Zukunftsblind - Benedikt Herles - E-Book

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Benedikt Herles

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Beschreibung

Das Wissen der Menschheit explodiert. Digitalisierung und Biotechnologie eröffnen neue Welten. Doch der Rausch des Fortschritts erschüttert die Gesellschaft. Ohne politische Erneuerung riskieren wir den Kollaps. Technologie-Investor und Volkswirt Benedikt Herles liefert einen exklusiven Blick hinter die Kulissen einer Zeitenwende – und plädiert für grundlegende Debatten und Reformen. Die Möglichkeiten von Robotik, künstlicher Intelligenz und Gentechnik entwickeln sich rasant – aber wir sind blind für die Gefahren. Benedikt Herles zeichnet ein alarmierendes Zukunftsbild: Algorithmen und künstliche Superintelligenzen ergreifen die Macht. Sozialsysteme kollabieren in einer Ökonomie der Maschinen. Nutzlose Volksmassen verfallen ohne erfüllende Aufgaben in die Depression. Oberschichten optimieren ihr Erbgut und Staaten liefern sich ein genetisches Wettrüsten. Während die gesellschaftliche Ungleichheit dramatisch zunimmt, ist die Demokratie längst am Ende. Herles appelliert an seine Generation: Sie muss für eine lebenswerte Zukunft kämpfen. Mit einem eindringlichen Weckruf und einem konkreten politischen Zehn-Punkte-Plan geht er voran.

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Seitenzahl: 343

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Benedikt Herles

Zukunftsblind

Wie wir die Kontrolle über den Fortschritt verlieren

Knaur e-books

Über dieses Buch

Das Wissen der Menschheit explodiert. Digitale Revolutionen und biotechnologische Innovationen eröffnen neue Welten. Doch der Rausch des Fortschritts erschüttert die Gesellschaft. Ohne politische Erneuerung riskieren wir den Kollaps. Benedikt Herles blickt hinter die Kulissen einer Zeitenwende – und fordert grundlegende Debatten und dringend nötige Reformen.

Die Möglichkeiten von Robotik, künstlicher Intelligenz und Gentechnik entwickeln sich rasant – aber wir sind blind für die Gefahren. Benedikt Herles zeichnet ein alarmierendes Zukunftsbild: Computerhirne ergreifen die Macht. Sozialsysteme kollabieren in einer Ökonomie der Maschinen. Menschen verfallen ohne erfüllende Aufgaben in die Depression. Oberschichten optimieren ihr Erbgut und Staaten liefern sich ein genetisches Wettrüsten. Während die gesellschaftliche Ungleichheit dramatisch zunimmt, ist die Demokratie längst am Ende. Herles appelliert an seine Generation: Sie muss für eine lebenswerte Zukunft kämpfen. Mit einem eindringlichen Weckruf und einem konkreten politischen Zehn-Punkte-Plan geht er voran.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoVorwortEinleitungSchluss mit »Digitalisierung«Berliner BlindheitZukunftsflutKapitel 1Beschleunigte GeschichteEvolution auf Speed – im Rausch des FortschrittsDie Galeere des WandelsDigitale SteintafelnExponentielle EntwicklungTechnik macht SystemeWendepunkte der WirtschaftEntmaterialisierte ZukunftIndustrialisierte ZerstörungDarwin Digital – der Weg zur maschinellen MachtGesetzmäßige SprengkraftVermeintliches EndeAlternative AntriebeDer Traum vom künstlichen HirnTiefes LernenBiologische Zäsur – der geknackte CodeGöttliches WerkzeugDie Schere im EinsatzGenetische AtombombeDer optimierte MenschNeue GeschöpfeZeitenwendeAnorganische Intelligenz – die Maschinen erwachenHochsommerDie überforderte SpeziesGrenzen der FantastenVerselbstständigte IntelligenzOrganische Intelligenz – Gottes Werk und unser BeitragBio-HackingEine Pille RealismusGenesis IIVerschlafene ZäsurKollektive Fehleinschätzung – die verzerrte ZukunftWeitreichende AutonomieVerdeckte VehemenzExtreme ErwartungKapitel 2WohlstandskonzentrationDas Matthäus-Zeitalter – den meisten wird genommenGewinnergeografienGeteilte Staaten von AmerikaBildungsrenditenPolarisierte KonkurrenzEpochale Umverteilung – das Ende der alten MitteSonnenseitenSchattenseitenVon Arbeit zu KapitalÖkonomie der Maschinen – Wertschöpfung ohne unsLuddistische SorgenMaschinen vs. DemografieGeteilte SpeziesMission Unsterblichkeit – ewiges Leben für mancheSchlacht mit dem TodMedizinische RevolutionenGöttliche SchnittstellenGetunte Nachkommen – Bio-Optimierung der ElitenBiologische KastenDas Ich als GenproduktKapitel 3PoststaatlichkeitKräftemessen – Kampf um die NetzherrschaftEntropieGravitationGigantensturmKettenreaktionNationaldämmerung – Angriff auf die SouveränitätVirtuelle VerwundbarkeitSouveräne KonzerneDigitales DuopolStaatliche KettenAlgokratieFremde Ratio – die Blackbox übernimmtAlgokratie des AlltagsDigitale EthikUndurchschaubare NetzePostkausalitätAhnungslose ErkenntnisSuperintelligenz – Ankunft der ÜberhirneKlimatron 9000Verhängnisvolle OptimierungSommer der AngstSinguläre GeisteskraftRealer HorrorKapitel 4Politische AbgründeDemokratieversagen – die blinde VolksvertretungStaatsdilemmaElitäres ScheiternRot und Schwarz reloadedPolitische InnovationWeltbühne – globale VerwerfungenDigitale DrachenArbeitsbefreiungsarmeeReich der GeneIndustrielle HeimkehrVerlorene WeltenVolksdepressionNutzlose Massen – die Bürde funktionsloser ExistenzenÖkonomische BiologieSinn des SeinsAbstieg einer SpeziesNarrativlosigkeit – planlos in die ZukunftDunkle SchleierZiellosigkeitKapitel 5GenerationenaufgabenHandlungsstau – Verantwortung akzeptierenDimensionen des NeuanfangsFortschrittsrenditeVerstaubte Vorstellungen – vorwärts statt rückwärts denkenAction requiredZehn-Punkte-Plan1. Steuergerechtigkeit2. Bedingtes Grundeinkommen3. Aktien für alle4. Bildungsrevolution5. Zukunftsbeteiligung6. Staatstransparenz7. Zukunftsministerium8. Algorithmen- und Datenkontrolle9. Europäischer Genplan10. Globale KooperationSchlussWandel durch FortschrittWer, wenn nicht wirDeutschland 2051DanksagungAnmerkungen
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Für meine Mutter

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We meet in an hour of change and challenge,

in a decade of hope and fear,

in an age of both knowledge and ignorance.

The greater our knowledge increases,

the greater our ignorance unfolds.

 

John F. Kennedy

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Vorwort

Als ich 2003 mein Abitur machte, gab es noch kein Facebook, kein iPhone, kein Android, kein WhatsApp, Instagram, Twitter, Uber, Airbnb, Spotify und keine Bitcoins. Vieles von dem, was unser Leben heute ausmacht, war vor nur 15 Jahren noch nicht erfunden.

Ebenfalls seit 2003 gilt das menschliche Genom als vollständig entschlüsselt. Genau fünf Jahrzehnte nach Entdeckung der Doppelhelix durch die beiden Molekularbiologen James Watson und Francis Crick begann endgültig das Zeitalter der Gene. Als ich auszog, erwachsen zu werden, ahnte ich nicht, in welch revolutionärer Epoche ich mein Leben führen würde.

Heute bin ich 34 Jahre alt und beobachte den technologischen Wandel professionell. Als Risikokapitalinvestor treffe ich jeden Tag auf Start-ups und ihre Gründer. Sie treten an, um Wirtschaft und Gesellschaft zu verändern. Die meisten scheitern. Aber die wenigen, die es schaffen, sind die Motoren des Fortschritts. So erlebe ich die immer kürzeren Zyklen der Erneuerung an vorderster Front.

Ich bin kein Prophet. Voraussagen, wie die Welt in 100 Jahren aussehen wird, kann ich nicht. Weder glaube ich an technische Utopien noch an dystopische Weltuntergangsszenarien. Als Ökonom versuche ich realistisch zu bleiben. Mich interessiert die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung von Innovationen weit mehr als die Technik an sich. Ich bin fest davon überzeugt: Technologie ist nur so gut oder schlecht wie das, was wir aus ihr machen. Nicht Erfindungen verändern den Lauf der Geschichte, sondern Menschen, die sie anwenden.

So wenig ich absehen kann, wie wir in einigen Jahrzehnten leben werden, so sicher bin ich mir, dass sich in der Politik eine ausgeprägte Zukunftsblindheit breitgemacht hat. Die Wirtschaft Deutschlands arbeitet längst mit Hochdruck an ihrer digitalen Erneuerung. Aber die sozialen und politischen Risiken der technologischen Umbrüche nehmen wir hin, als könnten wir eh nichts unternehmen.

Dieses Buch ist ein Weckruf. Zukunftsblindheit können wir uns nicht leisten. Durch den versperrten Blick verlieren wir die Kontrolle über den Fortschritt.

In der deutschen Sprache gibt es ein hässliches Wort. Es lautet »Technikfolgenabschätzung« und beschreibt präzise, was wichtiger wären als je zuvor: die kritische Auseinandersetzung mit Chancen und Gefahren, egal ob in Informatik, Robotik oder Mikrobiologie. Gefragt wäre weitsichtiges Denken und Verantwortungsbewusstsein für das Glück kommender Generationen. Zeit haben wir keine zu verlieren, denn der Fortschritt explodiert.

Täglich schreiben Journalisten über die digitale Transformation der Industrie oder die Macht der Internetplattformen. Soziologen, Philosophen und Historiker veröffentlichen dicke Wälzer, in denen sie die Veränderungen aus dem Elfenbeinturm heraus deuten. Meine Perspektive ist eine ganz andere.

Auf den folgenden Seiten betrachte ich den Wandel an der Wurzel und berichte von dort, wo die Zukunft tatsächlich entsteht. Die Gesellschaft von morgen kommt nicht über uns wie ein Software-Update. Sie wird im scheinbar Kleinen geschaffen, in Laboren, Forschungsinstituten und Start-ups. Ich folge der Spur von Milliarden an Risikokapital und denke zu Ende, was längst geschieht. Dieses Buch ist eine Exkursion hinter die Kulissen der größten Revolution aller Zeiten. Es soll einen Beitrag zu einer dringend nötigen Zukunftsdebatte leisten.

Manche Innovationsfelder musste ich ausblenden, um fokussiert zu bleiben. Das gilt insbesondere für die Raumfahrt und die Energietechnologie. In beiden Bereichen feilen Gründer und Ingenieure an Weltbewegendem. Elon Musks SpaceX leistet kosmische Pionierarbeit. Auch den Umstieg auf erneuerbare Stromquellen werden wir nur mithilfe von Start-ups schaffen. Wir erleben derart viele simultane Umwälzungen, dass ich gut und gerne einen doppelt so langen Text hätte schreiben können.

Fünf Kapitel gliedern dieses Buch. Kapitel eins (Situation heute) ist eine Bestandsaufnahme. Hier widme ich mich grundlegenden Fragen: Wo stehen wir, und wie kam es zu einer solchen Beschleunigung des Fortschritts? In den Kapiteln zwei bis vier (Spaltungsrisiko,Herrschaftsrisiko,Gesinnungsrisiko) beschäftige ich mich mit den Gefahren und Konsequenzen der technologisch-wissenschaftlichen Entwicklungen. Dabei gehe ich insbesondere auf politische, ökonomische und soziologische Aspekte ein. In Kapitel fünf (Agenda) mache ich konkrete Reformvorschläge in Form eines Zehn-Punkte-Plans. Er könnte – Mut und Weitblick vorausgesetzt – noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden.

Keinesfalls geht es mir um einen vollständigen Überblick über alle revolutionären Ideen und Erkenntnisse der Gegenwart. Stattdessen möchte ich ein Bewusstsein für die Tiefe, Radikalität und Geschwindigkeit eines Zeitenbruchs schaffen. Entstanden ist dabei ein Buch über den vielleicht wichtigsten Wendepunkt der Zivilisationsgeschichte. Es liegt an uns, ihn aktiv zu gestalten.

 

Benedikt Herles

München, im Sommer 2018

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Einleitung

Fasten your seatbelts

Lufthansa Flug 458 von München nach San Francisco. Das Boarding am Gate H13 verzögert sich. Dabei hat sich die Schlange für die Business Class schon lange aufgestellt. Die ungeduldigen Geschäftsreisenden haben sich verkleidet. Keine Anzüge, schon gar keine Krawatten. Dafür Kapuzenpullis und Turnschuhe. Äußerlich sind sie kaum noch von Kalifornientouristen und College-Studenten in der Economy Class zu unterscheiden. Wer ins Reich der Garagengründer reist, passt sein Erscheinungsbild beizeiten an.

Die Business Class ist ausgebucht. Wie fast jeden Tag auf der LH 458. Ein Ticket beläuft sich gern auf 5000 Euro. Doch spielen die Kosten keine Rolle. Denn deutsche Manager pilgern mit religiösem Eifer ins Silicon Valley. Die Bay Area lockt sie mit einem Blick in die Zukunft. Wohl kaum ein Vorstand, Bereichsleiter oder Spartenchef, der nicht mindestens eine Silicon-Hadsch hinter sich hat. Der Schock der digitalen Revolution sitzt tief. Die Entdeckungsreise durch das Morgenland, durch die fantastische Start-up-Welt zwischen San José und Palo Alto, verspricht Erlösung. Kaum eine erfolgreiche Valley-Gründung, die nicht schon von Delegationen aus den heimischen Chefetagen besucht wurde.

In der Warteschlange kommen die beiden Herren vor mir ins Gespräch, ein Manager aus der Automobilindustrie und ein Ingenieur aus der Fertigungstechnik. Sie reden über selbstfahrende Autos, intelligente Heizungen, Innovationslabore, Start-up-Kooperationen und natürlich über Alphabet, den Mutterkonzern Googles. Die beiden sind nicht zum ersten Mal im Tal der Träume.

Den Fluggast hinter mir kenne ich aus der Presse: Er ist Vorstand eines Münchner Medienkonzerns. Auch er sitzt vermutlich häufiger in dieser Maschine. Seine Branche wurde als Erstes vom digitalen Wandel erfasst. Schon 2013 ließ sich Axel-Springer-CEO Mathias Döpfner PR-wirksam im Flugzeug nach San Francisco filmen. Natürlich im Kapuzenpulli.

Doch nicht nur regelmäßige Trips ins Silicon Valley gehören heute zum Standardprogramm der betrieblichen Erneuerung. Teure Berater verkaufen Digitalstrategien, Innovationsprogramme werden aufgesetzt und digitale Task-Forces gegründet. »Chief Digital Officer« lautet der angesagteste Titel unserer Tage. In den einst grauen Büros deutscher Konzerne sind jetzt immer öfter bunte Sitzsäcke und Legospielzeug zu finden. Ein Hauch von Google und Airbnb soll auch zwischen Friedrichshafen und Flensburg wehen. Die aktuell heißesten Buzzwords des Managements entstammen der Start-up-Welt: »Fail fast«, heißt es jetzt allerorts. Wenn schon Fehler machen, dann bitte schnell! Von »Minimal Viable Products« ist die Rede, von »Disruption« und von »Design Thinking« – gemeint sind experimentelle Produkte, kreative Zerstörung und eine nutzerorientierte Entwicklung. Mit deutscher Gründlichkeit wird daran gefeilt, dass aus dem »Land des digitalen Defizits« bald ein »Silicon Germany« wird.[1]

Endlich geht es los. Neben mir, auf Sitz 5B, macht es sich ein Mittvierziger mit rahmenloser Brille und schütterem Haar bequem. Es wird Sekt und Orangensaft gereicht, man stellt sich gegenseitig vor. Mein Nachbar für die nächsten zwölf Stunden heißt Dr. Markus Klein[1] und leitet den Entwicklungsbereich eines mittelgroßen Automobilzulieferers. Er ist regelmäßig im Silicon Valley. Als ich ihm erzähle, dass ich als Technologie-Investor Start-ups finanziere, ist sein Interesse geweckt: »Wir sind auch gerade dabei, einen firmeneigenen Corporate-Venture-Capital-Fonds aufzusetzen«, berichtet er. »Ohne eigene Start-up-Investitionen geht es heute nicht mehr, gerade in unserer Branche.« Herr Klein erzählt, wie sein Arbeitgeber mit Hochdruck an Technologien für das autonome Fahren arbeitet, wie ein Heer eigener Informatiker künstliche Intelligenzen erschafft und wie sich sein Team regelmäßig mit den weltweit besten Forschergruppen austauscht.

Spätestens als der schwer beladene Airbus in Richtung Amerika abhebt, wird klar: Die deutsche Wirtschaft hat den digitalen Wandel viel zu lange verschlafen, doch jetzt, im Jahr 2018, ist dieser Fehler erkannt. Milliarden werden heute in die digitale Aufholjagd investiert. Es mag noch lange dauern, bis die Transformation alle Wertschöpfungsketten und Hierarchieebenen erfasst hat. Aber keinem Manager braucht man heute noch die Notwendigkeit von Veränderungen zu predigen. Und genau da beginnen die Probleme. Denn der ökonomische Aufbruch kommt mit dem trügerischen Bewusstsein einher, die Lage unter Kontrolle zu haben.

Schluss mit »Digitalisierung«

Bis das Essen gereicht wird, hat Herr Klein einige Dutzend Male das Wort »Digitalisierung« gebraucht. Kein Wunder. Es ist das wichtigste Mantra der Dekade. Der Terminus ist so deutsch wie »Tatort«, »Apfelsaftschorle« und »Spargelzeit«. Die englische Sprache kennt kein Äquivalent. »To digitize« bedeutet im Englischen zwar »digitalisieren«, aber das nur im wörtlichen Sinn – etwa einen Brief einscannen oder den Inhalt einer CD auf einem Rechner abspeichern. Angelsachsen benutzen eine ganze Bandbreite von Ausdrücken. Sie sprechen von »tech«, »innovation«, »automation« und von vielem anderen. Aber ein einzelner, allumfassender und so aufgeladener Begriff wie »Digitalisierung« ist ihnen fremd. Aus gutem Grund.

Das Schlagwort ist Selbsttäuschung. Und es ist gefährlich. Frei nach Wittgenstein gilt: Du denkst, was du sagst. Die trügerische Semantik lässt uns glauben, dass die Beschäftigung mit der schönen neuen Welt zwischen Dating-Apps und vernetzten Haushaltsgeräten ausreichen würde, um die Brisanz der Umbrüche zu verstehen. Doch das ist falsch. Nicht nur die Wirtschaft, sondern die ganze Gesellschaft wird sich neu erfinden müssen. Das Internet war nur der Anfang.

»Haben Sie schon einmal etwas von CRISPR/Cas9 gehört?«, frage ich meinen Sitznachbarn zum Lachs als Hauptspeise. Hat er. »Das ist was Neues in der Gentechnologie, oder?« Herr Klein ist besser informiert als die meisten in der Business Class.

CRISPR/Cas9 ist der sperrige Name eines technologischen Quantensprungs jenseits der Digitalisierung – eine Art Genschere, mit der sich Erbmaterial extrem effizient manipulieren lässt. Was Mikrobiologen und Mediziner damit erschaffen, wird das Leben langfristig vermutlich stärker verändern als manche digitale Innovation. Mitbekommen haben das die wenigsten. Die omnipräsente »Digitalisierung« verengt den Blick.

Unser Gespräch wird biologisch. Wir reden über Gentechnik in Landwirtschaft, Medizin und neuerdings auch in der Industrie. Ich versuche dem Automann die Wucht des Wandels anhand eines konkreten Beispiels zu verdeutlichen. »Sie verwenden doch sicherlich Autodesk in Ihrer Abteilung«, vermute ich.

»Selbstverständlich, wie kommen Sie darauf?«

Autodesk ist ein börsennotiertes Unternehmen, das seinen Firmensitz nicht weit von unserem Zielflughafen hat. Es entwickelt Software für Ingenieure. Mit seinen Programmen lassen sich am Rechner technische Bauteile konstruieren. Ob in der Automobilindustrie oder im Maschinenbau – seit Jahrzehnten sind Autodesk-Produkte nicht mehr aus deutschen Unternehmen wegzudenken.

»Bisher war alles, was man mit dieser Software kreieren konnte, aus Kunststoff, Metall oder anderen anorganischen Materialien«, sage ich. »Aber nun werden auch organische Strukturen am Computer entworfen und im Labor künstlich geschaffen. Autodesk hat deshalb eine sogenannte Bio-Nano-Gruppe gegründet. Wussten Sie das?«

Herr Klein sieht mich skeptisch an.

»Die Firma will, dass ihre Programme auch für die Konstruktion von natürlichen Dingen verwendet werden: Enzyme, Proteine, vielleicht bald ganze Zellen. Biologie und Technik verschmelzen.«

»Klingt verrückt«, sagt Herr Klein.

»Nicht zu verrückt für Autodesk«, antworte ich. »Der Konzern will bei diesem organischen Goldrausch dabei sein.«

Mein Nachbar runzelt die Stirn. Also erkläre ich ihm, was der Terminus »Digitalisierung« verschweigt: »Wir erleben nicht eine einzelne, sondern gleich mehrere Revolutionen. Und die verschiedenen Technologiefelder wachsen zusammen.«

»Was soll das heißen?«

»Dass sich Informatik und Biowissenschaften gegenseitig verstärken und befruchten. Die Roboter von morgen bestehen nicht nur aus dem Material unserer heutigen Computer. Wir werden auch biologische Organismen für bestimmte Zwecke manipulieren und optimieren. Künstliche Intelligenzen werden uns dabei helfen.«

Jetzt will Herr Klein mehr wissen.

»Jede unserer Körperzellen«, sage ich, »hat in ihrem Kern eine eigene organische Intelligenz. In diesem Jahrhundert werden wir in der Lage sein, den Code des Lebens genauso zu hacken wie Algorithmen.«

»Heißt das, die Computer der Zukunft sind quasi Lebewesen?«

»So weit würde ich nicht gehen. Aber die Mikrobiologie ist die Nanotechnologie der Natur. Und die werden wir in Zukunft aktiv nutzen und gestalten.«

»Welcome Mister Frankenstein!« Herr Klein schmunzelt und holt eine Taschenbuchausgabe von Mary Shelleys Frankenstein oder Der moderne Prometheus aus dem Staufach seines Vordersitzes. »Zufall! Wollte ich auf diesem Flug lesen. Vor genau 200 Jahren veröffentlicht, deshalb bin ich wieder darauf aufmerksam geworden.«

»Mit Frankenstein ins Silicon Valley, wie passend!« Ich zeige auf den Untertitel des Werkes: »In der griechischen Mythologie brachte Prometheus den Menschen das Feuer und damit die Zivilisation. Heute schenkt uns die Wissenschaft eine andere Flamme: die Programmierbarkeit der Intelligenz.«

»Sie meinen, so wie der Mensch zu Lebzeiten Mary Shelleys durch Entdecker und Forscher lernte, dass in der Natur alles miteinander verbunden ist, dass alle Tier- und Pflanzenarten in Beziehung zueinander stehen, so erkennen wir heute, dass Technologie und Biologie zusammenhängen?«

»So könnte man es ausdrücken«, antworte ich. »Jedenfalls sollten wir nicht von ›Digitalisierung‹, sondern eher von einer technologisch-wissenschaftlichen Zeitenwende sprechen. Wir erleben etwas, das viel fundamentaler ist als alles, was uns Dampfmaschine und Massenfertigung je brachten.«

»Verstehe, was Sie meinen«, antwortet mein Nachbar. »Die Voraussetzungen für Zivilisation werden neu definiert.«

»Doch wir sind blind für die Konsequenzen«, sage ich.

Berliner Blindheit

Das Essen ist beendet. Die meisten Passagiere dösen, arbeiten oder widmen sich der Bordunterhaltung. In der Reihe vor uns in der Mitte sitzt ein Ehepaar mit ihrem Baby. Es schläft friedlich auf der Schulter der Mutter.

»In was für einem Deutschland wird dieses Kind wohl einmal leben?«, sage ich zu Herrn Klein.

»Ich bin optimistisch«, antwortet mein Nachbar. »Mal ehrlich: Nie ging es uns so gut.«

»Und Sie glauben, das bleibt so?«

»Ja, zum Glück haben sie in Berlin die Zeichen der Zeit erkannt. Alle Parteien sprechen endlich vom digitalen Wandel. Man hat das Gefühl, mit den Glasfaserkabeln kommt die Modernisierung des Landes in Schwung. Ich habe auch zwei Kinder, drei und sechs Jahre alt. Sorgen mache ich mir nicht.«

»Sollten Sie besser«, antworte ich. »Das schnelle Internet steht ganz sicher nicht für eine zukunftsweisende Politik. Unser Staatsmanagement reagiert doch nur. Es verspielt den Wohlstand und sozialen Frieden kommender Generationen, weil es sich weigert, langfristig zu denken und zu handeln.«

»Aber haben Sie sich einmal den aktuellen Koalitionsvertrag angeschaut?«, erwidert mein Nachbar. »Darin kommt das Wort ›digital‹ ein paar Hundert Mal vor.«

»Viele Schlagwörter, wenig dahinter.« Ich erinnere mich an hohle Floskeln wie die »Gute digitale Arbeit 4.0«.[2]

»Das Entscheidende traut sich kein Politiker auszusprechen«, argumentiere ich. »Niemand stellt sich vor die Kameras und sagt klipp und klar: Das industriegesellschaftliche Modell des 20. Jahrhunderts wird so keine weiteren 100 Jahre funktionieren. Wir müssen was ändern. In Berlin gilt anscheinend das Motto der drei Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.«

»Sie dramatisieren!«, sagt mein Nachbar.

»Keinesfalls. Ich glaube, dass die Zeitenwende die Gesellschaft zerreißen wird, wenn wir jetzt nicht grundlegende Reformen angehen. Aber solch unangenehme Wahrheiten werden der Wählerschaft nicht zugemutet.«

»Es ist immer leicht, tiefgreifende Veränderungen zu fordern«, meint Herr Klein. »Aber als Ingenieur kann ich Ihnen sagen: Bei laufendem Motor kann man aus einem Vierzylinder keinen Sechszylinder machen.«

»Es führt kein Weg daran vorbei. Renten-, Sozial-, Steuer- und Wirtschaftspolitik müssen auch im Sinne Ihrer Kinder und Kindeskinder an neue Realitäten angepasst werden. Aber den Mut zur aktiven Gestaltung der Zukunft sehe ich nicht. Stattdessen hat sich eine politische Narrativ- und Visionslosigkeit breitgemacht.«

»Sie tun ja geradezu so, als wenn die Roboter schon vor der Türe stehen würden!«

»Genau das ist das Problem«, antworte ich. »Politische Debatten erwecken meist den Anschein, Roboter und künstliche Intelligenzen seien ein Phänomen der Zukunft. Ein fataler Irrtum. Die sozialen Folgen der technologischen Revolutionen sind doch längst spürbar: an Sozialstatistiken, an Wahlergebnissen, am Siegeszug der Radikalen und Populisten. Nicht zuletzt an der sinkenden Überzeugungskraft der Demokratie als Ganzes. Schauen Sie sich die USA an, und sehen Sie, was auch uns im schlimmsten Falle droht: Polarisierung, zur Armut verdammte Gegenden und Sammelbecken der Abgehängten und Aussortierten.«

Herr Klein hebt die Augenbrauen. »Immerhin kann ich die Zeitung nicht aufschlagen, ohne einen Artikel über Digitalisierung und künstliche Intelligenzen zu lesen. Das Thema ist auf der Agenda.«

»Sicherlich«, entgegne ich. »Aber der öffentliche Diskurs verzerrt die Risiken. Zwischen technologischen Utopien und Dystopien ist nicht viel Platz für eine nüchterne Diskussion. Medien stürzen sich lieber auf jede neue Horrormeldung.«

»Heute erst wieder!«, unterbricht Herr Klein und kramt eine zusammengefaltete Tageszeitung hervor. Er zeigt auf eine Überschrift und liest vor: »Studie: Künstliche Intelligenz bedroht die Hälfte aller Jobs!«

»Die entscheidenden Zusammenhänge zwischen Ökonomie, Technologie und Biologie«, antworte ich, »werden in solchen Artikeln selten erklärt.«

»Ist die Zahl der bedrohten Jobs denn nicht entscheidend?«, erkundigt sich Herr Klein.

»Schon, aber vor der wirklich zentralen gesellschaftlichen Frage drücken wir uns. Sie lautet: In was für einem Land wollen wir leben? Wie Sie schon sagen: Noch geht es Deutschland gut. Noch haben wir Zeit, nötige Veränderungen anzustoßen. Aber ohne ehrliche Zukunftsdebatte werden wir eines Tages in einer Republik aufwachen, die wir uns so nicht ausgesucht hätten.«

Zukunftsflut

Die Sonne ist früh untergegangen. Irgendwo über Grönland fliegen wir durch die polare Winternacht. Seit gut zwei Stunden widmet sich Herr Klein Frankenstein. Doch unvermittelt nimmt er die Unterhaltung wieder auf. Es scheint, als hätte er weiter über das Gesprochene gegrübelt.

»Wissen Sie, was das Problem ist?«, fragt Herr Klein und gibt gleich selbst die Antwort. »Die Zeitenwende, wie Sie sagen, die gleicht keinem Tornado, sondern eher einer Überschwemmung. Einer gewaltigen Flut, die sich leise nähert. Das macht es für die Gesellschaft schwierig, ein Bewusstsein für die Dramatik zu entwickeln.«

Ich klappe meinen Laptop zu und stimme meinem Nachbarn zu: »In keinem biotechnologischen Labor vollziehen sich für den Außenstehenden offensichtlich spektakuläre Dinge. Die wenigsten künstlichen Intelligenzen sind Furcht einflößende Maschinentiere. Doch das schmälert keinesfalls die Sprengkraft der Umwälzungen. Umso dringender sollten wir uns mit dem auseinandersetzen, was uns blüht.«

Ich schaue aus dem Fenster, als der Airbus zu erzittern beginnt. Turbulenzen. Die Tragflächen wippen auf und ab. Erst ganz leicht, dann immer stärker. Die Anschnallzeichen gehen an. Kurz darauf eine Ansage der Crew: »Fasten your seatbelts!«

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Kapitel 1

Situation heute

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Beschleunigte Geschichte

Wie sich im letzten Wimpernschlag unserer Vergangenheit alles verändert hat

Evolution auf Speed – im Rausch des Fortschritts

Ich musste Technologie-Investor werden, um Menschen zu treffen, die mir die Bedeutung des Wortes »Evolution« klarmachten. Die von Utopien besessenen Hightech-Pioniere glauben, am Großen und Ganzen zu schrauben. Sie sind fest davon überzeugt, den Weg des Lebens für immer zu verändern. Der größte aller Sprünge, so sagen sie, steht uns noch bevor.

Alle Entwicklung ist Beschleunigung. 13,7 Milliarden Jahre ist der Urknall her. Der Anfang der Zeit an sich. Die gesamte Energie des Kosmos startete ultimativ komprimiert in einer sogenannten Singularität – einer kaum vorstellbaren Unendlichkeit. Nicht nur Astrophysiker verwenden den Terminus. Auch im Silicon Valley spricht man von der sogenannten Singularitätstheorie. Sie besagt, dass die technischen Möglichkeiten der Menschheit in jenem Moment ins Unermessliche steigen werden, in dem intelligente Computer selbstständig und ohne unser Zutun neues Wissen generieren. Nicht wenige sind fest davon überzeugt, dass dank immer schnellerer und günstigerer Rechen- und Speicherkapazitäten der Weg zu grenzenlos beschleunigtem Fortschritt unumkehrbar ist. Die Singularität ist unsere älteste Vergangenheit und im Glauben mancher auch unsere nicht allzu ferne Zukunft. Im Tal der Träume weiß man: Gestern und Heute hängen zusammen.

Doch zunächst zurück in die Vergangenheit. Mehr als neun Milliarden Jahre lang dehnte sich das Universum aus, bis unsere Erde entstand. Und bis zur Bildung der ersten Aminosäuren, gefolgt von den ersten noch zellkernlosen Einzellern, verging dann tatsächlich nur eine knappe Milliarde Jahre. Der Auftritt des Lebens. Die biologische Evolution nahm anschließend ihren Lauf, oder besser gesagt, schleppte sich dahin. Denn der nächste »Big Bang« der Geschichte ließ ziemlich lange auf sich warten: die kambrische Explosion. Vor etwas mehr als 500 Millionen Jahren kam es innerhalb eines erdgeschichtlich extrem kurzen Zeitraums zu einem massiven und abrupten Anstieg der Artenvielfalt auf dem Planeten. Waren frühere Lebewesen noch primitiv und hatten weder Schalen noch Skelette, so erschienen mit einem Mal die ersten Vertreter fast aller heutigen Tierstämme auf der Bühne der Welt. Ganz plötzlich begab sich die Fauna in die göttliche Experimentierküche und produzierte eine seitdem nie wieder gesehene Vielseitigkeit.

Was genau die kambrische Explosion auslöste, ist Stoff für grundlegende Diskussionen unter Evolutionsbiologen. Ein Erklärungsversuch ist die Lichtschalter-Hypothese. Sie besagt, dass die Meere durch chemische Veränderungen lichtdurchlässiger wurden. Das Auge wurde damit zum wichtigsten Sinnesorgan und entscheidenden Vorteil.[3] Eine zunehmende Transparenz der Ozeane veränderte die Spielregeln zwischen Jägern und Gejagten. Wer Beute sieht, kann aktiv angreifen. Wer Feinde erkennt, kann rechtzeitig wegschwimmen oder sich einen Panzer zulegen. Die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung ermöglichte und erzwang ganz neue Daseinsformen. Diese Hypothese ist umstritten, aber aus heutiger Sicht interessant. Denn eine andere Evolution – die technologische – scheint gegenwärtig in einer ganz ähnlichen Situation zu sein.

Im letzten Jahrzehnt waren wir Zeuge einer Explosion neuer digitaler Technologien, Produkte und Geschäftsmodelle. Und auch dafür ist eine neue Transparenz des Lebens verantwortlich. Die Codes für künstliche Intelligenzen und genetische Baupläne sind geknackt. Die Datafizierung der Gesellschaft sorgt für völlig neue Umweltbedingungen, unter denen Innovationen gedeihen können. Ungekannte Möglichkeiten der Erfassung, Verarbeitung und Analyse von Informationen öffnen eine Blackbox nach der anderen. Die zweite Vermessung der Welt hat gerade erst begonnen. Das Internet der Dinge – vernetzte Industrieanlagen, Autos oder Klimaanlagen sind Beispiele jüngst entdeckter Quellen immer neuer Datenströme. Die Anzahl der Internetnutzer nähert sich der Vier-Milliarden-Grenze. Mehr als die Hälfte der Menschheit produziert regelmäßig einen digitalen Fußabdruck.[4] Mit sogenannten Wearables quantifizieren und kontrollieren die digitalen Massen ihre Organismen. Auf Facebook und Twitter machen sie ihre eigene Meinung transparent. Durch jeden Suchvorgang und jeden Online-Einkauf hinterlassen sie Spuren. Schon 2014 wurden jeden Tag knapp zwei Milliarden Bilder ins Internet geladen.[5] Die jährlich geschaffene Datenmenge verdoppelt sich alle 24 Monate. 2025 wird sie 160 Zettabyte, also Billionen Gigabyte betragen, das ist die Zahl 160, der 21 Nullen folgen.[6] Die physische Realität bekommt ein digitales Spiegelbild. Wir haben einen ganzen Kosmos an virtuellen Informationen erschaffen.

Auch unser neues Wissen über den Bauplan des Lebens steht für zunehmende Transparenz. Seit 2003 gilt das menschliche Genom als entschlüsselt. Vier Jahre später lag der Preis einer vollen DNA-Sequenzierung bei rund 350000 Dollar. Heute ist er auf unter 1000 Dollar gefallen, und schon bald wird man für ein Zehntel des Betrags das eigene Erbgut auslesen können.[7] Diese bezahlbare Sichtbarkeit auf unsere genetische Disposition verändert nicht nur die Voraussetzungen der medizinischen Forschung, sondern ermöglicht auch ganz neue biologische Produkte und Geschäftsideen. Und so liegen Vergleiche mit der kambrischen Explosion, jener experimentierfreudigen historischen Schaffensperiode von Mutter Natur, nahe, wenn es gilt, das große »Trial and Error« der Start-up-Ökosysteme von San Francisco bis Berlin zu beschreiben. Eine bisher ungekannte Durchschaubarkeit allen Seins und Schaffens bereitet den Weg für eine ökonomische, technologische und zivilisatorische Zeitenwende.

Der Fortschritt der letzten Jahre kann den modernen Menschen stolz machen. Doch es wäre falsch, ihn als »Krone der Schöpfung« zu bezeichnen. Denn die Evolution ist keine Leiter, auf deren oberster Sprosse der Homo sapiens steht. Jede Bakterienart ist letztlich genauso erfolgreich wie unsere eigene Spezies. Auch sie ist das Resultat einer langen Kette überlegener genetischer Mutationen, auch ihre Ursprünge lassen sich bis zum Beginn allen Lebens zurückverfolgen. Erfolg ist somit aus evolutionärer Perspektive nichts weiter als die Vererbung der eigenen Gene. Genauso wie unsere Vorfahren, so sind auch wir nur eine von vielen aktuellen Ausprägungen der Schöpfung.[8] Wenngleich eine sehr spezielle.

Die Galeere des Wandels

Vor 40000 Jahren kam es zu einer ersten zivilisatorischen Revolution. Der moderne Mensch begann damit, Kultur zu entwickeln. Er bemalte Höhlen, schuf Schmuck und Musikinstrumente. Es war der gesellschaftliche Urknall. Rund 10000 vor Christus folgte dann die erste ökonomische, sogenannte neolithische Revolution. Der Homo sapiens widmete sich dem Ackerbau, wurde sesshaft. Die Epoche der Jäger und Sammler war vorbei. Größere Siedlungen bildeten sich – und mit ihnen komplexere soziale Organisationsformen. Systematisch wurden die Aufgaben des Alltags nun an Spezialisten verteilt. Die ersten Cluster von Kapital und Wissen entstanden.

In einer zentralen Eigenschaft glich die neolithische Revolution bereits allen folgenden technologisch-ökonomischen Transformationen der Menschheitsgeschichte: Denn obwohl der landwirtschaftliche Wandel die Zivilisation als Ganzes auf eine neue Entwicklungsstufe hob, ging es den ersten Farmern der Geschichte nicht unbedingt besser als ihren Jäger- und Sammlervorfahren. Ganz im Gegenteil. Die Bauern der ersten Stunde schufteten härter, gingen monotonerer Arbeit nach, ernährten sich einseitiger und mussten Risiken akzeptieren, die frühere Generationen nicht kannten. Ernteausfälle, miserable hygienische Verhältnisse, Raub und Plünderungen und nicht zuletzt die ersten aufkommenden feudalen Strukturen machten das Leben deutlich beschwerlicher. Nach allem, was wir wissen, war der Alltag der letzten Wildbeuter angenehmer als der ihrer sesshaften Nachkommen. Und doch war die Erfindung der Agrarwirtschaft die zentrale Voraussetzung für eine erste Beschleunigung des gesellschaftlichen und technologischen Fortschritts. Denn die neolithische Revolution erhöhte die Verfügbarkeit von Kalorien pro Fläche. Um es in den Worten der modernen Start-up-Welt auszudrücken: Sie machte die Produktion von Nahrung skalierbar. Dadurch stiegen die Geburtenraten an, die Bevölkerung wuchs – und mit ihr die sozialen Probleme. Eine Elite von Herrschern und Denkern konnte es sich zum ersten Mal leisten, ihren Tag mit anderen Inhalten als der Suche nach Essbaren zu füllen. Landwirtschaft ermöglichte den Luxus von Forschung und Entwicklung. Die breite Masse der Bevölkerung jedoch hatte davon im Zweifel wenig. Ihr Schicksal sollte sich in den folgenden Jahrtausenden beizeiten wiederholen.

Nüchtern betrachtet wird klar: Noch jede technologische Zäsur brachte bisher mehr Verlierer als Gewinner hervor. Egal ob neolithische Revolution, erste Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert oder die digitale Transformation der Gegenwart – die Muster gleichen sich: Das Leben der meisten verschlechtert sich, während zunächst nur dünne Schichten an Eliten gewinnen. Gleichzeitig entstehen neue technische und ökonomische Kapazitäten. Diese zünden die nächste Brennstufe der zivilisatorischen Evolution. War der Arbeitsalltag der Büroangestellten vor Erfindung des Computers beschwerlicher? Ich bin zu jung, um es aus eigener Erfahrung zu beurteilen. Aber das Resultat einer immer schnelleren Arbeitswelt der ständigen Erreichbarkeit, Smartphones, E-Mail-Inboxen und Slack-Channel sind sicherlich nicht glücklichere Belegschaften. Innovationen machen uns produktiver, aber nur wenige profitieren davon.

Heute haben Internet, Computer und Handy nicht nur fünf der aktuell acht größten Privatvermögen der Welt produziert, sondern auch ein Heer von ökonomisch und kulturell abgehängten Menschen. Arm und Reich klaffen immer weiter auseinander. Die künstliche Intelligenz tritt an, um die Mittelschicht zu dezimieren. Seit 12000 Jahren das gleiche Bild: Jede Zäsur polarisiert. Und jede industrielle Revolution erschafft ihre eigenen Feudalherren.

Faszinierend ist in diesem Zusammenhang die Eigenschaft der Menschen, schlechte Erfahrungen zu verdrängen. Das scheint auch für das kollektive Gedächtnis zu gelten. Turbulenzen und Loser des Wandels vergessen wir schnell. Der Terminus »technologische Revolution« klingt für uns nach Erleuchtung, Aufbruch und einem besseren Leben, auch wenn sich für die allermeisten Betroffenen das Gegenteil bewahrheitet. Dass wir im Allgemeinen dennoch ein so positives Bild von den großen Zäsuren der Menschheitsgeschichte haben, hat vor allem zwei Gründe.

Erstens basiert unser Wohlstand auf dem Schweiß und Blut früherer Generationen. Ohne die Leistungen der ersten Landwirte vor mehr als 10000 Jahren wären weder Mikrowellen, Flugzeuge noch künstliche Intelligenz heute Wirklichkeit. Dasselbe gilt für die Verlierer späterer Umbrüche. Ohne ein Heer von Ruderern würde sich die Galeere des Fortschritts nicht von der Stelle bewegen. Tausende Generationen mussten leiden, damit es uns heute besser gehen kann.

Zweitens ist unsere Wahrnehmung von mehr als zweieinhalb Jahrhunderten Aufklärung und rund zwei Jahrhunderten modernem Kapitalismus verzerrt. »Höher, schneller, weiter« ist Teil unseres geistigen Erbguts geworden. Die Vorstellung, den letzten Jägern und Sammlern wäre es vielleicht besser ergangen als den ersten sesshaften Landwirten, erscheint uns paradox und wenig glaubwürdig. Genauso wie die Idee, das Leben müsse vor Erfindung des Handys nicht unbedingt schlechter gewesen sein. Der technische Wandel, so unsere tief verankerte Überzeugung, muss etwas Positives sein. Dass wir damit nicht unbedingt richtigliegen, ist eine Erkenntnis, die wir nicht wahrhaben wollen, da sie die Grundfesten der modernen Gesellschaft erschüttern oder sogar einreißen könnte.

Digitale Steintafeln

Die Sumerer entwickelten mehr als 3000 Jahre vor Christus die erste Schrift. Die Geschichte der Daten begann. Sie ermöglichte eine immer größere Beschleunigung des technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts. Die zehn arabischen Zahlen und ihre mathematischen Operatoren sind die wahre Lingua franca des Planeten. Die seit Jahrhunderten andauernde Mathematisierung der Welt ist nicht zuletzt auch ein Siegeszug ihrer extrem effizienten Schriftform.

Insgesamt fünf Revolutionen der Massenkommunikation haben die Art und Weise verändert, wie wir Informationen sammeln, verarbeiten und weitergeben. Die Erfindung von Sprache, Schrift, Buchdruck, Rundfunk (also Radio und Fernsehen) und schließlich Internet hat die Zivilisation immer wieder auf den Kopf gestellt. Ohne effektive mündliche Kommunikation mit seinen Artgenossen hätte der Homo sapiens keine komplexen Gesellschaften entwickeln können. Ohne Schrift hätten die antiken Griechen nicht die Grundsätze von Geometrie und Philosophie darlegen können. Ohne Buchdruck keine Reformation und keine Aufklärung. Ohne Rundfunk keine modernen Demokratien. Und ohne das Internet wäre die Globalisierung nicht denkbar gewesen.

Heute hat sich das Tempo der Wissenschaften derart beschleunigt, dass moderne Forscher ohne digitale Paper und Journale, Suchmaschinen und Online-Plattformen aufgeschmissen wären. Die physische Bibliothek ist schon lange nicht mehr die Frontlinie der Erkenntnis. Das mag manchen romantischen Altakademiker enttäuschen. Aber am Anfang jedes neuen zivilisatorischen Evolutionsschrittes stehen bis heute eine effektivere Dokumentation und Weitergabe von Wissen. Steintafeln, Papyrusrollen, Bücher, Festplatten und Server stehen in einer langen Tradition der immer besseren Speichermöglichkeit von Erkenntnissen. Und Innovationen in der Auslagerung des kollektiven Gedächtnisses sind und bleiben der Nukleus höherer gesellschaftlicher Entwicklungsstufen.

Exponentielle Entwicklung

Im alten Griechenland wurden rund 800 Jahre vor Christus die Fundamente für ein rationales Verständnis der Welt gelegt. Doch das Abendland vergaß sein geistiges Erbe zwischenzeitlich wieder. Viel Zeit verging, bis die Vorzüge klaren Denkens wieder entdeckt wurden. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts war die Rückkehr der Vernunft die Basis für den Urknall der modernen Wissenschaft. Der menschliche Geist befreite sich aus selbst geschmiedeten Ketten. Was seitdem passierte, ist atemberaubend. Die technologische Revolution der Gegenwart ist letztlich das Resultat eines seit Kolumbus und Kopernikus andauernden wissenschaftlichen Wettlaufs. Es mag unterschiedliche Auffassungen darüber geben, was die wichtigsten Meilensteine der jüngeren Erkenntnisgeschichte sind. Klar ist, dass sie immer schneller aufeinanderfolgen. Ordnet man die Big Bangs der geistigen, kulturellen und technologischen Evolutionen auf einer Zeitleiste, liegen alle für uns relevanten Ereignisse ganz am Ende. Eigentlich ist alles Wichtige gerade eben erst passiert.

Rund 30000 Jahre sind seit Beginn allen kulturellen Lebens vergangen, bis der Ackerbau entstand und der Mensch sesshaft wurde. Etwas mehr als 2000 Jahre liegen zwischen der Erfindung der Schrift und der ersten wissenschaftlichen Revolution der Antike. 150 Jahre hat es seit Entwicklung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts gedauert, bis der Rationalismus die moderne Wissenschaft überhaupt erst möglich machte. Knapp ein Jahrhundert erstreckt sich zwischen den Patenten, die James Watt für seine Dampfmaschine (1769) und Werner von Siemens für seine Dynamomaschine (1866) erhielten und damit jeweils eigene industrielle Revolutionen begründeten. Nicht einmal 15 Jahre brauchte es vom ersten Personal Computer bis zum globalen Siegeszug des World Wide Web. Und nur etwas mehr als ein Jahrzehnt ist vergangen, seit Apple das iPhone auf den Markt brachte und unseren Alltag mit der Smartphone-Revolution umkrempelte. 50 Jahre hat es gebraucht, um weltweit eine Million Industrieroboter zu installieren. Nur etwa acht werden für die zweite Million benötigt werden.[9] Das Tempo des technologischen Fortschritts ist exponentieller Natur. Die ökonomische und kulturelle Lebensrealität unserer Spezies verändert sich immer schneller.

Menschen haben ein sehr gutes Gefühl für lineare Verläufe, aber leider ein miserables Einschätzungsvermögen für alle exponentiellen Entwicklungen. Deshalb tun wir uns auch so schwer, die Zukunft vorherzusagen. Eine Exponentialfunktion hat in der Mathematik die Form »y ist gleich a hoch x«. Ab einem gewissen Wert x nähert sich ihr Funktionswert der Unendlichkeit an. Das heißt: Gehe ich 30 Schritte, komme ich, linear gedacht, ungefähr 30 Meter weit. Gehe ich 30 exponentielle Schritte, verdopple ich also jedes Mal deren Anzahl (1, 2, 4, 8, 16, 32 usw.), lege ich insgesamt eine Milliarde Meter zurück. Das entspräche ungefähr dem Fünfundzwanzigfachen des Erdumfangs.

Ein Gedankenspiel dazu: Würde ein Zeitreisender aus dem Jahr 1500 in das Jahr 1750 gebeamt werden, würde er sicherlich über die eine oder andere Innovation staunen. Politisch hätte sich einiges getan, aber das Leben breiter Bevölkerungsschichten wäre immer noch beschwerlich und primitiv. Vermutlich käme der Mann zurecht. Würde ein Mensch des Jahres 1750 in das Jahr 2000 befördert werden, wäre er mit Sicherheit vollkommen überfordert. Denn zweieinhalb Jahrhunderte exponentiellen wissenschaftlichen Fortschritts und drei industrielle Revolutionen haben alles verändert. Dabei sind beide Zeiträume jeweils gleich lang. Doch der Grad der Transformation in der zweiten Hälfte dieser 500 Jahre ist nicht mit dem in der ersten zu vergleichen.

Diese Überlegung funktioniert auch auf einer kürzeren Skala: Der Alltag des Jahres 1970 war noch einigermaßen vergleichbar mit dem des Jahres 1990. Düsenflugzeug, Computer, Thermomix und viele andere mehr oder weniger sinnvolle Errungenschaften der Moderne kennt ein Zeitreisender aus den Siebzigern bereits. Aber weitere 20 Jahre später, im Jahr 2010, scheint sich eine Menge getan zu haben. Smartphone und Internet haben eine ganz neue Gesellschaft erschaffen. Und so ist zu erwarten, dass in den kommenden zwei Jahrzehnten noch einmal mehr auf uns zukommt, dessen Konsequenzen wir noch gar nicht abschätzen können.

Auch die Idee vom Fortschritt ist noch nicht alt. Sie entstand erst mit dem Beginn der modernen Wissenschaft, irgendwann in den zwei Jahrhunderten zwischen Christoph Kolumbus und Isaac Newton. Davor glaubte man eher an einen Zyklus der Geschichte, an höhere Kräfte, stellte das Weltbild früherer Generationen kaum infrage. Erst im 18. Jahrhundert etablierte sich mit der Aufklärung und den Anfängen des modernen Kapitalismus ein wahrer Fortschrittsglaube. Seitdem zweifeln wir nicht mehr ernsthaft daran, dass Innovation ein Wert an sich darstellt. Geistige Expansion wurde zum obersten Ziel der intellektuellen Eliten. Aber schon damals tat man sich schwer mit dem exponentiellen Charakter der technologischen Evolution. Benjamin Franklin, Erfinder des Blitzableiters und einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, beschwert sich gar über seine Lebenszeit: »Der schnelle Fortschritt der Wissenschaft lässt mich manchmal bedauern, dass ich so früh geboren wurde. Es ist unmöglich, sich die Größe vorzustellen, die die Macht des Menschen über die Materie in tausend Jahren erlangen könnte.«[10] Franklin hätte kein Jahrtausend warten müssen. Schon zwei Jahrhunderte hätten gereicht, um ihn in eine Zukunft zu versetzen, die er für völlig unmöglich gehalten hätte.

Technik macht Systeme

In der Schule wurde mir eine Geschichte der Staaten und Herrscher beigebracht. Die Rolle der Technologie als treibende Kraft historischer Entwicklungen wurde dabei vernachlässigt. Dabei prägen Innovationen ökonomische Realitäten, die im Zweifel stärker sind als jede souveräne Macht. Politische und soziale Systeme entstehen mit technologischen Revolutionen, oder sie scheitern an ihnen. So brachte die Erfindung der Landwirtschaft Städte hervor. Die erste industrielle Revolution erschuf den Nationalstaat. Das World Wide Web erzeugte eine globale Gesellschaft. Technologien krönen und stürzen mehr Regierungen als alle Völker und Religionen zusammen. Das »Ancien Régime« scheiterte in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges letztlich an einer neuen mechanisierten Welt. Und ohne Internet und Roboter wäre Donald Trump heute vermutlich nicht Präsident der Vereinigten Staaten.

Seit 12000 Jahren steigern wir mit unseren Erfindungen die gesellschaftliche Komplexität. Und ebenso seit dieser Zeit sind wir auf Technologie angewiesen, um die Folgen zu beherrschen. Der Mensch erschuf Staaten und Systeme, deren Komplexität die technologischen Möglichkeiten ihrer Zeit überstiegen. Das späte Römische Reich brach zusammen, als die damaligen Transport- und Kommunikationswege seiner größten Ausdehnung nicht mehr gewachsen waren. Auch heute sind wir von einem neuen Grad der Komplexität überfordert. Mit virtuellen Netzwerken, dem Internet der Dinge und einer Ökonomie der Daten haben wir eine Welt geschaffen, in der die physische Realität nur noch ein kleiner Teil dessen ist, was unser Leben bestimmt.

Beispiel Finanzsystem. Der realen Wirtschaft haben wir ein undurchschaubares, virtuelles Schattenreich gegenübergestellt. 2008 haben dessen dunkle Mächte die ökonomische Ordnung an den Rand des Abgrundes geführt. Der Handel mit Wertpapieren wird längst dominiert von Maschinen. Die sogenannten Algo-Trader werden heiß diskutiert. Es sind künstliche Intelligenzen, die, ihrer eigenen Strategie folgend, Aktien, Optionen oder Futures selbstständig kaufen oder verkaufen. Wir haben es vermutlich mit dem ersten voll automatisierten Markt überhaupt zu tun. Nur eine Handvoll Experten ist noch fähig, die kompliziertesten Kreditderivate und Hebelprodukte im Detail zu erklären. Ohne leistungsstarke Computer wäre aber schon der einfache Aktienhändler aufgeschmissen. Maschinen erlauben es uns, die Komplexität der Welt ins schier Unendliche zu steigern. In der Finanzkrise haben wir zum ersten Mal gelernt, welch gefährliche Waffe wir damit in der Hand halten.

Wendepunkte der Wirtschaft

Insgesamt vier industrielle Revolutionen haben in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten ihren Beitrag zum exponentiellen Komplexitätswachstum geleistet. Ihre Auswirkungen waren jeweils nicht nur ökonomischer, sondern vor allem sozialer Natur.

Mit der Erfindung der Dampfmaschine im Jahr 1769 industrialisierte sich zunächst nur der Westen. Handwerker und Landwirte wurden zu Angestellten und Proletariern. Die Klassengesellschaft der Moderne entstand, und mit ihr die politischen Vorstellungen von »rechts« und »links«, die bis heute den politischen Diskurs prägen. Die Arbeiterbewegung war nichts anderes als ein Aufbegehren der Verlierer des Wandels.

Die zweite industrielle Revolution basierte dann auf der Elektrifizierung der Welt. Die Nacht wurde zum Tage. Öl, das schwarze Gold der Moderne, begann zu sprudeln. John D. Rockefellers Firma Standard Oil wurde zum Google seiner Zeit, zum großen Profiteur einer technologischen Zäsur. Macht und Größe des Unternehmens erreichten bis zu seiner Zerschlagung im Jahr 1911 ungekannte Ausmaße.

Der Personal Computer leitete die dritte industrielle Revolution in den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts ein. Software begann, immer mehr Aufgaben zu übernehmen. Das Papier wurde zunehmend aus den Büros verbannt. Bill Gates wurde zum Rockefeller seiner Zeit.