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Die Geschichte eines Zoos kann man auf unterschiedliche Weise erzählen. Roger Sidler stellt die Tiere ins Zentrum: Fischotter Peterli, Tiger Igor und Wildkatze Céline lebten zu unterschiedlichen Zeiten im Berner Tierpark Dählhölzli. Sie und vier weitere Bewohner sind nicht zufällig die Protagonisten dieses Buches: Die sieben Tiere waren Publikumslieblinge und stehen für Wegmarken in der Geschichte des Tierparks, aber auch für gesellschaftliche Veränderungen. Der originelle Zugang betrachtet die Zootiere als Zeitzeugen. Im Dählhölzli lebten sie nicht abgeschieden von der Welt in einer grünen Oase, sondern waren Botschafter des Natur- und Artenschutzes, Musen des Publikums. Sie standen für Vielfalt und waren Aufklärer für Klimawandel und Biodiversität. Unter Einsatz ihres Daseins warfen sie auf der Bühne des Tierparks existenzielle Fragen auf. Das Buch zeichnet jene Zeit nach, die das Leben der sieben Zootiere bestimmte.
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Einleitung: Vom Nutzen der Zootierbiografik
Fischotter Peterli (1938–1941) und die Selbstbehauptung
Wildkatze Céline (1958–1966) und die Emanzipation
Papagei Lea (–1961) und die Konsumlust
Tiger Igor (1971–1988) und der Wertewandel
Moschusochse Toni (1974–1982) und das Freizeitvergnügen
Die namenlose Dornschwanzagame (1995–2007) und die Zersiedelung
Clownfisch Nemo (*2014/15) und die Diversität
Schlusswort: Ein Plädoyer für den Zoo
Anhang
«Im Ganzen habe ich jedenfalls erreicht, was ich erreichen wollte. Man sage nicht, es wäre der Mühe nicht wert gewesen. Im übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.»
Franz Kafka: Ein Bericht für eine Akademie
In Franz Kafkas Erzählung schildert ein Affe dem gelehrten Publikum, wie er zu dem wurde, was er heute ist: ein Schimpanse in Menschenkleidern. Nach seiner Gefangenschaft vor die Wahl gestellt, entweder in den Zoo einzuziehen oder im Varieté aufzutreten, entschied sich der Affe für die Kleinkunst. Vor den hohen Herren der Akademie denkt er über seine Menschwerdung nach, indem er auf sein Leben zurückblickt und daraus berichtet. Während die Gelehrten von ihm wissen möchten, was das Tier zum Tier macht, versteht sich der menschgewordene Affe als ein Ich mit einer eigenen Geschichte.
Als Kafkas Erzählung 1917 erstmals publiziert wurde, war es in Zoos, Zirkussen und Varietés durchaus üblich, Menschenaffen in Kleider zu stecken. Man liess sie als Kinder verkleidet auftreten und mit einem Dreirad herumpedalen. Man inszenierte sie mit Hut und Kittel als Bier trinkende Männerrunde am Wirtshaustisch, zum Vergnügen des zahlenden Publikums. Aus solchen Nummern bezog Kafka die Inspiration für eine seiner berühmtesten Erzählungen. Dabei legte er seinem Protagonisten, der im Eiltempo den Sprung von der Wildnis in die Zivilisation schaffte, bedenkenswerte Überlegungen zur menschlichen Natur in den Mund.
Einen dieser Gedanken gibt das obige Zitat wieder. Es handelt sich dabei um das Schlusswort des Affen. Was gewinnen wir an Erkenntnissen über das menschliche Dasein im Hier und Jetzt, wenn wir uns eingehender dem individuellen Leben von Wildtieren in Gefangenschaft widmen? Taugen Zootiere als Zeitzeugen? Erfahre ich tatsächlich etwas über den gesellschaftlichen Kontext, wenn ich das Leben eines Zootiers aus dem Berner Tierpark Dählhölzli nacherzähle?
Zur Beantwortung dieser Fragen habe ich mich in die Literatur über den Berner Tierpark vertieft, Archive und Sammlungen durchforstet und Interviews geführt. Schliesslich stöberte ich sieben Tiere auf. Ihnen gemeinsam ist, dass sie alle, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, im Tierpark Dählhhölzi gelebt haben. Sie hinterliessen zahlreiche Spuren, anhand derer ich die Lebensgeschichten von Fischotter Peterli, Wildkatze Céline, Papagei Lea, Tiger Igor, Moschusochse Toni, der namenlosen Dornschwanzagame und Clownfisch Nemo nachzeichnen konnte.
Ich teile die Ansicht des Affen bei Kafka, wonach der Beitrag der Zootiere zum Verständnis unserer Zeit nicht unterschätzt werden sollte. Meiner Meinung nach beharrte er zu Recht auf diesem Punkt. Weder sind Zootiere geschichtslose Wesen noch beliebige Exemplare ihrer jeweiligen Art. Auch wenn sie im herkömmlichen Sinne keine intentional handelnden Subjekte sind, sind sie nichtsdestotrotz handlungsfähige, charakterstarke Persönlichkeiten. Über ihr Wirken in einer der bedeutendsten Kulturinstitutionen der Stadt Bern will ich in diesem Buch berichten.
KEINE UNBESCHRIEBENEN BLÄTTER
Im städtischen Tierpark gehörten die sieben Tiere zu den Stars. Ihre Namen kannte man in der Stadt, besonders die Kinder, aber längst nicht nur sie. Ihretwegen kamen die Besucherinnen und Besucher nach Bern. Die heimische Presse schrieb regelmässig und gern über die sieben Wildtiere, denn der Tierpark wusste seine Hauptdarsteller zu präsentieren. Ereignisse wie die Ankunft im Zoo, Nachzuchten oder der Bezug neuer Gehege und Aquarien, aber auch Extravaganzen und Todesfälle gaben Anlässe zu immer neuen Artikeln, meist versehen mit einer schönen Illustration der fotogenen Lieblinge. Nicht umsonst gehörte der Presseapéro im Tierpark zum fixen Termin im Kulturkalender der Stadt. Dem Lokaljournalismus bot er eine Veranstaltung von hohem Unterhaltungs- und Bildungswert.
Stoff für Publikationen lieferten die sieben Wildtiere auch den Zooverantwortlichen. Vor allem Tierparkverwalterin Monika Meyer-Holzapfel, die das Dählhölzli von 1944 bis 1969 leitete, wusste um das literarische Potenzial ihrer Schützlinge. Ihre Bücher «Tiere, meine täglichen Gefährten» (1966) und «Tierpark – kleine Heimat» (1968) waren äusserst populär, weil die an der Universität Bern dozierende Tierpsychologin das Verhalten der Tiere ähnlich darstellte wie menschliches Benehmen und Empfinden.1 In ihren Erzählungen werden die wilden, fremden und faszinierenden Tiere zu vertrauten Wesen. Ihr Schicksal geht uns nahe. Heini Hediger, der 1938 bis 1944 als Vorgänger von Meyer-Holzapfel den Tierpark geführt und schon in jungen Jahren einen vorzüglichen internationalen Ruf als Begründer der Tiergartenbiologie, also der Theorie und Praxis der Zootierhaltung, genoss, verwies in seinen Publikationen mehrfach auf Fischotter Peterli und dessen trauriges Ende.2 Selbst in seinen Memoiren gedachte der mittlerweile weltberühmte Hediger diesem besonderen Tier.3 Auch die Tierparkdirektoren Hannes Sägesser und Bernd Schildger – Ersterer war von 1970 bis 1991, Letzterer von 1997 bis 2021 im Amt – schrieben über Zootiere, die ihr Denken prägten.4 Allerdings änderte sich der Erzählton. Er wurde sachlicher, weil sie zwischen Mensch und Tier eine klarere Grenze zogen. Bodenständig zu und her geht es in Fred Sommers Rückschau auf sein Leben als Tierpfleger im Dählhölzli.5 Dass sich der gelernte Metzger an seine erste Begegnung mit dem Sibirischen Tiger Igor erinnerte, für den er dann jahrelang zuständig war, glauben wir ihm gern.
Zoointern hinterliessen die sieben Wildtiere haufenweise Akten. Beobachtungsblätter mit Hinweisen auf Krankheiten und Nachzuchten, Analysen von Kotproben, Sektionsberichte und Agendaeinträge der Tierparkleitung dokumentieren den Werdegang der Tiere und bezeugen die Aufmerksamkeit und Sorgfalt, mit der sich das Zoopersonal um sie kümmerte. Über den Zustand der Tiere legten die Direktorinnen und Direktoren in den Vierteljahresberichten zuhanden des Gemeinderats, der Stadtberner Exekutive, regelmässig Rechenschaft ab, selbst im jährlichen Verwaltungsbericht der Stadt Bern ist von ihnen die Rede. Entgegen der spontanen Vermutung, über das Leben individualisierter Zootiere lasse sich wenig in Erfahrung bringen, stiess ich auf gut dokumentierte Lebensgeschichten.
WEDER ANEKDOTE NOCH EXEMPLAR
Mittlerweile ist die Geschichte der Wildtierhaltung in Menagerien, Tiergärten, Wildtierpärken und Zoos gut dokumentiert und breit erforscht.6 Diese Feststellung trifft sowohl auf die einzelnen Epochen der Zoogeschichte als auch auf die allermeisten Zoos zu. Für das Dählhölzli legte Sebastian Bentz 2016 eine erste umfassende Aufarbeitung vor.7 Schon zuvor hatte der Berner Tierpark anlässlich runder Geburtstage reich illustrierte Publikationen veröffentlicht, die immer auch historische Abrisse umfassten.
In den Jubiläumsschriften der Zoos, den Erinnerungen des Zoopersonals und den an ein breites Publikum gewandten Sachbüchern im Stil von Meyer-Holzapfel spielen witzige, mitunter derbe Anekdoten über namentlich bekannte Zootiere eine wichtige Rolle. Sie geben uns mal unterhaltsame, mal erschreckende Einblicke ins Innenleben einer an Episoden reichen Kulturinstitution. Die Anekdoten sorgen für Unterhaltung, wecken das Interesse der Leserschaft, bleiben aber immer Momentaufnahmen. Woher das Tier kam, von der die Episode berichtet, was aus ihm wurde, sofern die Geschichte nicht sein Ableben erzählt, wie es seinen Alltag verbrachte, erfahren wir nicht. Die 2022 im Amsterdamer Rijksmuseum gezeigte Ausstellung über das Nashorn Clara, das im 18. Jahrhundert durch Europa tourte und als Wundertier der Wissenschaft und als Muse der Kunst betrachtet wurde, bildet diesbezüglich eine Ausnahme.8 Biografische Porträts über Wildtiere sind höchst selten.
Die Gelehrten des 19. Jahrhunderts sahen in Zootieren nichts anderes als lebende Sammelobjekte. Für sie waren die Tiere austauschbar. Aus diesem Grund wurde in den Menagerien und Zoos meist nur ein einzelnes Exemplar ausgestellt, weil das mit Blick auf die Sammlungslogik vollkommen genügte. Starb das Tier, wurde es durch einen Artgenossen ersetzt. Selbst wenn ein Paar ausgestellt war, dachte niemand an Nachzucht, sondern an die Unterschiede in Form und Farbe zwischen männlichen und weiblichen Tieren. Diese Sammellogik ergab sich aus dem Ringen um die zoologische Systematik. Nichts weniger als die Inventarisierung des Tierreichs strebte die Wissenschaft an. Beim Ordnen kam der vergleichenden Anatomie mit ihren Sektionen eine herausragende Rolle zu, weil sie nach körperlichen Merkmalen suchte, die über den Platz einer Art und ihrer Unterarten in den konkurrierenden Klassifikationssystemen entschieden. Um die Tierkadaver aus den Zoos rissen sich die anatomischen Institute, wobei sie sich lange Zeit mit Jungtieren begnügen mussten, weil die Wildfänge in der Regel kurz nach ihrer Ankunft in Europa starben und sie kaum einmal das Erwachsenenalter erreichten. Wer in seiner Stadt über keinen Zoo verfügte, kämpfte mit einem erheblichen Standortnachteil. Das galt auch für die Naturhistorischen Museen, die beim Aufbau ihrer Sammlungen genauso auf Zootiere angewiesen waren. Besonders beliebt waren die sterblichen Überreste grosser Säugetiere aus Afrika.
Ein gut bestückter Zoo hielt bis ins 20. Jahrhundert hinein möglichst viele, wenn nicht alle bekannten Arten einer Gattung, idealerweise im selben Käfig, zumindest gut sichtbar nebeneinander. Hinter den Gitterstäben wurde dem neugierigen Publikum immer auch der Wissensstand der zoologischen Systematik präsentiert. Diese Art der Zootierhaltung entsprach in keiner Weise den Bedürfnissen der ausgestellten Tiere. Die Folge war eine erschreckend hohe Sterblichkeit, sodass die Verantwortlichen sich gezwungen sahen, ihre Tierbestände permanent aufzufüllen, wofür sie viel Geld aufwarfen. Ohne den steten Nachschub an neuen Tieren wären die Zoos bei einem Lieferstopp noch bis in die 1960er-Jahre hinein binnen Jahresfrist halb leer gewesen. Das war in Berns Vivarium, wo die Exoten bis heute zu Hause sind, nicht anders.
Durch die Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichten löse ich die sieben Tiere aus ihrem ahistorischen Dasein als reine Anschauungsexemplare heraus. In diesem Buch gebe ich ihnen jenen Raum und jene Zeit zurück, die ihr Leben bestimmten. Indem ich ihnen eine Lebensdauer zugestehe, befreie ich sie auch aus der anekdotischen Momentaufnahme. Wie die Porträts belegen, haftet dem Leben einzelner Tiere gar ein Hauch von Unsterblichkeit an, solange deren Überreste in hochspezialisierten Institutionen für die kommenden Generationen aufbewahrt werden.
ZOOTIERE ALS ZEITZEUGEN
Den historischen Kontext, in dem die sieben Zootiere stehen, bilde ich auf drei Ebenen ab. Erstens beziehe ich das damalige zoologische, pathologische und tiermedizinische Wissen ein und zeige, welche theoretischen Konzepte jeweils wegweisend waren. Diesen Wissensstand konfrontiere ich mit heutigen Erkenntnissen. Über einheimische Tiere beispielsweise wusste die wissenschaftliche Gemeinschaft bis weit in die 1960er-Jahre erstaunlich wenig, was zur paradoxen Tatsache führte, dass viele exotische Tiere in den Zoos um einiges einfacher zu halten waren als einheimische.9 Während Fischotter Peterli dieser Ignoranz zum Opfer fiel, wurde Wildkatze Céline zu einer Pionierin der Feldforschung. Moschusochse Toni wiederum starb an einer seltsamen Krankheit, deren Ursache erst 37 Jahre später entdeckt wurde. Diese Beispiele machen deutlich, wie rasant sich die Wissenschaft im 20. Jahrhundert entwickelte.
Von Anfang an verstand sich der Berner Tierpark als ein wissenschaftlich geführter Zoo, gerade auch, was die Tierhaltung betraf. Die Geschichte der Tiergartenbiologie ist die zweite Ebene, auf der ich dem Zeittypischen nachspüre. Trotz des Anspruchs, die Tierhaltung auf wissenschaftliche Erkenntnisse abzustützen, setzte erst in den 1960er-Jahren eine Entwicklung ein, welche die Überlebenschancen der Zootiere erhöhte. Hediger wäre erstaunt und entzückt, wenn er heute seine morgendliche Inspektionstour durch das Dählhölzli antreten würde. Die derzeitige Direktorin Friederike von Houwald wüsste hingegen die hohe Tiersterblichkeit zu Hedigers Zeiten nicht mehr zu rechtfertigen. Wenn ich die Zootierhaltung von damals mit den Konzepten von heute vergleiche, geht es mir nicht darum, die Leistungen früherer Zooverantwortlichen abzuwerten oder ihnen einen guten Willen abzusprechen. Der Vergleich soll das Zeittypische hervorheben. In jedem Tierporträt wende ich mich einem spezifischen Aspekt der Zootierhaltung zu, der für das jeweilige Tier von Bedeutung war. Bei Clownfisch Nemo etwa liegt es auf der Hand, dass ich mich der Aquaristik, genauer dem Aufbau und Unterhalt des Berner Korallenriffs zuwende. In ihrer Gesamtheit illustrieren die sieben Porträts eindrücklich die Professionalisierung der Zootierhaltung.
Die sieben Zootiere verbrachten in ihren Gehegen alles andere als ein vom Tagesgeschehen isoliertes Leben inmitten einer stillen, grünen Oase. Vielmehr erstaunt die Dringlichkeit, mit der gesellschaftliche Debatten und politische Auseinandersetzungen auf den Alltag der Tiere einwirkten. Ich habe die Tiere so ausgewählt, dass deren Biografien die gesamte Zeitspanne von der Gründung des Tierparks 1937 bis in die Gegenwart abdecken. Zuverlässig wie ein Lackmuspapier zeigen die sieben Protagonistinnen und Protagonisten die Veränderungen der Zeit an. Empfindlich wie ein Seismograf registrieren sie die gesellschaftlichen Erschütterungen. Sie dokumentieren die Selbstbehauptung in Kriegszeiten, den Aufbruch in die Konsumgesellschaft, die Emanzipation, den Wertewandel, das Freizeitvergnügen, die Zersiedelung der Landschaft und die Diversität.
ZOOTIERE ALS KULTURSCHAFFENDE
Nachdem Hediger 1938 als erster vollamtlicher Tierparkverwalter gewählt worden war, führte er das Dählhölzli nach einem neuartigen Selbstverständnis. Für ihn war der Zoo in erster Linie eine Bildungs- und Forschungsstätte, die sich für die immer stärker unter Druck kommende Natur und Fauna zu engagieren hatte. Er strebte eine Zusammenarbeit mit den Instituten der Universität an, aber auch mit dem Naturhistorischen Museum. Er bemühte sich um den Austausch von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Er befürwortete um der Nachzuchten willen eine weltweite Koordination der Zoos. Ihm genügte es nicht mehr, wenn der Zoo sich darauf beschränkte, den Menschen Erholung und Unterhaltung anzubieten.10 Diese Aufgabe hatte der Tierpark zwar ebenfalls zu erfüllen, aber das «Tiermaterial» sollte in sämtliche Richtungen genutzt werden. Aus Verantwortungsgefühl gegenüber den aus der Wildnis entnommenen Tieren leitete Hediger die Verpflichtung zur bestmöglichen Pflege ab.11 Obschon die Tiere auch in seinem Selbstverständnis Objekte der wissenschaftlichen Neugier blieben, gestand er ihnen mehr Eigenständigkeit zu. In den Gehegen liess er Rückzugsorte einbauen, auch wenn das Publikum die Tiere dann trotz bezahltem Eintritt unter Umständen nicht zu sehen bekam. Informationstafeln, die vor den Käfigen montiert wurden, vermittelten Grundwissen über die ausgestellte Tierart. Dem Publikum wollte er erklären, was die Tiere taten, und nicht nur zeigen, wie sie aussahen. Dadurch machte er sie zu Botschaftern ihrer selbst.
Aare und Wald laden im Fall des Berner Tierparks zum Müssiggang ein. Hier erholen sich die Menschen vom lärmigen und stressigen Leben in der Stadt. Zum Naturerlebnis gehören auch die Zootiere. Später spitzte Hediger diesen Gedanken zu und sprach vom Zoo als «Notausgang zur Natur», weil sich die Menschen immer mehr der Natur entfremden würden.12 Im Zoo hatten sie die Gelegenheit, aus nächster Nähe in Kontakt mit den Tieren zu treten. Ganz ähnlich argumentierte Schildger, wenn er sich für das Tiererlebnis im Zoo stark machte.13 In der unmittelbaren, sinnlichen Begegnung sah er den Daseinsgrund des Tierparks. Die Zootiere wurden zu Musen für das Publikum.
Fast alle Berner Tierparkdirektorinnen und -direktoren lehrten an der Universität und ermutigten ihre Studierenden zu Feldstudien vor Ort. Als Meyer-Holzapfel ihre Daten über die damals seltene Nachzucht von Wildkatzen mit der Forschungsgemeinschaft teilte, schaffte es Céline in eine der international angesehensten zoologischen Fachzeitschriften.14 Dank der nicht abreissenden Zuchterfolge beteiligte sich der Tierpark in den 1960er-Jahren an einem frühen Wiederansiedlungsprojekt von Wildkatzen im Berner Oberland. Mittlerweile gehören solche Auswilderungsprojekte im In- und Ausland zum festen Programm der Zoos. Die europäisch koordinierten Erhaltungszuchtprogramme kamen zu Beginn der 1970er-Jahre auf. Vom Aussterben bedrohte Tierarten sollten in einer weltweiten Zoopopulation, einer Arche Noah gleich, überleben, damit geeignete Exemplare eines Tages ausgesetzt werden könnten. Indem die Zoos dank der international organisierten Nachzucht auch ihren eigenen Bedarf an Tieren deckten, entlasteten sie nebenbei ihre Budgets. Es war Tiger Igor, der dem Berner Tierpark den Zugang zu den Erhaltungszuchtprogrammen ermöglichte. In den frühen 1980er-Jahren wurde mit Klaus Robin der erste wissenschaftliche Assistent beziehungsweise Adjunkt am Tierpark angestellt. Zeitweise führte er das internationale Zuchtbuch für die Fischotter, was dem Berner Tierpark viel Renommee einbrachte. Die Tiere wurden zu Botschaftern des Artenschutzes.
Nach wie vor haben die vier Aufgabenbereiche eines wissenschaftlich geführten Zoos, die Bildung, die Forschung, der Naturschutz und die Erholung, nichts von ihrer Aktualität eingebüsst, selbst wenn zurzeit der Naturschutz im Vordergrund steht.15 In den Zoos lernen wir die Lebensräume der Tiere kennen. Wir werden auf ökologische Zusammenhänge aufmerksam gemacht und zwischen dem Schlendern von Gehege zu Gehege für die Auswirkungen des Klimawandels auf die Biodiversität sensibilisiert. Die Tiere halten uns dazu an, sorgfältiger mit den Ressourcen umzugehen und die Natur belastende Verhaltensweisen zu reduzieren. Sie werben für Schutzprojekte, für die der Zoo Geld spendet oder sein Know-how einbringt. Ihr Leben stellen sie in den Dienst der Aufklärung.
Dass die Tiere ihren Einsatz nicht in einer beliebigen städtischen Kulturinstitution leisten, belegen einige wenige, aber umso eindrücklichere Zahlen. 2023 besuchten mehr als 310000 Personen das Vivarium, wofür sie Eintritt bezahlten.16 Im selben Jahr dürften mehr als 1,2 Millionen Personen die frei zugänglichen Zoogehege im Wald und am Aareufer begangen haben. Der BärenPark, der ebenfalls in der Obhut des Dählhölzli liegt, empfing nach Schätzungen gut 1,8 Millionen Menschen. Keine andere Kulturinstitution in Bern ist mit einem solch grossen Publikumsinteresse konfrontiert. Das zeigen die Zahlen vergleichbarer Institutionen: Der Jahresbericht von Bühnen Bern für die Spielzeit 2022/23 weist über 137000 Besucherinnen und Besucher aus (inklusive Gastspiele).17 2023 hiess das Naturhistorische Museum Bern 146860 Gäste willkommen, das zweitbeste Ergebnis in der über 180-jährigen Geschichte des Hauses.18
Im Umkehrschluss gilt aber auch: Bleibt das Publikum aus, wird das Dasein der Institution infrage gestellt. Warum sollten noch Subventionen fliessen? Und für wen? Ein Zoo ohne Menschen, das zeigen die Erfahrungen während der Pandemie, empfinden selbst die Zootiere als Zumutung. Als Kulturschaffende sind sie auf ein Gegenüber angewiesen.
KONTAKTZONE ZWISCHEN MENSCH UND TIER
Über Zootiere zu schreiben, verleitet einen dazu, das Eigene, das Vertraute, das Gewohnte und das Zivilisierte zu hinterfragen. Es gibt wohl keine Tierbeschreibung, die nicht auch menschliche Ängste und Hoffnungen auf die Tiere projizieren würde. Im Angesicht der Zootiere verhandeln wir grundlegende Fragen des Menschseins. Das macht den Tierpark zu einem Ort des erhöhten Gesprächsbedarfs, an dem sich inmitten der Tiere Gefühle und Meinungen leicht entzünden.
Wildtiere in Gefangenschaft wecken unser Interesse, weil wir ihnen nahe sein wollen. Dafür benötigen wir einen Rahmen, der beide Seiten voreinander schützt. Wie wir uns begegnen, ist von Belang. Ob der Tierpark das will oder nicht: Er stellt eine öffentliche Bühne dar. Für die Tiere bedeutet dies, dass sie ihr Leben in einer Kontaktzone zwischen Mensch und Tier verbringen. Weil sie existenzielle Fragen zur Diskussion stellen und weil wir uns nach ihnen sehnen, sind ihre Biografien bestens dokumentiert, und zwar zoointern wie öffentlich. Daraus beziehen Zootiere ihren Status als Zeitzeugen. Kafkas Affe hat Recht, wenn er mit Nachdruck darauf beharrte, dass das nicht nichts sei.
Um diese Zeit spazieren keine Fussgänger dem Uferweg der Aare entlang, nicht im Dezember, nicht mitten im Krieg. Da Wassermarder weder einen Winterschlaf noch eine Winterruhe halten, ist das nachtaktive Tier hellwach. Es bemerkt sogleich, dass sich jemand der Grube am oberen Ende des Teichs nähert. Von hier unten ist die jenseits der Aare, auf einem Hügel liegende Stadt kaum zu erkennen. Seit über einem Jahr gilt landesweit die Verdunkelung. Der Bundesrat hat sie eingeführt, als Schutzmassnahme vor alliierten Flugzeugen, die das Schweizer Territorium überfliegen, um ihre Bomben über Deutschland abzuwerfen. 77 Mal sollten sie aus Versehen die neutrale Schweiz treffen, was 84 Menschen das Leben kosten wird. Vor ein paar Tagen erst beschloss Japan den Eintritt in den Krieg gegen die Vereinigten Staaten, Grossbritannien und die Niederlanden. Bald würden japanische Flieger die Pazifikflotte der Amerikaner in Pearl Harbor angreifen. Auch die Gegenoffensive der Roten Armee steht unmittelbar bevor, nachdem Hitlers Truppen im Sommer in Russland eingefallen sind. In den Dezembertagen des Jahres 1941 entwickelt sich der Krieg vollends zur globalen Katastrophe.
Vor Eis und Schnee braucht sich der Fischotter nicht zu fürchten. Sein dichtes, braunes Fell schützt ihn vor Feuchtigkeit und Kälte, selbst unter Wasser. Pro Quadratzentimeter besitzen die eleganten Schwimmer rund 50000 Haare, so viele wie kein anderes einheimisches Tier. Ruhelos durchstreift er in immer gleichen Schlaufen sein kleines, eingemauertes Revier. Er gleitet ins Wasser, klettert die Steine hoch, horcht, gleitet wieder ins Wasser.
Ob die unbekannte Person in die Grube blickt, bevor sie dem neugierigen Fischotter den Köder zuwirft? Ohne zu zögern, schnappt dieser nach dem Stück Fleisch. Während er sich mit der Beute in seine Höhle zurückzieht, verschwindet der Unbekannte mit raschen Schritten in der Dunkelheit.
6532 JA-STIMMEN UND GELD AUS MOSKAU
Was lange währt, kommt gut: Mit dieser Formel brachte der Baudirektor Ernst Reinhard die komplizierte Vorgeschichte des Dählhölzli auf den Punkt.19 Es dauerte Jahrzehnte und bedurfte mehrerer Anläufe, bis die Stadt Bern zu ihrem Tierpark kam. Am Samstag, den 5. Juni 1937 war es so weit. Bei schönstem Wetter besichtigte eine festlich gestimmte Bevölkerung erstmals die «einstigen und jetzigen Tiere der Heimat». Den Besucherinnen und Besuchern wurden fast immer Lebensgemeinschaften präsentiert, wie Reinhard in der Festschrift stolz verkündete.20 Bern zeigte keine Einzeltiere, sondern Gruppen. Wer entlang dem Aareufer vorbei an den künstlich angelegten Teichen und Freigehegen spazierte, bestaunte Steinböcke, Wildschweine und Fischotter. Wer mochte, betrat die Freigehege mit den Wasservögeln oder jene mit den Huftieren. Den engen Kontakt zu den Hirschen und Rehen schätzte das Publikum sehr. Die Tiere durften mit mitgebrachtem Brot und Gemüseresten gefüttert werden. Vor dem Ponyreiten bildete sich eine lange Schlange.
Afrikanische Säugetiere wie Elefanten, Löwen oder Schimpansen suchte man im Dählhölzli vergebens. Bern hatte sich für einen Tierpark und gegen einen zoologischen Garten entschieden. Für heutige und ehemalige Tiere aus dem heimischen Lebensraum und gegen Tiere aus fernen Ländern. Ganz so rigide wurde das Konzept dann doch nicht umgesetzt. Wer nicht auf exotische Farben und Formen verzichten mochte, stieg zum Wald hoch. Hier, in einem modernen Neubau, «Vivarium» genannt, befanden sich die Aquarien, Terrarien und Volieren. Dieser Teil des Tierparks war kostenpflichtig. Für den Eintritt zahlten Erwachsene 50, Kinder und Militärangehörige 20 Rappen. Zum Vergleich: Ein Cervelat kostete damals 25 Rappen.21 Für den Preis eines Wurstpärchens liessen sich bunte Vögel und Fische, giftige Schlangen und sonderliche Echsen bewundern. Eine Welt voller Faszination und Schauer. Zu Anschauungszwecken für den Unterricht wurden die fremden Tiere ausgestellt, rechtfertigte Reinhard die Abweichung von der eigentlichen Ausrichtung des Tierparks.22
Die ersten Bemühungen um einen Berner Zoo gingen auf das Jahr 1871 zurück, als ein bürgerlicher Verein am Ufer der Aare beim Schwellenmätteli eine Akklimatisationsstation für exotische Tiere errichten wollte, damit diese sich an das hiesige Klima gewöhnen konnten.23 Nur ein Jahr später löste die Gruppe sich wieder auf, weil man nie über das Stadium hochfliegender Ideen hinauskam. Dasselbe Schicksal widerfuhr der 1924 gegründeten Tiergartengesellschaft Bern. Sie träumte von einem Tierpark in der Elfenau. Den Durchbruch schaffte schliesslich der Natur- und Tierparkverein Bern, auch wenn er mit seinen ursprünglichen Plänen aufgelaufen war. 1930 hatte der Verein die alte Idee, im Park der Elfenau Tiere anzusiedeln, wieder aufgegriffen, stiess damit aber auf den erbitterten Widerstand von Naturschutzkreisen, die den Elfenaupark unverändert bewahren wollten. Angesichts der verhärteten Fronten brachte die Burgergemeinde als Alternative das Dählhölzli ins Spiel. Gleichzeitig signalisierte sie, einen Teil des Waldes, der sich in ihrem Besitz befand, zugunsten des Tierparks abtreten zu wollen. Das Projekt nahm Fahrt auf.
An einer Konferenz im März 1935, zu der die Stadtregierung eingeladen hatte, einigten sich die Parteien auf einen Tierpark, der sich vom Aareufer bis zum Dählhhölzliwald erstrecken sollte. Darüber hinaus würde sich die Tierparkverwaltung um den Bärengraben und den Ententeich auf der Kleinen Schanze kümmern. Mit der Projektierung beauftragte die Stadt den Architekten Emil Hostettler und stellte ihm den Stadtgärtner und den Stadtbaumeister zur Seite. In wenigen Monaten entwarf Hostettler die Pläne. Die Behörden hiessen sie im Eiltempo gut, damit sie das Projekt noch am Wochenende vom 28. auf den 29. Dezember zur Abstimmung vorlegen konnten. Die wenigen Stadtberner Männer, die zum Jahresausklang den sonntäglichen Gang an die Urne antraten – die Stimmbeteiligung lag knapp über zwanzig Prozent –, nahmen die Vorlage mit 6532 Ja- gegen 780 Nein-Stimmen an. 96 Abstimmungszettel gingen leer ein oder waren ungültig.24
Zum wuchtigen Ja trug der Umstand bei, dass der Tierpark die Stadtkasse kaum belastete. Gerade mal 79000 Franken musste sie beitragen, etwas mehr als zehn Prozent der Gesamtkosten von 724000 Franken. Je 50000 Franken steuerten der Natur- und Tierparkverein und der Bund bei, 25000 Franken der Kanton Bern. Den Löwenanteil von 520000 Franken, rund siebzig Prozent der Bausumme, deckte das Legat von Louis William Gabus ab. Der Uhren- und Schmuckhändler hatte im zaristischen Moskau ein Luxuswarengeschäft geführt. Dank grossbürgerlicher und adliger Kundschaft gelangte er zu Reichtum. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz liess sich Gabus auf Schloss Worb nieder. Per Testament vermachte er der Stadt Bern 150000 Franken – Geld, das für die Errichtung eines Zoos bestimmt war. Da die Stadt seinen Wunsch erst dreissig Jahre später erfüllen konnte, hatte das Legat in der Zwischenzeit hohe Zinserträge abgeworfen. Als die Baukosten den Kredit überschritten, sprang die Stadt ohne viel Aufhebens für den Fehlbetrag von immerhin 141590 Franken, zwanzig Prozent der ursprünglich budgetierten Bausumme, ein.
VON TIEREN UND MENSCHEN
Nachdem der Tierpark in Rekordzeit projektiert und gebaut worden war, galt es, die Gehege, Käfige und Aquarien mit Tieren zu besetzen. Bis auf einige Büffel und Hirsche, welche die Stadt vom Hirschenpark Engehalde ins Dählhölzli übersiedelte, musste sie den gesamten Tierbestand erst erwerben. Zu diesem Zweck erstellte der Natur- und Tierparkverein Preislisten.25 Am teuersten waren die Könige der Alpen: Ein Paar Steinböcke kostete 3000 Franken. Ebenfalls viel Geld, nämlich 2000 Franken, nahm man für ein Paar Elche in die Hand. Für zwei zahme Fischotter fand sich ein privater Spender. Darüber berichtete Der Bund in einer Zeitungsnotiz mit anerkennenden Worten, nicht ohne anzufügen, dass die «unheimlich gewandten Fischräuber» an der Aare mittlerweile selten geworden seien.26 Mit 550 Franken zählten die Fischotter zu den wertvollen Tieren. Im Vergleich dazu erwiesen sich zwei Riesenschlangen für zusammen 400 Franken als Schnäppchen.
Laut dem Bestand vom 1. Januar 1938 schuf der Tierpark über 2500 Tiere an: 124 Säugetiere, 31 Reptilien, 1600 Fische, 770 Vögel und zwei Bienenstöcke. Um die Pflege, Fütterung und Reinigung kümmerten sich drei Wärter und zwei Hilfswärter, alle ursprünglich Handwerker oder Hilfsarbeiter, die zwar mit Tieren umzugehen wussten, aber über keinerlei zoologische Kenntnisse verfügten. Nur Oberwärter Werner Schindelholz brachte Erfahrungen mit, da er im Basler Zoo und im Tierpark Arth-Goldau gearbeitet hatte. Eigentlich hätte er in seiner Funktion zusätzlich Verwaltungsarbeiten übernehmen sollen, wozu er weder Lust noch Eignung zeigte, sodass sich die Kassiererin darum kümmerte. Eine Putzfrau und zwei Aushilfen für das Wochenende vervollständigten das zusammengewürfelte Team.
Der erste Plan der Tierparkanlage von 1937 weist den Weg: Wollte der Tierpark wachsen, musste Burgerwald gerodet werden.
Dem Tierpark stand Tierarzt Paul Badertscher vor. Im Nebenamt. Schliesslich besass er eine eigene Tierarztpraxis, war Pferdearzt auf dem Waffenplatz der Berner Infanterieschulen, wirkte als Amtstierarzt von Bern sowie als Fleischschauer und Ladenkontrolleur in den Metzgereien rund um die Stadt, in denen geschlachtet wurde.27 Angesichts der Häufung von Funktionen und Pflichten fehlte ihm die Zeit für eine dauerhafte Präsenz vor Ort. Daher überliess er die Pflege und Fütterung der Tiere ebenso wie die Festlegung der Arbeitsabläufe den Wärtern. Weder kümmerte er sich um die Zusammenarbeit mit der Stadtgärtnerei, die für die Grünanlagen zuständig war, noch steckte er das Terrain gegenüber der Baudirektion II ab, die administrativ das Personalwesen des Tierparks betreute. Das Führungsvakuum füllte zum einen der zuständige sozialdemokratische Gemeinderat Reinhard aus, der sich ins operative Geschäft des Tierparks einmischte. Zum anderen wachte der bürgerliche Tierparkverein über das Wohlergehen des Zoos. Auf dem Papier wäre eine Tierparkkommission vorgesehen gewesen, in der die Baudirektion II und der Tierparkverein Einsitz genommen hätten, doch Gemeinderat Reinhard rief das Gremium selten ein. Jeder tat, was er für gut befand.
Vor dem Hintergrund dieser unhaltbaren Zustände fiel den Tierwärtern eine Schlüsselrolle zu. Doch anstatt das Heft in die Hand zu nehmen, stritten sie sich immer verbitterter mit ihrem Oberwärter, bis es um das Jahresende 1937/38 zu Handgreiflichkeiten kam. Oberwärter Schindelholz wiederum focht mit seinem Vorgesetzten Badertscher einen Rechtsstreit aus: Ein notfallmässiger Eingriff des Arztes mithilfe eines Küchenmessers bei der Geburt einer Zwergziege war misslungen. Anschliessend kam es gegenseitig zu ehrrührigen Unterstellungen. Aufgeschreckt durch die ruppigen Konflikte untersuchte die Baudirektion II die Zwischenfälle. Gespräche mit den Betroffenen führte auch der besorgte Tierparkverein. Das wiederum brachte den gesamten Gemeinderat in Rage, schliesslich handelte es sich beim Tierpark um eine Abteilung der städtischen Verwaltung. In den Untersuchungsberichten und Stellungnahmen wimmelt es von Anschuldigungen und Behauptungen.28 Wer auch immer welche Gemeinheit begangen, wer auch immer den anderen mit Schimpfwörtern eingedeckt haben mochte, so konnte es nicht weitergehen. Schon nach wenigen Monaten drohte der neu eröffnete Tierpark im Chaos zu versinken.