Zerrissene Leben - Konrad Jarausch - E-Book

Zerrissene Leben E-Book

Konrad Jarausch

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Beschreibung

Konrad Jarausch schreibt eine neue deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts: im Spiegel der Lebensgeschichten von über 80 Zeitzeugen. Geboren während der Weimarer Republik, hat diese Generation den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg erlebt, aber auch die Nachkriegszeit – in BRD oder DDR – und die Wiedervereinigung. Es sind sehr verschiedene Lebensläufe, gebrochene Biografien: von glühenden Nazis bis zu jüdischen Holocaust-Opfern, von politischen Wendehälsen bis zu unpolitischen Zeitgenossen. Darunter sind bekannte Namen wie Joachim Fest, Fritz Stern, Dorothee Sölle oder Ruth Klüger ebenso wie gänzlich unbekannte. Wie haben diese »ganz normalen Deutschen« das 20. Jahrhundert erlebt, erlitten und verarbeitet? Jarausch erzählt die Geschichte einer Generation. Und er tut dies auf eine besondere Art und Weise, indem er aus ihren Geschichten in vielen Mosaiksteinchen eine kollektive Biografie des 20. Jahrhunderts entstehen lässt. Wie oft kann man neu anfangen? Konrad Jarausch schreibt eine neue deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts: im Spiegel der Lebensgeschichten von über 80 Zeitzeugen. Geboren während der Weimarer Republik, hat diese Generation den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg erlebt, aber auch die Nachkriegszeit - in BRD oder DDR

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Seitenzahl: 833

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Konrad H. Jarausch

ZERRISSENE LEBEN

Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Bertram

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Imrpessum

Die englische Originalausgabe ist 2018 bei Princeton University Press, 41William Street, Princeton, NJ 08540, USA, unter dem Titel Broken Lives.How Ordinary Germans Experienced the Twentieth Century erschienen.© 2018 by Princeton University Press

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen unddie Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.© der deutschen Ausgabe 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitgliederder wbg ermöglicht.Gestaltung und Satz: Anja Harms, OberurselEinbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.Einbandmotiv: Hitlerjunge und BDM-Mädel auf ihren Fahrrädern imBraunschweig der 1930er-Jahre. © akg/mauritius images/Karl Heinrich Lämmel

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-3787-0

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3868-6eBook (epub): ISBN 978-3-8062-3869-3

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

 

 

Deutsche Geschichten

TEIL I: KINDHEIT VOR DEM KRIEG

1. Kaiserliche Vorfahren

2. Weimarer Kinder

3. Nationalsozialistische Jugendliche

TEIL II: JUGEND IN KRIEGSZEITEN

4. Die Gewalt der Männer

5. Die Mühen der Frauen

6. Das Leid der Opfer

TEIL III: ERWACHSEN IN DER NACHKRIEGSZEIT

7. Die Niederlage als Neubeginn

8. Demokratische Reife

9. Kommunistische Enttäuschung

 

Erinnerungen an zerrissene Leben

 

Anhang

Autobiografische Quellen

Die Protagonisten

Dank

Anmerkungen

Bildnachweis

Verzeichnis der Quellen

Register

Deutsche Geschichten

 

 

Gespräche mit älteren Deutschen über ihre Vergangenheit fördern erstaunliche Geschichten zutage, die oft unfassbarer anmuten als jede fiktive Erzählung. So kauerte in der Nacht des 6. März 1945 Toni Schöffel mit ihren drei kleinen Kindern während eines britischen Luftangriffs auf den mittelalterlichen Stadtkern von Würzburg in einem Schutzraum. „Panik brach aus“, als der Luftschacht getroffen wurde und „der Qualm sich im Raum sammelte“. Als die vier sich durch den blockierten Eingang gegraben hatten, standen sie vor einem Flammeninferno, das die Frontseite ihres Wohnhauses zum Einsturz brachte. „Der Feuersturm war so stark, dass Toni die Kinder festhalten musste, damit sie nicht erfasst wurden.“ Mit dem kleinsten Mädchen, das in einem Handkarren saß, mussten die Überlebenden 25 Kilometer laufen, bevor ein freundlicher Bauer sie endlich aufnahm. Aber es gab keine Nachricht von ihrem Vater Paul Schöffel, der an der Front diente. „War er gefallen, gestorben?“1 Hinter der Fassade des Aufschwungs nach dem Krieg gibt es in fast jeder Familie solche Geschichten von zerrütteten oder verlorenen Leben. Sie sind ein Beleg für die verheerenden Auswirkungen von Diktatur und Krieg.

Wer solche Lebensgeschichten hört bzw. liest, sieht das 20. Jahrhundert plötzlich mit anderen Augen, weil dadurch einfache Menschen wieder Teil der allseits bekannten Schilderung historischer Ereignisse werden. Statt sich auf den Gang der großen Politik zu konzentrieren, erhellt diese umgekehrte Sichtweise die menschliche Dimension und offenbart eine außergewöhnliche Mischung aus andauerndem Leid und überraschendem Glück. So schreibt Bettina Fehr: „Durch die Erzählung eines persönlichen Schicksals konnte man erst richtig begreifen, was tausendfach als Unglück über die Menschen hereingebrochen war.“ Einerseits rangen viele Menschen mit Mächten, die sich ihrer Kontrolle entzogen, und machten sich zu Komplizen der nationalsozialistischen oder der kommunistischen Diktatur. Andererseits gelang es den Überlebenden dieser Katastrophen, ihr Leben trotz der Konfrontation des Kalten Krieges zwischen dem liberalen Westen und dem sozialistischen Osten wieder aufzubauen. Der Blick auf die Lebenswege durchschnittlicher Bürger löst die Großgeschichte von Unglück und Wiederaufbau auf in individuelle Erzählungen, die von Überleben und Neuanfang berichten. Diese Erzählungen vermitteln eine konkrete Vorstellung von den Auswirkungen politischer Konflikte, die friedliche Existenzen vernichteten, aber auch neue Möglichkeiten eröffneten.2

In den persönlichen Lebensberichten erscheinen die NS-Diktatur, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust als die zentralen Kräfte, die die Lebenswege von Millionen Menschen unwiderruflich veränderten. Gegen das Leid und Elend des Ersten Weltkriegs und der Hyperinflation setzte die Weimarer Republik ein Zeichen der Hoffnung, dass der Fortschritt weitergehen würde. Doch dann führten die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu jener massenhaften Enttäuschung, die der neuen nationalsozialistischen Bewegung den Weg an die Macht ebnete. Mit dem Zerrbild einer echten Volksgemeinschaft gelang es den Nationalsozialisten, den deutschen Stolz wiederzubeleben. Obwohl viele Autobiografien Hitlers anfängliche Popularität bestätigen, zeigen sie auch, wie der verbrecherische Vernichtungskrieg sich am Ende gegen die Deutschen kehrte, als sie zu Zigtausenden den Tod an den Fronten des Krieges, im Bombenkrieg und im Zuge ethnischer Säuberungen fanden. Das Drama der letzten Kriegsjahre, das die einstigen Täter zu Opfern machte, hat sich tief in das Gedächtnis der Menschen eingegraben, weil es viele Menschenleben kostete und auch bei denjenigen Narben hinterließ, die das Glück hatten zu überleben.3

Die Lebensgeschichten legen zugleich den Schluss nahe, dass die friedlichere zweite Jahrhunderthälfte eine gewisse Linderung bot, indem sie vielen Menschen ermöglichte, ein neues Leben zu beginnen und privates Glück wiederzufinden. Viele Nachkriegsentscheidungen waren bewusst oder unbewusst von dem unbedingten Willen getrieben, eine Wiederholung des Grauens zu vermeiden. Der individuelle wie kollektive Versuch, während des Kalten Krieges eine gewisse Normalität wiederherzustellen, verlangte gewaltige Anstrengungen. Das Streben nach materiellem Wohlstand im Westen und nach sozialer Gleichheit im Osten beanspruchte über Jahrzehnte alle Aufmerksamkeit. Viele Menschen schafften es, dabei ihre Albträume zu vergessen. Sie sonnten sich im beruflichen Erfolg und ernteten mit dem Kauf von Autos, dem Bau eines Eigenheims und Reisen ins Ausland die Früchte des Wohlstands. Doch mit dem Ruhestand kamen bei manchen die schrecklichen Erinnerungen an Niederlage, Flucht, Vertreibung und Nachkriegshunger wieder hoch und veranlassten sie, Rechenschaft über ihr Leben abzulegen. Und genau dieser schmerzhafte Prozess der Selbsthinterfragung verwandelte viele Deutsche am Ende in friedliebende Demokraten.4

LESARTEN

Um so grundverschiedene Schilderungen zu verstehen, bedarf es einer kollektiven Biografie, die mehr umfasst als eine einzige Person, aber weniger als eine ganze Gesellschaft.5 Eine Möglichkeit der Begrenzung besteht darin, sich auf eine bestimmte Altersgruppe zu konzentrieren, wie etwa die während der 1920er-Jahre Geborenen, deren Leben in besonders starkem Maß von den historischen Ereignissen geprägt wurde.6 Während ihre Eltern den Ersten Weltkrieg durchgestanden hatten und ihre Kindheit in der Weimarer Republik stattfand, traf die NS-Diktatur sie mit voller Wucht: Ihre Jugend fiel in die ersten Jahre des „Dritten Reichs“, wodurch sie gezwungen waren, zur Herrschaft Hitlers Stellung zu beziehen. Im Zweiten Weltkrieg wurde ihr Erwachsenwerden sowohl durch die Gefährdungen von Militär- oder zivilem Dienst als auch durch Verfolgung und Massenmord bedroht. Wer die Zerstörungen des Krieges und die Niederlage überlebte, konnte sein Leben im besten Fall von Neuem beginnen. Das Erwachsenenalter erreichte diese Alterskohorte entweder in der Bundesrepublik Deutschland oder in der Deutschen Demokratischen Republik, nur um am Ende vom Sturz des Kommunismus überrascht zu werden. Statt eine nicht existierende generationelle Einheitlichkeit für sich in Anspruch zu nehmen, ist es die Vielfalt der Verflechtungen zwischen privaten Angelegenheiten und öffentlichen Ereignissen, die diese Kohorte von anderen unterscheidet.

Zur Altersgruppe der zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und der NS-Machtergreifung 1933 Geborenen gehören zahlreiche bekannte Persönlichkeiten, die dem 20. Jahrhundert ihren Stempel aufgedrückt haben. In der Politik etwa Bundeskanzler Helmut Schmidt (geboren 1918), sein Nachfolger Helmut Kohl (1930), Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920), Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1927), DDR-Spionagechef Markus Wolf (1923), DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (1928) und US-Außenminister Henry Kissinger (1923). Schriftsteller wie Heinrich Böll (1917), Günter Grass und Martin Walser (beide 1927) zählen dazu ebenso wie Christa Wolf (1929). Unter den Soziologen sind Niklas Luhmann (1927) und Jürgen Habermas (1929) die wohl bedeutendsten Vertreter. Berühmt sind auch der Fußballer Fritz Walter (1920), der Künstler Joseph Beuys (1921), die Filmschauspielerin Hildegard Knef (1925) und der Dirigent Kurt Masur (1927).7 Da diese Prominenten bereits hinreichend bekannt sind, stehen hier eher die Erlebnisse und Erfahrungen gewöhnlicher Deutscher im Mittelpunkt.

Die rund achtzig ausgewählten Lebensberichte (Kurzvitae der AutorInnen siehe S. 414ff.) decken ein breites Spektrum von Reaktionen auf den Nationalsozialismus ab, das von begeisterter Unterstützung bis zu mutigem Widerstand reicht. Am schwierigsten zu finden waren autobiografische Aufzeichnungen fanatischer Nazis, die Hitler unterstützt hatten. Sie wollten nicht über ihre Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen schreiben. Deutlich mitteilsamer ist das gute Dutzend nationalistischer Kollaborateure, die bis 1942 ihre eigenen militärischen Erfolge feierten. Die Mehrzahl der Erinnerungen stammt aber von unpolitischen Leuten, die stolz darauf waren, das „Dritte Reich“ irgendwie überlebt zu haben. Weniger zahlreich sind die Kritiker der NS-Herrschaft. Sie erzählen ausführlich von kleinen Akten der Verweigerung als Beweis dafür, dass sie sich anständig verhalten hatten. Diese Gruppe macht etwa ein Zehntel aus. Nur ein paar autobiografische Berichte stammen von der Minderheit derer, die sich dem „Dritten Reich“ aktiv widersetzten. Da die Stimmen von Juden und anderen NS-Opfern durch den Massenmord größtenteils zum Schweigen gebracht wurden, konnte nur ein Dutzend Berichte von Überlebenden der Konzentrationslager oder Menschen, die sich durch rechtzeitige Emigration retten konnten, in das vorliegende Buch aufgenommen werden. Insofern spiegeln die schriftlichen Zeugnisse eine etwas verkürzte Reihe von Reaktionen wider, die nichtsdestotrotz typisch sind für die Erfahrungen der Mehrheit.8

Die zweite Hälfte des Jahrhunderts verlangte eine Auswahl von anderen Texten, denn die Niederlage des „Dritten Reichs“ zwang die Menschen zur Neuorientierung. Alte Bindungen und Loyalitäten waren auf den Kopf gestellt. Auch machte es einen Unterschied, auf welcher Seite man im Kalten Krieg stand. Entweder man engagierte sich im kapitalistischen Wiederaufbau der Bundesrepublik oder im sozialistischen Experiment der DDR. Die autobiografischen Berichte aus dem Westen belegen in ihrer Mehrzahl, dass der wirtschaftliche Erfolg die Menschen motivierte, die Demokratie zumindest nominell zu akzeptieren, während nur eine kritische Minderheit auf weitere Reformen drängte. Dagegen zeigen die zwei Dutzend ostdeutschen Autobiografien, dass der Antifaschismus der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) anfangs zwar viel Zuspruch fand, die Durchsetzung einer neuen marxistischen Diktatur jedoch eine weitere Gruppe von Opfern schuf und Kritiker zur Flucht zwang. Im Endeffekt stürzten die Ostdeutschen die kommunistische Herrschaft und schlossen sich dem westlichen System mit der Wiedervereinigung an.9 Die gegensätzlichen Geschichten von materiellem Wohlstand und ideologischer Enttäuschung ergänzen die Schilderungen nach dem Krieg um einen anderen Entwicklungsverlauf.

Jenseits der vielfach von einer gesellschaftlichen Elite verfassten Autobiografien will dieses Buch den „ganz normale[n]“ Leuten wieder eine Stimme geben und breite Segmente der deutschen Bevölkerung repräsentieren.10 Es schließt daher Autobiografien von Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten ein: Etwa die Hälfte stammt aus der oberen Mittelschicht, ein Drittel aus dem Kleinbürgertum und ein Zehntel aus der Arbeiterschaft. Weiter wurden Texte aus unterschiedlichen Regionen ausgewählt, um auch die geografische Bandbreite der deutschen Gesellschaft abzubilden: Zwei Dutzend Personen kamen aus dem Westen, achtzehn aus dem Osten und ein Dutzend aus Berlin. Auch unterschiedliche religiöse Sichtweisen sind eingeflossen, da konfessionelle Bindungen eine wichtige Kraft in Mitteleuropa blieben: Die Mehrzahl der Autoren waren Protestanten, eine nicht unerhebliche Minderheit war katholisch und der Rest jüdisch. Nach Möglichkeit wurden Berichte ausgewählt, die eine gesamte Lebensspanne abdecken, um Schilderungen früherer Ereignisse mit der späteren Reflexion über ihre Bedeutung vergleichen zu können. Insgesamt repräsentiert diese gesamtgesellschaftliche Stichprobe im Vergleich zu anderen Studien ein breiteres Spektrum persönlicher und kollektiver Erfahrungen.11

Weil das Leben der meisten Menschen während des 20. Jahrhunderts in geschlechtsspezifisch definierten Bahnen verlief, sind die unterschiedlichen, wenn auch ähnlichen Erfahrungen von Männern und Frauen ebenfalls berücksichtigt. Die Männer, die zwei Drittel der hier ausgewerteten autobiografischen Berichte verfasst haben, neigen dazu, im Ton von Abenteuergeschichten über ihre Berufslaufbahn und ihren Militärdienst an der Front oder über ihre Zeit in der Kriegsgefangenschaft zu schreiben. Sie weichen politischen Fragen keineswegs aus, wenn sie schildern, wie sie mit dem NS-Regime zusammenarbeiteten oder im Gegenteil versuchten, sich seinem Einfluss zu entziehen. Die Frauen wie Ursula Baehrenburg (Abb. 1) hingegen berichten mehr über Familie, Verwandte und Freunde, wobei sie ein dichtes Netz zwischenmenschlicher ,Beziehungen beschreiben. Insbesondere in schweren Zeiten kreisen ihre Geschichten um die Beschaffung von Lebensmitteln, Kleidung und Obdach – also um das grundsätzliche Überleben des eigenen Familienverbunds. Natürlich sind die beiden Erzählstränge in einigen Bereichen, wie etwa der Brautwerbung, Eheschließung und Kinder oder von Abwesenheit und Tod eng miteinander verflochten. Aber oft hat es den Anschein, als lebten Männer und Frauen in verschiedenen Welten, getrennt nicht nur durch Alter oder Beruf, sondern auch durch ihr Geschlecht.12

1 Selbstporträt einer Autorin.

Das Aufspüren der Lebensgeschichten wurde zu einer Entdeckungsreise, die weit über die herkömmliche Quellenrecherche hinausging. Am Anfang stand das Anliegen, Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren, die Freunde wie der Komponist Gerhard Krapf, der jüdische Emigrant Tom Angress und der ostdeutsche Historiker Fritz Klein erzählt hatten. Eine Nachfrage der Friseurin Brigitte Stark, ob die Erinnerungen ihrer Mutter für einen Historiker von Interesse wären, trieb die Bemühungen weiter voran; der Text und die Bilder der Mutter erwiesen sich als Fundgrube für Erfahrungen, wie sie breite Schichten der Bevölkerung gemacht hatten. Von dort stieß die Suche weiter vor in ein Reich vergleichbarer grauer Literatur von Autoren wie beispielsweise dem Flusskapitän Hermann Debus, die im Selbstverlag erschienen waren. Das Bemühen, von einzelnen Autoren wie dem Ingenieur Karl Härtel Abdruckgenehmigungen für Zitate und Bilder zu bekommen, fand ein überraschend positives Echo, das zu Telefonaten, E-Mails und bewegenden Interviews mit zwei Protagonisten führte – dem Geschäftsmann Hellmut Raschdorff und dem Pastor Erich Helmer, beide schon Mitte neunzig. Alle diese Befragten waren hocherfreut, einen professionellen Historiker gefunden zu haben, der ihre Geschichten ernst nahm.

Viele handschriftliche Autobiografien befinden sich nach wie vor in Privatbesitz, andere sind öffentlich verfügbar in Magazinen und Archiven. Nachkommen wie Katharina Hochmuth und Ulrich Grothus machten, als sie von meinem Projekt erfuhren, die unveröffentlichten Erinnerungen ihrer Eltern oder Großeltern zugänglich. Das Leo Baeck Institute in New York bemüht sich seit 1955 systematisch, durch die Archivierung von schätzungsweise zweitausend persönlichen Lebensberichten die Kultur der deutschsprachigen Juden zu bewahren.13 In den späten 1970er-Jahren fing der Schriftsteller Walter Kempowski an, solche Berichte als Material für seine Sozialromane zu sammeln, und stellte sogenannte „rote Bände“ zusammen, die auf 3,5 Millionen Blatt unter anderem achttausend deutsche Lebensläufe enthalten und heute im Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin lagern.14 Gegen Ende der 1990er-Jahre startete Frauke von Troschke ein paralleles Projekt zum Aufbau eines Deutschen Tagebucharchivs in der badischen Kleinstadt Emmendingen. Untergebracht im Alten Rathaus, enthält das Archiv heute mehr als 15.000 Dokumente, etwa zwei Drittel davon Autobiografien.15 Zusammen mit anderen, oft in Kleinverlagen veröffentlichten Berichten bilden diese Texte ein regelrechtes Archiv populärer Erinnerungen, das bislang von akademischen Forschern größtenteils ignoriert worden ist.16

ERFAHRUNGEN UND ERINNERUNGEN

Die vorliegenden Schilderungen deuten darauf hin, dass die überwältigende Mehrzahl der Deutschen im 20. Jahrhundert ihr Leben als zerrissen und oftmals unwiederbringlich zerrüttet erlebt hat. Während das erste Jahrzehnt noch Hoffnung auf kontinuierlichen Fortschritt weckte, löste der Erste Weltkrieg eine verhängnisvolle Ereigniskette aus, die viele Lebenspläne zerstörte. Die politischen Konflikte Weimars entzweiten Familien, indem sie sie zwangen, sich für eine ideologische Seite zu entscheiden. Die wirtschaftliche Instabilität schuf ein verbreitetes Gefühl der Unsicherheit, die allzu viele Menschen an die Verheißungen einer rassistischen Diktatur glauben ließ. Der Massenmord und das massenhafte Sterben während der Weltkriege bereiteten Millionen Leben ein vorzeitiges Ende, zurück blieben Kummer und Verzweiflung. Flucht und Vertreibung aus dem Osten entwurzelten zahllose Menschen. Sie wurden ihrer Heimat beraubt und waren gezwungen, anderswo noch einmal von vorn anzufangen. Viele der Reaktionen während der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sind nur zu verstehen, wenn man sie als verzweifelte Versuche ansieht, eine Wiederholung solcher Katastrophen zu vermeiden.17 Dass in der Nachkriegszeit so viel Wert auf Erfolg gelegt wurde, hat daher etwas Beschwörendes, als gelte es, sich die Gefahren vom Leib zu halten.

Eigentlich sind diese Geschichten nichts anderes als erzählerische Versuche, gebrochene Biografien zu heilen. Dabei schwanken sie zwischen der Inanspruchnahme einer Opferrolle zwecks persönlicher Entlastung und dem selbstkritischen Eingeständnis der Verantwortung für Verbrechen. Nur selten halten sich die Autobiografien mit den eigenen Untaten ihrer Verfasser auf, stattdessen sind sie voller schockierender Geschichten über deutsches Leid, das von wissenschaftlichen Geschichtswerken lange ignoriert worden ist. Die Berichte über die Schrecken der Front, das Kauern in Luftschutzräumen, über Massenvergewaltigungen, Flucht und Vertreibung sind zwar ziemlich glaubwürdig, aber sie versäumen es oft zu erwähnen, dass die Ursachen all dieser Geschehnisse in der vorangegangenen deutschen Aggression liegen. Verstockte Nationalisten präsentieren noch immer relativierende Erklärungen und behaupten: „Es ist nicht unsere Schuld“ oder „Wir sind alle von den Nazis betrogen worden“ und reden sich damit heraus, dass „uns unser Führer missbraucht hat“. Autoren, die stärker auf sich selbst schauen, versuchen, ihr eigenes Gewissen zu erforschen und räumen eine zumindest teilweise Verstrickung in Krieg und Unterdrückung ein. Einige selbstkritische Geister stellen sich sogar ihrer Schuld und bekunden den nachträglichen Wunsch, Buße zu tun.18 Es ist dieses Bemühen, sich mit der eigenen Mitschuld auseinanderzusetzen und Reue zu zeigen, das die deutsche Erinnerungskultur zu einem exemplarischen Fall von versuchter Rehabilitation schlechthin macht.19

Erfahrungen und Erinnerungen vermischen sich in diesen Autobiografien auf eine Weise, die es schwer macht, sie auseinanderzuhalten. Ihr Inhalt erzählt vor dem Hintergrund laufender Ereignisse persönliche Begebenheiten, die vom eintönigen Alltagsleben bis zu ungemein aufregenden Momenten reichen. Aber weil diese Erfahrungen Jahrzehnte später wieder ins Gedächtnis gerufen wurden, kann man an ihrer Richtigkeit zweifeln, solange sie nicht durch einen Abgleich mit anderen Berichten, Dokumenten und wissenschaftlichen Analysen nachgeprüft wurden. Aus dem Gedächtnis niedergeschrieben und selten durch echte Dokumente untermauert, ist der Charakter dieser Lebenserinnerungen selektiv, tendenziös und rechtfertigend, weshalb sie ein unvollständiges Bild bieten. Aber zugleich sind sie eine fesselnde Quelle, die zeigt, wie Menschen sich an frühere Erfahrungen erinnern und sich dabei häufig an kollektive Drehbücher halten, die durch wiederholtes Weitererzählen, kulturelle Reflexion und politische Diskussion entstanden sind. Da solche persönlichen Geschichten Erinnerungen an Erfahrungen zum Ausdruck bringen, muss ihre erzählerische Form dekonstruiert werden, um an ihre unterschiedlichen Bedeutungsebenen heranzukommen. Es ist der von Deutschen zugefügte und erlittene entsetzliche Schmerz, der ihr Ringen um Erinnern und Vergessen so besonders macht.20

Mit ihrer ungeschulten Darstellung spiegeln die Rückbesinnungen das menschliche Drama des 20. Jahrhunderts unmittelbarer wider als viele gelehrte Analysen. Statt lediglich bedeutsame Ereignisse zu erzählen, präsentieren sie eine Unzahl persönlicher Erfahrungen, die in Wechselwirkung mit umfassenderen Veränderungen standen. Deutschlands Entwicklung wurde stärker als die anderer Länder von überraschenden Brüchen, territorialen Veränderungen und politischen Systemwechseln durcheinandergebracht, dass sie allein schon die Idee eines Nationalstaates destabilisierten. Über diese Umwälzungen hinweg hatten einfache Leute ihre liebe Not, weiter ein normales Leben zu führen, während sie versuchten, ungeachtet der großen Politik auf vorhersehbaren Pfaden von der Kindheit zum Erwachsenenalter voranzuschreiten. Aber unablässig erschütterten überpersönliche Mächte friedliche Existenzen, indem sie mit Tod und Zerstörung drohten.21

„Wild und turbulent, alles vernichtend, wie die Woge des Meeres, ist die Zeit seitdem über uns hinweggegangen“, sinniert die geflüchtete Jakobine Witolla. Konfrontiert mit solchen Gefahren, suchten die Menschen irgendwie zu überleben, indem sie mit Diktaturen zusammenarbeiteten, deren Anordnungen ignorierten oder sich ihnen gar widersetzten. Ihre Geschichten bieten einzigartige Einblicke und sollten endlich den ihnen gebührenden Platz erhalten.22

Teil I

KINDHEIT VOR DEM KRIEG

1

Kaiserliche Vorfahren

Die Traditionen der Vorfahren haben, selbst wenn man sich ihrer nur mehr schwach erinnert, großen Einfluss auf das Leben von Familien. Mögen Jugendliche sich familiären und verwandtschaftlichen Zwängen auch zu entziehen suchen, sind sie doch durch tief verwurzelte Strukturen geprägt, etwa im Blick auf Zugehörigkeiten wie nationale und regionale Bindungen, soziales Milieu und Religion. Direkter geben Großeltern berufliche Vorlieben, Verhaltensmaßregeln und materielles Erbe weiter. Am unmittelbarsten prägen die Eltern durch ihr Vorbild und ihre Persönlichkeit, durch berufliche Erfolge wie Fehlschläge die Chancen und Werturteile ihrer Kinder. Es ist dieser unsichtbare Ballast, den Pastor Erich Helmer anspricht: „Tragen wir nicht alle einen großen oder weniger großen Tornister, in dem wir das eingepackt haben, was uns das Leben beschert hat?“ Dieser Tornister entscheidet über spätere Lebenswege, auch wenn das den meisten Menschen kaum bewusst ist.1

Lebensrahmen und Chancen der nach dem Ersten Weltkrieg geborenen deutschen Kinder gründen in der „Kaiserzeit“, in der Rückschau gern als „die gute alte Zeit“2 bezeichnet. Die Berliner Verkäuferin Edith Schöffski erinnert sich, dass auf dem Land „die Menschen … zufrieden und oft auch glücklicher als heute“ waren. Das Leben schien wohlgeordnet und vorhersehbar. „Sonntags wurde – wenn nicht dringend auf dem Feld zu tun war – nur das Nötigste getan. Nachmittags saßen die Frauen mit Nachbarn oder Vorbeikommenden auf der Bank vor dem Haus, erzählten oder hingen ihren Gedanken nach. Das war der Lohn für die arbeitsreiche Woche.“3 In den reicheren Städten kam bei bürgerlichen Familien sonntags der sprichwörtliche Sonntagsbraten auf den Tisch, danach promenierte man im besten Staat durch einen nahe gelegenen Park, und nachmittags gab es Kaffee und Kuchen. Es war eine festgefügte, sichere Welt, in der alles seinen Platz zu haben schien.

Obwohl die Lebensbedingungen sich im Großen und Ganzen verbesserten, zeigen die Autobiografien, dass die Unterschichten die Vorkriegsjahrzehnte im Kaiserreich dagegen als eine „Zeit, die voll Armut und Not war“, erlebten. Während viele Geschäftsleute sich über steigende Einkünfte freuen konnten und Akademiker die gesellschaftliche Wertschätzung ihres beruflichen Titels genossen, kamen kleine Ladenbesitzer und Handwerker nur so gerade über die Runden.4 Für Dienstmägde und Knechte auf dem Land blieb es ein hartes Leben, wie Edith Schöffski beschreibt: „Das karge Essen reichte gerade zum Leben und Arbeiten. Zwölf bis vierzehn Stunden mußte man am Tag arbeiten. Freizeit gab es nicht.“5 In den Städten lebten proletarische Familien in feuchten Mietwohnungen, die die Gesundheit gefährdeten. Ihre Kinder wurden in der Schule geschlagen, um Zucht und Ordnung durchzusetzen. Der Ingenieur Karl Härtel erinnert sich, dass sein Vater, ein Arbeiter in einem Elektrizitätswerk, „an mehr als 50 Stunden in der Woche mit einer überdimensionierten Schaufel unablässig Kohlen in den unersättlichen Schlund eines Heizkessels“ warf.6 Die glänzende Fassade wachsender imperialer Macht und Prosperität hatte eine Schattenseite, die von harter Arbeit und elementarer Rechtlosigkeit geprägt war.

Historiker haben endlos darüber gestritten, ob das Kaiserreich im Kern reaktionär oder fortschrittlich war. Westdeutsche Apologeten hoben anfangs auf die positiven Aspekte ab, während ostdeutsche Marxisten Preußen als Unterdrücker-Staat brandmarkten – was u.a. den Abriss der königlichen Schlösser in Potsdam und Berlin rechtfertigte. Angeregt durch den Protest der 68er, entwickelten kritische bundesrepublikanische Historiker wie Hans-Ulrich Wehler die Theorie vom deutschen „Sonderweg“: Die verspätete Modernisierung des wilhelminischen Deutschland sei abgewichen von westlichen Demokratievorstellungen, das Deutsche Kaiserreich habe eine Politik des „Sozialimperialismus“ verfolgt. Andere verwiesen wie Thomas Nipperdey dagegen auf Fortschritte in punkto Rechtsstaatlichkeit sowie in Wissenschaft und Kultur, während britische Historiker betonten, dass die Mittelschicht mehr Macht gehabt habe, als gemeinhin angenommen.7 Die ganze Debatte über einen deutschen „Sonderweg“ ist jedoch ziemlich ergebnislos geblieben, weil es letztendlich Belege für beide Sichtweisen gibt.

Die lebhaften Erinnerungen der in den 1920er-Jahren geborenen Kinder eröffnen eine alternative Sicht auf das wilhelminische Deutschland, weil sie die Vorstellungen von einfachen Leuten an diese Epoche wiedergeben. Geprägt von den Erzählungen ihrer Großeltern, schuf das Bild des Kaiserreichs Ausgangserwartungen, auf deren Folie spätere Erfahrungen beurteilt wurden. Der Förster Horst Andrée erinnert sich, dass „bei Familienzusammenkünften … immer von unseren Vorfahren gesprochen [wurde]: Wer sie waren, wo sie herkamen, wo sie lebten und welche Berufe sie hatten.“ Aber auch wenn „aus Urkunden, alten Briefen und Fotografien“ sowie aus Gegenständen der materiellen Kultur eine Familienerinnerung konstruiert werden konnte, die erklärte, wer man war, blieben „doch noch viele Fragen offen“. Im Gegensatz zu Geschichten, die mündlich weitergegeben werden, sind Autobiografien ein bewusster Versuch, Traditionen schriftlich festzuhalten, damit sie dem eigenen Nachwuchs „bessere Einblicke als unserer Generation bieten“.8

DIE TRADITIONEN DER VORFAHREN

Welchen Einfluss frühere Generationen auf die Lebenswege der Nachgeborenen haben, ist schwer dingfest zu machen. Obwohl es damals wesentlich zur geselligen Unterhaltung gehörte, Familiengeschichten zu erzählen, sind die Verweise auf Vorfahren meist vage und spärlich.9 Viele Autobiografien sind voller alter Fotografien, sorgfältig komponierten Porträts wie dem des Großvaters und Vaters von Ruth Weigelt – selbstgefällig dreinblickende Männer in Uniform (Abb. 2). Andere Schnappschüsse halten wichtige Ereignisse im Leben fest, beispielsweise Hochzeiten, Geburtstage oder Konfirmationen. Allerdings sind sich die Nachfahren oft nicht sicher, wer die Leute auf den Fotografien überhaupt sind, wenn Namen und Anlässe nicht auf der Rückseite vermerkt wurden. Einige Verfasser betrieben sogar Ahnenforschung, um ausführliche Familienstammbäume zu erstellen, die oftmals nicht mehr enthalten als einen Namen, ein Datum und einen Ort.10

Die harmlose Ahnenfrage wurde erst zu einem gefährlichen Problem, als die Nationalsozialisten für Eheschließung und öffentlichen Dienst den Nachweis arischer Abstammung verlangten. Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933 galt „als nicht arisch … wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt“. Da es unmöglich war, die „Rasse“ mit biologischen Messungen nachzuweisen, führte diese antisemitische Klausel zu hektischen Suchaktionen nach urkundlichen Belegen in Personenstandsregistern und Kirchenbüchern. Das Verschwimmen konfessioneller Grenzen aufgrund von Konversion, Mischehe und Säkularisierung hatte viele Menschen gemischter Abstammung hervorgebracht. Weil die Entdeckung einer jüdischen Großmutter sie in Lebensgefahr bringen konnte, griffen viele betroffene Familien, wie etwa die Helmers, zu Notlösungen, beispielsweise verwandtschaftlichen Banden mit einem prominenten Nazi, um solche mutmaßlichen „Makel“ aus ihrer Vorgeschichte zu tilgen. In der rassistischen Welt des „Dritten Reichs“ wurde der Nachweis arischer Abstammung zur Überlebensfrage.11

2 Kaiserlicher Großvater und Vater.

Ohne solche Veranlassung bedurfte es schon des ungewöhnlichen Stolzes auf eine besondere Abstammung, damit Familien sich früherer Generationen von Vorfahren erinnerten. In proletarischen Lebenserinnerungen finden sich selten die Namen der Großeltern, weil der tägliche Existenzkampf den Menschen kaum Zeit ließ, entsprechende Aufzeichnungen zu machen. Bürgerliche Familien mit einer ungewöhnlichen Vergangenheit, beispielsweise der Abstammung von hugenottischen Flüchtlingen wie im Fall des Försters Andrée aus Pommern, neigten eher dazu, eine solche Erinnerung zu bewahren.12 Angehörige religiöser Minderheiten, die um gesellschaftliche Anerkennung kämpften, wie etwa die Kaufmannsfamilie Gompertz aus dem Ruhrgebiet, pflegten einen gewissen Ahnenstolz, vor allem wenn ihr gegenwärtiger Erfolg sich positiv von ihren bescheidenen Anfängen abhob.13 Und Autoren wie Benno Schöffski, der vertrieben wurde, wollten dem Nachwuchs das nostalgische Bild einer verlorenen Heimat vermitteln.14 Vertreter der Oberschicht schließlich, wie etwa die Scholz-Eule-Sippe, ehemalige Besitzer eines Guts in Schlesien, hielten die Erinnerung wach, um eventuelle Rückgabe- oder Entschädigungsansprüche begründen zu können.15

Eine wesentliche Tradition, die diese unterschiedlichen Ahnen weitergaben, war ihre kulturelle Identität als Deutsche. Abgesehen von Joachim Fests quasi aristokratischen Großeltern, die sich auf Französisch unterhielten, und Gerhardt Thamms schlesischen Ahnen, die auch Polnisch sprachen, verbindet die Protagonisten dieses Buches eine gemeinsame Schriftsprache. Darüber hinaus erbte ihr Nachwuchs eine Reihe gesellschaftlicher Gepflogenheiten, wie etwa das gesellige Beisammensein in Biergärten am Sonntag oder die Zusammenkunft im weihnachtlichen Kerzenschein, die sie von ihren westlichen und östlichen Nachbarn unterschieden. Auch die später viel gescholtenen „Sekundär tugenden“: harte Arbeit, Disziplin, Pünktlichkeit und Autoritätsgläubigkeit, die die Marke „Made in Germany“ zum geschäftlichen Erfolgsmodell machten, gehörten dazu. Schließlich umfasste das Vermächtnis die Sozialisation in eine Hochkultur aus Dichterfürsten wie Goethe und Schiller, Philosophen wie Kant und Hegel und Komponisten wie Bach und Beethoven.16 Diese Bräuche und kulturellen Bezugsgrößen schufen ein Gemeinschaftsgefühl, auch wenn ihre konkrete Interpretation höchst umstritten blieb.

Ein anderes Vermächtnis war der Nationalliberalismus, der für eine konstitutionelle Regierung und die Vereinigung der zersplitterten deutschen Territorien zu einem Nationalstaat eintrat. Die meisten Urgroßeltern, die während der 1830er-Jahre geboren wurden, waren enttäuscht über das Scheitern der Revolution von 1848 und den schleppenden Prozess der Erlangung politischer Rechte, der manch einen bewog, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Der unerwartete Erfolg des Einigungsdrangs machte den preußischen König zum deutschen Kaiser Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von Bismarck zum gefeierten Volkshelden. Außerdem verschafften die Triumphe auf dem Schlachtfeld in den drei aufeinander folgenden Kriegen gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) dem Militär enorme Geltung. Der Aufbau eines Nationalstaats verlangte eine grundlegende Neuausrichtung der Loyalitäten von der engeren Heimat hin zu einem umfassenderen nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl. Bismarcks Kulturkampf gegen die Katholiken, seine Verfolgung der Sozialdemokraten durch das Sozialistengesetz und die Zunahme des Antisemitismus im Gefolge der Emanzipation des jüdischen Bevölkerungsteils in der Reichsverfassung von 1871 zeigen, dass der Versuch des protestantischen Preußen, Deutschland nach dem eigenen Bild umzugestalten, umstritten und unvollständig blieb.17

Eine weitere Hinterlassenschaft war die industrielle Umgestaltung der Lebenswelt im Ruhrgebiet, in Oberschlesien und im Saarland, die ein ländliches Idyll in ein boomendes Revier von Kohle und Stahl verwandelte. Während die industriellen Produktionsmethoden größtenteils aus Großbritannien und Belgien importiert wurden, setzte ihre Unterstützung durch technische Innovation und staatliche Förderung einen beschleunigten Fortschritt in Gang, der die bisherigen Führer am Vorabend des Ersten Weltkriegs einholte und überholte. Die Einführung von Kunstdünger und Maschinen in der Landwirtschaft setzte viele Landarbeiter frei, die in die Städte strömten und die verschlafenen Landstädtchen an der Ruhr und in Oberschlesien in betriebsame Großstädte verwandelten. Um die Wohnverhältnisse in der Reichshauptstadt Berlin zu verbessern, wirkte Joachim Fests Großvater mütterlicherseits bei der Entwicklung eines völlig neuen Vororts in Karlshorst mit. Obwohl die Fabrikarbeit strapaziös war und die Lebensbedingungen erbärmlich blieben, veränderte diese Urbanisierung schlussendlich die Lebensgewohnheiten und die Alphabetisierungsstandards, was auch Angehörigen des Proletariats die Einforderung politischer Teilhabe ermöglichte.18

Ein weiteres Erbe bestand in einer neuen sozialen Mobilität, die geschäftstüchtigen Einzelnen und ganzen Regionen Wohlstand bescherte. So war einer der Großväter von Hans Queiser Gürtelmacher in der Kleinstadt Idar-Oberstein am südlichen Rand des Hunsrücks zu beiden Seiten der Nahe. Der Sohn absolvierte eine Lehre bei einer örtlichen Bank, stieg auf bis zum Vorstandsmitglied, wohnte in einer Firmenwohnung und „hatte in seinem Beruf Erfolg“, sodass er heiraten und mehrere Dienstboten beschäftigen konnte. Der andere Großvater aus Cottbus in Brandenburg hatte als Kesselheizer angefangen und brachte es bis zum Direktor einer Kammgarnspinnerei. Benno Schöffskis Vater begann als einfacher Briefträger, der in Ostpreußen bei jedem Wetter die Post austragen musste, und beschloss seine Berufslaufbahn als höherer Angestellter im regionalen Postzentrum in Königsberg. Ein solcher individueller Aufstieg, wie er sich in zahllosen wilhelminischen Familien wiederholte, erzeugte ein kollektives Gefühl des Stolzes, das die Erwartung künftigen Fortschritts befeuerte.19

Das von den Altvorderen beschworene Kaiserreich hatte deshalb einen durchaus zwiespältigen Charakter. Auf der einen Seite zeichnete es das Sehnsuchtsbild einer malerischen Vergangenheit mittelalterlicher „Heimatstädtchen“ wie Rothenburg ob der Tauber, deren von dicken Mauern umgebene Burgen, gotische Kirchen, Fachwerkhäuser und Kopfsteinpflasterstraßen über die Jahrhunderte scheinbar unverändert geblieben waren.20 Auf der anderen Seite entstand allmählich ein Bewusstsein deutscher Identität jenseits regionaler Loyalitäten, ein befreiendes Gefühl, dass es für Geschäfte und Wissenschaft künftig größeren Spielraum geben würde, sodass die Nation in Wettstreit mit etablierten Staaten wie Frankreich und Großbritannien treten konnte. Gleichzeitig deutete die durch das Aufkommen von Eisenbahn und Ozeandampfer symbolisierte Dynamik des industriellen Wandels auf beschleunigte Veränderungen hin, die alte Hierarchien und Sicherheiten zerstören würden.21 Es war dieses Spannungsverhältnis zwischen lokaler Herkunft und nationaler Zugehörigkeit, aber auch zwischen ländlicher Nostalgie und industrieller Urbanität, die eine künftige Generation vor neue Herausforderungen stellen sollte.

DER EINFLUSS DER GROSSELTERN

Im Gegensatz zu den fernen Vorfahren waren die Großeltern eine lebende Erinnerung, deren teils strenge, teils liebevolle Autorität so manche Kindheit überschattete. Aufgrund des Altersunterschieds erheischten sie Respekt vor ihrer Lebenserfahrung und Lebensleistung, ob bei der Bewirtschaftung eines Bauernhofs oder dem Führen eines Geschäfts. Obwohl einige trotz nachlassender Kräfte weiter arbeiteten, waren die meisten Großeltern im Ruhestand und hatten jetzt Zeit für Hobbys. Manche bewirtschafteten einen Garten, andere hielten Bienen, wieder andere rauchten einfach ihre Pfeife. „Auch ein hübsches Knusperhäuschen mit Möbeln, Backofen und Toilettenhäuschen, alles eingezäunt, bastelte uns Opa“ zu Weihnachten, erinnert sich Edith Schöffski. „Tante Grimm hat zu den Puppenbetten Bettzeug und alles andere Nötige genäht und natürlich auch den Lebkuchen gebacken.“22 Ein anderer Großvater erzählte drollige Geschichten über seine eigenen Heldentaten als Jugendlicher und machte bei albernen Spielen der Kinder den Anführer. Während ihre Eltern sich über die strenge Disziplin ärgerten, welche dieselben Männer und Frauen einst ihnen auferlegt hatten, erinnerten sich die Enkel meist liebevoll an Oma und Opa, sobald eine Krankheit, wie etwa Tuberkulose, sie ihnen nahm.

3 Wilhelminische Großmütter.

In ihren Augen verlief das Leben der Großeltern strikt entlang geschlechtsspezifischer Grenzen: Der Großvater war das Oberhaupt und Großmutter die Seele der Familie. Er herrschte mit paternalistischer Autorität über seine Schar, traf alle wichtigen Entscheidungen, kontrollierte die Finanzen und hielt auf strenge Zucht. Er war verantwortlich für das materielle Wohlergehen der Familie, brachte das tägliche Brot auf den Tisch und sorgte zusätzlich für ein wenig Behaglichkeit. Auf dem Land war es der Bauer, der das Gesinde und die Tiere kontrollierte und entschied, wann und wo gepflügt wurde. In den Städten schwang der Dienstherr das Zepter über sein Geschäft und sorgte dafür, dass Lehrlinge und Angestellte nicht aus der Reihe tanzten. Das Familienoberhaupt war auch verantwortlich für die Beziehungen zur Außenwelt; es schützte den Ruf der Familie und beteiligte sich an öffentlichen Aufgaben. Auch wenn er nur Goldschmied war, strahlte Hans Queisers Großvater, „ein schweigsamer Mann“, in seinem dunklen Sonntagsanzug Wohlanständigkeit und Ehrbarkeit aus.23

Die Großmutter war im Gegensatz dazu verantwortlich für den Haushalt und die Beziehungen innerhalb der Familie. Die tägliche Beköstigung zahlreicher Personen war eine beschwerliche Arbeit, und die Beschaffung von Kleidung war kompliziert, weil sie meist von Hand zugeschnitten und genäht wurde. Bürgerliche Familien beschäftigten Dienstmädchen, die bei der Hausarbeit und der Aufzucht der Kinder halfen; aber Dienstboten mussten beaufsichtigt werden. Ältere Frauen hatten zudem ein Auge auf ihre Töchter und Schwiegertöchter, um sicherzustellen, dass sie sich angemessen benahmen, damit kein Skandal die Familienehre beschmutzte. Außerdem waren die Großmütter oft frommer als ihre Ehegatten und bestanden darauf, die Enkelkinder mit in die Kirche zu nehmen. Doch wenn die Großväter autoritär waren, blieb ihren Ehefrauen wenig übrig, als sich unterzuordnen und statt durch Gepolter eher durch sanfte Überredung ihren Willen durchzusetzen. Selbst wenn die Oma „eine schroffe Person“ war, konnte es sein, dass die Enkelin sie „mehr liebte als irgendjemanden sonst“. Fotos wie das von den würdigen älteren Damen der Familie Schöffski (Abb. 3) zeigen die Großmütter als respekteinflößende Persönlichkeiten, gleichwohl lächelnd und freundlich.24

Die Großeltern erlaubten es den Kindern vielfach, sich elterlicher Kontrolle und Routinepflichten zu entziehen, vor allem bei Besuchen und in den Schulferien. Wenn die Familie in die Stadt gezogen war, um Arbeit in einer Fabrik zu finden, konnten sie in den Ferien auf den Bauernhof zurückkehren, wo sie mit den Tieren spielen und die auf einem Hof anfallenden Arbeiten kennenlernen konnten. War der Großvater Handwerker, konnten die Enkel ihm bei der Arbeit über die Schulter schauen. Falls er ein eigenes Geschäft aufgebaut hatte, konnten sie sich im Bedienen von Kunden üben und die Geheimnisse von Pelzen oder Kolonialwaren lernen. Waren die Großeltern vermögend, konnten die Enkel Oberschichtluft schnuppern, wenn sie in einer Villa wohnten oder in einem Automobil spazieren fuhren. „Ich bummel[t]e auch gern durch die Fabrik, betrachte[te] die Maschinen und [sah] den Arbeitern zu“, erinnert sich Horst Grothus.25 Ebenso konnten Verwandtenbesuche in der Stadt Mädchen einen Vorgeschmack von Mode und Eleganz vermitteln.

Der Gegensatz zwischen Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits eröffnete interessante Wahlmöglichkeiten. Einer der Großväter von Gisela Grothus war ein bekannter protestantischer Theologe und der Erzieher des Großherzogs von Baden. Die Eltern von Giselas Mutter lebten in Berlin, wo der Großvater Militärarzt und Leibarzt Wilhelms I. war. Dieser eindrucksvolle Opa „nahm mich auf seinen Spaziergängen mit; hauptsächlich aber entsinne ich mich, dass er an seinem Schreibtisch schrieb, manchmal auch mit einer Gänsefeder; was, weiß ich nicht.“ Seine Frau versuchte, ihrer Enkelin mit Süßigkeiten eine Freude zu machen, doch „die häufig angebotene Baiser-Torte begeisterte mich ebenso wenig wie das Apfelmus mit Rosinen“. Aber „Oma hatte für mich immer Spielsachen herrichten lassen: vor allem meine ‚Puppe Christa‘ (in der Größe eines einjährigen Kindes) und einen Kaufladen, mit dem Jo und ich gern spielten“. Solche angenehmen Erinnerungen boten gegensätzliche Rollenbilder, außerdem erzeugten sie ein Band zwischen den Generationen und ein Gefühl familiären Stolzes.26

Eine typische Familie der oberen Mittelschicht, wie etwa die Eycks, verband wirtschaftlichen Wohlstand mit einer akademischen Ausbildung und beruflichen Aktivitäten. Großvater Joseph war Makler an der Berliner Börse und leitete eine Brauerei in Berlin, musste aber sparsam wirtschaften, um einen repräsentativen Lebensstil aufrechterhalten zu können. Die Großmutter Helene, die ein Tagebuch hinterließ, opferte ihre eigene Begabung dem Wohl der Familie und schrieb ebenso pointiert wie kenntnisreich über die Erziehung ihrer sechs Kinder. Die Söhne besuchten allesamt das Gymnasium, einer wurde Anwalt, ein anderer liberaler Politiker und der dritte Geschäftsmann; die Töchter heirateten einen Architekten, einen Anwalt und einen angesehenen Arzt. Sie wurden im neuhumanistischen Geist der Klassiker erzogen und betrachteten sich als dem Bildungsbürgertum zugehörig. Obwohl nicht strenggläubig, machte die Zunahme der antisemitischen Hetze in den 1880er-Jahren der Familie ihr jüdisches Erbe bewusst.27

Für Arbeiterfamilien wie die Härtels war das Leben eher ein Kampf, bei dem es schlicht darum ging, über die Runden zu kommen. Genug zu essen aufzutreiben, war eine tägliche Herausforderung, vor allem wenn es zahlreiche hungrige Mäuler zu stopfen gab. Ältere Jungen wurden daher oft fortgeschickt, um ein Handwerk zu erlernen, und Mädchen wurden in fremde Haushalte in Dienst gegeben. Häufig kam es zu Ausbrüchen häuslicher Gewalt, wenn Männer, insbesondere nachdem sie zu viel getrunken hatten, ihre Autorität geltend machten, indem sie ihre Frauen und Kinder schlugen. Diese Mentalität fand sich auch bei Arbeitgebern und Beschäftigten: Als ein junger Mann seinen Heuwagen umkippte, beschuldigte der Gutsinspektor ihn, den Wagen unsachgemäß beladen zu haben, und „peitschte August an Ort und Stelle aus“. Der misshandelte Jugendliche machte sich daraufhin auf ins Ruhrgebiet, wo er Arbeit auf einer Zeche fand. Großvater Schirmer, ein einfacher Hausmeister an einer höheren Schule, legte solchen Wert auf eiserne Disziplin, dass sein rebellischer Sohn Seemann und Kommunist wurde.28 Die Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung forderte einen hohen Preis.

Während der letzten Jahrzehnte des Kaiserreichs stieß die ältere Generation verstärkt auf Widerstand vonseiten ihres Nachwuchses. Oft drehten sich die Generationenkonflikte um die Berufswahl, beispielsweise als Gerhard Bauckes Vater den elterlichen Rat in den Wind schlug und Bäcker wurde statt Priester. Die Eltern von Gertrud Koch bestanden darauf zu heiraten, obwohl der Bräutigam nur ein verwitweter Kesselschmied mit zwei Kindern war, während seine Braut, eine Apothekerin, der Mittelschicht angehörte. „Als sich meine Mutter in meinen Vater verliebte, hätte auch die Welt untergehen können – für meine Großmutter wäre es nicht weniger furchtbar gewesen.“ Der proletarische Vater war „ein großer, schwerer Mann mit schneeweißen Haaren und einem ebenso weißen kleinen Schnauzbart“, außerdem fünfzehn Jahre älter als seine Frau und obendrein Kommunist. Die Erosion der patriarchalischen Autorität hatte bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs begonnen, sodass die nächste Generation sich bemühte, den eigenen Kindern liebevoller zu begegnen und ihnen eine stärkere Stütze zu sein.29

Die meisten Großeltern der Weimarer Geburtsjahrgänge waren während des deutschen Einigungsprozesses in den 1860er-Jahren geboren; sie vermittelten der Folgegeneration einen Nationalismus, der sich zweifelsohne mit dem neu geschaffenen Reich identifizierte. Diese grundverschiedenen Menschen, die alle Deutsch sprachen, überwanden in ihrer Jugend nach und nach die vielen regionalen, religiösen und Standesunterschiede und verschmolzen zu Bürgern einer größeren Gemeinschaft. Zum Teil war dies eine Folge der währungstechnischen und rechtlichen Vereinheitlichung, die durch Landkarten in Schulbüchern und den Militärdienst für Männer untermauert wurde. Die allmähliche Verlagerung der Loyalitäten war aber auch ein Ergebnis festlicher Besuche durch den Kaiser und der Begehung nationaler Feiertage wie etwa des Sedantags, der an die Schlacht von Sedan 1870 und den Sieg über Frankreich 1871 erinnerte. Außerdem propagierte das Deutsche Kaiserreich den preußischen Standard in Verwaltung und Bildung als Blaupause für das ganze Land.30 Weil sie mit dem Bismarckreich aufgewachsen waren, waren viele Großeltern stolz auf die wachsende Macht des neuen Staatswesens und den internationalen Respekt, der ihm entgegengebracht wurde.

Trotz großer Armut während des rasanten Industrialisierungsprozesses erinnerten sich viele Menschen später an das Deutsche Kaiserreich als eine Epoche des Wohlstands und der Stabilität. Die ländliche Hierarchie aus adeligem Gutsbesitzer, unabhängigem Bauern und landlosem Knecht reproduzierte sich in der Stadt in Gestalt des Geschäftsinhabers, des Handwerkers und des Industriearbeiters. Ein wenig abgemildert wurden diese autoritären Strukturen durch einen Paternalismus, der sich verantwortlich fühlte für seine Untergebenen und dieser Verantwortung durch die Bereitstellung von Wohnraum und die Verteilung von Weihnachtsgeschenken gerecht zu werden suchte. Obwohl die Industrialisierung die Arbeiterschaft ausbeutete, erlebten wachsende Teile der Mittelschicht ein Gefühl des Fortschritts im Zeichen einer allmählichen Verbesserung der Lebensverhältnisse. Zudem verstärkten technologische Entdeckungen, etwa die Entwicklung des Automobils durch Erfinder wie Gottfried Daimler, das Gefühl, dass alles besser wurde.31 Das wichtigste Vermächtnis der Großeltern war daher ein deutscher Nationalismus gepaart mit Zukunftsoptimismus.

ELTERLICHE BEEINFLUSSUNG

Der Einfluss der Eltern auf die Kinder war noch stärker als die Einwirkung älterer Verwandter. Mit der Reduzierung der Kinderzahl wurde die Sorge um die verbleibenden Sprösslinge eine umso intensivere Aufgabe.32 Die Autobiografien der in den 1920er-Jahren Geborenen zeigen, wie das elterliche Vermächtnis körperlicher Gesundheit und emotionaler Stabilität die Lebenswege der Kinder begünstigen oder erschweren konnte. Entsprechend würde die sozioökonomische Position der Eltern darüber entscheiden, ob ihre Kinder ein Leben mühsamer Plackerei oder behaglicher Muße erwartete. Die Religionszugehörigkeit ordnete sie einer Mehrheit oder Minderheit zu, die entweder anerkannt oder diskriminiert wurde. Außerdem machte es einen gewaltigen Unterschied für die Identität, ob jemand im Norden oder im Süden Deutschlands wohnte. Weil Grenzen sich als Folge von Kriegen verschoben, waren Menschen gezwungen umzuziehen. Die ideologische Einstellung und das politische Engagement der Eltern bestimmten weitgehend die Reaktionen ihrer Sprösslinge. Körperhaltung und Kleidungsstil in Porträts wie dem der Familie Köchy deuten an, wie stark solche Einflüsse das Leben der Kinder prägten (Abb. 4).

In einer nach wie vor patriarchalischen Welt kam dem Vater die entscheidende Rolle zu. Er war die Autoritätsperson, der man gehorchte, und das Vorbild, dem man nacheiferte. „Mein Vater beschäftigt[e] sich nicht viel mit mir“, klagen viele Autoren, darunter auch Horst Grothus. Schuld war entweder die Arbeitsüberlastung oder das Beharren auf Zucht und Ordnung.33 Ein anderer Vater war einfach „ein Spieler und Bonvivant“, der seinen Sohn vernachlässigte.34 Ein Mädchen aus der Arbeiterschicht, Erika Taubhorn, erinnert sich dagegen: „Mein Vater war ein toller Mann“, er habe alles tun können, was er sich in den Kopf setzte. Er war „für mich die Hauptperson“, und „er spielte auch immer mit mir“.35 Wenn ein prominenter Mann wie der Journalistenvater von Fritz Klein vor der Zeit starb, waren die Auswirkungen für die Kinder schier katastrophal, weil ihre materielle Sicherheit bedroht war. Als kurz darauf auch Kleins Mutter starb, musste unter Verwandten oder Freunden eine „Ersatzfamilie“ gefunden werden, schließlich kam er in das Haus des Berliner Reformpädagogen Heinrich Deiters. Allerdings war der Stiefvater Kindern aus einer früheren Ehe selten eine solche Stütze wie der leibliche Vater.36

Emotionaler Mittelpunkt der Familie blieb dennoch die Mutter. Die meisten AutorInnen haben liebevolle Erinnerungen an ihre Mütter, die Werte und Umgangsformen vorlebten, statt sie durch Zwang einzubläuen. Für ein glückliches Hauswesen hatte dieses Bemühen „bedingungsloses Zusammenhalten innerhalb der Familie, [und] offenbar vollständige Harmonie“ zur Folge.37 Andere Mütter verhielten sich da ambivalenter. So waren Frauen der Gesellschaft oft mehr an ihren Einkäufen, ihrem Aussehen und ihren Vergnügungen interessiert als daran, sich um plärrende Kinder zu kümmern. Letzteres überließen sie gern Kindermädchen oder unverheirateten Tanten, zu denen Kinder wie Tom Angress eine ziemliche Anhänglichkeit entwickelten.38 In den noch seltenen Fällen von Scheidung und Wiederheirat zeigten sich Mütter „eher um ihren neuen Mann als um ihre leiblichen unmündigen Kinder bemüht“. Der Nachwuchs litt unter dieser starken Gefühlsambivalenz.39

4 Weimarer Familie.

Ein entscheidender Faktor für die Lebenschancen der Kinder war die Gesellschaftsschicht der Eltern. Gehörten sie zur grundbesitzenden Elite, dann führte sich der Vater oftmals auf wie ein „ungekrönter König des Dorfes“, der qua Tradition und Kraft seiner Persönlichkeit herrschte. Wilhelm Lehmann war ein solcher Gutsbesitzer: „Ein Bild von einem Mann, groß und imposant, voll Energie und Kraft“, lenkte er seine Kutsche im Stehen, „knallte energisch mit seiner Peitsche“ und jagte Menschen und Tieren Angst ein. Seine Brüder fürchteten und bewunderten ihn, und er „war der beste Kunde aller Dorfkneipen“. Dienstmädchen versteckten sich vor ihm, denn bei Jungfrauen „übte [er] das jus primae noctis aus“. Aber auch Sprösslinge des Landadels mussten zunächst auf dem Gymnasium die Klassiker büffeln und Jura studieren, bevor sie in den Staats- oder Militärdienst eintreten konnten.40 Diese herrischen Männer bedurften der Zivilisierung durch eine willensstarke Ehepartnerin aus einer standesgemäßen Familie der Oberschicht. Eine solche privilegierte Herkunft erzeugte eine lebenslange Anspruchshaltung.

Das städtische gehobene Bürgertum war aufgrund seines üppigen Lebensstils von einem ähnlichen Gefühl der Sorglosigkeit durchdrungen. Wenn der Vater ein erfolgreicher Bankier war wie Angress Senior, dann arbeitete er hart, „in vollem Einklang mit traditionellen preußischen Werten, deren wichtigste Ehre und Pflichtgefühl waren“. Folglich stand seine Familie „materiell recht gut da; wir wohnten in einem komfortablen Haus, trugen gute Kleidung, gingen mit unseren Eltern auf Reisen und hatten ein Dienstmädchen und einen Koch, die sich um unsere täglichen Bedürfnisse kümmerten“. Frei von lästigen Hausarbeiten, konnte die Mutter ganz Dame der Gesellschaft sein und sich darauf kaprizieren, „gut angezogen und hübsch frisiert“ zu sein, bevor sie zu einem ausgiebigen Einkaufsbummel aufbrach. Ihre Aufgabe war es, ein gastliches Haus zu führen, wo an Fest- und Feiertagen oft Geschäftsfreunde oder Verwandte bewirtet wurden, und dem Ganzen durch ihr Talent Kultur und Stil einzuhauchen.41 Wer im Großbürgertum aufwuchs, der sog die Überzeugung, dass Leistung belohnt werden würde, quasi mit der Muttermilch ein.

Im Gegensatz dazu verlangte das Leben in einer kleinbürgerlichen Familie ständige Anstrengungen zum Erhalt der eigenen gesellschaftlichen Solidität. Weil die finanziellen Mittel begrenzt waren, musste jede Ausgabe wohlüberlegt sein, und kleine Extras, wie etwa ein Eis oder ein Kinobesuch, waren selten. Die Wohnungen in der Stadt waren beengt und teuer, und solche Enge verstärkte oft die Streitereien um das knappe Geld. Arbeitete ein Vater als Handlungsreisender, wie der von Ruth Bulwin, war er selten zu Hause, und wenn doch, wollte er seine Ruhe haben. Da er „ein außerordentlicher Tyrann“ war und es bei der kleinsten Provokation eine „gepfefferte Backpfeife“ setzte, mussten alle in seiner Umgebung auf Zehenspitzen gehen, und „ein Familienleben gab es bei uns nicht“. Allein die Großeltern auf dem Land boten eine willkommene Zuflucht. Um das Familieneinkommen aufzubessern, musste Ruths Mutter arbeiten gehen; sie entwarf „die tollsten Damenhutmodelle für die oberen Zehntausend“.42 Eine solche Kindheit im Kleinbürgertum war oftmals mit materiellen Einschränkungen verbunden und seelisch belastend.

Proletarische Familien wie die Härtels hatten aufgrund ihrer „mieserable[n] [sic!] wirtschaftliche[n] Lage“ noch mehr zu kämpfen. Für die Väter bestand Arbeit aus schwerer körperlicher Plackerei. Der magere Lohn reichte gerade, um die Familie vor dem Verhungern zu bewahren, während die Arbeitsplätze unsicher und Entlassungen an der Tagesordnung waren. Die Unterkunft bestand oft aus einer „ärmliche[n] Kellerwohnung“ ohne Strom oder einer Einzimmerwohnung ohne Innentoilette im Hinterhof einer Mietskaserne. Weil Arbeiterfamilien in der Regel groß waren, war Platz knapp. Eltern und Kinder schliefen gemeinsam im selben Raum oder teilten sich die Betten. Die Mütter arbeiteten als Putzfrauen oder übten andere niedere Tätigkeiten aus. Als Folge schlechter Bildung und mangelhafter sanitärer Einrichtungen erkrankten oft ganze Familien an Infektionskrankheiten.43 Wer überleben wollte, musste erfindungsreich sein, etwa den Speisezettel mit Gemüse aus dem eigenen Garten ergänzen oder Kaninchen züchten. Die Kinder aus solchen Familien, die ihre Kinderkrankheiten überlebten, waren gewöhnlich zäh und gewieft.

Eine weitere wichtige gesellschaftliche Kluft verlief entlang der konfessionellen Grenzen. Die Reformation hatte zur Glaubensspaltung der deutschen Länder zwischen Katholiken und Protestanten geführt. Aufgrund ihrer starken Betonung biblischer Gelehrsamkeit gaben Letztere unter preußischer Führung in kultureller Hinsicht den Ton an im Kaiserreich. Fixpunkt des protestantischen Einflusses war das Pfarrhaus, ein Ort theologischer Gelehrsamkeit und sozialen Wirkens. Der Sohn von Pastor Krapf beschreibt seinen Vater als „den freundlichsten und bescheidensten Menschen“ und vermerkt, er benahm sich „mit solcher Würde und solchem Anstand, die von seinem Glauben herrührten“, dass seine Gemeinde „‚liebevolle Ehrfurcht‘ vor ihm hegte“. Seine Predigten schöpften aus den klassischen Sprachen und der Bibelkritik, daneben nahmen ihn seine sonstigen Pflichten stark in Anspruch, wie etwa die Bibelstunde, die Jugendarbeit und missionarische Aktivitäten. Die Frau eines Pfarrers hatte alle Hände voll zu tun sowohl mit ihrem eigenen Haushalt als auch mit den gesellschaftlichen Verpflichtungen des Frauenkreises.44 Kinder hatten in einem solchen Umfeld oft Schwierigkeiten, den hohen Erwartungen gerecht zu werden.

Im Gegensatz dazu fühlten sich die Katholiken im kaiserlichen Deutschland in der Defensive, seit die österreichischen Habsburger 1866 von Preußen besiegt worden waren. Zwar waren sie danach noch in einigen Regionen, wie etwa dem Rheinland und Bayern, stark, aber der Kulturkampf, Bismarcks Kreuzzug gegen ihre ultramontane Treue gegenüber dem römischen Papsttum, hatte klargestellt, dass sie nicht mehr das Sagen hatten. Für eine katholische Familie wie die Raschdorffs in Hessen bedeutete Religionsausübung vor allem den regelmäßigen Besuch der heiligen Messe um ihres Seelenfriedens willen. Die Kirchenzugehörigkeit bedeutete auch, dass die Kinder auf einer Konfessionsschule eingeschult wurden, wo katholische Werte und Anschauungen vermittelt wurden. Außerdem gab es konfessionell getrennte Jugendgruppen, wie etwa die Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg.45 Kindern bot der Katholizismus eine geschlossene, durch farbenfrohe Rituale an den häufigen kirchlichen Feiertagen aufgelockerte Subkultur.

In jüdischen Familien spielte die Frage der religiösen Identität eine noch zentralere Rolle, da diese Zugehörigkeit ein Schlüsselelement der Selbstdefinition wie der Zuschreibung von außen darstellte. Mit der Judenemanzipation nach 1871 waren einige Hindernisse für die soziale Integration der jüdischen Bürger beseitigt worden, und die Bindungen an das Judentum waren lockerer geworden. Aber das Aufkommen eines rassischen statt eines religiösen Antisemitismus zwang jede Familie zu entscheiden, ob sie eine gesonderte Identität wahren oder versuchen sollte, sich mit ihren Nachbarn zu vermischen. Die meisten wählten, so Werner Warmbrunn, einen klassischen Kompromiss: „Mein Vater wollte unbedingt ein deutscher Bürger jüdischen Glaubens sein.“ Das bedeutete, aktiv einer Synagoge anzugehören, die „Zehn ehrfurchtsvollen Tage“ (Jamim Noraim) einzuhalten und die Verbote bestimmter Nahrungsmittel, wie etwa Schweinefleisch, zu beachten. Während manche jüdischen Familien strenggläubig waren, konvertierten andere und schlossen Mischehen mit Christen.46 Die meisten Juden, die dem Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) beitraten, hofften, dass sie irgendwann vorbehaltlos als Deutsche anerkannt würden.

Die Wirkung der elterlichen Religion auf die heranwachsenden Kinder reichte von begeistertem Engagement bis zu totalem Desinteresse. Wer einer Religionsgemeinschaft wie der Neuapostolischen Kirche angehörte, „war sehr aktiv in seinem Glauben“, denn er erwartete die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Jesu Christi. Gegen äußere Skeptiker scharte sich die Gemeinde um ihre Apostel, es entstand eine enge Gemeinschaft, in der Gemeindemitglieder, wie etwa die Eltern von Edith Schöffski, heirateten.47 Weit häufiger waren die kulturellen Protestanten oder Katholiken, die zwar nominell weiter der Kirche angehörten, ihre Kinder auch taufen ließen und die kirchlichen Feiertage begingen, jedoch nicht mehr regelmäßig zum Gottesdienst gingen. Das andere Extrem bildeten jene vollkommen weltlichen Liberalen oder Sozialisten, die keinerlei Verbindung mehr zum organisierten Glauben hatten. Sie redeten meist einer auf den deutschen Klassikern beruhenden humanistischen Moral das Wort.

Eine weitere bedeutsame Kluft zwischen den Deutschen gründete in der jeweiligen regionalen Herkunft. Die Bindung an Landschaft und Dynastie brachte unterschiedliche Identitäten hervor. Benno Schöffskis Familie beispielsweise kam aus Ostpreußen, dem „Land der dunklen Wälder und kristall’nen Seen“. Ihr Hof lag im Samland, berühmt für seine steilen Klippen, die über den Stränden der Ostsee aufragen. Die Ostpreußen, die an der östlichen Grenze des Reiches lebten, waren ein eigener Menschenschlag, bedächtig und schwerfällig. Sie rollten das „r“, und ihre Sprache wies slawische Elemente auf. Die pommersche Küste mit berühmten Urlaubsorten wie Cranz, wo Dampfer von weither anlegten, war ein Touristenmagnet. Nachdem Herr Schöffski bei der Post befördert worden war, zog die Familie in die Königliche Haupt- und Residenzstadt Königsberg, die stolze Handelsstadt und einst Wohnort von Immanuel Kant. Der Schock ihrer Vertreibung aus Ostpreußen im Jahr 1945 tauchte die späteren Erinnerungen in ein nostalgisches Licht: „Das Heimatgefühl eines Menschen kommt erst dann richtig zur Geltung und zum Bewußtsein, wenn man sieht und fühlt, was man verloren hat.“48

Eine besondere ostdeutsche Region war Schlesien, das zwischen Polen und der Tschechoslowakei lag und zwischen Österreich und Preußen umstritten war. Die Provinz besaß eine ausgeprägte regionale Identität, der Steinkohlenbergbau und die Hüttenindustrie machten das oberschlesische Industriegebiet zum zweitgrößten schwerindustriellen Zentrum des Deutschen Reiches nach dem Ruhrgebiet, und die Region stellte viele Zuwanderer für die Reichshauptstadt Berlin. Zudem war das Riesengebirge im Sommer ein beliebtes Urlaubsziel für Wanderer und im Winter für Skiläufer. Ruth Weigelt wuchs in einer der Berghütten auf dem Hochstein im Isergebirge auf, während Ursula Mahlendorf aus der Kleinstadt Strehlen und Fritz Stern aus der weltoffenen Großstadt Breslau stammten, in der Katholiken, Protestanten und Juden in gegenseitigem Respekt friedlich miteinander lebten. Es war eine Region der Mythen und Sagen um den arglistigen, von dem Dramatiker und Schriftsteller Carl Hauptmann in seinem Rübezahlbuch gefeierten Riesen gleichen Namens. Nachdem die Provinz bis zum bitteren Ende 1945 durchgehalten hatte, flohen viele Schlesier in den Westen, während eine volksdeutsche Minderheit auch nach der Angliederung an Polen in der alten Heimat blieb.49

Im Westen war die hessische Universitätsstadt Gießen an der Lahn ein „ganz wundersamer Ort der Heimat“. Noch um 1900 war es eine landestypische Stadt mit einem gotischen Rathaus, einem Marktplatz und einer Stadtkirche, die die Fachwerkhäuser überragte, welche die schmalen Kopfsteinpflastergassen säumten. Die Familie Schultheis besaß ein „kuschelige[s], alte[s] Haus in der Marktstraße, ein schon damals nicht mehr alltäglicher Fall einer Schutzburg, die den gesamten Schultheis’schen Lebenskreis, also Wohnbereich und Küche, den Pelzladen und die Werkstatt, Lagerräume und Mansarde unter ein und demselben Dach umfasste“. Obwohl ebenfalls überwiegend protestantisch, waren die Hessen ein stärker dem Leben zugewandter Menschenschlag – für Neuheiten aufgeschlossen, erfahren im Handel und an wissenschaftlichen Entdeckungen interessiert. „Die vielen Schuppen und Lagerhäuser waren für uns Jungens ein Eldorado geheimnisvoller labyrinthischer Ecken, Treppchen, Leitern, Bretterwände, und halb und ganz dunkler Durchgänge, wo man aus herumliegenden Pappkartons und Latten Verstecke und Burgen bauen konnte“, erinnert sich Heinz Schultheis Jahre später.50

Typisch für stärker katholisch geprägte Regionen war das Rheintal, gefeiert von den Romantikern wegen seiner Burgen und des Weins, aber politisch zwischen Deutschen und Franzosen umkämpft. Die Familie Debus lebte auf einem Schleppverband, mehreren knapp einhundert Meter langen Lastkähnen, die von einem Schleppdampfer zwischen dem Ruhrgebiet und dem holländischen Hafen Rotterdam gezogen wurden. Die Besatzung bestand üblicherweise aus dem Kapitän und seiner Frau, zwei Matrosen und einem Schiffsjungen, für den das Anlegen in einer fremden Stadt eine „unbeschreiblich aufregende Atmosphäre“ schuf. Mehrere Lastkähne wurden an einen Schleppdampfer gehängt, um Kohle nach Holland und Eisenerz zu den Hütten des Ruhrgebiets zu transportieren. Das Beladen war schwere körperliche Arbeit, gesteuert wurde zu allen Tagesstunden, und Unfälle waren häufig, sodass kaum Zeit blieb, die malerische Landschaft zu genießen. An Land richtete die Familie ihr Zuhause in Kaub ein, bekannt für seine Zollstation mitten im Fluss. Bedingt durch das Leben auf dem Wasser kam die formale Schulbildung bei den Debus-Kindern eher zu kurz; ihr Schulbesuch beschränkte sich auf den Winter, wenn der Fluss zugefroren war.51

Im Gegensatz dazu gab es im ländlichen Schwaben weiter südlich noch viele idyllische, von strengen Traditionen beherrschte Bauerndörfer. Agnes Moosmann wurde als Tochter einer Familie geboren, die in Bodnegg in der Nähe des Bodensees eine genossenschaftliche Käserei betrieb. Ihre Eltern sammelten die Milch in schweren Fünfzig-Liter-Kannen von den örtlichen Bauern ein, die jeweils eine Handvoll Kühe besaßen, trennten das Fett und stellten Butter und verschiedene Sorten Hart- und Weichkäse her. Solange es „a saubere und guet gekühlte Mill [sic!]“ gab, ließ sie sich zu einem hervorragenden Produkt verarbeiten, das in Marktstädten wie Ravensburg verkauft wurde. Diese niemals endende Arbeit wurde von den Jahreszeiten beherrscht und kreiste um religiöse Feiertage, die vom örtlichen Gemeindepfarrer organisiert wurden. Die Kinder spielten in Ermangelung von Spielsachen mit den Hoftieren und erledigten von klein auf häusliche Pflichten. Im Winter rodelten sie, im Sommer schwammen sie in den Teichen des Gehöfts. Der Schulunterricht beschränkte sich auf „Lesen, Schreiben und Rechnen“. Lediglich das „Liedersingen“ sorgte für ein wenig Unterhaltung.52 Es war eine festgefügte Welt, in die nur allmählich Maschinen, wie etwa Zentrifugen, Telefone und Autos, eindrangen.

Der aufregendste Ort, an dem man aufwachsen konnte, war Berlin. Die rasch expandierende Stadt hatte viele Gesichter: Hauptstadt des Deutschen Reiches, Sitz des Hohenzollernhofes, internationale Metropole und industrielles Produktionszentrum, alles zugleich. Daher freute sich der siebenbürgische Journalist Fritz Klein, als Chefredakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung, eines von der Industrie subventionierten Blattes, das der Deutschen Volkspartei (DVP) von Reichsaußenminister Gustav Stresemann nahestand, hierher zu ziehen. Während der Empfänge in seiner „Prachtwohnung am Lützowplatz“ konnte Klein auf freundschaftlichem Fuß mit dem Weimarer Establishment verkehren und sich dafür einsetzen, „die Schmach von Versailles zu tilgen“. Während er seine Gäste „im Frack und im Schmuck einiger Orden, die ihm im Krieg und in der Nachkriegswelt verliehen worden waren“, begrüßte, trug seine Frau „das lange Abendkleid mit der gleichen ruhigen, selbstverständlichen Eleganz wie die einfache Tagesgarderobe“. Doch auch weniger vom Glück begünstigte kleinbürgerliche Familien liebten die Stadt wegen ihrer Vergnügungsparks, Lichtspieltheater und Kaufhäuser.53

Gesellschaftsschicht, Religionszugehörigkeit und Wohnsitz bestimmten die Zugehörigkeit zu einem der unterschiedlichen politischen Lager, die konkurrierende Vorstellungen darüber verbreiteten, wie die Deutschen sein sollten. Eberhard Scholz-Eule, ein schlesischer Flüchtling, charakterisiert die Politik des väterlichen Milieus folgendermaßen: „In unserer Familie war eine deutschnationale Gesinnung vorherrschend wie bei den meisten Gutsbesitzern.“ In der Praxis bedeutete das, man stand treu zu den Hohenzollern, gehörte der protestantischen Kirche an, bewunderte das Militär und stammte aus Ostelbien. Scholz-Eules Großvater „wurde fast nur als Rittmeister tituliert“. Die Jungen „spielten mit Holzschwertern und einer schwarz-weiß-roten Fahne“ und bekundeten so ihre Loyalität zum preußischen König.54 Diese nationalistische Einstellung vergötterte den Fürsten Bismarck und lehnte viele Aspekte der Industrialisierung ab. Der Konservatismus der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) sprach besonders Grundbesitzer, Offiziere, Beamte, traditionelle Protestanten und sogar manche Bauern und Handwerker an.

Hauptgegner der Partei waren die Liberalen, die sich größtenteils aus den gebildeten und gewerblichen Teilen der städtischen Mittelschicht rekrutierten. Diese Akademiker und Geschäftsleute glaubten an die Notwendigkeit des Fortschritts durch Bildung, Selbsthilfe und individuelle Verantwortung – Eigenschaften, denen sie ihren eigenen Erfolg im Leben verdankten. Erich Eyck beispielsweise war ein Rechtsanwalt und Journalist, der seine Energie „auf die allgemeine Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und des parlamentarischen und demokratischen [Regierungs-]Systems“ verwandte. Um diese Überzeugungen zu praktizieren, trat er der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei, wurde in den Stadtrat von Berlin-Charlottenburg gewählt und hielt oft Reden im Demokratischen Club. Wie andere assimilierte Juden „identifizierte er sich mit Deutschland und fühlte sich ihm kulturell tief verbunden“.55 Diese gemäßigten Progressiven waren überzeugt davon, dass sie Anspruch auf eine Führungsrolle hatten – aber leider fehlte ihnen die Massenanhängerschaft, die notwendig war, um sich bei Wahlen durchzusetzen.

Ein drittes Lager umfasste die konfessionelle Subkultur, die sich um die katholische Kirche scharte, um in einer zunehmend säkularen Gesellschaft ihren Glauben zu verteidigen. Ihre regionalen Zentren lagen im Rheinland und in Bayern, aber auch in anderen Gegenden bildeten Katholiken eine ansehnliche Diaspora. In der oberschwäbischen Provinz von Agnes Moosmann kreiste das Leben um die Kirche, insbesondere während der vielen kirchlichen Feiertage. Bismarcks Vorwurf der nationalen Unzuverlässigkeit im Kulturkampf führte zur Gründung der Zentrumspartei, die wechselnde parlamentarische Koalitionen nutzte, um die organisatorische Autonomie der kirchlichen Hierarchie, das Sakrament der Ehe und die pädagogische Unabhängigkeit der Konfessionsschulen zu wahren.

Über ein dichtes Netzwerk bürgerlicher Vereinigungen und die farbenfrohe Begehung kirchlicher Feiertage schufen gebildete Katholiken wie der Vater von Joachim Fest eine geschlossene Identität in einer Welt auf dem Sprung in die Moderne. Ein kulturelles Reizthema war die Mischehe zwischen Protestanten und Katholiken. Die katholische Kirche weigerte sich, solchen Verbindungen ihren Segen zu geben und stellte sich auf den Standpunkt, dass Paare „in Sünde zusammenleb[t]en“, wenn der protestantische Partner oder die protestantische Partnerin nicht bereit sei zu konvertieren.56

Eine letzte Gruppierung war die Arbeiterbewegung, die von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) vertreten wurde. Die Partei galt den kaiserlichen Behörden nach wie vor als umstürzlerisch. Vielen Industriearbeitern fiel der Übergang von der landwirtschaftlichen zur Fabrikarbeit und vom Dorf in die Stadt schwer. Sie wurden zu schlecht bezahlt und häufig entlassen. Ein Arbeiter namens Hans Schirmer, der sich über solche erbärmlichen Zustände ärgerte, „hatte … die Hoffnung entwickelt auf eine bessere solidarische, sozialistische, übernationale Gesellschaft“. Während die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern um bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen stritten, entwickelte sich die SPD, trotz der Bemühungen Bismarcks, sie mit dem Sozialistengesetz und einem Sozialversicherungssystem als politische Kraft auszuschalten, zur stärksten Partei im Deutschen Reichstag. Aufgrund ihrer Verfolgung entwickelte auch die Arbeiterbewegung eine eigenständige Subkultur, die von öffentlichen Vorträgen über Sportvereine bis zu Liedertafeln reichte.57 Allerdings war sie international gespalten zwischen gemäßigten Reformern und radikalen Revolutionären. Nachdem sich bereits 1917 mit der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) eine zweite Arbeiterpartei links von der SPD gebildet hatte, schlossen sich zum Jahresende 1918 der Spartakusbund und andere linksradikale Gruppen zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zusammen.

Die meisten Eltern der in diesem Buch versammelten Personen wurden in den 1890er-Jahren geboren; sie wuchsen im Kaiserreich auf und erlebten die Vorkriegsjahre als Höhepunkt deutschen Erfolgs. Trotz der sozialen, religiösen, regionalen und politischen Gräben war die Masse der Bürger „kaisertreu“ und hielt Wilhelm II. für die Verkörperung des Fortschritts der jungen Nation. Ungeachtet der raschen Industrialisierung stand das Kaiserreich für „Ruhe, Sicherheit und Ordnung“, es war eine Welt fester Hierarchien, die lediglich durch die Benachteiligten von unten infrage gestellt wurden.58