Zu Besuch am rechten Rand - Sally Lisa Starken - E-Book

Zu Besuch am rechten Rand E-Book

Sally Lisa Starken

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Beschreibung

Warum halten so viele die AfD für eine echte Alternative? Wir müssen dringend miteinander reden!

Die AfD: Eine Partei, die vom Verfassungsschutz in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuft wird und gleichzeitig Zustrom von vielen Wähler*innen erhält. Warum wählen Menschen AfD? Was lässt sie glauben, das Programm der AfD führe sie in eine bessere Zukunft? Und vor allem: Wie können die Menschen, die sich von ihr angesprochen fühlen, wieder erreicht werden? Es ist dringend notwendig, mit ihnen zu sprechen, und nicht nur über sie. Sally Lisa Starken macht genau das – und hört zu. Sie erfährt, wie die Lebensgeschichte dieser Menschen aussieht und fragt, wo genau die demokratischen Kräfte den Anschluss verloren haben. Nur wenn wir wieder miteinander reden, aus diesen Begegnungen etwas mitnehmen und sich weniger Menschen von der Politik abgehängt und ungesehen fühlen, können wir unsere Demokratie noch retten. Die Brandmauer muss von einer Seite durchlässig sein, damit die Menschen wieder zur Demokratie zurückfinden können.

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Seitenzahl: 377

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch:

Sally Lisa Starken, geboren 1990, ist freie Journalistin, Moderatorin, Podcasterin und Content Creatorin: Sie moderiert, schreibt und spricht vor der Kamera, auf Bühnen und in den Sozialen Medien über Politik, News und Female Empowerment. Sie war Gründerin der Initiative #stattblumen und WAHLTRAUT, der feministischen Wahlomatin. Auf Instagram und als Podcast-Host erklärt sie täglich Politik – aktuell in ihrem Format »Die Informantin«. Sie ist Autorin zweier Kinderbücher über Demokratie und Klimaschutz.

Zur Autorin:

Die AfD: Eine Partei, die vom Verfassungsschutz in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuft wird und gleichzeitig Zustrom von vielen Wähler*innen erhält. Warum wählen Menschen AfD? Was lässt sie glauben, das Programm der AfD führe sie in eine bessere Zukunft? Und vor allem: Wie können die Menschen, die sich von ihr angesprochen fühlen, wieder erreicht werden? Es ist dringend notwendig, mit ihnen zu sprechen, und nicht nur über sie. Sally Lisa Starken macht genau das – und hört zu. Sie erfährt, wie die Lebensgeschichte dieser Menschen aussieht und fragt, wo genau die demokratischen Kräfte den Anschluss verloren haben. Nur wenn wir wieder miteinander reden, aus diesen Begegnungen etwas mitnehmen und sich weniger Menschen von der Politik abgehängt und ungesehen fühlen, können wir unsere Demokratie noch retten. Die Brandmauer muss von einer Seite durchlässig sein, damit die Menschen wieder zur Demokratie zurückfinden können.

Sally Lisa Starken

Zu Besuch am rechten Rand

Warum Menschen AfD wählen

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 02/2025

Copyright © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Matthias Auer

Umschlaggestaltung: Simon Franz & wilhelm typo grafisch unter Verwendung eines Fotos von © Daniel Dittus

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-33056-9V002

www.heyne.de

Inhalt

Prolog

1. Kapitel Der Frosch im Kochtopf – Sind wir jetzt alle rechts?

Kleine Chronik der AfD

Die aktuelle Situation

2. Kapitel Auf leisen Sohlen – Wie hat sich die AfD in unseren Alltag geschlichen?

Was bedeutet Rechtspopulismus?

»Wir« und »die anderen«

Die Angst um den sozialen Abstieg

Corona, Ukraine-Krieg und Verschwörungsideologien

Das Narrativ der Fremden als Motor für Rechtspopulismus

Die Medien als eigenes Sprachrohr

Wie die AfD für uns immer »normaler« wird

Konservative und ihr drohender Machtverlust

Und jetzt?

3. KapitelDie Tür in der Brandmauer – Wer geht hindurch?

4. Kapitel Herrscht im Osten die AfD?

Auf der Suche nach dem Safe Space

Lea aus Görlitz

Kein Suhl ist auch keine Lösung

Der Nachbar von unten

Frank aus Erfurt

Die AfD auf der Überholspur

Zurück auf Anfang

Die 100 000-Dollar-Frage

Wir sind mehr im Osten

5. Kapitel Als Frau in der AfD

Echte Frauen sind rechts

Frauen in der AfD fürs Image

Emilia nachts allein unterwegs

Gegen die Sprachlosigkeit

Der »übergriffige Fremde«

Gewalt gegen Frauen

Eine Frau ist eine Frau

Jeder Mensch hat das Recht, ein Mensch zu sein

6. KapitelDer TikTok-Tanz biegt rechts ab

Wer die AfD wählt, der brennt

Die Jugend von heute

Rechts und jung

Es gibt kein Neutralitätsgebot

Im Funnel

Die Anziehungskraft von Populismus und Algorithmus

7. Kapitel Mit Abschieben sind die anderen gemeint

Die AfD braucht Menschen mit Migrationshintergrund

Geheimplan gegen Deutschland

Eine Alice aus Pappe im Urlaub

Der Rassismus in uns

Mit Migrationshintergrund für Deutschland

Der Schatten der Gesellschaft

Wo wir stehen

8. Kapitel Rein in den Protestwähler, raus aus der Parole

Der nette Stefan 9

Die Tochter

Eine gefährliche Verharmlosung

Ein rechtsextremes Weltbild und die AfD

Ich male mir die Welt, wie sie mir gefällt

9. Kaptiel Das Ende dieser Reise – der Optimismus, der uns bleibt

1. Erkenntnis: Verdammt viel Glück gehabt

2. Erkenntnis: Wirf das Stöckchen weg

3. Erkenntnis: Das Konzert für die Mitte

10.Kapitel Wie wir wieder miteinander ins Gespräch kommen können – ein Handlungsleitfaden gegen rechtsextreme Parolen

Abschließende Worte

Dank

Quellenangaben

Für die Demokratie

»Die Demokratie muss bleiben. Ihr müsst Menschen sein. Nichts weiter.«

Margot Friedländer

Prolog

Unsere Welt ist im Wandel. Bei vielen Menschen machen sich deshalb Unsicherheit und Angst breit. Auf der Suche nach neuen Deutungen und Erklärungen verändern sich auch politische Überzeugungen, oftmals verfangen dabei vermeintlich stärkere und einfachere Politikstile. Die Demokratie gerät angesichts dessen immer stärker unter Druck, nicht zuletzt bei Wahlen. Insbesondere der rechte Rand erstarkt mehr und mehr.

Der Untertitel meines Buches verspricht Antworten auf eine ganz zentrale politische Herausforderung der Gegenwart: den wachsenden Rechtspopulismus bzw. Rechtsextremismus.

Es verspricht Antworten auf die vielleicht wichtigsten Fragen unserer Zeit: Kann sich Geschichte wiederholen? Und was kann man tun, damit das nicht passiert? Warum ziehen manche Menschen in unserem Land eine rechte oder gar eine rechtsextreme Weltanschauung als Option, gar als vermeintliche Lösung ihrer Probleme in Betracht?

Oft sind diese Fragen mit weiteren verbunden, wie zum Beispiel: Was macht man gegen die Unzufriedenheit, die so viele tagtäglich in ihrem Alltag empfinden? Mit den Mitmenschen, gegenüber der Politik und gegenüber der Situation in unserem Land? Wie holt man jemanden, der am rechten Rand des politischen Spektrums steht, in die Mitte der Gesellschaft zurück, ohne dass er oder sie sich selbst dabei verliert oder sich dafür komplett neu erfinden müsste?

Und: Wie kann es unter diesen Vorzeichen gelingen, einen gemeinsamen Zukunftsentwurf für unsere Gesellschaft zu entwickeln?

Eben diese Fragen stelle auch ich mir in diesem Buch. Sie waren der Anlass, den Stift in die Hand zu nehmen, aufzuschreiben, was mich bewegt, und zuzuhören, was andere dazu zu sagen haben.

Liefert das mögliche Antworten, nach denen wir alle suchen? Ja, es gibt diese Antworten. Was ich aber schon jetzt vorwegnehmen darf: Die Antworten, sie sind anders, als man im ersten Moment vielleicht denken oder sich erhoffen würde. Dieses Buch ist deshalb auch keine abschließende Anleitung zu »Wie können wir die Welt retten und Menschen umstimmen, damit sie keine Rechtspopulisten oder -extreme wählen oder gar selbst zu welchen werden?«. Und es trägt auch nicht den Titel »20 Antworten, die dein Leben verändern«.

So etwas liegt nicht in meiner Expertise. Was ich jedoch anbieten möchte, ist ein ungeschönter Blick in unser Hier und Jetzt. Eine Wegmarke oder ein Orientierungspunkt in unübersichtlicher Landschaft. Und die Einsicht, dass komplexe Fragen niemals durch einfache Lösungen beantwortet werden können. Mich haben die Eindrücke, die ich sammeln durfte in teils fremder und ungewohnter Umgebung, zum Nachdenken angeregt. Dabei habe ich mich und meine Einschätzungen oftmals selbst überdenken müssen, und ich hoffe, das wird euch als Leser*innen auch so gehen. Dass man den einen oder anderen Moment innehält, durchatmet und eine Situation neu bewertet.

Unsere Welt ist schnelllebig, und ja, wir kämpfen doch alle nur jeden Tag darum, den Kopf über Wasser zu halten, sodass es oft schon schwer genug ist, über die eigenen, oft unüberwindbar scheinenden Probleme nachzudenken. Oder sich nicht ins eigene Schneckenhaus zu verkriechen und sich ausweichend mit Sätzen wie »Man könnte ja mal …« oder »Wenn ich wirklich Zeit hätte, dann würde ich ja vielleicht …« zufriedenzugeben. Das ist eben so viel einfacher, als darüber nachzudenken, wie wir alle etwas zum Besseren verändern könnten. Natürlich müssten wir uns zuvor darüber einig sein, wie dieses »Bessere« denn eigentlich aussehen würde. Ganz schön kompliziert.

Dieses Vorhaben hört sich selbst für meine Ohren eine Spur zu pathetisch an – nur ist es eben doch ein Teil der Wahrheit. Wir haben eine Stimme, wir können sie nutzen und uns einbringen. Diesen dialogischen Aushandlungsprozess braucht eine Gesellschaft. Es ist unsere Verantwortung in dieser Demokratie, mitwirken zu wollen.

Wir können uns fragen, wie es dazu kommen konnte, dass unsere Nachbarin wenig Rente erhält und deswegen jetzt die AfD wählen möchte. Wir können hinhören, wenn unser Arbeitskollege die Schuld für eine ihm widerfahrene Ungerechtigkeit bei Geflüchteten sucht. Wir können mit offenen Augen durchs Leben gehen und versuchen, wieder wirklich miteinander zu sprechen. Fragen, antworten, zuhören. Ja, all das könnten wir. Nur, die Realität sieht anders aus. Wir machen es den großen Teil unserer Zeit einfach nicht.

Und hier sind wir auch schon beim Kern dieses Buches angekommen. Ich denke, wir haben in manchen Konstellationen einfach verlernt, zu diskutieren, hinzuhören und andere Meinungen für voll zu nehmen. Die Sorgen, Ängste und auch die Wut anderer Menschen zu spüren und sich Gedanken zu machen, wie eigentlich ein wertschätzendes und empathisches Miteinander aussehen würde. Nicht nur in persönlichen Beziehungen, sondern auch in Politik und Gesellschaft. Fernab jeder Machtfrage.

Deswegen ist dieses Buch eine Einladung zu einer gemeinsamen Reise. Eine Reise zu einem Anfang mit möglichen Antworten. Nicht mehr und nicht weniger. Aber mit der letzten Seite endet diese Reise nicht. Vielmehr beginnt an diesem Punkt euer eigener Weg. Neben all den Anregungen und Gedanken, die ihr mitnehmen könnt, bleibt, wenn ihr mögt, eine einfache Frage:

Was kann ich jetzt tun, um einen Unterschied zu machen?

1Der Frosch im Kochtopf – Sind wir jetzt alle rechts?

»Bist du nicht die mit diesem Nachrichten-Podcast? Und redest du auch mal über kriminelle Flüchtlinge? Hier bei uns wurde gerade wieder eine alte Frau überfallen. Alles nicht mehr normal in diesem Land. Die Politiker da oben haben doch die Kontrolle verloren …«

Der Brautvater schaut mich eindringlich an. Es ist Hochsommer, ich stehe auf einer Wiese bei einem Sektempfang. Die Hochzeit einer Bekannten, neben mir ihr Vater. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ich jetzt reagieren könnte. Freundlich lächeln, dezent nicken, ein bisschen murmeln, mich wegdrehen, so tun, als wäre das gerade nicht passiert, und einen anderen Gesprächspartner suchen. Einfach. Oder die schwierige Variante: Augen auf, Gehirn auf Leistung und rein in die Diskussion. Ich entscheide mich für Letzteres. Was bleibt mir auch anderes übrig – ich habe ja einen Ruf zu verteidigen, dass ich Menschen Politik erklären kann. Hoffe ich.

Ich bin davon überzeugt, dass mich genau deshalb so oft Menschen mit ihrer politischen Haltung konfrontieren. Ich erkläre Politik in den Sozialen Medien. Manchmal mit ein bisschen Witz, wobei das letztlich immer im Auge der Zuschauenden liegt. Oft auch mit einer gewissen Leichtigkeit, die genau dazu einladen soll: Lass uns darüber sprechen. Natürlich ist das meist einfacher gesagt als getan. Auf einer Hochzeit würde ich mich auch viel lieber intensiver dem Kuchenbüfett widmen als einem Brautvater, der nur darauf gewartet hat, mich ungefragt mit seiner Meinung zu provozieren. Ganz nach dem Motto: Schauen wir doch mal, ob die wirklich was auf dem Kasten hat.

Ich atme also tief ein und frage ihn, wie er darauf komme. Ich möchte ehrlich zuhören.

Doch dann: Stille. Eine Gegenfrage? Kein Wegducken? Damit hatte er anscheinend nicht gerechnet. Und höchstwahrscheinlich passiert ihm das auch nicht allzu oft.

Dann ein Aufleuchten in seinen Augen. Er präsentiert mir rechtspopulistische Parolen. Keine, die ich hier wiederholen möchte.

Und genau in diesem Moment denke ich: Welche Fragen müsste ich ihm denn eigentlich stellen, damit wir ein ernsthaftes Gespräch führen könnten und ich erfahre, was ihn gerade wirklich beschäftigt? Ohne dass er nur etwas sagt, um zu provozieren, sich darzustellen oder um zu zeigen, dass es eigentlich nur seine Wahrheit geben kann. Neugierde und Respekt vor einer anderen Meinung also und ehrliches Interesse aneinander, anstatt steile These um steile These abzufeuern, die einen Dialog unmöglich werden lässt.

Sich reflektieren, dem anderen zuhören und dabei für einen kurzen Moment die rechten Parolen ad acta legen, das war in der Situation mein Wunsch.

»Hören Sie, was Sie da eigentlich sagen – das passt doch alles nicht zusammen«, hätte ich in der Situation aus einem Impuls heraus am liebsten gerufen, nur hätte das wahrscheinlich keinem von uns geholfen. Er hätte mehr Angriffsfläche gefunden, und ich wäre einfach nur noch frustrierter gewesen. Zur Wahrheit gehört gleichzeitig auch, dass ich ja selbst von Anfang an voller Vorurteile und fester Überzeugungen war. Laute Stimme, leicht provokanter Unterton? Ein Gespräch, das ungemütlich werden könnte. Ein Mensch, der mir ungemütlich werden könnte.

Auf dieser Wiese, mit dem Sektglas in der Hand, dem etwas zu lauten Brautvater mir gegenüber und dem wirklich zu heißen Sommer: In dieser Situation, die sinnbildlich für viele andere steht, hat man vermutlich gar nicht die Muße, sich so zu öffnen, dass das Gegenüber sich auch öffnen kann – und vor allem auch möchte. Wie oft geben wir dem anderen gar nicht die Chance, sich wirklich zu äußern, weil wir bereits im Voraus eine feste Meinung haben? Angesagt wäre, durchzuatmen und sich auf Situationen vorurteilsfrei einzulassen. Sich auf andere Menschen einzulassen. Doch das kommt selten vor.

Aber was wäre, wenn man sich diese Zeit nähme und den Versuch starten würde, wieder zurückzukommen zu einem Zustand, in dem man offen und mit unterschiedlichen Meinungen diskutieren könnte, um bestenfalls zum Nach- und Überdenken anzuregen?

Ein Hinweis: Ich meine damit jedoch nicht, dass jede abstruse Meinung oder jedes Geschwurbel von Verschwörungstheoretiker*innen berücksichtigt werden sollte.

Mich interessiert die Sichtweise hinter der Meinung. Denn wieso kommen Menschen aus der Mitte der Gesellschaft an den rechten Rand und machen populistische Halbwahrheiten, wie sie die AfD vertritt, zu ihrer Meinung?

Daran habe ich ein Interesse. Ich möchte die Perspektiven und Gründe erfahren, die dann einen Ansatzpunkt für echte Auseinandersetzungen bieten könnten. Ein Gespräch ohne populistische Parolen.

Ich glaube: Man könnte dann Sichtweisen begegnen, die besser erklären, warum populistische Parolen gerade so überzeugend verfangen und manche Menschen sich in ihrer Meinung so stark beeinflussen lassen.

Was ich sagen möchte: Am spannendsten ist doch, was passieren könnte, wenn wir nachfragen. Und auf eine Antwort warten.

Und sich daraus immer mehr Fragen entwickeln, für die wir doch tief in unserem Herzen irgendwie alle Antworten finden wollen: Wer sind die Menschen, die eine gesichert rechtsextreme Partei wählen, als welche die Landesämter für Verfassungsschutz in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die AfD einstufen, oder sich ihr nahe fühlen? Wie sieht ihre Lebensgeschichte aus, und an welcher Stelle genau haben die demokratischen Kräfte in unserem Land den Kontakt zu ihnen verloren? Welche Wendepunkte im Leben dieser Menschen haben sie dazu gebracht, ihre politischen Überzeugungen so radikal zu ändern?

Ich möchte mehr als das hören, was mir zufällig auf Hochzeiten, in der Straßenbahn oder auf dem Wochenmarkt zwischen Tür und Angel erzählt wird.

Ich möchte Menschen besuchen. In ihrer gewohnten Umgebung, an Orten, an denen sie sich sicher fühlen, an denen sie bereit sind, offen über ihre Ängste und Hoffnungen zu sprechen. An denen sie auf Augenhöhe darüber reden, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Ganz sachlich. Aber auch ganz konkret.

Ich möchte Menschen finden, die denken, die AfD sei ihre Alternative. Menschen, die früher klassisch CDU oder SPD gewählt haben. Sind sie enttäuscht, fühlen sie sich nicht mehr gesehen, gar abgehängt? Wenn das so ist, wann haben die etabliert-demokratischen Parteien den Zugang zu ihnen verloren? Was braucht es tatsächlich, damit sie wieder Teil des demokratischen Prozesses werden?

Welche Fragen muss man stellen, damit diese Gespräche stattfinden können und die Tür in der Brandmauer sichtbar wird? Eine Tür, durch die man wieder auf die demokratische Seite der Brandmauer gelangen kann. Die offen steht für all diejenigen, die sich auf der anderen Seite nicht mehr wohlfühlen. Die Tür in der Brandmauer, die einen Weg zurück in die Demokratie eröffnet. Eine Demokratie, die wieder diskutieren kann.

Dieses Buch, und das möchte ich gleich zu Beginn klarstellen, ist eine Einladung, meine Perspektive auf politische und gesellschaftliche Themen zu begleiten. Ich liefere euch fundierte Fakten und Hintergrundwissen, ordne diese ein und teile meine persönlichen Interpretationen. Dabei erhebe ich keinen Anspruch auf Objektivität oder wissenschaftliche Neutralität – dies ist keine akademische Abhandlung, sondern eine ehrliche und reflektierte Auseinandersetzung mit Themen, die mir am Herzen liegen.

Seit Jahren erkläre ich Politik und setze mich aktiv gegen demokratiefeindliche Strömungen ein. Meine ersten politischen Erfahrungen habe ich damals in meinen Zwanzigern ehrenamtlich in der SPD gesammelt, und ich habe gelernt, wie politische Prozesse funktionieren – und wie herausfordernd es sein kann, sich trotz Fachwissen Gehör zu verschaffen. Dieses Buch ist das Ergebnis meiner darauffolgenden Arbeit als Journalistin, geprägt von Erfahrung, Überzeugung und dem festen Glauben an die Demokratie.

Wenn ihr dieses Buch lest, seid euch bewusst: Hier spricht jemand mit Leidenschaft und Überzeugung, der aber auch weiß, dass Kompetenz oft hinterfragt wird – gerade wenn man unbequem bleibt. Ich lade euch ein, meine Gedanken zu hinterfragen, mit euren eigenen Erfahrungen abzugleichen und gemeinsam ins Gespräch zu kommen.

Die von mir anfangs beschriebene Sekt-Parolen-Situation war übrigens nicht der Aha-Moment, der mich erleuchtet hat und mir klarmachte, dass ich diese Reise zu den Menschen machen muss. Nein, es sind die vielen kleinen Momente, die sich immer wieder ergeben. Es ist das tägliche Darübernachdenken, wie sich die AfD in unseren Alltag geschlichen hat.

In das Wohnzimmer eines jungen Mannes, der keinen Ausbildungsplatz fand und der jetzt mit seinem alten Kumpel Antworten in der AfD-Ortsgruppe in Erfurt sucht.

In den Einkaufskorb einer pensionierten Lehrerin auf dem Wochenmarkt, die immer wieder am Gemüsestand über die teuren Preise rätselt und denkt, dass die Welt früher eine bessere war. Sie zählt sich immer noch zur Mitte der Gesellschaft. Aber die Ampel-Bundesregierung? Der könne man nicht mehr vertrauen.

In das Handy eines jungen Vaters, der im Bahnbistro die Schaffnerin mit Migrationshintergrund anschreit, ob sie heute einen schlechten Tag habe, weil sie ihm kein Wasser zum Espresso brachte. Wie sie überhaupt an diesen Job gekommen sei?

Dass die AfD schon lange keine Eintagsfliege mehr ist, die sich selbst entzaubert, ist spätestens klar geworden, als sie 2017 mit 12,6 % in den Bundestag einzog.1 Das führte nicht nur zu härteren Debatten im Bundestag, sondern auch dazu, dass die AfD eine institutionelle Bühne und Macht bekommen hat. Dazu kamen Montagsdemonstrationen, die immer rechter wurden, die Corona-Pandemie und Verschwörungsideologien, die über die Sozialen Medien verbreitet wurden.

Ein Nährboden für offenes rechtes Gedankengut wurde in die Mitte der Gesellschaft getragen. Für viele unbemerkt, abgesehen von kurzen Schreckmomenten: die Correctiv-Recherche. Die Europawahl. Die Landtagswahlen 2024. Die Trump-Wahl. Aber kurz danach war wieder Alltag. Die Welt dreht sich ja immerhin noch weiter.

Bis hierhin ist das die Kurzfassung – und genau hier beginnt mein Bedürfnis, genauer hinzuschauen und Fragen zu stellen.

Kleine Chronik der AfD

Beginnen wir am besten am Anfang: Wir blicken zehn Jahre zurück. Die Alternative für Deutschland (AfD) wurde 2013 gegründet, ursprünglich als Reaktion auf die Eurorettungspolitik, aber auch auf eine gewisse Europaskepsis insgesamt.2 Beginnen wir mit der internationalen Finanzmarktkrise ab 2007 als Auslöser politischer Verwerfungen.3 Wie kam es dazu (wobei die folgenden Ausführungen notwendigerweise knapp gehalten werden müssen)?

Vor der Krise wurden die Finanzmärkte in den USA dereguliert, sodass Banken immer risikoreichere Geschäfte eingehen konnten, um hohe Gewinne zu erzielen. Nachdem die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die fallenden Aktienkurse am Anfang des Jahrtausends die Wirtschaft belasteten und in den USA eine Wirtschaftskrise drohte, druckte die US-Notenbank immer mehr Geld, um das zu verhindern. Gleichzeitig fielen auch die Zinsen.4

Dadurch konnten Menschen mit geringem Einkommen Kredite aufnehmen, oft ohne ausreichende Sicherheiten. Doch Banken verdienten an jedem vergebenen Kredit, indem sie diese zum Beispiel in Wertpapieren bündelten und weltweit verkauften.5

Die Kredite wurden trotz aller Unsicherheiten von Ratingagenturen mit »geringem Risiko« bewertet, was schlussendlich zu einer Immobilienblase führte. Als die Zinsen stiegen, konnten viele Kredite nicht mehr zurückgezahlt werden, und viele Menschen mussten ihr Haus verkaufen, um den Kredit zu bezahlen. Als Folge fielen die Immobilienpreise, und der Verkauf reichte nicht aus, um die Kredite abzubezahlen. Die Banken bekamen ihr Geld nicht zurück und erlitten Verluste, was zur Bankenkrise führte.6

In den USA verloren viele ihr Haus und ihre Ersparnisse, als Folge brach der weltweite Handel ein. Die deutsche Wirtschaft schrumpfte 2009 um dramatische 5 %. Auch in Europa, vor allem in Südeuropa, stieg die Arbeitslosigkeit wegen des wirtschaftlichen Einbruchs. In einigen afrikanischen Ländern verteuerten sich Lebensmittel und Benzin erheblich, was zu einer weitreichenden Hungerkrise führte.7

Zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Krise gaben Regierungen Garantien für Banken, und viele Banken wurden mit Staatsgeldern gerettet. In Deutschland wurden Geldinstitute wie die Hypo Real Estate und die Commerzbank unterstützt. Kritiker wandten ein, dass die Verluste der Banken sozialisiert würden, während die Gewinne zugunsten von Banken und Managern privatwirtschaftlich verbucht blieben.8

Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sowie die enormen Geldmengen, die in deren Folge für die Rettung von Banken aufgewendet wurden, führten schließlich zu einer drastischen Schuldenkrise in Europa, insbesondere in Griechenland. Griechenland, aber auch andere europäische Länder wie Irland, Portugal, Spanien und Zypern, hatten Schwierigkeiten, ihre Staatsschulden zu bezahlen. Die Europäische Union, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds mussten eingreifen und Rettungspakete schnüren, um diesen Ländern zu helfen und die Stabilität der Eurozone zu sichern.9

Dies war dann sozusagen der Startschuss für die AfD. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, genau das zu kritisieren: Warum sollte Deutschland für die Schulden anderer Länder mit aufkommen? Die AfD – damals die eurokritische und europaskeptische Partei.10 Die Gründer kritisierten die Maßnahmen zur Stabilisierung hoch verschuldeter Eurostaaten, insbesondere die Rettungspakete für Griechenland, und lehnten die Vergemeinschaftung von Schulden in der Eurozone strikt ab.11

Sie sahen die Einführung und den Erhalt des Euro als gescheitert an und forderten eine Rückkehr zu nationalen Währungen oder eine kleinere, wirtschaftlich homogenere Eurozone. Die EU als große Gemeinschaft war für sie nicht erstrebenswert.12

Die informelle »Geburtsstunde« der neuen Partei lässt sich, wenn man so will, ziemlich genau auf den 25. März 2010 zurückdatieren.13 An diesem Tag erklärte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag: »Ein guter Europäer ist nicht unbedingt der, der schnell hilft. Ein guter Europäer ist der, der die europäischen Verträge und das nationale Recht achtet und so hilft, dass die Stabilität der Eurozone keinen Schaden nimmt.«14 In einfachen Worten: Gemeinschaftliche Hilfen der damals 16 Euro-Länder für die griechische Wirtschaft lehnte sie ab, sie werde im Notfall für Geld von einzelnen EU-Ländern und in Kombination mit Krediten des Internationalen Währungsfonds eintreten. Aber auch das nur »als Ultima Ratio!«.15 Wenige Stunden später stimmte sie dann aber doch auf einem EU-Gipfel dem ersten Rettungspaket für Griechenland zu. Merkels Begründung: Es gebe keine andere Lösung – das sei »alternativlos«. Und so war später der Name für die neue Partei klar: Alternative für Deutschland.16

Die AfD, die am 14. April 2013 formal gegründet wurde, wollte aber nicht nur medienwirksam kritisieren, sie wollte auch in der Politik mitmischen.17 Im Jahr 2013 verfehlte die Partei allerdings bei der Bundestagswahl knapp den Einzug ins Parlament. Bei der Europawahl 2014 erreichte sie dann aber aus dem Stand 7,1 % und zog mit sieben Abgeordneten ins Parlament ein; sie schloss sich dort der Fraktion der »Europäischen Konservativen und Reformer« (EKR) an.18

Jetzt könnte man sich fragen: Wieso ist sie dabei nicht geblieben – bei der insbesondere europa- und eurokritischen Haltung? Dafür lohnt sich ein Blick ins damalige Wahlprogramm. Man erkennt sofort, sie vertrat auch in der Familien-, Geschlechter- und Zuwanderungspolitik schon damals konservative bzw. eher rückwärtsgewandte, ja auch diskriminierende Ansichten. Besonders kritisierte sie die unkontrollierte Zuwanderung in die Sozialsysteme. Die für sie perfekte Verbindung von wirtschaftlichen und kulturellen Konflikten.19

So war es dann auch ein Einfaches für die AfD, als die Aufmerksamkeit für die sogenannte Eurokrise zurückging, ihr recht bald schon neues Hauptthema ins Rampenlicht zu stellen: die Zuwanderung. Und mit der neuen Bühne kam auch ein neuer Hauptdarsteller: der Rechtspopulismus. Das Thema Europa-/Eurokritik war damit ein Türöffner für rechtspopulistische Themen, die so am Anfang unbemerkt durch den Türspalt schlüpfen konnten.20

Und je mehr sich die Themen verschoben, umso mehr veränderte sich auch das Personal in der Partei.

Ein Mann, der uns heute sehr bekannt ist, hatte schon da seine Finger im Spiel: Björn Höcke. Ein ehemaliger Geschichtslehrer, den man laut Gerichtsurteil »Faschist« nennen darf – ein »Werturteil«, das als geschützte Meinung nach Art. 5 GG zu sehen sei und auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruhe.21 Mit der »Erfurter Resolution« 2015 stellten er und andere rechtsnationale Kräfte innerhalb der Partei den gemäßigten Kurs der Parteispitze infrage. Als sich immer mehr herauskristallisierte, dass die Gemäßigteren keinen Rückhalt mehr hatten, verließ ein Teil der Mitglieder unter der Führung des damaligen Parteivorsitzenden (und Gründers) Bernd Lucke die AfD. Sie wollten eine neue insbesondere wieder europa-/eurokritische Partei gründen. Seitdem ist zu beobachten, dass Teile der AfD immer extremer werden.22

Die sogenannte Flüchtlingskrise im Jahr 2015 bezeichnete Alexander Gauland damals als »Geschenk« für die Umfragen. Die AfD nahm eine restriktivere Haltung in der Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik ein, was ihre Popularität erheblich steigerte. Es folgten die Silvesternacht 2015/2016 und die Ereignisse auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz, in der es zu sexuellen Übergriffen durch junge Männer nordafrikanischer Herkunft auf Frauen kam, dann der Streit in der damaligen Großen Koalition unter Angela Merkel und die Kritik an ebendieser für ihr »Wir schaffen das«.23

Bei den Landtagswahlen 2016 erzielte die AfD auch im Westen das erste Mal zweistellige Ergebnisse.24

Vor allem unter Höcke radikalisierte sich die Partei zunehmend. Im Besonderen ist dabei im Gedächtnis geblieben, wie er das Berliner Holocaust-Mahnmal in einer Rede im Januar 2017 als »Denkmal der Schande« bezeichnete.25

Die Bundestagswahl 2017 brachte der AfD schließlich den Durchbruch: Mit 12,6 % der Stimmen zog sie als stärkste Oppositionspartei in den Bundestag ein, da erneut die Große Koalition gebildet wurde. Die damalige Fraktionsvorsitzende Frauke Petry wurde von Alice Weidel als Co-Vorsitzende neben Alexander Gauland abgelöst.26

Im Herbst 2018 zog die AfD dann auch in die verbliebenen Landtage von Bayern und Hessen ein und war ab da in allen Landesparlamenten vertreten.

Die rechtsextremen Kräfte innerhalb der Partei wurden immer lauter und sichtbarer. Unter Andreas Kalbitz, dem damaligen Landesvorsitzenden aus Brandenburg, und Björn Höcke entstand der »Flügel« – das Netzwerk der völkisch-nationalistischen Strömung in der AfD, das 2020 vom Bundesverfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wurde. Der damalige Bundessprecher Jörg Meuthen versuchte, diesem Flügel Einhalt zu gebieten, was im Ergebnis dazu führte, dass er selbst 2022 die Partei verließ. Die radikalen Kräfte hatten ab da offiziell den größten Einfluss in der Partei.27

Die Entwicklung der AfD lässt sich in aller Kürze wie folgt zusammenfassen: von einer wesentlich europa-/eurokritischen Partei über eine rechtspopulistische hin zu einer in weiten Teilen rechtsextremistischen Partei.28

In drei Bundesländern – Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen – gilt sie aus Sicht des Verfassungsschutzes als gesichert rechtsextremistisch.29

In weiteren sechs Bundesländern – Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen, Hessen und Niedersachsen – ist sie ein rechtsextremistischer Verdachtsfall.30

Die Bundespartei als Ganzes wird derzeit ebenfalls als rechtsextremistischer Verdachtsfall geführt. Über eine mögliche Höherstufung als »gesichert rechtsextreme Bestrebung« will der Verfassungsschutz erst nach den Neuwahlen zum Bundestag 2025 entscheiden – aus Gründen der politischen Zurückhaltung rund um die Wahlen, wie es aus Sicherheitskreisen heißt.31

Die AfD streitet die Vorwürfe freilich ab, bezweifelt öffentlich die Unabhängigkeit des Verfassungsschutzes und redet im Zweifel von Einzelfällen …32

Die aktuelle Situation

An dieser Stelle möchte ich einen Schnitt machen, bevor wir tiefer in die Themen der AfD einsteigen, analysieren, welche gerade verfangen und warum sie so viel Anklang finden, aber auch schauen, wer die AfD denn nun wirklich wählt.

Die AfD hat sich in unseren Alltag geschlichen, schrieb ich zu Anfang. Die AfD hat sich erfolgreich im politischen System etabliert und ihre Parolen in unserem Alltag platziert.

Wiederholt sich hier gerade Geschichte?

Je länger ich darüber nachdenke und das Gefühl habe, dass ich mit Menschen darüber sprechen möchte, desto mehr verfestigt sich ein Bild in meinem Kopf: der Frosch im heißen Wasser. Man sagt, der Frosch springe heraus, wenn man ihn hineinsetze und das Wasser zu heiß sei. Aber er bleibe drinsitzen, erhitze man das Wasser nur ganz langsam: Das Unheil für den Frosch nimmt damit seinen Lauf.

Wie dieses Bild zur Geschichte der AfD passt? Wenn wir die letzten zehn Entwicklungsjahre der Partei im Hinterkopf haben und auf den Status quo schauen, ergibt sich folgendes Bild: Die AfD ist mitunter stärkste Kraft in ostdeutschen Ländern. Auch wenn derzeit niemand mit ihr direkt koalieren möchte, so ist sie doch an Abstimmungen beteiligt und hat somit Einfluss. In Thüringen setzte sich die CDU auch schon vor der Landtagswahl 2024 immer öfter bei Gesetzesentwürfen mit den Stimmen der AfD durch – man könne ja schließlich nichts dafür, wenn sich die AfD den eigenen Anträgen anschließe.33 Bei der konstituierenden Sitzung des Landesparlaments in Thüringen sorgte die AfD 2024 mit Alterspräsident Jürgen Treutler für einen Eklat, da dieser einen Fraktionsantrag zur Änderung der Geschäftsordnung nicht zulassen wollte. Am Ende musste das Landesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung erlassen, an die sich der AfD-Mann zu halten hatte.34

In der ARD sagt AfD-Chefin Alice Weidel, dass sie die Niederlage von Nazideutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht als Tag der Befreiung feiern wolle,35 und ein AfD-Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg verkauft »Abschiebekalender« mit den »schönsten Abschiebeflugzeugen Deutschlands«.36 Das ist nur eine Momentaufnahme dessen, wie der politische Rechtsruck durch Deutschland geht: Rechtsextreme Parolen in unserem Land nehmen immer mehr zu.

Und dann der Januar 2024 und mit ihm eine Antwort auf all das: Eine Demo gegen Rechtsextremismus geht durch Deutschland.

Die große Frage, die nach der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche »Geheimplan gegen Deutschland«37 mit den Abschiebeplänen der AfD gestellt wird: Wie lange haben sich viele in Sicherheit gewiegt, ohne genauer hinzusehen, was sich in unserer Gesellschaft entwickelt hat?

Es ist paradox: Die Welt wurde in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt liberaler, und gleichzeitig wurden die Radikalen immer radikaler. Das Wähler*innenpotenzial der AfD, also wie viele Menschen bereit wären, sie zu wählen, liegt bundesweit derzeit nach Aussagen des Soziologen Aladin El-Mafaalani bei 30 %.38 Das bedeutet zwar, dass sich 70 % auf andere Parteien verteilen, aber die AfD hat das Potenzial, stärkste Kraft in Parlamenten zu werden, und ist es in Thüringen 2024 bereits geworden.39 Funktioniert da unsere Demokratie noch mit einer Partei an der Spitze, die vom Verfassungsschutz insgesamt als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird und in mehreren Bundesländern als gesichert rechtsextrem gilt?

Die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2023 zeigt, dass sich 6,6 % der Befragten eine rechtsgerichtete Diktatur mit starkem Führer wünschen. Mehr als 8 % haben ein rechtsextremes Weltbild.40

Irgendwie lässt mich das Gefühl nicht los, dass wir dieser Frosch sind. Wir, das ist nach meinem Empfinden die liberale »Mitte« vom vernünftigen Links bis gemäßigten Rechts. Wir alle sitzen gemeinsam im Wasser, und langsam wird es wärmer. Es bewegt sich nur niemand so wirklich …

Jetzt könnte man sagen: Nach der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche sind Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen. Die Kundgebungen gehören zu den größten Demos der letzten Jahre. Menschen haben sich für die Demokratie eingesetzt und sich gegen Rechtsextremismus gestellt. Ich denke, das war und ist extrem wichtig. Nur, was ist der nächste Schritt? Was folgt daraus?41

Haben die Demonstrationen nachhaltig etwas verändert? Überzeugen sie Menschen inhaltlich, warum man eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei nicht wählen sollte?

Wahrscheinlich eher weniger, und das ist auch gar nicht der Sinn hinter einer Demonstration. Es wirkt beinahe so, als würde sich die Mitte der Gesellschaft in einer Schockstarre befinden ob der neuerlichen Salonfähigkeit rechtsextremer Politik. Was kommt also gerade zu kurz?

Und damit zurück zum Anfang dieses Kapitels: Es fehlt ehrliche und transparente Auseinandersetzung. Haben wir als Gesellschaft das Debattieren verlernt? Oder gar nie gelernt? Oder halten wir uns nur in eigenen Filterblasen auf, in denen nicht debattiert wird? Der Kompromiss, in dem sich alle wiederfinden, ist so etwas wie das Ideal in einer Demokratie. Deshalb ist ein »Let’s agree to disagree« so viel mehr wert, als gar nicht miteinander zu reden. Mir scheint, den Mehrwert erkennen wir derzeit nicht ausreichend.

Das schließt natürlich unbequeme, aber keine rechtsextremen Weltbilder mit ein. Diese entziehen sich durch Verlassen unserer gesellschaftlichen Grundordnung der Möglichkeit des Diskurses. Aber lassen sich diejenigen, die Kontrollverlust fürchten und einfache Antworten im AfD-Spektrum suchen, wieder an den Tisch bringen? Wie wird aus Protest Dialog?

Vielleicht haben wir oftmals verlernt, Situationen offen zu hinterfragen. Wir vertrauen womöglich zu oft auf einfache Antworten bei komplexen Sachverhalten und denken, das werde schon richtig sein. Auch ich kann mich davon nicht vollends frei machen. Ein plakatives Beispiel: Offene Diskussionen über Corona-Maßnahmen, egal wie man dazu steht, haben einfach nicht ausreichend stattgefunden. Heute wissen wir, dass das eher ein Fehler war und gute Argumente für Schutzmaßnahmen und Impfungen oftmals gar nicht bemüht werden mussten. Gerade das aber hätte Kritiker*innen, womöglich gar Leugner*innen, sachlich in die Debatte eingebunden respektive den Wert ihres Argumentes.

Wie soll man sich noch als zugehörig empfinden, wenn es keinen Raum mehr für Disput und Streit gibt? Noch mal: Es geht hier nicht um die Legitimation extremer oder extremistischer Weltbilder, von keiner Seite. Aber es ist etwas ins Rutschen geraten. Einige Menschen kündigen ohne Not das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen sowie in die Medien auf. Hätten wir sie halten können? Durch Prüfung aller Argumente? Wenn Politik und Gesellschaft – ohne Standpunkte zu verwässern – mehr Raum gegeben hätten und etwas geduldiger wären?

Der Rechtsextremismusforscher Prof. Wilhelm Heitmeyer kommt zum Ergebnis, dass in weiten Teilen der Bevölkerung Abwertungs- und Diskriminierungsformen schon vor der Gründung der AfD tief verankert waren. Das zeige, dass es ein großes Potenzial von Menschen gibt, die sich zwar vom klassischen Rechtsextremismus und seinem Gewaltpotenzial distanzieren, doch dem Agieren der AfD durchaus zugeneigt seien.42

Mir scheint, viele Menschen sehen sich subjektiv ungerecht behandelt und befürchten den sozialen Abstieg. Wie schön es da doch wäre, wenn alles so bliebe, wie es in Wahrheit nie war. Auftritt AfD. Einfache Antworten zu komplexen Themen. Die Ausländer. Das Verbrenner-Aus. Gendersternchen. Die Grünen. Die EU. Für viele hat es den Anschein, als würde endlich jemand einmal die wahren Probleme des Landes benennen. Als ob das so einfach wäre, wie es scheint.

Eine Partei, die immer mehr beherrscht wird von rechtsextremen Kräften, arbeitet sich an Aufregerthemen ab. Und verfolgt dabei doch ein perfides Ziel.

Auf der wissenschaftlichen Ebene wird das Thema häufig diskutiert, und auch die Medien und die Politik selbst suchen schon lange nach Antworten. Ich bin mir sicher, es gibt sie. Neben all den spannenden wissenschaftlichen Studien möchte ich mit dieser Reise eine Lücke füllen. Die Menschen selbst für sich sprechen lassen. Vor Ort sein.

So sitze ich jetzt hier auf meiner gepackten Reisetasche, bereit loszufahren. Um diese Menschen zu besuchen.

Und eines noch – zurück zum Frosch im Topf: alles ein Mythos. Der Frosch springt auch dann raus, wenn es langsam ungemütlich wird. Na, wenn uns das mal nicht hoffnungsvoll stimmen kann. Es ist an der Zeit!

2Auf leisen Sohlen – Wie hat sich die AfD in unseren Alltag geschlichen?

Okay, einmal kurz innehalten und tief Luft holen. Bevor wir losfahren – da war doch noch etwas … Die Vorbereitung. Wenn ich mit Menschen wirklich ins Gespräch kommen möchte, dann muss ich wissen, was sie gerade ganz genau umtreibt. Welche Themen beschäftigen Menschen am meisten, die sich der AfD nahe fühlen?

Wie hat es die AfD geschafft, sich Schritt für Schritt in ihren Alltag zu drängen? Wie ist es möglich, dass Rechtspopulismus heute so erfolgreich verfängt?

Schauen wir uns dazu einige Erklärungsansätze an:

Eine zentrale These, die man immer wieder in ökonomischen Ansätzen findet, ist folgende: Es gibt sogenannte Verlierergruppen in der Gesellschaft. Rechtspopulistische Einstellungen entstehen etwa dann, wenn es immer mehr Streit um die Verteilung von Geld und Ressourcen gibt. Wenn man trotz des Glücks, in diesem Land leben zu können, subjektiv und manchmal objektiv auf der Verliererseite steht. Wenn sich das Gefühl einschleicht, dass die knappen Ressourcen auch noch geteilt werden müssen.1

Wer verdient wie viel? Wie groß ist die Schere zwischen Arm und Reich? Und was kann man sich heute eigentlich noch vom Verdienst seiner Arbeit leisten? Diese Fragen sind essenziell für viele Menschen – ich vermute: für uns alle. Dabei schaut man vergleichend nach rechts und links und hat das Gefühl: Warum kann sich mein Nachbar ein neues Auto kaufen? Wie schafft es eigentlich die Großfamilie, über die Runden zu kommen, obwohl die Eltern doch nur auf der »faulen Haut« liegen? So nimmt man jedenfalls an. Und Menschen, die zu uns kommen, die bekommen einfach, ohne etwas »dafür getan zu haben«, Sozialleistungen. Kümmert sich der Staat um die mehr als um mich?

Diese beispielhaften Gedanken können empfänglich machen für rechtspopulistische Antworten. Viele Studien und Untersuchungen zeigen, dass die AfD in sozialen Schichten mit niedrigerem Einkommen stärker gewählt wird.2 Später mehr dazu. 

Doch schon jetzt wird deutlich: Es funktioniert durch ein »Wir gegen die«-Denkmuster.3

Was bedeutet Rechtspopulismus?

An dieser Stelle ist es sinnvoll, den Begriff »Rechtspopulismus« einmal näher zu beleuchten. Rechtspopulismus ist eine politische Richtung, die einfache Lösungen für komplexe Probleme anbietet. Dabei betonen rechtspopulistische Politiker*innen oft, dass sie das »Volk« vertreten und sich gegen eine angeblich abgehobene Elite stellen, also Politiker*innen, Medien oder Gerichte. Sie sprechen oft von Bedrohungen für das eigene Land und machen dafür häufig Minderheiten oder Eingewanderte verantwortlich. Ganz klar gesagt: Rechtspopulismus nutzt die Ängste und Sorgen der Menschen, um Unterstützung für die eigene Sache zu gewinnen. Es ist also auch eine Mobilisierungsmethode und eine Art der politischen Kommunikation. Eine einfache Unterteilung zwischen Freund und Feind. Rechtspopulistische Parteien und Bewegungen schüren gezielt Ängste und Unsicherheiten, indem sie Bedrohungsszenarien verbreiten. Sie greifen auf gängige Vorurteile und Stereotype zurück, um die Menschen emotional anzusprechen und ihre Unterstützung zu gewinnen. Durch eine solche Rhetorik versuchen sie, politische Maßnahmen durchzusetzen, die auf Ausgrenzung und Kontrolle abzielen wie etwa die Einschränkung von Freiheitsrechten, die Schließung von Grenzen und die Verschärfung von Gesetzen und Strafen.4

Man kann es grob heruntergebrochen als Abgrenzung zwischen »Wir sind das Volk« und »Das sind die anderen« sehen.5

»Wir« und »die anderen«

»Wir, die echten Deutschen« – ein Wir, das für ehrliche, fleißige Menschen stehen soll, die Opfer der gegenwärtigen Lage sind.

Bei »den anderen« handelt es sich um »die da oben« – eine scheinbare Elite, die unerreichbar ist und Entscheidungen für alle trifft. »Die anderen« sind aber auch die Fremden, die von außen dazukommen und sich etwas nehmen wollen, das ihnen nicht zusteht. Und »die anderen« als »die da unten« – die »sozial Schwachen«. Drei Gruppen, die sich vom »normalen« Wir abgrenzen und als Täter verstanden werden. Täter, die das »Wir« angreifen wollen. Was folgt daraus? Das Wir muss verteidigt werden: Festung Europa. Dichte Grenzen. Die Deutschen. Im Gegensatz dazu: Überfremdung. Das Establishment. Die Systemmedien.6

Laut einer Analyse der Hans-Böckler-Stiftung,7 die rechtspopulistische Selbst- und Weltbilder in den Fokus nimmt, ist dies der Nährboden, auf dem sich Rechtspopulismus entwickeln kann. Eine Gegenüberstellung, die Menschen als »Volk« vereint, zu dem man sich zugehörig fühlt, aber eben nur dadurch, dass andere ausgeschlossen werden und man sich von den drei genannten Gruppen abgrenzt. Daraus folgt, wie beschrieben, dass auch Medien abgewertet und als Feindbild betrachtet werden genauso wie Justiz und Politik. Passend können wir an dieser Stelle die heutige Co-Chefin der AfD, Alice Weidel, zitieren: Mitglieder der Regierung seien »Verfassungsfeinde, von denen wir regiert werden. Diese Schweine sind nichts anderes als die Marionetten der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und haben die Aufgabe, das deutsche Volk kleinzuhalten, indem molekulare Bürgerkriege in den Ballungszentren durch Überfremdung induziert werden sollen.«8

Die Angst um den sozialen Abstieg

AfD-Wähler*innen sehen sich oft selbst als ausgegrenzte Minderheit. Dazu passt, um den roten Faden zu der These der Verlierergruppen wieder aufzunehmen, dass viele Menschen Verlustängste haben. Es ist die Angst vor dem sozialen Abstieg – nicht nur als reale Erfahrung, sondern eben auch schon die Vorstellung dessen: Ich könnte meinen Job verlieren, jemand anders kann sich eine große Wohnung leisten und ich nicht. Wie soll ich meinen Einkauf bezahlen? Warum haben Geflüchtete ein Handy? Meinen Eltern ging es früher besser als mir. Nur um ein paar weitere beispielhafte Denkmuster aufzuzeichnen. Das Aufstiegsversprechen, das es früher einmal gab, hält nicht mehr.9

Dazu passend die drei Gruppen, die als Täter in dieser Situation fungieren. In einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2017 sieht man, dass sich gerade AfD-Wähler*innen proportional mehr Sorgen um ihre finanzielle Absicherung im Alter machen (63 %) als insgesamt alle Befragten (49 %).10

Wenn man auf die Faktenlage schaut, ist diese Sorge auch wirklich real und nichts, was man als »Angstmacherei« abtun sollte. Tatsächlich ist die Armut in den letzten zehn Jahren in Deutschland deutlich gestiegen, obwohl die Wirtschaft insgesamt gewachsen ist. Haushalte, die unter der Armutsgrenze leben, sind finanziell noch weiter hinter die Durchschnittsverdiener zurückgefallen. Die Ungleichheit der Einkommen hat zugenommen, was man am sogenannten Gini-Koeffizienten sehen kann. Der Gini-Koeffizient ist eine Zahl, die misst, wie ungleich das Einkommen in einem Land verteilt ist. Ein höherer Wert bedeutet also mehr Ungleichheit.11

Was zeigt uns das? Die AfD hat das Thema erkannt und einfache Erklärungen dafür in ihrem »Wir gegen die«-Denkmuster geliefert.

Corona, Ukraine-Krieg und Verschwörungsideologien

Um einen Schritt weiterzugehen: Bei all dem darf man die Coronakrise nicht aus dem Blick verlieren, sondern muss sie sogar als Teil der Erklärung betrachten. Denn wenn wir ehrlich sind: Wer hat keine Unsicherheit während der Pandemie verspürt? Kurzarbeit, Jobverlust, Sorge um die Gesundheit, Einsamkeit, Zukunftsangst – diese Themen haben die Gesellschaft tiefgreifend beeinflusst.

Die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft wird auch durch den Datenreport 2021 belegt, der von der Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem Statistischen Bundesamt, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung herausgegeben wurde.12

Um es pointiert zu sagen: Die Corona-Pandemie hat nahezu alle Bereiche der Gesellschaft stärker beeinflusst als jede andere Krise in den letzten Jahren. Das Vertrauen in die Politik sinkt seither, viele fühlen sich nicht gesehen. Und genau hier setzt der Rechtspopulismus an. Dabei spielen Verschwörungsideologien eine zentrale Rolle.13

Rechtspopulistische Akteure griffen während der Pandemie verstärkt auf Verschwörungsideologien zurück, um ihre politische Agenda voranzutreiben. Diese Mythen behaupten oft, dass die Pandemie Teil einer geheimen Verschwörung ist, die von einer kleinen, mächtigen Elite gesteuert wurde. Und hier landen wir wieder bei den vertrauten Narrativen von den »anderen«.14

Studien zeigen, dass rechtspopulistische Politiker*innen diese Mythen gezielt einsetzen, um das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und wissenschaftlichen Expert*innen zu verstärken. So berichteten Sarah Evanega und Mark Lynas von der Cornell University in einer gemeinsamen Studie der Alliance for Science schon 2020, dass rechtspopulistische Führungspersönlichkeiten bewusst Fehlinformationen verbreiten, um das Vertrauen in die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu untergraben.15 Ebenso zeigten Untersuchungen von Joseph Uscinski u. a. 2020, dass Verschwörungstheorien häufig genutzt wurden, um Anhänger gegen eine vermeintliche »Elite« zu mobilisieren, die angeblich die Pandemie kontrolliere. Rechtspopulistische Parteien inszenieren sich dabei als Retter – die vermeintlich einzige »Alternative« für die Bürger*innen. Diese »einfachen Antworten« zielen immer wieder darauf ab, eine Gruppe »der anderen« als Sündenbock darzustellen, den man für eine missliche Lage verantwortlich machen kann. Ihr merkt, das Muster wiederholt sich.16

Diese Mischung aus Rechtspopulismus und Verschwörungsmythen verstärkte die gesellschaftliche Spaltung und führte dazu, dass das Vertrauen in demokratische Institutionen und wissenschaftliche Erkenntnisse weiter erodierte.

Eine ähnliche Dynamik war beim Ausbruch des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 zu beobachten.

Die repräsentative Erwerbspersonenbefragung des Wissenschafts- und Sozialinstituts der Hans-Böckler-Stiftung von 2022 fand heraus, dass 17 % der Befragten eine ablehnende Haltung gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine hatten und 9 % offen für Verschwörungsmythen rund um den Angriffskrieg waren. Aussagen wie »Deutschland kann nicht noch mehr Geflüchtete aufnehmen« oder die Behauptung, die Situation dort sei gar nicht so schlimm wie dargestellt, waren auffällig weit verbreitet. Auch die Verharmlosung von Wladimir Putin als »kein Kriegsverbrecher« fand in diesen Kreisen Anklang. Besonders auffällig ist dabei die Überlappung mit den Verschwörungsmythen der Corona-Pandemie. Und hier ein alarmierendes Ergebnis: Unter Menschen, die sich der AfD nahe fühlen, war die Zustimmung zu diesen Mythen dreimal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung.17

Das Narrativ der Fremden als Motor für Rechtspopulismus

Ruth Wodak, Professorin im Ruhestand für Diskursstudien, schreibt in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung über rechtspopulistische Diskursverschiebungen, dass weltweite Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft ein wesentlicher Grund dafür sein können, dass rechtspopulistische Parteien an Zuspruch gewinnen. Diese Krisen, gepaart mit dem Gedanken, dass ein nationalistisch gesinntes, »homogenes« Volk Voraussetzung für ein erfolgreiches Land ist, bilden die Grundlage für Feindbilder, die Ausgrenzung fördern – seien es antimuslimische, antisemitische, antiziganistische oder homophobe Ressentiments.18

Eine weitere Krise, die unsere These des »Wir gegen die« untermauert, ist natürlich auch die sogenannte »Flüchtlingskrise« von 2015/2016. Ausländerfeindlichkeit wurde auf die Spitze getrieben. Das Narrativ der »Fremden«, die pauschal kriminalisiert wurden und denen man vorwarf, Sozialleistungen unrechtmäßig in Anspruch zu nehmen, wurde gezielt eingesetzt.19 Diese populistische Rhetorik hatte bereits vor der Flüchtlingskrise 2015/2016 eine bedeutende Rolle in der öffentlichen Debatte über Migration und Integration gespielt. In den 1990er-Jahren etwa, nach dem Zerfall Jugoslawiens und angesichts der darauffolgenden Flüchtlingsströme, gab es bereits heftige Diskussionen über die Aufnahme von Geflüchteten und ihre Integration in Deutschland. Dazu kam die rechte Gewalt in den 1990ern, die mit Pogromen in Städten wie Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen erschreckende Ausmaße erreichte, begleitet von Brandanschlägen und Hetzjagden. Rechtsextreme nutzten diese Gewalt, um ganze Regionen unter ihre Kontrolle zu bringen und Andersdenkende sowie Menschen mit Migrationshintergrund zu vertreiben. Diese Erfahrungen und die weitgehend ausbleibende Bestrafung der Täter führten zu einem gestärkten Selbstbewusstsein in rechtsextremen Kreisen, was sich bis in die 2010er-Jahre fortsetzte.20

Das gleiche Muster zeigt sich auch, wenn wir noch weiter zurückgehen: Auch die Zuwanderung aus der Türkei in den 1960er- und 1970er-Jahren führte zu lang anhaltenden Debatten über die »Gastarbeiterfrage« und die damit verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen.21

Man kann sagen, die »Flüchtlingskrise« ab 2015 hat diese Themen erneut in das Zentrum der politischen Auseinandersetzungen gerückt und die bereits bestehenden Ängste und Vorurteile weiter verstärkt. Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte Obergrenzen-Debatte,22 die stark von der AfD und anderen rechtspopulistischen Akteuren genutzt wurde, um die Befürchtung zu schüren, dass Deutschland »überfremdet« wird. Auch die wiederholte Darstellung von Geflüchteten als »Sozialschmarotzer«23 oder als Bedrohung für die innere Sicherheit – etwa durch die systematische Verbindung von Migration mit Terrorismus nach den Anschlägen von Paris im November 201524