sich das nur in sehr begrenztem Umfang leisten konnte. Schon aus der Frühgeschichte Nordamerikas kennt man Vergeudungen. Bei Olsen-Chubbock in Colorado fanden Archäologen die Überreste von 200 Steppenbisons, die Paläoindianer vor rund 10.000 Jahren erlegt hatten. Auch hier fanden sich bei vielen Skeletten keine Spuren von Verarbeitung.4
Die Geschlechterrollen waren relativ klar unterteilt: Frauen dominierten die häusliche Sphäre, Männer die äußere. Im Lauf der Zeit, vor allem nach der Übernahme des Pferds, wurde die männliche Dominanz in den indigenen Gesellschaften stärker. Waren zuvor zum Beispiel Frauen und Männer gemeinsam auf die Jagd gegangen, ritten die Herren nunmehr allein zur Hatz.5
Die indianische Welt war aber alles andere als simpel binär aufgeteilt in männlich und weiblich. Denn erstens war es in der Urbevölkerung – nicht nur auf den Great Plains, sondern in ganz Nordamerika – meist allgemein anerkannt, dass das biologische Geschlecht nicht unbedingt gleichbedeutend sein musste mit dem sozialen Geschlecht. Die meisten Völker kannten mehr soziale Geschlechter als nur Männlein und Weiblein. Bei den Ojibwa beispielsweise waren es drei: männlich, weiblich und "zweifach beseelt". Unter den "zweifach Beseelten" war alles zusammengefasst, was wir unter den Begriffen homo-, inter- oder transsexuell kennen. Bei den Lakota und Dakota hieß dieses dritte Geschlecht wiŋkté. Andere Völker identifizierten vier oder fünf soziale Geschlechter. Die Angehörigen dieser Geschlechter mussten auch kein Leben am Rande der Gesellschaft führen. Im Gegenteil, es galt als großes Geschenk, die Welt mit anderen Augen sehen zu können als mit den biologisch vorgegebenen. Man hielt diese Menschen daher in Ehren. Wurde beispielsweise ein Kind geboren, so bat man sie häufig, einen Namen für das Baby auszuwählen. Gleichgeschlechtliche Ehen waren meist problemlos möglich.6
Zweitens waren in der indigenen Welt Nordamerikas selbst jene, die ein eindeutiges biologisches Geschlecht hatten, nicht verpflichtet, sich entsprechend dieses Geschlechts zu verhalten. Männer konnten als Frauen leben, ohne dass dies jemanden gestört hätte. Umgekehrt gab es Kriegerinnen oder Jägerinnen. Der Maler George Catlin, der in den 1830er Jahren als einer der ersten US-Amerikaner die Great Plains bereiste, berichtete von Frauen, die im Krieg oder bei der Jagd mitmachten. Insbesondere die Frauen der Cheyenne galten als wehrhaft.7 Der Wahpeton Charles Eastman berichtete über seine Großmutter:
"Diese mutige Frau hatte einen Trupp von fünf Ojibwa-Kriegern verscheucht. Jene hatten sich dem Zelt vorsichtig genähert, aber ihr [der Großmutters] Hund warnte rechtzeitig, und hinter ihrer Deckung jagte sie unter die Krieger die Ladung einer doppelläufigen Flinte – mit so einem guten Effekt, dass sie es weise fanden, sich zurückzuziehen."8
Feinde waren in der indigenen Welt allgegenwärtig. Das Kämpfen nahm in der Kultur der Plains-Urbevölkerung eine enorme Bedeutung ein. Lakota, Crow, Blackfeet oder Kiowa waren überaus wehrbereite Völker. Die Gründe für diese prominente Rolle des Kriegs im Leben der Plains-Indianer hat vielleicht der Historiker Robert Utley am besten beschrieben:
"Wo sich ihr Bereich mit dem von anderen überlappte, kämpften sie um die Kontrolle über Jagdgründe. Sie kämpften, um sich gegen die Aggressionen anderer zu verteidigen. Sie kämpften um Beute, hauptsächlich um Pferde, die der primäre Maßstab von Wohlstand waren. Sie kämpften für Rache, für Vergeltung für wirkliche oder angenommene Schäden. Sie kämpften um Ruhm und um die strikt vorgegebenen Kriegsehren, die Ansehen und Führungsqualitäten bestimmten. Sie kämpften, weil sie immer gekämpft hatten und es nicht anders kannten."9
Einen Kampf zwischen Indianern charakerisiert der Pulitzer-Preisträger Larry McMurtry:
"Standen sich die beiden Seiten erst einmal gegenüber, gab es eine Menge Krakeel, Spott, Scheinangriffe, Vorstöße, ab und zu einen Verletzten und ab und zu einen Toten, wonach sich, da nun die Stammesehre verteidigt und die individuelle Tapferkeit vor Zeugen unter Beweis gestellt war, alle noch ein paar Mal gegenseitig anschrien und dann wieder nach Hause ritten. (Es gab auch ein paar ernste Schlachten und sogar einige Massaker, aber sie bildeten Ausnahmen, nicht die Regel.)"10
Die Opferzahlen, die diese Lebensweise forderte, waren also nicht so hoch, dass sie den Fortbestand der Völker als solche bedrohten. Der Grund dafür lag darin, dass Krieg im hohem Maß ritualisiert war. Das Töten eines Feindes wurde nicht einmal sonderlich hoch bewertet. Als Heldentat höchsten Ranges galt ein sogenannter Coup: das Berühren eines lebenden Gegners mit einer Hand oder einem Stock.11 Der angesehene Cheyenne-Krieger Big Foot zum Beispiel legte Wert darauf, nie einen Feind umgebracht zu haben. Sein Ansehen speiste sich aus seinem Talent, den Gegnern die Pferde abzunehmen.12 Allerdings: Ab Ende der 1830er Jahre intesivierte sich diese traditionelle Kriegsführung, als immer mehr Feuerwaffen verfügbar wurden. Da zugleich auch das Wild knapper wurde, gerieten nun vor allem kleinere Plains-Völker unter teilweise existenziellen Druck. Einen großen Anteil an diesem Druck hatten die westwärts ziehenden Lakota, die zusehends stärker wurden und sich zur Nemesis vieler ihrer Nachbarn entwickelten.13
Der soziale Rang eines Kriegers ergab sich zum Großteil aus seinen militärischen Verdiensten und dem Risiko, das er dabei einging.14 Krieg war so etwas wie ein männlicher und gefährlicher Sport. Der Wahpeton Charles Eastman erzählte in seiner erstmals 1916 erschienenen Autobiografie:
„Ich fühlte keinen Hass auf die Feinde unseres Stammes. Ich sah sie mehr so, wie ein College-Athlet seine Rivalen von einem anderen College sieht. Es gab keinen Gedanken daran, eine Nation zu zerstören, ihr das Land wegzunehmen oder ihre Menschen zu versklaven […].15
Die Ritualisierung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass indianische Kriegsführung überaus grausam sein konnte und in der Regel auch war. Sie unterschied kaum jemals Kombattanten von Nichtkombattanten. Zwischen Kriegern mag es häufig bei Drohgebärden und Scheinangriffen geblieben sein. Frauen und Kinder der Gegenseite waren in der indianischen Vorstellung aber legitime Kriegsziele, die oft starben, wenn sie feindlichen Kriegern in die Finger gerieten. Vergewaltigung war üblich, ebenso die Verschleppung. Manchmal nahm man Gefangene, meist Frauen oder Kinder, in den Stamm auf.16 Der Hunkpapa Sitting Bull zum Beispiel adoptierte einen zwölfjährigen Assiniboine-Jungen als Bruder, nachdem sein Kriegstrupp die gesamte Familie des Jungen umgebracht hatte.17 Den Marterpfahl und die mit ihm verbundene rituelle Folterung kannten die Völker der Great Plains allerdings nicht – mit Ausnahme der Comanche, die beim Quälen ihrer Gefangenen ziemlich erfinderisch waren.18
Krieg war für die Ureinwohner der Prärien eine sehr individuelle Geschichte. Ein Kriegstrupp hatte stets nur eine rudimentäre Führung und war kein festgefügtes Heer, das Feldherren wie Schachfiguren über ein Schlachtfeld dirigieren konnten. Er war mehr eine Versammlung einzelner Krieger oder Kriegergruppen. Jeder kämpfte so, wie er seine Tapferkeit am besten für alle darstellen konnte – je jünger der Mann, umso weniger war er in der Regel geneigt, Anweisungen Folge zu leisten. Unter den Plains-Indianern hatte kein Kriegsführer je komplette Kontrolle über seine jungen Burschen, schon gar nicht langfristig.19 Loyalität konnte er sich nur sichern, indem er die Verluste gering hielt. Als zum Beispiel einige Comanche und Kiowa im Jahr 1874 einen Trupp Büffeljäger angreifen wollten, erzählte ihnen ein Comanche-Schamane namens Isatai, sein Zauber könne sie kugelfest machen. McMurtry beschreibt lapidar:
"Leider stellte sich heraus, dass die Kugeln sowohl die Medizin als auch die Comanche leicht durchdringen konnten."20
Dem unglücklichen Isatai brachte das Desaster eine Tracht Prügel ein – obwohl dieser die Schuld einem Krieger zuschob, der angeblich den ganzen Zauber vermasselt habe, weil er ein Maultier anstatt eines Pferds geritten hatte.21
Das Skalpieren kannten fast alle Völker Nordamerikas und wendeten es mit Fleiß an. Skalps dienten als Trophäe, als Tapferkeitsnachweis. George Catlin schilderte nach der Rückkehr von seiner Reise durch die nördlichen Plains:
"Bei schönem Wetter hängt zuweilen der Häuptling eines Dorfs alle seine Skalps an einer Stange […] über seinem Wigwam auf, und alle Häuptlinge und Krieger des Stammes folgen seinem Beispiele, so dass jedermann die Skalpe zählen und das Ansehen eines jeden Kriegers bestimmen kann, welches in hohem Grade von der Anzahl der Skalpe abhängt, die er seinen Feinden in Gefahr abgezogen hat."22>
Den Skalp einer Frau oder eines Kindes zu besitzen galt nicht als Schande, sondern als Beleg dafür, dass ein Krieger es gewagt hatte, in den unmittelbaren Nahbereich eines feindlichen Dorfs einzudringen.23 Allgemein üblich war auch das rituelle Verstümmeln von Leichen nach einem Kampf. Bei den meisten Prärievölkern war nämlich die Vorstellung verbreitet, man komme nach dem Tod in eine paradiesische Geisterwelt, allerdings komme man dort im körperlichen Zustand des Todeszeitpunkts an. Das Ausstechen der Augen oder Abschneiden von Händen, Ohren, Nasen und Penissen sollten den toten Feinden daher das Leben im Jenseits versauen. Es fällt jedoch schwer, ähnliche spirituelle Erklärungen zu finden für Praktiken wie zum Beispiel jene, Leichen die Blase aufzuschneiden und hineinzuurinieren oder hineinzukoten. Zu einem Gutteil dürfte sich das verbreitete Leichenverstümmeln dadurch erklären, dass die Sieger – und übrigens sehr oft auch deren Frauen – ihr überschüssiges Adrenalin abreagieren und die besiegten Feinde postmortal demütigen wollten.24 Auch die Schwelle zum makabren Scherz war mitunter schnell überschritten, wie eine Episode zeigt, die Plenty Coups beschrieb, ein prominenter Crow. Er erinnerte sich an einen Jux eines gewissen Medicine Raven, wobei Plenty Coups andeutete, dass er diese Art von Humor geschmacklos fand. Eine Gruppe Crow, darunter Plenty Coups und Medicine Raven, hatte mit Lakota gekämpft und besuchte anschließend in einem Handelsposten ihren Freund Paul McCormack, den die Crow Yellow Eyes nannten. Plenty Coups berichtete:
"Yellow Eyes lief geradewegs auf Medicine Raven zu, zog sich den Handschuh herunter und streckte ihm die Hand entgegen. [...] Medicine Ravens Bisonrobe war eng um seinen Körper gewickelt, und er streckte nur eine Hand heraus, die Yellow Eyes ergriff […]. Er schüttelte die Hand heftig. Als Medicine Raven sich umdrehte, um die Hand Major Peases zu schütteln, sah ich Yellow Eyes zurückspringen und etwas in den dünnen Schnee fallen lassen. Es klang wie ein Stein. Ich sah hin. Es war die gefrorene Hand eines Sioux."25
Andererseits diente das Verstümmeln auch der Dokumentation. Jedes Volk hatte seine eigene Art, seine Teilnahme an einer Schlacht an Gefallenen kenntlich zu machen. Nach einem Gefecht zwischen Ureinwohnern und US-Soldaten in Nebraska im Juni 1967 berichtete der Arzt William Bell, wie man die Leichen von fünf Soldaten fand, die die Indianer von der Hauptabteilung abgeschnitten und aufgerieben hatten:
"Eine Handvoll Männer nur, gewiss, aber so mit Wunden übersät, dass sie, gleichmäßig verteilt, hingereicht hätten, eine ganze Kompanie zu töten. […] Die bis auf die Knochen zerhackten Armmuskeln des rechten Arms verraten die Arbeit der Cheyenne oder ‚Armabschneider‘, die aufgeschlitzte Nase ist für den ‚Kleineren Stamm‘, die Arapaho, kennzeichnend, und die durchgeschnittene Kehle legt Zeugnis darüber ab, dass auch die Sioux mitgemischt haben. […] Bis heute weiß ich nicht, welcher Stamm sich durch die Einschnitte an den Oberschenkeln und die klaffenden schräg-parallelen Risswunden in den Waden bemerkbar machte. Auch die Pfeile unterscheiden sich von Stamm zu Stamm in Machart und Farbe, und aufgrund der Formenvielfalt war klar, dass Krieger mehrerer Stämme absichtlich jeweils einen Pfeil im Körper des Toten zurückgelassen haben."26
Weder das Skalpieren noch das Leichenverstümmeln waren rein indianische Angewohnheiten, auch Weiße zogen ihren toten eingeborenen Feinden die Kopfhaut oder Teile davon ab.27 Und das war lediglich die verbreitetste Scheußlichkeit, die beide Seiten einander antaten. Der US-Offizier James Connor, der 1864 beim Sand-Creek-Massaker zugegen war, als weiße Milizionäre ein Dorf der Cheyenne und Arapaho überfielen, beschrieb:
"Als ich am nächsten Tag über das Schlachtfeld ging, sah ich keine Leiche eines Mannes, einer Frau oder eines Kindes, die nicht skalpiert war, und in vielen Fällen waren die Leichen auf grässlichste Weise verstümmelt. […] Außerdem hörte ich von zahlreichen Fällen, in denen Männer Frauen die Geschlechtsteile herausschnitten und sie über ihre Sattelknäufe spannten oder sie an ihren Hüten trugen, als sie weiterritten."28
Selbstverständlich bestand das Leben eines Prärieindianers nicht ausschließlich aus Kämpfen und Verstümmeln. Es gab noch weitere Tugenden außer den militärischen, mit denen ein Kiowa, Arapaho oder Lakota sein Ansehen bei seinen Leuten steigern konnte, Umsicht zum Beispiel, Verantwortungsbewusstsein oder Großzügigkeit – im Prinzip die selben Tugenden, die fast auf der ganzen Welt gelten.29 Es wurde erwartet, dass reichere Stammesmitglieder Pferde an ärmere verschenkten oder verliehen. Wer sich freigiebig zeigte, gewann dadurch nicht nur Sozialprestige, sondern auch Autorität.30