Zerschlagt das Schulsystem - Alexia Weiss - E-Book

Zerschlagt das Schulsystem E-Book

Alexia Weiss

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Beschreibung

Die Unzufriedenheit mit dem Schulsystem ist groß: Kinder sind unter- oder überfordert, Eltern beklagen zu großen Druck und ein zu hohes Lernpensum. Lehrer*innen wollen unterrichten, sehen aber, dass sie manche Schüler*innen nicht erreichen und am Ende der Notenschnitt alle Bemühungen überlagert. Direktor*innen sind frustriert vom ständig steigenden Administrationsaufwand. Also wie weiter? Alexia Weiss wagt Großes: Sie plädiert für ein Schulsystem, das unseren Bildungsbegriff hinterfragt. Zentral ist deshalb nicht die Kritik an Bestehendem, sondern die Idee eines inklusiven Modells, das allen Kindern mehr Entwicklungspotenzial bietet und Eltern sowie Pädagog*innen unterstützt, statt sie zu überlasten. Ganzheitliche Bildung, frühe Förderung individueller Talente, psychosoziale Betreuung, die Neukonzeption des Lehramtsstudiums und faire Bezahlung sind die unabdingbaren Bausteine einer zukunftsweisenden Idee, die echte Chancengleichheit und damit ein tragfähiges Fundament für unsere Gesellschaft zum Ziel hat. "Die Notwendigkeit zur Veränderung an Schulen könnte man nutzen, um nicht nur wieder ein kleines Reförmchen anzugehen, sondern das Bildungswesen neu zu konzipieren."

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Alexia Weiss • Zerschlagt das Schulsystem

Alexia Weiss

ZERSCHLAGT DAS SCHULSYSTEM

… und baut es neu

Für Fawad,

der mit seiner Familie aus Afghanistan flüchtete, Anfang des Jahres 2017 13-jährig in Österreich ankam, und der trotz des österreichischen Bildungssystems, das ihm vor allem zu Beginn mehr Steine in den Weg legte als ihn zu fördern, dank seines immensen Willens und Fleißes in zweieinhalb Jahren den Pflichtschulabschluss schaffte und im Anschluss eine Handelsschule positiv absolvierte.

Lieber Fawad,

ich bin unglaublich stolz auf dich und das, was du geschafft hast!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Ein neuer Bildungsbegriff

Kindergarten

Eine Schule für alle

Ein Coach für jedes Kind

Klassenunterricht plus Kurssystem

Der Fächerkanon

Demokratieerziehung

Ein anderes Beurteilungsdenken

Ganztagsschule

Nachhilfe an der Schule

MINT großschreiben und damit Geschlechterstereotypen aufweichen

Sprachenreichtum fördern

Religionsunterricht

Unterricht zum Angreifen

Selbst präsentieren statt passiv wiedergeben

Unterrichtsmaterialien

Inklusion

Quereinsteigerinnen und Flüchtlingskinder

Gekocht wird an der Schule

Bewegung mit Spaßfaktor

Schulärztin und Schulnurse

Multiprofessionelle Schulteams

Schulbauten

Der Schulweg

Ergänzende berufsbildende Zweige

Weiterführung des dualen Ausbildungssystems

Neukonzeption der Lehrerinnenausbildung

Ein neuer Arbeitsalltag für Pädagoginnen

Elternkommunikation auf Augenhöhe

Elternschule

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Prolog

Die Unzufriedenheit mit dem österreichischen Schulsystem ist groß: Kinder und Jugendliche sind teils unmotiviert, oft überfordert, manche unterfordert, Letzteres häufig zu Beginn der Volksschule. Der Notendruck gegen Ende der Volksschule belastet Familien, vor allem im städtischen Bereich: Wird das Kind das Einser- und Zweier-Zeugnis bekommen, das es für den Übertritt ins Gymnasium braucht?1

In höheren Klassen sind wiederum die Arbeitspensen enorm: Zeit für Hobbys aufzubringen, wie in einem Sportverein zu trainieren oder ein Instrument zu erlernen, ist da nur mehr mit größter Disziplin möglich. Auf der Strecke bleibt entweder der Schulerfolg oder das Sozialleben. Smartphone, Tablet und Laptop ermöglichen zwar, dass die Kids dennoch in Kontakt bleiben, das ersetzt aber nicht gemeinsam verbrachte Freizeit.

Trotz des ständig präsenten Drucks fehlt es am Ende bei vielen an Grundkompetenzen. Defizite beim sinnerfassenden Lesen ziehen sich durch alle Schulstufen und -formen.2 In den allgemeinbildenden und berufsbildenden höheren Schulen hängt über allen wie ein Damoklesschwert die Zentralmatura. Gelernt wird vor allem für das Fach, das den wenigsten liegt: Mathematik. Dass dieses wichtige Fach immer noch Angstfach Nummer eins ist,3 macht ebenso wenig froh wie die Tatsache, dass dabei Gegenstände, welche Jugendliche eigentlich interessieren oder in denen ihre Stärken liegen, nebenbei mitlaufen und keine Zeit bleibt, sich darin zu vertiefen. Zeit und Energie müssen stattdessen ins Kompensieren von Schwächen investiert werden.

Pädagoginnen wiederum sehen sich zwischen allen Stühlen. Sie unterrichten gerne, sehen aber, dass sie einige Schülerinnen einfach nicht erreichen. Sie merken dabei auch, dass sich viele Kinder und Jugendliche durchaus bemühen, aber entweder überlagern familiäre Sorgen die schulischen Belange, sie haben mit psychischen Problemen zu kämpfen, oder es fehlt derart an Basiskompetenzen, dass die Lehrerinnen gar nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Auf dem Lehrplan stehen beispielsweise „Inhaltsangabe“ und „Leserbrief“, doch die Schülerinnen haben Probleme, überhaupt die Texte zu verstehen, die sie zusammenfassen oder über die sie ihre Meinung äußern sollen.

Gleichzeitig sind Pädagoginnen mit einem Wust an administrativen Aufgaben konfrontiert, dazu kommen die Überprüfungen von Bildungsstandards4 und in den weiterführenden Schulen die Zentralmatura, die zu einer Standardisierung auch von Schularbeiten geführt hat, sodass es wichtiger zu sein scheint, ob ein Text die vorgeschriebene Wortanzahl weder über- noch unterschreitet und einem klar vorgegebenen Aufbau entspricht, als dass Schülerinnen damit zeigen, wie sie kreativ mit Sprache spielen und dabei gleichzeitig dokumentieren können, wie sie Dinge einordnen und Zusammenhänge herstellen. Völlig genormtes Schreiben also: Korsett statt Kreativität.5 Das frustriert nicht nur Schülerinnen, das frustriert auch viele Lehrerinnen.

Eltern wiederum sehen, wie ihr Kind, weil sie ihm nicht helfen können, keine Chancen in diesem Schulsystem hat. Wie stark strukturelle Diskriminierung im heimischen Schulwesen noch immer präsent ist, zeigte um den Jahreswechsel 2021/22 die Veröffentlichung des aktuellen nationalen Bildungsberichts,6 der alle drei Jahre vom Bildungsministerium erstellt wird. Demnach bestimmt die soziale Herkunft weiterhin stark die Schullaufbahn. Derzeit wechseln nach der Volksschule insgesamt 38 Prozent der Kinder in eine AHS-Unterstufe. Während der Anteil von Akademikerinnenkindern in der AHS-Unterstufe 50 Prozent beträgt, kommen nur drei Prozent der Kinder aus Familien, in welchen die Eltern maximal über einen Pflichtschulabschluss verfügen.

Was in dem Bericht auch festgehalten wurde: Die Ungleichheit bei der Schulwahlentscheidung ist nur zu einem Drittel durch Leistungsunterschiede zu erklären. Sieht man sich die Mathematikkompetenzen an, lag bei der Bildungsstandard-Überprüfung 2018 der Österreichschnitt bei 551 Punkten.7 Akademikerinnenkinder, deren Leistung nahe diesem Schnitt lag, traten zu 62 Prozent in eine AHS über. Aber nur 24 Prozent der Kinder, die ebenfalls so einen Wert erreichten, deren Eltern aber höchstens über einen Pflichtschulabschluss verfügten, wechselten an ein Gymnasium. Bei Kindern von Eltern mit einer Lehrausbildung oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule waren es ebenfalls nur 25 Prozent.

Eltern, deren Tochter oder Sohn es an eine höhere Schule geschafft hat, verzweifeln indessen immer häufiger mit ihrem Kind an den nicht enden wollenden Arbeitsaufträgen, Tests, Schularbeiten, Referaten. Statt mit Freude zu lernen, steht das Abhaken einer ständigen Leistungsschau auf dem Programm. Eltern wollen, dass ihre Kinder in der Schule reüssieren, sie möchten ihre Töchter und Söhne aber vor allem glücklich und zufrieden sehen. Stattdessen hört man von immer mehr Müttern und Vätern: Wir wollen nur eines – unser Kind irgendwie und vor allem psychisch unbeschädigt durch die Schule bringen.

Direktorinnen stöhnen unter dem Administrationsaufwand8 und verzweifeln je nach Schulform an unterschiedlichsten Widrigkeiten. Wenn die Leiterin an einer Volksschule Klassen mit nahezu keinem Kind mit Deutsch als Erstsprache hat und gerne alles tun würde, um diese Schülerinnen zu fördern, aber weiß, dass das mit 25 Kindern in einer Klasse und viel zu wenig Lehrpersonal nicht möglich ist, dann wird der Versuch, diesen Kindern gerecht zu werden, von Jahr zu Jahr weniger ausgeprägt werden.

Die Covid-19-Pandemie hat den Administrationsaufwand nochmals potenziert: Phasenweise musste der Schulbetrieb immer wieder quasi übers Wochenende neu organisiert werden: Distance Learning für alle, Schichtbetrieb, einzelne Klassen im Fernunterricht. Dazu das Organisieren von Covid-Tests, die Kommunikation mit den Gesundheitsbehörden, ob einzelne Schülerinnen oder ganze Klassen in Quarantäne geschickt werden müssen, immer wieder der Ausfall von Lehrkräften, also Erstellen eines Supplierplans, der sicherstellt, dass dennoch in allen anwesenden Klassen Unterricht stattfindet. Viele Monate wurschtelten die Schulleitungen irgendwie weiter. Inzwischen wurden von den Bildungsbehörden zwar zusätzliche Sekretariatskräfte aufgenommen, doch auch diese können nicht alles abfedern, was sich Tag für Tag an administrativen Notwendigkeiten auftürmt.

Selbst die Bildungsdirektionen in den neun Bundesländern können mit Schulneubauten oder Schwerpunktsetzungen nur an kleinen Schräubchen drehen. Alles steht und fällt mit der Gesetzgebung, und die ist Bundessache. Seit Jahrzehnten gelingt keine große Reform des Bildungssystems. Ganz im Gegenteil, die Covid-19-Krise offenbarte die Defizite des Schulsystems nochmals wie mit einer Lupe und vergrößerte den Gap zwischen Kindern aus Familien mit höherem Bildungshintergrund und jenen, die lerntechnisch auf sich alleine gestellt sind, weiter.9

Eine umfassende Reform des Schulsystems tut aber dringend Not, inklusive der elementaren Bildung in den Kindergärten. Wir müssen unseren Kindern gerecht werden und sie bestmöglich auf die Zukunft vorbereiten. Gelingt das nicht, leiden nicht nur die Individuen, es werden auch die gesellschaftlichen Verwerfungen – von höherer Arbeitslosigkeit, daraus resultierender Armut und Kleinkriminalität bis zu einer massiv weiter aufgehenden Schere zwischen Arm und Reich – zunehmen.10

Stichwort Arbeitslosigkeit: In vielen Branchen wären die Jobs grundsätzlich da. Doch Menschen, denen Qualifikationen fehlen, um sie auszuüben, stehen immer öfter vor verschlossenen Türen, wenn es um die Verteilung von Arbeit geht. Daran zerbricht das Individuum, das bürdet aber auch der Gesamtgesellschaft die Aufgabe auf, für diese Menschen aufzukommen. Dass unser Sozialstaat dafür sorgt, dass jeder halbwegs ein Auslangen findet (trotz sozialer Unterstützungen fristen dennoch zu viele ein Leben an oder unter der Armutsgrenze), soll absolut so bleiben. Es wäre aber allen gedient, wenn der Staat auch dafür sorgen würde, dass jeder und jede eine adäquate Ausbildung erhält, um sich selbst erhalten zu können.

Dieses Buch möchte eine breite Debatte über eine Reform des Schulsystems in Gang bringen. In den Vordergrund möchte ich dabei nicht die Kritik an all dem rücken, was falsch läuft. Sie wird seit Jahren von Schülerinnen, Lehrerinnen, Eltern und vielen Expertinnen geübt. Verändert hat sich leider wenig.11

Im Mittelpunkt dieses Buches soll vielmehr die Vision eines Schulsystems stehen, das unsere Kinder an der Hand nimmt, in den Mittelpunkt stellt und jedem einzelnen von ihnen die besten Chancen bietet, die sie bekommen können. Schule muss aber auch Entwicklungen in der Gesellschaft Rechnung tragen und mehr mitdenken als nur das Vermitteln von Wissen und Fertigkeiten. Schule muss rundum für das Wohl der Kinder da sein, indem sie auch für psychosoziale Betreuung sorgt und Gesundheitsaspekte mitdenkt und nicht zuletzt mithilft, dass sich Qualifikationen von Männern und Frauen angleichen und damit auch die Einkommensschere zwischen den Geschlechtern kleiner wird.

Die Devise muss heißen: Gleiche Chancen für jedes Kind, egal ob es ein Mädchen oder ein Bub ist oder sich als divers begreift, egal ob es aus einem bildungsnahen oder bildungsfernen Elternhaus kommt, egal ob die Familie über viele oder wenige finanzielle Ressourcen verfügt, egal ob im Elternhaus Deutsch oder eine andere Sprache gesprochen wird.

Dieser Entwurf eines besseren Bildungssystems für alle Kinder ist eine Vision, ein Idealbild, das es anzustreben gilt. Gerne können Sie ihn aber auch als Spiegel lesen: Wenn ich mich für eine Klassenschülerinnenhöchstzahl von 20 ausspreche, bedeutet das, dass die Klassen bei uns derzeit einfach zu groß sind. Und wenn ich für eine Schule für alle, aber mit wesentlich mehr individueller Differenzierung eintrete, dann ist das natürlich eine Absage an die derzeit viel zu früh erfolgende Bildungsentscheidung im Alter von zehn Jahren. Dabei geht es mir nicht nur darum, dass vor allem jene Kinder gut weiterkommen, die von ihren Eltern gut unterstützt werden können. Vielmehr muss diese enorme auch psychische Belastung sowohl für Kinder als auch deren Eltern rund um diesen Schulwechsel ein rasches Ende haben. Habe ich diese Deutschschularbeit gut hinbekommen? Wird das Zeugnis meines Kindes gut genug sein, um in der Wunschschule einen Platz zu bekommen?

Wenn mein Modell eine Ganztagsschule vorsieht, dann bedeutet das wiederum, dass sich die Halbtagsschule gesellschaftlich überlebt hat. Heute sind mehrheitlich beide Elternteile berufstätig. Die Ganztagsschule sorgt nicht nur für die nötige Kinderbetreuung. Die Ganztagsschule übernimmt dann wirklich alles, was für den Lernerfolg eines Kindes nötig ist. Schule findet in der Schule statt, inklusive Üben und, so nötig, Förderung. Und wer das Schulhaus verlässt, kann sich ganz seinen Hobbys, Freunden und Zeit mit der Familie widmen.

Nun werden Sie sicher fragen: Ist die Autorin eine Bildungsexpertin? Warum maßt sie sich an, sich zu diesem Thema zu äußern? Nein, ich bin keine Bildungsexpertin. Aber als Journalistin berichte ich seit den 1990er Jahren immer wieder über Bildungsthemen, und seit den 1990er Jahren verfolge ich, wie jede Bildungsreform wieder nur ein Reförmchen bleibt, wie Expertinnen mit ihrer Forschung gegen Wände laufen und von der Bildungspolitik nicht gehört werden, wie die Bildungslaufbahn eines Kindes weiterhin davon abhängt, in welchem Elternhaus es aufwächst, und wie die zuständigen Bildungsbehörden alles dafür tun, dass die Missstände, die es gibt, möglichst nicht öffentlich thematisiert werden. Direktorinnen und Pädagoginnen tun sich so schwer, Defizite anzusprechen.

Debatten werden dabei oft auch aus Sorge unterbunden, dass sich daraus ein rassistischer Diskurs entwickeln könnte. Spricht eine Direktorin zum Beispiel an, dass vor allem die Kinder mit türkischem oder afghanischem oder somalischem Familienhintergrund in einer bestimmten Klasse das Lernziel in Deutsch schlecht erreichen, wird das politisch beispielsweise von FPÖ-Vertreterinnen entsprechend ausgeschlachtet. Das ist pädagogisch kontraproduktiv, damit ist den betroffenen Kindern nicht geholfen. Gleichzeitig kann aufgrund des Nichtbenennens von Problemen keine Lösung gefunden werden. Hinter dem Schweigen steht also ein lauteres Motiv, doch bringt es niemanden weiter, auch jene nicht, die man so zu schützen versucht.

Ich bin allerdings nicht nur Journalistin, sondern auch Mutter eines Kindes, das derzeit eine AHS-Oberstufe besucht. Und ich bin seit 2015 ehrenamtlich in der Begleitung von Flüchtlingsfamilien aktiv. Die Erfahrungen mit meinem eigenen Kind und den Kindern, deren Eltern nicht ausreichend Deutsch beherrschen, um sich um die schulischen Agenden ihrer Töchter und Söhne zu kümmern, könnten nicht unterschiedlicher sein. In der Klasse des eigenen Kindes ging es in der vierten Klasse Volksschule vor allem um Schularbeitsnoten und das Halbjahreszeugnis. Die Eltern waren angespannt, niemand wollte sein Kind nicht ins Gymnasium schicken können. War dieser Sprung geschafft, kehrte wieder Entspannung ein. Das Wichtigste aber: Zu keinem Zeitpunkt hatte ich den Eindruck, mein Kind würde nicht adäquat behandelt oder es würde ihm nichts zugetraut.

Bei der Begleitung der Flüchtlingskinder musste ich feststellen, wie sehr ihre Schullaufbahn davon abhängt, ob sie jemanden im Hintergrund haben, der sie unterstützt – oder eben nicht. Teils hatte ich den Eindruck, das Urteil über ihren Schulerfolg wurde von manchen Lehrerinnen bereits zu Beginn des Schuljahres gesprochen. Sie wurden abgeschrieben, im übertragenen Sinn aussortiert. Es wurde das Gefühl vermittelt, dass das ja ohnehin nichts werde. Sobald ich mich aber als gut Deutsch Sprechende, als Person, die sich offensichtlich im Bildungssystem auskennt, einschaltete, war plötzlich mehr möglich. Es eröffneten sich Chancen. Es konnte besprochen werden, was dieses oder jenes Kind tun könne, um sich zu verbessern. Es gingen Türen auf. Diese Türen müssen aber für jedes einzelne Kind aufgehen.

Wer mir in den vergangenen Jahren auch begegnet ist: Lehrerinnen, denen ihre Schülerinnen absolut ein Anliegen sind, die aber nicht wissen, wie sie mit der wenigen Unterrichtszeit, die sie selbst in der Klasse haben, all das ausgleichen und beibringen sollen, was den ihnen anvertrauten Kindern fehlt. Vor allem im Pflichtschulbereich kommt dann das Thema Mitarbeit ins Spiel: Mit ihr können die Schülerinnen negativ beurteilte Schularbeiten ausgleichen. Die Mitarbeit ist damit zu einem Vehikel geworden, mit dem wohlmeinende Pädagoginnen Jugendliche durch den Pflichtschulabschluss heben. Sie wollen den Kindern nicht im Weg stehen, ein Pflichtschulabschluss bietet zumindest Optionen.

Nur was ist so ein Pflichtschulabschluss dann wert? Was denkt sich der Lehrbetrieb, wenn ihre Lehrlinge dann nicht imstande sind, ein kurzes Mail fehlerfrei zu formulieren oder einfache Prozentrechnungen durchzuführen? Mit Maßeinheiten sicher umgehen zu können, ist gerade in vielen Lehrberufen essenziell. Im Kundenkontakt braucht es wiederum sehr gute Deutschkenntnisse. So gut es gemeint ist: Den jungen Menschen ist nicht geholfen, wenn sie zwar über einen formalen Schulabschluss verfügen, nicht aber über die Kompetenzen, die sie damit eigentlich vorweisen können sollten.

Genau dafür muss Schule sorgen: dass die Schülerinnen kompetent sind. Dass sie so wesentliche Dinge beherrschen, wie einen Zeitungsartikel zu lesen und ihn auch zu verstehen, Flächen und Volumen und eben auch Prozente zu berechnen oder Basisdialoge auf Englisch zu führen.

Ja, das Schulsystem zu reformieren, wird ein Kraftakt sein. Es müssen Mauern in den Köpfen eingerissen werden, und das braucht Mut. So ein Prozess braucht aber auch viele Ressourcen. Mit dem Hinweis auf vermeintliche Unfinanzierbarkeit werden Reformvorhaben gern im Keim erstickt. Die Covid-19-Krise hat uns allerdings gezeigt, was möglich ist, an Geld in die Hand zu nehmen, wenn der Hut brennt.

Auch in der Schule brennt der Hut, schon lange. Das Feuer lodert nur nicht so sichtbar. Es macht sich mehr durch viele kleine Brände bemerkbar: Lehrausbildende Betriebe etwa, die keine geeigneten Lehrlinge finden, weil die Bewerberinnen nicht über die geforderten Skills verfügen,12 Jugendliche, die aus dem Ausbildungssystem herausfallen und über gar keinen Abschluss verfügen,13 eine starke Zunahme an psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen,14 Fachkräftemangel in verschiedensten Branchen.15

Denken wir zum Beispiel an den wichtigen Bereich Pflege: Wenn Spitäler Stationen (vorübergehend) schließen müssen, weil es zwar Betten gäbe, aber keine Pflegekräfte, welche die Patientinnen versorgen, dann sind wir über das Es-klingeln-die-Alarmglocken weit hinaus.16 Und statt dass mehr Betreuungseinrichtungen für Seniorinnen mit Pflegebedarf geschaffen werden, sperren solche Häuser mangels Personal zu.17 Das sind Probleme, die uns als Gesellschaft alle treffen: Jede von uns kann einmal dringend ein Spitalsbett brauchen. Und wir alle werden eines Tages vielleicht gebrechlich sein und Hilfe benötigen.