Zucker - James Walvin - E-Book

Zucker E-Book

James Walvin

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Beschreibung

»Eine unterhaltsame, informative und zugleich erschreckende Globalgeschichte eines wichtigen Stoffes.« Sven Beckert, Autor von King Cotton Er versüßt unser Leben, macht kurzfristig glücklich, doch sein Nachgeschmack ist bitter: Zucker ist weit problematischer, als die Werbetafeln der Softdrink-Hersteller vermuten lassen – und das nicht nur wegen der gesundheitlichen Probleme, die sein übermäßiger Konsum hervorruft. Was früher Königen und Fürsten vorbehalten war, ist heute aus unserer Ernährung kaum noch wegzudenken. Um zu verstehen, wie der Stoff unseren Alltag so vollkommen erobern konnte, blickt James Walvin in die Vergangenheit – und präsentiert eine Geschichte von Macht und Versuchung, von Sklaverei und Umweltproblemen, aber auch von Zivilisationskrankheiten wie Adipositas und Karies.

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James Walvin
Zucker
Eine Geschichte über Machtund Versuchung
Aus dem Englischenvon Sonja Schuhmacherund Claus Varrelmann
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zucker – Eine Geschichte über Macht und Versuchungin der Reihe ›Stoffgeschichten‹
Originalausgabe: »SUGAR. The World Corrupted, from Slavery to Obesity«Copyright der Originalausgabe © James Walvin, 2017First published in Great Britain in 2017 by Robinson, an imprint of Little, Brown Book Group
Deutsche Erstausgabe © 2020 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Lena Denu, oekom verlag Umschlagabbildung: © The Stapleton Collection, Bridgeman ImagesKorrektorat: Maike SpechtInnen Layout + Satz: Ines Swoboda, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-664-1
Wir danken der Universität Augsburgfür die Förderung dieser Publikation.
Unser jüngster Enkel, Max Walvin, kam auf die Welt, während ich mich in Zucker vergrub. Rasch erwies er sich als das Süßeste, was es auf der Welt gibt.Dieses Buch ist für ihn.
Stoffgeschichten – Band 12
Eine Buchreihe des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg in Kooperation mit dem oekom e.V.
Herausgegeben von Prof. Dr. Armin Reller und Dr. Jens Soentgen
Stoffe aller Art werden rund um den Globus aus dem Boden, aus Lebewesen oder aus der Luft gewonnen, gereinigt, zerlegt, wieder verbunden, durch Pipelines gepumpt, auf Containerschiffen verschickt, transformiert und verbraucht. Und parallel zu all dem machen sie sich, oft unerkannt, selbst auf den Weg: Stickstoffdünger und Pestizide diffundieren ins Grundwasser; Kohlendioxid aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe reichert sich in der Atmosphäre an; Mikroplastik verteilt sich im Meer. Stoffe überschreiten Grenzen: Grenzen von Körpern, Grenzen von Ökosystemen, aber auch Grenzwerte der Behörden – und sorgen für Konflikte. Wie nie zuvor wird in unserer Gesellschaft heute über Substanzen und ihre Nebenwirkungen diskutiert.
Deshalb stellen die Bände der Reihe Stoffgeschichten einzelne Stoffe in den Mittelpunkt. Sie sind die oft widerspenstigen Helden, die eigensinnigen Protagonisten unserer Bücher. Stoffgeschichten erzählen von den Landschaften, von den globalen Wegen, die viele Stoffe hinter sich haben, und blicken von dort aus in die Zukunft.
»Zucker« ist der zwölfte Band der Reihe. Zucker zählt weltweit zu den wichtigsten Exportgütern und hängt mit Macht und Ausbeutung, mit Kapital und Wohlstand, aber auch mit unserem Körper und unserer Gesundheit so eng zusammen, dass man ihn kaum isolieren und für sich betrachten kann. Und doch finden wir ihn rein, weiß und unschuldig überall, weltweit in Küchen, Restaurants und Cafés, als vermeintlich geschichtslosen Kristall. Zucker zählt zu den wenigen Substanzen, die fast alle Menschen kennen und nutzen, er definiert die Globalisierung und hat sie maßgeblich geprägt. Der us-amerikanische Historiker James Walvin erzählt die unvergleichliche und lehrreiche Geschichte des Zuckers und wagt einen Blick in die Zukunft.
Inhalt
Vorwort
EINFÜHRUNG  Zucker in unserer Zeit
KAPITEL 1  Traditionell süß
KAPITEL 2  Vormarsch der Zahnfäule
KAPITEL 3  Zucker und Sklaverei
KAPITEL 4  Umweltfolgen
KAPITEL 5  Zucker einkaufen
KAPITEL 6  Ein idealer Gefährte von Tee und Kaffee
KAPITEL 7  Gaumenfreuden
KAPITEL 8  Rum hinterlässt seine Spuren
KAPITEL 9  Zucker erobert die Welt
KAPITEL 10  Süßes für Amerika
KAPITEL 11  Machtverschiebungen in der Neuen Welt
KAPITEL 12  Süßes in Zeiten von Krieg und Frieden
KAPITEL 13  Schwergewichte
KAPITEL 14  Wie wir heute essen
KAPITEL 15  Harte Fakten über Softdrinks
KAPITEL 16  Gezeitenwechsel – jenseits der Zuckersteuer
FAZIT  Bittersüße Aussichten
Danksagung
Weiterführende Literatur
Anmerkungen
Über den Autor

Vorwort

Direkt gegenüber dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, gab es einen kleinen Zeitungsladen. Aber alle Kinder aus der Nachbarschaft nannten ihn nur den »Süßigkeitenladen«. Der Tresen war mit einer Reihe lokaler und überregionaler Zeitungen bedeckt. Hinter ihm standen reihenweise Flaschen und Krüge, die mit den Süßigkeiten gefüllt waren, die wir als Belohnung geschenkt bekamen oder uns von unserem eigenen Geld kauften – allerdings höchstens so viel davon, wie uns laut der Bezugsscheinhefte aus den 1940er- und 1950er-Jahren zustand. Die meiste Zeit konnten wir die Krüge nur sehnsuchtsvoll ansehen, denn Geld war knapp und die Bezugsscheine gestatteten nur geringe Mengen. Fünfzig Meter die Straße hinunter befand sich in einem kleinen schäbigen Bungalow ein weiterer Süßwarenladen, der nichts außer Süßigkeiten und Schokolade verkaufte. Zudem brauchten wir, als wäre das noch nicht genug, nur einmal die Straße zu überqueren, um zum örtlichen Lebensmittelladen zu gelangen, wo es ebenfalls verführerische Süßigkeiten, Kekse und Kuchen gab. Auch in jenen wirtschaftlich schlechten Zeiten lockte innerhalb eines Radius von hundert Metern ein wahres Füllhorn an süßen Leckereien.
Wir hatten alle eine Vorliebe für Süßes, und die Beschränkungen während und nach dem Krieg verstärkten unser Verlangen. Manchmal tauschten wir andere rationierte Lebensmittel gegen etwas Süßes ein. Einmal gab meine Mutter meinen Großeltern unsere Speckration, um deren Süßwarenration zu bekommen.
Diese Sucht nach Süßigkeiten und Schokolade war nicht auf meine Familie beschränkt, sondern war im ganzen Viertel fest verwurzelt – all meine Freunde aus Kindertagen und deren Familien waren im selben Maße süchtig. An Geburtstagen und Festtagen wie Weihnachten und Whitsuntide (ein wichtiges Ereignis in Manchester) wurden wir Kinder mit einer Extraportion an Süßigkeiten und Schokolade beschenkt. Und in den Sommerferien am Meer – jener Zeit im Jahr, in der ganz Lancaster von den Baumwollstädten an die Irische See pilgerte – wurden raue Mengen an Blackpool Rocks, jenen harten, klebrigen Bonbons, mit Begeisterung verzehrt. Als 1953 die Rationierung von Süßem endlich aufgehoben wurde, waren die begehrten Süßwaren in den örtlichen Läden rasch ausverkauft – mein Bruder und ich schafften es, uns eine kleine Schachtel mit Cadburys Milk Trays zu sichern.
Unsere Vorliebe für das süße Naschwerk war nur ein Bespiel für die wichtige Rolle, die Zucker in unserem Leben spielte. Zucker war nämlich allgegenwärtig. Er nahm einen Ehrenplatz neben der Teekanne auf dem Küchentisch ein, an dem nicht nur die Mahlzeiten eingenommen wurden, sondern sich auch die vielen Frauen versammelten, die im Laufe des Tages bei uns zu Hause vorbeischauten. Das gesellschaftliche Leben wurde durch die regelmäßige Einnahme von gesüßtem Tee in Gang gehalten. Die Vorliebe meines Großvaters für starken Tee stand der von Samuel Johnson nicht nach. Er hatte immer einen großen Becher mit starkem Tee zur Hand und auch dieser wurde mit einer reichlichen Menge Zucker gesüßt, der aus der Tüte gelöffelt wurde, die sich ständig auf dem Tisch des als Küche, Ess- und Wohnzimmer dienenden Raums befand.
Meine Mutter und ihre Freundinnen stöhnten, genau wie die gesamte Nation, unablässig über die Lebensmittelknappheit, aber vor allem über die geringe Zuckerration, obwohl diese einem rückblickend üppig vorkommt (weitaus größer als der wöchentliche Verbrauch einer heutigen Familie). Aber damals, zwischen 1942 und 1953, wurde Zucker überall hinzugefügt. Er begleitete uns sogar zur Schule. Unsere Mutter gab uns Pausenbrote mit, die entweder mit stark gesüßter Marmelade bestricken oder mit Zucker bestreut waren.
All dies fand in einer Zeit strenger Rationierungen statt, in der wir uns unter den ungünstigen Bedingungen, so gut es ging, durchschlugen. Zucker war dabei überall zugegen. Er gehörte (genau wie Tabakrauch) einfach zum Leben dazu, war ein derart fester Bestandteil davon, dass er uns gar nicht auffiel – es sei denn, er drohte knapp zu werden.
Es standen bei uns auch regelmäßige Zahnarztbesuche auf dem Programm. Zweck war nicht die regelmäßige Kontrolle, sondern die Behebung der Schäden durch unsere zuckerreiche Ernährung. Meinem Vater waren im Alter von 21 Jahren sämtliche Zähne gezogen worden; meine Mutter verlor ihre letzten Zähne mit Mitte dreißig. Großmutter, Onkel, Tanten und gute Freunde der Familie – alle hatten ein künstliches Gebiss. Großvater war eine Ausnahme. Seine wenigen verbliebenen Zähne glichen den verfärbten Strümpfen von Elisabeth I., aber sie erfüllten gerade noch so ihren Zweck. Niemand fand es merkwürdig oder ungewöhnlich, dass man bereits in einem Alter, das uns heute erschreckend jung erscheint, keine eigenen Zähne mehr hatte. Dass Zähne schon früh gezogen wurden, hatte zum Teil finanzielle Gründe, denn es war billiger, sie zu entfernen, als für regelmäßige Zahnarztbesuche zu zahlen. Die meisten Zähne wurden jedoch gezogen, weil sie ruiniert waren.
In meiner Familie – und ich vermute, auch in unserem ganzen Viertel – gab es unter Erwachsenen mehr dritte Zähne als gesunde, echte. Gebisse waren sogar ein Grund für familiäre Heiterkeit – ein Verwandter spuckte seines beim Niesen regelmäßig aus. Ich erinnere mich auch daran, dass ich, wenn ich einen bettlägerigen Verwandten besuchte, jedes Mal von dem Gebiss fasziniert war, das mich aus einem Glas auf dem Nachttisch angrinste. Als einem älteren Nachbarn sein Gebiss abhandenkam, kehrten wir in seinem Haus das Unterste zuoberst – ohne Erfolg. Bei formelleren Familienzusammenkünften, wie den Einladungen zum Tee am Sonntag, war das verräterische Klappern der schlecht sitzenden Gebisse ein Hinweis auf ein umfassendes, bedeutsames Phänomen. Solche Erinnerungen an Szenen aus dem Familienleben sind ein wichtiges Element der folgenden Kapitel. Natürlich war mir damals nicht bewusst, was heute für mich auf der Hand liegt. Den Hintergrund all dessen liefert die Erzählung von der schädlichen, korrumpierenden Wirkung des Zuckers.
Es dauerte sehr lange, bis bei mir der Groschen fiel. Selbst als ich Ende der 1960er-Jahre auf einem jamaikanischen Zuckergut arbeitete, dachte ich nicht über die Verbindung zwischen Zucker und der Gesundheit jener Menschen nach, die ihn konsumierten. Als Historiker, der frisch von der Universität kam, arbeitete ich gemeinsam mit einem Kollegen und Freund von früh bis spät an einem Projekt, aus dem meine erste Buchveröffentlichung werden sollte: die Geschichte einer Zuckerplantage von 1670 bis 1970. Die Beschäftigung mit Jamaikas Zuckerrohrfeldern markierte den Ausgangspunkt meiner späteren akademischen Karriere als Forscher auf dem Gebiet der Sklaverei. Anfangs stellte ich jedoch keine Verbindung zwischen den Afrikanern auf den jamaikanischen Zuckerrohrfeldern und der nordenglischen Welt her, in der ich aufgewachsen war. Indes waren beide eng miteinander verbunden.
Unsere Haltung gegenüber dem Zucker hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts stark gewandelt, und ich will in diesem Buch erklären, wie es dazu kam. Teilweise hat sich unsere Einstellung geändert, weil wir viel mehr über Zucker wissen als früher. Aber mit ihm ist auch etwas passiert, was vor einer Generation kaum jemand für möglich gehalten hätte. 1970 dürften zum Beispiel nur wenige Menschen die Ansicht vertreten haben, Zucker sei der Grund für ein weltweites Gesundheitsproblem. Inzwischen wird Zucker regelmäßig als ein Suchtmittel bezeichnet, vergleichbar mit Tabak, das Schuld an der globalen Epidemie der Fettleibigkeit trägt.
Aber wie ist es dazu gekommen? Wie wurde aus einem simplen Lebensmittel, das sich einst nur Könige und Prinzen leisten konnten, ein fester Bestandteil des Lebens der normalen Menschen – ehe es dann eine weitere Transformation durchmachte und zur offenkundigen Ursache schwerer gesundheitlicher Schäden wurde?
EinführungZucker in unserer Zeit
Wie ist es so weit gekommen? Was hat Millionen Menschen in aller Welt getrieben, eine Ware, Zucker, zu mögen – ja zu brauchen –, die, wie die Medizin inzwischen weiß, schlecht für uns ist? Noch mehr Fragen wirft die Werbung auf, mit der wir im Sommer 2016 bombardiert werden und die ein Produkt empfiehlt, weil es keinen Zucker enthält. In jenem Sommer sahen Millionen Fernsehzuschauer einen ungewöhnlichen Werbespot für Coca-Cola. Bei den Spielen der Fußballeuropameisterschaft in Frankreich, die teilweise von Coca-Cola gesponsert wurden, erschien auf den Banden rund um das Spielfeld der Aufruf, ein neues Getränk zu probieren, das »Zero Sugar« enthielt. Jeder, der ein Spiel verfolgte, sah die Botschaft »Zero Sugar«. Dutzende Male.
Die Spiele waren natürlich eine hervorragende Werbeplattform. Neben den Olympischen Sommerspielen und dem FIFA World Cup waren die Endspiele der Fußballeuropameisterschaft ein Ereignis, das Hunderte Millionen Zuschauer vor den Bildschirm lockte. Auffallend war daran, dass ein Produkt mit einer Zutat beworben wurde, die es nicht enthielt; ein Getränk wurde angekündigt, dem etwas fehlte; eine Limonade, die keinen Zucker enthielt. Dieses Produkt auf den Markt zu bringen hatte eine Stange Geld gekostet – 10 Millionen Pfund allein in Großbritannien.1 Ein derartiger PR-Feldzug ist praktisch beispiellos – ein Produkt für das anzupreisen, was es nicht zu bieten hat.
Für englische Zuschauer kam die Werbung zur rechten Zeit, denn nur ein Jahr zuvor hatte ein großer Regierungsbericht den Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und Fettleibigkeit bei Millionen Engländern beleuchtet.2 Obwohl Zucker seit Jahrhunderten auf unserem Speiseplan steht, wurde er in den letzten Jahren Gegenstand heftiger gesellschaftlicher und politischer Debatten. In meiner Kindheit (der Zeit der Lebensmittelrationierung während und nach dem Krieg) beklagten meine Eltern oft, sie hätten nicht genügend Zucker bekommen. Heute wird Eltern von Ärzten, Medien und Politikern geraten, den Zuckerkonsum einzuschränken. Jahrhundertelang wurden Kinder mit Süßigkeiten verwöhnt und beschwichtigt, heute geht es darum, Kindern den Zugang zu Zucker und allem, was süß ist, zu verwehren. Zucker ist heutzutage praktisch geächtet. Doch solange man denken kann, galt er als Zutat, die das Notwendige mit dem Angenehmen verband, ein Erzeugnis, das Kraft gab und schmeckte. Wie kam es zu diesem tief greifenden Wandel unserer Wahrnehmung eines Produkts, das seit Jahrzehnten Teil unserer Ernährung ist?
***
Im Westen wird Zucker zwar schon seit vielen Jahrhunderten konsumiert, vor dem Jahr 1600 war er jedoch ein kostspieliges Luxusgut, das nur den Reichen und Mächtigen zur Verfügung stand. Das änderte sich grundlegend im Lauf des 17. Jahrhunderts, als Europäer auf dem amerikanischen Doppelkontinent Zuckerkolonien errichteten. In der Folge wurde Zucker billig, war überall zu haben und erfreute sich großer Beliebtheit. Was zuvor sündteuer gewesen war, wurde nun alltäglich. Zucker, der zuvor nur die Tafeln der Eliten geziert hatte, war um 1800 Grundnahrungsmittel für die ärmsten Gruppen der Bevölkerung geworden. Und dabei blieb es auch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – Zucker gehörte ohne Frage zum Leben von Millionen von Menschen und war eine wichtige Zutat in zahlreichen Speisen und Getränken. Wenn heute hingegen in den Medien von Zucker die Rede ist, wird er als Gefahr für die Gesundheit dargestellt – ein Hauptfaktor nicht nur bei individuellen Gesundheitsproblemen, sondern auch Ursache einer globalen Adipositas-Epidemie. Die Folge ist, dass das Zuckerproblem Regierungen und internationale Gesundheitsorganisationen beschäftigt.
Heute konsumieren Menschen weltweit Zucker in beispiellosen Mengen, und am meisten wird in Zucker produzierenden Ländern verbraucht – zum Beispiel in Brasilien, Fidschi und Australien. Australier haben einen jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von 50 Kilogramm, wobei die Zahlen für Europa und Nordamerika – wo der Massenkonsum nach 1600 seinen Anfang nahm – nur unwesentlich niedriger sind. Doch im Lauf der letzten Generation hat sich die Lage dramatisch geändert, was vor allem modernem Fast Food und Erfrischungsgetränken zu verdanken ist, die meist extrem zuckerhaltig sind. Ihre Süße beruht heute jedoch größtenteils nicht mehr auf Rohrzucker, sondern auf Maissirup und chemischen Süßstoffen.
Die Vorliebe für Süßes ist universal, und Zucker wird in aller Welt produziert. Verschiedene Sorten Zuckerrohr gedeihen in den Tropen, während die Zuckerrübe in gemäßigten Regionen angebaut wird. Aber verantwortlich für die wachsende Beliebtheit von Zucker war der Rohrzucker. In seiner Frühzeit wurde er in Indonesien, Indien und China in kleinen Mengen für lokale Märkte erzeugt. Als aber Zuckerrohr im Mittelmeerraum und schließlich auf Inseln im Atlantik auf Plantagen kultiviert wurde, veränderte sich der Lauf der Geschichte – und nahm eine dramatische Wendung, als Zuckerrohr auch jenseits des Atlantiks in Amerika angebaut wurde. Dort wurde er von versklavten Afrikanerinnen und Afrikanern erzeugt (die ihrerseits über den Atlantik verschleppt worden waren). Dieser von Sklaven produzierte Zucker sorgte für drastische Veränderungen einerseits in der Landschaft der Zuckerkolonien, andererseits bei den Vorlieben der westlichen Welt.
Als Europäer und US-Amerikaner im Lauf des 19. Jahrhunderts weite Teile der Welt besiedelten und globalen Handel trieben, verpflanzten sie auch den kommerziellen Zuckeranbau an neue Standorte: auf Inseln im Indischen Ozean, nach Afrika und Indonesien, auf die Pazifischen Inseln und nach Australien. Doch wo immer der Zuckeranbau Fuß fasste, waren die ansässigen Plantagenbesitzer mit Arbeitskräftemangel konfrontiert. Sie lösten das Problem, indem sie Vertragsarbeiter aus fernen Ländern holten. In einer Zuckeranbauregion nach der anderen – von Brasilien bis Hawaii – beherbergten Zuckerplantagen Ausländer – entwurzelte Menschen, die über große Entfernungen angereist waren, um die Schinderei auf den Zuckerrohrplantagen zu erdulden.
Für die Besitzer und Investoren erwiesen sich die Plantagen hingegen als Goldgrube – eine Entwicklung, die ihren Preis forderte. Die Umwelt wurde durch die neu angelegten Plantagen schwer geschädigt. Von Barbados in den 1640er-Jahren bis zu den Everglades in Florida in jüngster Zeit war der ökologische Schaden enorm, der erst heute in vollem Ausmaß erkannt wird. Ganz offensichtlich und dramatisch sind jedoch die verheerenden Auswirkungen des Zuckeranbaus auf die Menschen. Sie trafen die Arbeitskräfte von den ersten Sklaven im Brasilien des 16. Jahrhunderts bis zu den indischen Vertragsarbeitern auf Fidschi, von den Japanern auf Hawaii bis zu den »Südseeinsulanern«, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Australien verschleppt wurden. Der Anbau von Zuckerrohr war Knochenarbeit, und es war die Schinderei von Sklaven und Vertragsarbeitern, die dafür sorgte, dass aus dem Luxusartikel Zucker ein Alltagsprodukt wurde. Im Lauf von nur zwei Jahrhunderten – etwa zwischen 1700 und 1900 – wurde Zucker zu einem zentralen Lebensmittel für Menschen aller Stände weltweit.
Offensichtlich hatte Zucker etwas Spezielles an sich. Menschen mochten ihn und wurden schließlich von ihm abhängig. Konfrontiert mit dem Wachstum der Weltbevölkerung vor allem im 19. Jahrhundert und den Millionen Menschen, die nicht mehr auf Zucker verzichten wollten, begann man, Zucker überall dort zu produzieren, wo sich die Gelegenheit bot, um die Gier nach Süßem zu befriedigen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde dies auch in gemäßigten Zonen möglich. Der zunehmende Anbau von Zuckerrüben, zunächst in Europa, dann in den Weiten Nordamerikas, ergänzte die wachsende weltweite Zuckerproduktion. Ein Jahrhundert später folgte die Entwicklung chemischer Süßstoffe und die Produktion von Maissirup. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts stieg die Nachfrage nach Zucker um rund 2 Prozent pro Jahr, teilweise um die Zuckersucht einer wachsenden Bevölkerung zu befriedigen, aber auch wegen des steigenden Lebensstandards in den Schwellenländern. Der Rest der Welt verfiel gesüßten Speisen und Getränken so wie zuvor der Westen im 18. und 19. Jahrhundert. Mit dem wachsenden Wohlstand stieg auch das Verlangen nach Süßem.
Seit der Frühzeit seiner Produktion durch Sklavenarbeit auf dem amerikanischen Doppelkontinent spielte Zucker eine so wichtige, zentrale Rolle, dass er für politische, wirtschaftliche und internationale Konflikte sorgte. Noch heute ist Zucker ein Thema, das in außenpolitischen Beziehungen und bei internationalen Organisationen für heftige Debatten sorgt. Dabei stoßen die unterschiedlichen Interessen von Erzeugern und Verbrauchern und die Anliegen verschiedener internationaler Organisationen und Abkommen aufeinander, wobei sich alles um das weltweite Verlangen nach Zucker dreht und den Preis, der dafür zu entrichten ist. Für noch mehr Verwirrung sorgt die zentrale, mittlerweile allgemein akzeptierte Tatsache der schädlichen Folgen des Zuckerkonsums. Die Medizin erklärt uns jedenfalls unmissverständlich, dass Zucker schlecht für uns ist.
Doch die Aussagen über die Schädlichkeit von Zucker sind neueren Datums, und wenn er heute schlecht ist, wann war er dann gut? In vieler Hinsicht war Zucker schon seit Jahrhunderten schlecht; er war schlecht für die Arbeitskräfte (Sklaven und Vertragsarbeiter), und er war schädlich für die Ökologie der Zuckeranbaugebiete. Nun erfahren wir, dass Zucker weltweit die Hauptursache für wachsende Gesundheitsprobleme darstellt. Dennoch wird Zucker von immer mehr Menschen in gewaltigen Mengen konsumiert. Zucker bleibt populär – quantitativ gesehen, populärer als je zuvor. Menschen mögen Zucker nach wie vor.
Wie ist es so weit gekommen? Wie kam es, dass Hunderte Millionen Menschen nach Zucker verlangen oder davon abhängig geworden sind? Wenn es stimmt, dass Zucker uns schadet, wie konnte die Welt von einer einzigen schlichten Ware so zum Schlechten verleitet werden?
Kapitel 1
Traditionell süß
Essen und Getränke zu süßen gehört seit Jahrtausenden zur Ernährungskultur des Menschen. Süße um ihrer selbst willen, Süße, um Bitteres in Speisen und Getränken zu überdecken, Süße, ärztlich verordnet, Süße sogar als religiöse Verheißung – all das und mehr ist Teil des menschlichen Handelns in zahllosen Gesellschaften. Man denke nur daran, wie Bilder und Ideale des Süßen unsere Sprache prägen – schon allein Worte wie »Zucker«, »süß« und »Honig« stehen seit Jahrhunderten für die glücklichsten Augenblicke und die köstlichsten Empfindungen des Lebens. »Süße« und »Süßer« sind zum Kosewort geworden. Und das Wort »Honeymoon« hat sich auch im Deutschen als Bezeichnung für die Flitterwochen eingebürgert. Die Sprache und Kultur des Süßen ist allgegenwärtig – von den süßen Empfindungen der Liebe bis zum Süßholzraspeln.
Über Jahrhunderte war die Sprache der Dichter vom Süßen durchdrungen. Schon im Mittelalter wurde die geliebte Person, ein schöner oder gutmütiger Mensch als »süßq bezeichnet. So sind für Gottfried von Straßburg in seinem Tristan nicht nur das Liebesleid und die Schönheit der Frauen süß (»mange süeze vrouwîne schar«), auch die Freuden des Sommers erscheinen ihm wunderbar süß:
diu senfte süeze sumerzît
Die sanfte süße Sommerzeit
diu haete ir süeze unmüezekeit
Hatte die süße Schöpferhand
mit süezem vlîze an sî geleit.
Mit süßem Fleiß auf sie gewandt.
Und der Barockdichter Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau spricht vier Jahrhunderte später wehmütig vom »Angedenken der Zuckerlust« und meint:
Empfangne Küsse,Ambrierter Saft,Verbleibt nicht lange süßeUnd kommt von aller Kraft
Dabei lebten beide Dichter in einer Gesellschaft, in der Zucker keine große Rolle spielte. Eine einfache Internetsuche liefert folgende Synonyme für »süß«: allerliebst, entzückend, herzig, hinreißend, lieblich, niedlich.
Heute steht das Süße – und alles, was dieses Wort in sich birgt – für die größten Freuden und Genüsse des Lebens. Umso merkwürdiger, dass Süße in der Gegenwart für ein sehr ernstes persönliches und kollektives Problem steht, das schwere Gefahren birgt. In der Gegenwart ist das Verlangen nach Süßem für Millionen Menschen in aller Welt zum Gesundheitsrisiko geworden.
Heute denken wir bei Süßem vor allem an Zucker, obwohl, lange bevor der Rohrzucker seine seismische Wirkung entfaltete, der Honig in zahlreichen alten Kulturen als wichtigstes Süßungsmittel galt. Jahrhundertelang war in arabischen und persischen Geografietexten und Reisebeschreibungen ebenso wie in Kochbüchern und theologischen Schriften häufig die Rede von Süßem und Süßspeisen. Dem Ideal der Süße als köstliche irdische Erfahrung – eine körperliche Empfindung, die Vergnügen, Glück, sogar Luxus verspricht – steht das Versprechen der Süße als Belohnung im Jenseits gegenüber. Das Leben nach dem Tod wird oft als »süße« Erfahrung dargestellt. Und zwar keineswegs nur im Christentum der westlichen Welt. In zahlreichen Glaubensrichtungen erscheinen himmlische Freuden in verschiedenen Versionen des Süßen. Auf der Erde nahm es die Gestalt des Honigs an.
Felsmalerei aus der Zeit vor 26.000 Jahren, Gemälde aus dem alten Ägypten und ähnliche Darstellungen aus altindischen Gesellschaften unterstreichen die Bedeutung des Honigs. Die Welt der klassischen Antike liefert eine Fülle von Hinweisen auf die Verwendung von Honig im Alltag – als Süßungsmittel, in der Medizin und als Symbol. Die Literatur der Gegenwart ist ebenso wie die des Mittelalters mit Bildern des Honigs angereichert. So ist in Homers Odyssee von den honigsüßen Stimmen der Sirenen die Rede. Auch römische Texte sind mit Verweisen auf den Honig durchsetzt. Lukrez schrieb im ersten vorchristlichen Jahrhundert, dass römische Ärzte Kindern bittere Medizin mithilfe von Honig schmackhaft machten.
Wie, wenn die Ärzte den Kindern die widrigen WermutstropfenReichen, sie erst ringsum die Ränder des Bechers bestreichenMit süßschmeckendem Seime des goldigfarbenen Honigs,Um die Jugend des Kindes, die ahnungslose, zu täuschen.3
Bekannter sind die zahlreichen Bilder des Honigs in der Bibel. Als der Herr die Israeliten aus Ägypten führte, versprach er »ein Land, darin Milch und Honig fließt« (2. Mose 3), eine Formulierung, die im Alten Testament immer wieder im Zusammenhang mit dem Verheißenen Land steht.
Honig wurde im alten Ägypten und im klassischen Griechenland den Göttern als Opfer dargebracht und spielt auch im Hinduismus eine Rolle. Viele Gesellschaften des Altertums verwendeten Honig für althergebrachte religiöse Rituale: Auf die Lippen eines Neugeborenen wurde ein Tropfen Honig gegeben, jüdische Kinder erhielten am ersten Schultag einen in Honig getauchten Apfel, und am jüdischen Neujahrsfest wird Honigkuchen serviert, der Glück bringen soll. Überdies sind Honig, Honiggewinnung und Bienen in der Literatur von den frühesten Schriften alter Kulturen bis zu relativ modernen Texten allgegenwärtig.
Stands the Church clock at ten to three?And is there honey still for tea?Steht die Kirchturmuhr auf zehn vor drei? Und bringt man Honig zum Tee herbei?4
Honig war lange Zeit zugleich Symbol und Süßungsmittel. Über Jahrhunderte war er in Medizin und Arzneimittellehre nicht wegzudenken. Im China und Indien des Altertums ebenso wie im klassischen Griechenland und in der Welt des Islam wurde Honig als Heilmittel für zahlreiche Leiden empfohlen. Wie später der Rohrzucker war Honig zusammen mit anderen Inhaltsstoffen Bestandteil von Medikamenten, die von Ärzten der islamischen Welt und des Mittelalters verordnet wurden. Bis heute wird er in Gemeinschaften, die noch kaum mit der modernen Medizin in Berührung gekommen sind, aber auch von »alternativen« Heilmethoden, die sich in jüngster Zeit weltweit wachsender Beliebtheit erfreuen, als Heilmittel eingesetzt.5
Dass Honig in der Kulinarik eine bedeutende Rolle spielt, ist ebenfalls unverkennbar. Süßspeisen erfreuen sich bis heute besonders in islamischen Gesellschaften großer Beliebtheit, nicht zuletzt weil der Prophet Mohammed Honig als Arzneimittel empfahl. Auch nach der Einführung des Rohrzuckers haben mit Honig zubereitete Süßspeisen und vor allem Desserts ihren besonderen Platz in islamischen Gesellschaften behalten und sind bei vielen Zeremonien und Bräuchen nicht wegzudenken.
Im muslimischen Alltag ist Honig ein wichtiges Element. Im Koran ist immer wieder von Süßem die Rede. Es heißt sogar, Süßigkeiten zu genießen sei ein Zeichen des Glaubens,6 Honig galt als Medizin Gottes, und eine Zukunft im Paradies verhieß Flüsse aus Honig. In einem Buch über die traditionelle Medizin des Propheten aus dem 14. Jahrhundert wurde erklärt, Mohammed habe Honig sehr geschätzt und als Heilmittel für diverse Erkrankungen empfohlen. Überall, wo der Islam Fuß fasste, wurden Süßspeisen, gewöhnlich als Nachspeise, aber auch an Festtagen des islamischen Kalenders, rituell konsumiert. Dass Honig zugleich als Arznei und Lebensmittel hoch geschätzt wurde, zeigt ein Blick auf die Vielfalt und Reichhaltigkeit der Süßspeisen in der Ernährung von Muslimen – an religiösen Fest- und Feiertagen wie dem Geburtstag des Propheten, bei Hochzeiten, Geburtstagen, Bestattungen, Beschneidungen und Familienfeiern. Bei all diesen Festlichkeiten waren üppige Desserts, getränkt in Honig und Zucker, ein Muss. Die Zutaten für diese Köstlichkeiten mussten natürlich im Einklang mit islamischen Vorschriften stehen.7 Doch schon vor dem Aufstieg des Islam wurde Honig für verschiedene kulinarische und spirituelle Zwecke genutzt: als Lebensmittel, als Arznei und als Versprechen künftigen Glücks.
***
Honig war also in mehreren alten Zivilisationen von großer Bedeutung. Er war beliebte Zutat in Rezepten und Speisen, stand aber auch für Reinheit und Moral. Bibel und Koran stellten das Leben nach dem Tod als eine Art Schlaraffenland dar, in dem an hoch geschätzten Dingen wie Milch, Wein und Honig kein Mangel herrschte. Auch im Alltagsleben war Honig häufig anzutreffen. So enthielt etwa ein Kochbuch aus Bagdad, ein Höhepunkt persisch-islamischer Kochkunst, über 300 Rezepte aus dem 8. und 9. Jahrhundert, die jedoch teilweise aus noch früheren Gesellschaften stammen dürften. Ungefähr ein Drittel dieser Speisen und Getränke sind gesüßt, wie etwa Krapfen, Schmalzgebackenes, Pfannkuchen, Reisgerichte, Limonaden und andere Getränke.
Diese Köstlichkeiten und die Kultur der islamischen Küche reisten mit der Religion, die sich über den heutigen Nahen Osten, die Golfküste, Nordafrika und bis nach Subsahara-Afrika und Südeuropa ausbreitete. Kultur und Bräuche der islamischen Völker waren mit ihrer Küche eng verbunden. Eine Vorliebe für Honig ebenso wie für den neu hinzugekommenen Rohrzucker gehörte dazu.
Zuckerrohr gelangte aus Indien in die Welt des Islam. Die buddhistische Küche Indiens hatte Zucker bereits im Jahr 260 v. Chr. in ihre Zutatenliste aufgenommen, und im Lauf der Zeit gewann der Zucker Einfluss auf die Kochkunst der unterschiedlichen Gesellschaften Südostasiens. Richtung Westen reiste er von Indien nach Afrika, in den Nahen Osten und den Mittelmeerraum. Mit der Ausbreitung des Islam fand auch der Konsum von Zuckerrohr Verbreitung. Um 1400 wurde er bereits in Ägypten, Syrien, Jordanien, Nordafrika, Spanien und möglicherweise auch in Äthiopien und Sansibar angebaut.8 Zucker war in allen Richtungen auf dem Vormarsch. Nach der Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258 begann die lange Reise von Rezepten der lokalen Küche ostwärts nach China und in das heutige asiatische Russland.
Die allmähliche Ausbreitung über den Globus wurde zum kennzeichnenden Element des Zuckers – sein Einflussbereich dehnte sich zusehends aus. Große Imperien, gegründet von Griechen, Römern, Muslimen, Mongolen, Byzantinern, Osmanen und Europäern, übernahmen Lebensmittel und Küche von älteren Reichen, Ländern oder eroberten Völkern. Und überall wurde großer Wert auf die Süßkraft des Honigs und zunehmend auch des Rohrzuckers gelegt. Zucker wurde zur Beute imperialer Eroberer, die ihn dann in ferne Winkel der Welt trugen, wo er neue Geschmacksrichtungen hervorbrachte und das Verlangen nach dem Vergnügen weckte, das er versprach. Im europäischen Kontext sollte er auch unvorstellbar hohe Profite abwerfen.
Die Veränderungen, die durch Rohrzucker in Gang kamen, können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Historiker sind sich einig, dass das Zuckerrohr ursprünglich aus Südasien kam, aber Hinweise auf die Verarbeitung – das heißt die Gewinnung von Zucker aus Zuckerrohr – stammen aus viel späterer Zeit.9 Die Ausdehnung der Anbaugebiete erstreckte sich über viele Jahrhunderte. Der explosionsartige Anstieg der Zuckerrohrerzeugung auf dem amerikanischen Kontinent ab dem 17. Jahrhundert führte dazu, dass sich die Forschung auf das Vordringen des Zuckers nach Westen konzentrierte; im Osten vollzog sich aber bereits ein ähnlicher Prozess. In China belegen historische Quellen das Anwachsen der Zuckerrohrerzeugung und die eigenständige Entwicklung von Zuckertechnologie und -produktion in dem Land. Während der Ming-Dynastie (von Mitte des 14. bis Mitte des 17. Jahrhunderts) und der sich anschließenden Qing- oder Mandschu-Dynastie fand Zucker nicht nur den Weg nach Japan, sondern wurde für China auch ein wichtiges Handelsgut im Austausch mit anderen asiatischen Ländern, während er gleichzeitig im atlantischen Handelssystem größte Bedeutung gewann.
In die mediterrane Welt war Zucker über den heutigen Iran und Irak und von dort ins Jordantal, an die syrische Mittelmeerküste, nach Ägypten und in andere Länder der Region gelangt. In Ägypten wurde Zuckerrohr bereits Mitte des 8. Jahrhunderts angebaut, und im 11. Jahrhundert fand man ihn auch in anderen Ländern der nordafrikanischen Küste, auf verschiedenen Mittelmeerinseln und in Spanien.10 Als fertiges Produkt gelangte Rohrzucker im 11. Jahrhundert im Gepäck der Kreuzritter ins übrige Europa. Natürlich war Zucker nur eines von mehreren Lebensmitteln, die in dieser Zeit gleichsam als Treibgut teils religiös motivierter Wanderbewegungen und Konflikte den Weg nach Westen fanden. Reis, Baumwolle, Auberginen, Wassermelonen, Bananen, Orangen und Zitronen nahmen eine ähnliche Route.11
Es überrascht daher kaum, dass in der frühen arabischen Literatur in verschiedensten Quellen häufig in ausführlichen Berichten von Zucker, seinen Reizen und vermeintlichen Vorzügen die Rede ist. In den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, deren Ursprünge im 8. Jahrhundert liegen, wird Zuckerrohr in einem Gespräch zwischen einem Dichter und einem Sklaven so beschrieben:
Es hat die Gestalt eines Speers, aber ohne Spitze.Jeder liebt es.Wir kauen es im Ramadan oft nach Sonnenuntergang.12
Solche und ähnliche beiläufige Hinweise enthüllen einen bemerkenswerten Zug in der Geschichte des Zuckers – von frühester Zeit bis in die Gegenwart hat Zucker stets große Aufmerksamkeit erregt. Die Ausbreitung des Islam ging nicht nur mit der Eroberung ganzer Landstriche und der Bekehrung zahlreicher Menschen einher, sondern mit der Verbreitung kultureller Errungenschaften, angefangen mit Buchdruck und Gelehrsamkeit bis zu moderner Wissenschaft, Medizin und Kochkunst, wobei sich eine Reihe von Gelehrten auch mit der Zunahme von Zuckerproduktion und -konsum beschäftigten – zum Beispiel ein arabischer Geograf des 10. Jahrhunderts und ein Kaufmann, der im Jahr 1154 in seinen Reisebeschreibungen auch auf Zuckeranbau und -herstellung eingeht. Auch aus dem spätmittelalterlichen Ägypten liegen Schilderungen der Zuckerverarbeitung und der damit verbundenen finanziellen Fragen vor.13
Die Ausbreitung des Zuckers im Mittelmeerraum ging mit neuen Anbaumethoden, Bewässerungsverfahren und Techniken der Zuckerverarbeitung einher; hinzu kam die Finanzierung der Zuckerproduktion und des Vertriebs von Rohrzucker. Im Jahr 1492 fielen zwar die letzten Bastionen des Islam in Spanien, aber die Zuckerproduktion hatte schon Fuß gefasst und war gut entwickelt. Ihre Methoden wurden in abgewandelter Form von den Europäern bei der Erforschung und Besiedlung atlantischer Inseln und später der tropischen Gebiete Amerikas angewandt.
Engländer kamen erstmals während des Ersten Kreuzzugs 1095 bis 1099 in Palästina mit Zucker in Berührung. Rohrzucker half hungernden Kreuzfahrern zu überleben und weckte Lust auf Süßes (und andere exotische Genüsse), die sie mit nach Hause nahmen. Aber Zucker war knapp und teuer und daher nur den Eliten zugänglich. Im Mittelalter findet er Erwähnung in den Haushaltsbüchern von Palästen, Burgen und Klöstern. Die Mönche von Durham bezeichneten ihren Zucker als »Marrokes« und »Babilon«. Der Zucker des Earl von Derby wurde als »Candy« (der damalige Name für Kreta) aufgeführt, während er in Rezeptsammlungen als »Cypre« (Zypern) und »Alysaunder« erscheint. In den Büchern König Edwards I. wird für 1287 der Kauf von 667 Pfund Zucker, 300 Pfund »Veilchenzucker« und immerhin 1900 Pfund »Rosenzucker« verzeichnet (letztere Sorten wurden mit pulverisierten Blütenblättern gemischt und dienten als Medikamente).14 All diese Zuckerimporte stammten eindeutig aus dem Mittelmeerraum und gelangten über Händler in Venedig und Genua nach England, die sie wiederum von Produzenten der Region erwarben.
Die erzeugten Mengen waren gering, nahmen aber zu, da sich Zucker bei den wohlhabenden Schichten wachsender Beliebtheit erfreute. Im 13. Jahrhundert hatte Zucker in den Haushalten der englischen Oberschicht Einzug gehalten.15 Im Jahr 1319 beispielsweise lieferte Nicoletto Basadona 100.000 Pfund Zucker und 1000 Pfund »Candy-Zucker« nach England.16 Auch in der französischen Küche des 14. Jahrhunderts kam Zucker zum Einsatz. Im selben Jahrhundert wird im Hafen Sandwich der Grafschaft Kent ein Anstieg der Zuckerimporte verzeichnet. (Dass die Einfuhr über Häfen im Süden lief, dürfte erklären, warum Zucker zunächst dort Verbreitung fand und nur langsam in den Norden Englands vordrang.) Auch in Boston in der Grafschaft Lincolnshire wurde aus Amsterdam, Calais und Rotterdam Zucker angeliefert, der Import erfolgte aber auch über die entfernteren Häfen Devons. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts tauchten in den größeren englischen Provinzstädten »Konfektmacher« auf – Spezialisten für die Herstellung von Süßwaren aus Zucker.17
Im 16. Jahrhundert war Zucker in England weit verbreitet; so wurden für die Küche des Earl of Northumberland über 2000 Pfund Zucker geordert.18 Süßes Konfekt – in Zucker eingelegte Früchte, Kuchen und eingemachtes Obst – spielte in den Haushalten der Royals eine so wichtige Rolle, dass die Monarchen spezielle Bedienstete mit deren Zubereitung betrauten. Schließlich wurde in den größeren königlichen Haushalten (insbesondere Hampton Courton) eine eigene Zuckerbäckerei eingerichtet. Rezeptsammlungen für die Tafel von Königen und Adligen enthielten fortan zuckerhaltige Nachspeisen.19 Bedienstete lernten, wann und wie Zucker im Lauf einer Mahlzeit anzubieten war, zum Beispiel in einer Sauce für Rebhuhn und Fasan oder zum Bestreuen von gebackenem Hering. Interessanterweise wurden auch neue Speiseutensilien zum Verzehr von süßem Allerlei erfunden: Aufwendige, teure Teller waren den Desserts vorbehalten, spezielle Gabeln wurden bereitgestellt, um Klebriges aufzuspießen und zum Mund zu führen. Vom Jahr 1580 an schildern frühe englische Kochbücher, wie Zucker eingesetzt werden kann, zum Beispiel um Kaninchen zu füllen und Obst einzumachen.20
Wer in Europa etwas auf sich hielt – Herrscher, Adlige und Geistliche –, nutzte Zucker einerseits in der gehobenen Küche, andererseits als Prestigeobjekt in Form von kunstvollen, aus Zucker gefertigten Objekten und Statuetten. Damit folgten sie einer älteren islamischen Tradition, die für die Zurschaustellung von Macht und Reichtum Zucker verwendete. Zahlreiche Geschichten aus alter Zeit berichten von orientalischen Herrschern, die für religiöse Feste kunstvolle Zuckerskulpturen in Auftrag gaben. Ein Reisender berichtete, der Sultan von Ägypten habe im Jahr 1040 für Skulpturen, darunter ein Baum, 73.000 Kilogramm Zucker aufgewendet. Eine Quelle aus dem Jahr 1412 spricht von einer aus Zucker erbauten Moschee – die nach dem Ende des Fests von Bettlern verzehrt wurde.21 In Istanbul wurden 1582 Hunderte Zuckerbildnisse angefertigt, um die Beschneidung des Sohns des osmanischen Sultans zu feiern. Darunter waren aus Zucker gefertigte Tiere und ein Schloss, für dessen Transport vier Männer benötigt wurden.22 Unter anderem geht aus solchen künstlerischen Arbeiten, die sich nur die Reichsten leisten konnten, hervor, wie teuer Zucker war. Krönungen, militärische Siege, religiöse Feste und andere Anlässe wurden durch prachtvolle Zuckerskulpturen gefeiert.
Als der Zucker vom Mittelmeerraum aus, meist via Venedig, seinen Siegeszug durch Europa antrat, kamen auch dort kunstvolle Zuckerskulpturen in Mode. Europäische Köche und Bäcker übernahmen Zutaten und Zubereitung von ihren arabischen Kollegen und passten sie den Bedürfnissen und Geschmäckern ihrer Kunden an. Vom 13. bis zum 17. Jahrhundert schufen sie mithilfe von Gussformen oder Zuckerpasten verschwenderische und verschnörkelte Kunstwerke für die Feste und Zeremonien der europäischen Oberschicht.
Dem Vorbild ihrer Herrscherhäuser folgend, wurden die Franzosen Pioniere und Perfektionisten dieser kulinarischen Kunst. Guillaume Tirel (genannt Taillevent), der von 1326 bis 1395 für französische Könige arbeitete, hinterließ ein Manuskript mit Rezepten, welche für die königliche Tafel vielfältigen Gebrauch von Zucker machten.23 Obwohl auch weiterhin Honig zum Einsatz kam, fand teurer importierter Zuckerhut in den Haushalten der Reichen immer häufiger Verwendung. Nicht selten handelte es sich um Rohzucker, der in der Küche vor Ort erst raffiniert und geklärt werden musste. Erschwinglich war er nur für privilegierte Schichten – obwohl er bereits 1379 in einem Londoner Lebensmittelladen angeboten wurde.24
Im 16. Jahrhundert diente Zucker in der französischen Küche dreierlei Zwecken: zum Süßen von Speisen, zum Konservieren von Obst, Blumen und Gemüse und zur Herstellung dekorativer Ornamente, Figuren und Glasuren. Zucker wurde auch verschiedenen Pasten beigemischt – insbesondere stellte man mithilfe von Mandeln Marzipan her, das noch heute eine wichtige Zutat für Chocolatiers ist. In dieser Zeit erläuterten französische Kochbücher Methoden zum Einkochen von Sirups und kristallisierten Süßigkeiten (Kompotte, Malzbonbons und Karamell).25
Unvergesslich blieben die opulenten Zuckerskulpturen. Im Jahr 1571 gab die Stadt Paris ein Festmahl zu Ehren Elisabeths von Österreich, der jungen Gemahlin Karls IX. Die Zeugen des Essens waren sich einig, dass es an Prunk alles bisher Dagewesene übertraf. Jeder Gang wurde durch Trompeten angekündigt und huldigte einem passenden Motto. Im Anschluss wurde getanzt, und danach folgte eine »Kollation«: Eingemachtes, gezuckerte Nüsse, Fruchtmuse, Marzipankonfekt, Kekse und verschiedene Fleisch- und Fischgerichte – allesamt aus Zuckerpaste geformt. Auf der zentralen Tafel wurde mit sechs großen Zuckerskulpturen dargestellt, wie Minerva Frieden nach Athen brachte.26
Zucker wurde, vor allem bei Festessen, auch ein wichtiges Element der Tischdekoration. Zuckerskulpturen schmückten neben Blumenarrangements und prächtigem Silbergeschirr die Tafeln der Reichen. Tischdekorateure nahmen sich für ihre Kreationen sogar die zeitgenössischen Landschaftsgärtner zum Vorbild. Geschickte Konditoren nutzten Zucker in zahlreichen Farben und Marzipan, um ganz nach Wunsch der Herrschaften verschiedenste Szenerien zu erschaffen.27
Derlei Zurschaustellung von Macht, Reichtum und Status waren wichtig, und die Chefköche der Paläste und Herrenhäuser perfektionierten die Kunst, aus Zuckermixturen essbare Bildnisse zu formen, die Erstaunen weckten. Die Experten mischten Zucker mit Nüssen und Gummi arabicum oder gaben Zuckerlösungen in eigens dafür hergestellte Gussformen und wetteiferten mit ihren Kunstwerken um die Bewunderung der Gäste bei Banketten und Festakten. Die von ihnen hergestellten soteltes (Raffinessen) sollten ursprünglich zwischen den Gängen verzehrt werden und waren nicht selten Fisch- oder Fleischgerichten nachgebildet. Mit der Zeit übernahmen sie jedoch die Funktion, nicht nur Reichtum und Status des Herrschers zu unterstreichen, sondern auch dessen Rivalen, Freunden und Feinden Botschaften zu übermittelten.
Die Oberschicht imitierte bald die Zuckervorlieben ihrer Monarchen. Auch hochrangige Geistliche und angesehene Gelehrte verwiesen mit Zuckerskulpturen gerne auf ihre gesellschaftliche Stellung. Als Thomas Wolsey 1515 als Kardinal der Westminster Abbey eingesetzt wurde, bestellte er extravagante Nachbildungen von Kirchen, Burgen, Tieren, Vögeln und ein Schachspiel – allesamt aus Zucker.28 Zur Feier seiner Berufung im Jahr 1503 orderte der Vizekanzler der Universität Oxford »Die acht Türme der Universität«, deren Direktoren und den König – ebenfalls aus Zucker angefertigt.29 Im Jahr 1526 beauftragte Heinrich VIII. sieben Köche, in Greenwich ein kunstvolles Zuckerbankett anzurichten, bei dem ein Kerker und ein Landgut mit Schwänen und Schwanenjungen präsentiert wurden, während ein weiterer Koch einen Turm und ein Schachbrett, »garniert mit Feingold«, schuf.30 Gewagter waren zum Amüsement der Gäste aus Zucker geformte Genitalien, während offizielle Festessen für Kirchenleute oder Diplomaten durch geschmackvollere, dem Anlass entsprechende Darstellungen von religiösen Motiven oder Abbildungen der königlichen Familie geschmückt wurden.31 Es überrascht kaum, dass Höflinge in Frankreich und England schlimme Zahnprobleme hatten: verfaulte oder fehlende Zähne, Zahnfleischerkrankungen, eingefallene Münder und andere Entstellungen. All dies war eine Folge des Zuckerkonsums.
Reich gewordene Händler (die vielfach durch Beutezüge in Übersee, imperialistischen Handel und Landnahme profitiert hatten) ahmten die teuren Gewohnheiten der Aristokratie nach und nutzten ebenfalls bald Zucker, um Eindruck zu schinden. Wie bei anderen Luxusartikeln büßte jedoch die Botschaft an Wirkung ein, sobald sie breiteren Schichten zugänglich wurden, und als Zucker gegen Ende des 16. Jahrhunderts weitere Verbreitung fand und billiger wurde (angebaut von afrikanischen Sklaven auf dem amerikanischen Kontinent), verloren kunstvolle Zuckerskulpturen ihre Strahlkraft. Die englische Oberschicht kaufte ihren Zucker meist in London, Mitte des 17. Jahrhunderts wurde er jedoch bereits in den kleineren Provinzstädten angeboten, so 1635 in Mansfield und 1649 in Rochdale. In Tarpoley, Cheshire, konnten die Bürger 1683 bei Ralph Edge, einem Eisenwarenhändler, Zucker beziehen.32 Als Zucker in bescheidenere Häuser Einzug hielt, hatte er für die Reichen seine Prestigewirkung eingebüßt.
Wie gängig die Verwendung von Zucker war, zeigt sich in frühen Rezeptsammlungen. Englische Kochbücher erschienen erstmals in den 1580er-Jahren, und sie empfehlen Zucker zum Konservieren von Obst und als Zutat zu allerlei Gerichten. Gervase Markhams Handbuch The English Housewife (die erste Auflage von 1616 griff auf erheblich ältere Ratschläge und Rezepte zurück) enthält zahlreiche Empfehlungen zum Gebrauch von Zucker. Zum Beispiel galt er als ideal für die Zubereitung von Salaten, Pfannkuchen, Kalbsbraten, Schmalzgebackenem, Leber, diverse Saucen, Austernpastete, verschiedenen Desserts, Torten und Gelees, Gewürzkuchen und natürlich eines »Desserttellers«.33 Dieses Handbuch meinte auch, die ideale Hausfrau solle sich nicht allein aufs Kochen beschränken. Sie war auch für alle Fragen der Gesundheit und des Wohlbefindens ihrer Haushaltsmitglieder zuständig, und daher wurden hier Ratschläge zur Krankenpflege und zum Umgang mit Leiden und Unfällen aller Art erteilt. Auch in diesem Bereich war Zucker unschätzbar und wurde als Zutat eines Stärkungsmittels für »jeglichen Infekt des Herzens«, für einen »frischen Husten« und für einen »alten Husten« empfohlen. Zucker diente auch zur Behandlung von Augenleiden, Auszehrung, »Windkolik«, zum Stillen von Blutungen und sogar zur Versorgung »jeder alten Wunde«.34 Zucker galt nunmehr als ebenso heilsam wie wohlschmeckend, und sein Nutzen war ebenso praktisch wie symbolisch. In kunstvollen Skulpturen machte er Eindruck, und wenn richtig verabreicht, konnte er sogar den Kranken helfen und die Gebrechlichen heilen.
Seinen Platz in der Küche hatte der Zucker demnach nicht einfach nur als Zutat, sondern als Heilmittel erobert, und wieder findet sich die Erklärung in der Ausbreitung des Islam. Mit der Entwicklung einer islamischen Orthodoxie kam auch eine neuartige islamische Medizin auf, die weitgehend in den Aussagen des Propheten und seiner Anhänger gründete, während zugleich Bagdad zum Zentrum der Gelehrsamkeit wurde. Man begann, antike Texte ins Arabische zu übersetzen – darunter die Schriften des griechischen Arztes Galen. So wurden Galens Vorstellungen nicht nur in der islamischen Welt bekannt. Es entstand eine Fülle an medizinischen Texten, nicht zuletzt bedeutende Handbücher, die eine Übersicht über die Heilkunde der Zeit sowie Antworten für jeden boten, der sich für medizinische Fragen interessierte.
Mit dem Islam lebte auch die Zunft der Ärzte auf, deren Forschungsarbeiten nun schriftlich vorlagen, sodass die Kenntnisse über den menschlichen Körper, seine Leiden und deren Behandlung Verbreitung fanden.35 Der berühmteste und einflussreichste unter ihnen, Al-Razi (865–925), empfahl: »Unangenehm schmeckende Medizin sollte schmackhaft gemacht werden.«36 Wie die Griechen und Römer vor ihnen fanden die islamischen Ärzte und ihre Nachfolger (vor allem spanische und jüdische Mediziner), Zucker und Honig eigneten sich ideal, um den bitteren Geschmack bestimmter Heilmittel zu überdecken. Der Prozess vollzog sich schrittweise, aber schließlich wurde Zucker Teil der islamischen und dann der europäischen Arzneikunde.
Der Medizin kam auch das große Verbreitungsgebiet des Islam zugute: Es lieferte eine erstaunliche Vielfalt an Flora, Fauna und Mineralien, die sich als Heilmittel eigneten. Im 13. Jahrhundert standen auf den Listen der Apotheker mehr als 3000 Substanzen, die nicht selten aus fernen tropischen Regionen stammten. Zucker war nur ein Stoff unter vielen, fand aber rasch eine eigene Nische, weil er selbst als Medikament galt und zugleich andere Heilmittel versüßte.
Medizin und Pharmazie des Islam gelangten auch nach Westeuropa. In Apotheken (ursprünglich Vorratslager für Wein, Gewürze oder Kräuter) erhielt man Zucker pur oder als Beigabe zu anderen Heilmitteln. Robert de Montpellier, bei dem König Heinrich III. seine Gewürze und Medikamente bezog, eröffnete 1245 die erste Apotheke Londons und hatte unter anderem »Latwerge« im Angebot – breiartige Mixturen aus Gewürzen und Kräutern mit Zucker zur Behandlung von allerlei Gebrechen. Gegen Ende seines Lebens wurde Heinrich VII. eine Zubereitung, bestehend aus Zucker, Rosenwasser, Veilchen und Zimt, verabreicht.37
Pierre Pomet, Apotheker des Sonnenkönigs Ludwig XIV., legte eine Abhandlung über Arzneimittel vor, die unter dem Titel Der aufrichtige Materialist und Specerey-Händler 1717 auch auf Deutsch erschien. Sie widmete dem Zucker immerhin fünf Seiten und behandelte darin Eigenschaften, Anbau sowie kulinarische und medizinische Verwendung. Abgesehen von den leckeren Süßigkeiten, Desserts und Getränken, die Zucker enthalten, sei er auch gut für die Brust und die Lunge, für Asthma, Husten, die Nieren und die Blase, so Monsieur Pomet. Allerdings (und da hatte der Autor wohl den König selbst im Auge) lasse Zucker die Zähne verfaulen. Nach einer Auflistung der Orte, an denen Zuckerrohr angebaut wurde, erklärte er, Zucker aus Jamaika und Barbados sei unübertroffen, danach folge Zucker aus Lissabon.38
Um 1600 hatte sich die Situation erheblich verändert. Zucker, bisher den Reichen und Mächtigen vorbehalten, war nun in den bescheidensten Läden und kleinsten Dörfern erhältlich. Von Tarpoley war es weit zum französischen Königshof und noch weiter zu den großen Zentren islamischer Gelehrsamkeit und medizinischer Forschung. Dennoch hatte ein Artikel, der einst das Privileg von Königen war, in der Mitte des 17. Jahrhunderts den Weg in das Geschäft eines kleinen Eisenwarenhändlers im Norden Englands gefunden. Noch denkwürdiger ist die Tatsache, dass diese Entwicklung durch die brutale Ausbeutung unzähliger afrikanischer Sklaven möglich wurde. Zucker landete nun tonnenweise in europäischen Häfen, wurde von dort an Raffinerien geliefert und schließlich auf Märkten und Messen, von Lebensmittelgeschäften und reisenden Händlern verkauft. So erreichte er Verbraucher in ganz Westeuropa und schließlich auf der ganzen Welt. Zucker gehörte nun zum Alltagsleben der Bevölkerung.
Kapitel 2
Vormarsch derZahnfäule
Unter Elisabeth I. erfreute sich Zucker in der englischen Oberschicht größter Beliebtheit. Er wurde Speisen und Getränken reichlich zugesetzt (Shakespeares Falstaff liebte seinen Süßwein, der durch Zuckerbeigabe noch süßer wurde), und man erfreute sich an verschwenderischen Zuckerskulpturen, die Macht und Einfluss demonstrierten. Als die Königin 1591 durch Hampshire kam, ließ der Earl of Hertford ein Feuerwerk zünden, gefolgt von einem Bankett mit dem »Wappen Ihrer Majestät in Zuckerwerk … Schlössern, Festungen, Geschützen, Trommlern, Trompetern und Soldaten aller Art in Zuckerwerk …«. Exotische Tiere und Vögel, Schlangen, Wale, Delfine und Fische aus Zucker wurden der Königin zur Unterhaltung vorgeführt. Die Monarchin hatte eine Schwäche für Süßes. Im Jahr 1597 schrieb der französische Botschafter über die vierundsechzigjährige Herrscherin: »Ihre Zähne sind sehr gelb und ungleichmäßig ... Viele fehlen, sodass man sie nicht leicht versteht, wenn sie schnell spricht.« Ein Jahr später fand ein anderer Besucher, ihre Zähne seien schwarz.
Schon Ende des 16. Jahrhunderts stand fest, dass Zucker an den Zähnen großen Schaden anrichtete.39 Da wir heute Zahnprobleme schnell und schmerzlos lösen können, macht einem der Gedanke an die Zahnschmerzen unserer Vorfahren Angst. Tatsächlich sind faule Zähne und qualvolle Behandlungsmethoden relativ neue Erscheinungen – und sie sind eng mit der Geschichte des Zuckers verknüpft. Zu dieser Erkenntnis hat uns nicht zuletzt die moderne Wissenschaft verholfen: Denn man hat inzwischen herausgefunden, dass Zucker mit Bakterien reagiert und dabei eine Säure erzeugt, die den Zahnschmelz angreift – also Karies hervorruft. In den vergangenen Jahren haben Archäologen zudem ans Licht gebracht, dass unsere Urahnen keineswegs in dem Maße an Zahnfäule litten, wie wir uns das vorstellen – jedenfalls nicht, ehe der raffinierte Zucker die Bühne betrat.
Erstaunlicherweise liefert der mörderische Ausbruch des Vesuv nützliche Hinweise. Am 24. August des Jahres 79 n. Chr. kam es zu dem Ereignis, das neben der Eruption des Krakatoa (1883) der wohl berühmteste Vulkanausbruch der Menschheitsgeschichte werden sollte. Er zerstörte die Städte Pompeji und Herculaneum und tötete Tausende Menschen durch brüllende Hitzestürme. Es folgten Ascheregen und Lavafluten. Die Asche, die die Städte und ihre Bewohner bedeckte, verhärtete sich schließlich zu Bimsstein. Im Lauf der Zeit verwesten die in Bims eingeschlossenen Leichen; zurück blieben nur die Skelette.
Archäologen schufen unter Einsatz neuer Technologien und Materialien Gipsabgüsse der Opfer. Forscherteams, bestehend aus Naturwissenschaftlern, Archäologen, Radiologen, Ärzten und Zahnärzten, haben die menschlichen Überreste unlängst untersucht und sie Experimenten unterzogen, die noch vor einer Generation unmöglich gewesen wären. Die seit Jahrhunderten unter Vulkanasche und Lava begrabenen Funde lieferten Erkenntnisse über Verfassung und Gesundheitszustand der Verstorbenen. Aus der Untersuchung von dreißig Personen mittels moderner CT-Scans ging unter anderem hervor, dass deren Zähne bemerkenswert gut erhalten waren. Scans, Röntgenaufnahmen und Zahnanalysen zeigen, dass die Opfer (Männer, Frauen und Kinder) auf die Dienste eines Zahnarztes weitgehend verzichten konnten; nur wenige von ihnen wiesen Löcher auf. Zum Todeszeitpunkt war ihr Gebiss in einem hervorragenden Zustand.40
Aus verschiedenen historischen Quellen wissen wir eine ganze Menge über die damalige Ernährung. Sie war typisch mediterran, reich an Ballaststoffen, mit viel Obst und Gemüse. Maßgeblich ist dabei aber vielleicht, dass die Kost keinen oder nur sehr geringe Mengen Zucker enthielt. Eine so ausgewogene Ernährung entspricht den Ratschlägen heutiger Ernährungswissenschaftler, die eine gesunde Alternative zu unseren modernen zuckrigen, fettigen Lebensmitteln suchen. Vor allem aßen die Menschen, die im Jahr 79 durch den Vulkanausbruch ums Leben kamen, keinen raffinierten Zucker, und ihre Zähne sind ein leuchtendes Beispiel dafür, wie ein Gebiss ohne Zuckerkonsum aussieht.
Sie sind aber nicht die Einzigen, an denen die Folgen des Zuckerverzichts deutlich werden. Eine ganze Reihe archäologischer und medizinischer Befunde von diversen antiken Begräbnisstätten liefern ganz ähnliche Ergebnisse. Knapp 1000 britische Untersuchungen von Ausgrabungsstätten aus der Eisenzeit bis ins späte Mittelalter – eine Zeitspanne von rund 2000 Jahren – zeigten keinerlei Schädigungen an den Zähnen der Begrabenen. Einzelstudien bestätigen das Muster: 504 untersuchte Gebisse aus angelsächsischer Zeit weisen keine Löcher auf, wie sie von Zucker verursacht werden.
Die Situation veränderte sich jedoch ab dem 17. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert – als Großbritannien von der industriellen Revolution erfasst wurde und die Verstädterung begann – sahen die Funde auf Friedhöfen ganz anders aus. Bei den beerdigten Viktorianern war es um die Zahngesundheit schlecht bestellt – sie hatten angegriffene Zähne, zahlreiche Löcher und Karies. Hinter dieser bemerkenswerten Entwicklung steht die Geschichte des Zuckers.41
In Britannien liegen Daten zum Zustand von Zähnen aus 2000 Jahren vor. Zudem gibt es umfassende Studien über globale archäologische Daten zur Zahngesundheit, die das Muster bestätigen. Immer wieder zeigt sich, dass die hauptsächliche oder ausschließliche Ursache für Zahnfäule der natürliche Alterungsprozess war. Im Südpazifik, im alten Ägypten und unter den Ureinwohnern Nordamerikas waren Zahnprobleme alters- und nicht ernährungsabhängig. Insgesamt kommt man zu dem Schluss, wie ein namhafter Professor für Zahnchirurgie erklärt, dass »vor dem 17. Jahrhundert (und deutlich später in ländlichen Gebieten) die Menschen wahrscheinlich nicht so sehr unter Zahnschmerzen litten, wie man sich das vorstellen könnte«. Und das lag daran, dass sie Gezuckertes weder aßen noch tranken.42
Vergleicht man das mit den Belegen für weitverbreitete Zahnprobleme bei der britischen Bevölkerung von heute, ist Karies – besonders besorgniserregend bei Kindern – weit verbreitet und gibt regelmäßig Anlass zu Diskussionen unter Experten und in den Medien. Natürlich ist der Mix der Ernährungsfaktoren, die zu Zahnschäden führen, komplex, aber heute wird nur noch von der Zucker- und Lebensmittelindustrie und ihren bezahlten Lobbyisten in Zweifel gezogen, ob es der Zucker ist, der diese Probleme verursacht. Es überrascht kaum, dass Berichte zum Beispiel über die gute Zahngesundheit unserer Vorfahren in der Presse unter plakativen Schlagzeilen erscheinen wie: »Alte Römer in Pompeji hatten ›perfekte Zähne‹«.43 Die heute verbreiteten Zahnprobleme traten zunächst bei den Reichen auf, denn sie konnten sich üppige Zuckermengen leisten. Zwar waren die kaputten Zähne Elisabeths I. (und ihrer wohlhabenden Untertanen) augenfällig, aber sie verblassten im Vergleich zu den Schäden der gekrönten Häupter und der Aristokraten in Frankreich.