Zukunftsfähige Machtsysteme in Unternehmen - Günther Schöffner - E-Book

Zukunftsfähige Machtsysteme in Unternehmen E-Book

Günther Schöffner

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Beschreibung

Macht - ein Mythos? Macht ist die Fähigkeit, das Fühlen, Denken und Handeln anderer Menschen zu beeinflussen. Entscheidungen in Unternehmen sind daher meist mit Macht verbunden, wenn auch oft unbemerkt. Differenzierte Analysen hierzu fehlen, denn der Begriff wird oft negativ konnotiert. Diese interdisziplinäre Darstellung erläutert das Phänomen Macht aus begrifflicher, gesellschaftlicher und organisationaler Sicht. Die zukunftsgerichtete Managementperspektive wird aus der Sicht der Organisationsentwicklung und Transaktionsanalyse ergänzt. Das Ergebnis ist ein ganzheitlicher Leitfaden zu Machtkultur und somit nachhaltiger Führung in Unternehmen.

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Seitenzahl: 710

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Günther Schöffner/Ute Hagehülsmann/Kerstin Schöffner

Zukunftsfähige Machtsysteme in Unternehmen

Die Verantwortung richtig auf die Beine stellen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042534-7

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042535-4epub: ISBN 978-3-17-042536-1

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort

Macht ist in allen Lebensbereichen des Menschen präsent, selbst wenn sie dabei nicht immer direkt wahrgenommen wird. Dies gilt auch im Unternehmensalltag. Dennoch wird besonders hier das Thema Macht häufig noch verdrängt oder tabuisiert. Ursachen hierfür sind beispielsweise negative Erfahrungen, die Menschen in Unternehmen mit mächtigen Personen gesammelt haben. Oder die negative Konnotation, die der Macht aus anderen Lebensbereichen sehr oft anhaftet, weshalb dem Thema Macht in Unternehmen sowie den sie ausübenden Personen häufig mit einem gewissen Misstrauen, einer kühlen Distanz oder ausweichendem Verhalten begegnet wird.

Macht an sich ist aber weder gut noch böse, sondern neutral. In Unternehmen ist sie nicht nur für das Funktionieren der Abläufe und das zielgerichtete Miteinander der Personen erforderlich. Sie kann bei richtiger Ausübung sogar sehr viel Gutes bewirken und Unternehmen dementsprechende Wettbewerbsvorteile verschaffen. Es liegt an den Beteiligten, die verfügbare Macht derart zu gestalten, dass sie diese positive Wirkung entfalten kann. Dazu müssen sowohl Mächtige – in neuen Organisationsformen sind dies vermehrt eher Gruppen als Einzelpersonen – die Machtausübung entsprechend gestalten als auch die Geführten die Macht angemessen akzeptieren und ihr folgen. Das kann geschehen, wenn die Machtsysteme in den Unternehmen dementsprechend gestaltet sind.

Alles hat bekanntermaßen seine Zeit. Das Leben der Menschen hat sich im Laufe der Zeit schon immer verändert und nachfolgende Generationen haben die Welt anders gestaltet als die vor ihnen. Technische Errungenschaften haben diese Entwicklung beschleunigt, weshalb Tragweite und Geschwindigkeit dieser Veränderungen im Zuge der Digitalisierung intensiver sind als in den Jahrzehnten zuvor. Dementsprechend wird die Kluft zwischen den Generationen oftmals als immer größer werdend interpretiert. „Die Schere geht immer weiter auseinander“ ist ein in diesem Zusammenhang häufig verwendeter Ausspruch. Doch diese technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sind kaum aufzuhalten, sodass sich die Menschen sowohl an die Veränderungen als auch an die immer mehr zu schwinden scheinende Stabilität anpassen und gewöhnen müssen. Das gilt auch für die Anwendung und Ausübung von Macht, die im Rahmen von Entwicklung und Veränderung eine große Rolle spielt. Dies gilt für Organisationen allgemein, speziell aber auch für die von uns in diesem Buch fokussierten gewinnorientierten Unternehmen.

Nicht nur in Anbetracht der demografischen Entwicklung müssen Unternehmen ihre Machtsysteme an die neue Zeit anpassen, wenn sie für Nachwuchskräfte attraktive Arbeitgeber werden und bleiben wollen. Auch bei älteren Generationen hat sich das Machtverständnis deutlich gewandelt. Was früher noch als akzeptabel gegolten haben mag, wie beispielsweise zahlreiche Ausnahmen von den Regeln für Mächtige, wird heute nahezu durch alle Altersgruppen in Frage gestellt. Daher müssen Unternehmen die Machtsysteme anpassen, denn nur so wird die Macht die eingangs erwähnte positive und dem Unternehmen förderliche Wirkung entfalten können, die ihr innewohnt.

In diesem Buch wollen wir das Thema „Macht in Unternehmen“ beschreibbar machen, damit Verantwortliche in Unternehmen die Machtsysteme zukunftsfähig gestalten können. So präsent Macht im Leben ist, so wenig beschrieben ist sie in der Managementliteratur. Nicht nur wegen der zuvor erwähnten negativen Konnotation sind nur wenige Abhandlungen über Machtsysteme in Unternehmen zu finden. Es ist auch die Schwierigkeit, sie in ihrer Fülle und Reichweite so zu beschreiben, dass sie für Menschen in Organisationen fassbar und begreifbar wird. Dieser Herausforderung haben wir uns in diesem Buch gestellt. Ausgehend vom allgemeinen Machtbegriff haben wir versucht, solch ein Verständnis für das Wesen der Macht im Allgemeinen und ihre besondere Ausprägung in Unternehmen im Speziellen zu entwickeln, um eine zukunftsfähige Veränderung von Machtsystemen zu ermöglichen. Dazu haben wir uns dem Thema aus der Sicht des Managements, der Psychologie und der Organisationsentwicklung genähert. In unsere Betrachtungen sind die Erfahrungen vieler Jahrzehnte eingeflossen, die wir in vielen Unternehmen und Organisationen in den verschiedensten Rollen sammeln durften, vom Azubi bis zum Unternehmenslenker, von der Beraterin bis zum Managementcoach, von der Personalleiterin bis zum systemischen Organisationsentwickler.

Unser Ziel ist, der Macht den ihr anhaftenden Schleier des Negativen abzustreifen und Menschen dafür zu gewinnen, das Thema „Macht in Unternehmen“ offen, vorurteilsfrei und lösungsorientiert anzugehen. Dies ist für die Gestaltung eines Machtsystems und den täglichen Umgang damit essenziell. Dies ist unserer Überzeugung nach besonders deshalb wichtig, damit Unternehmen im digitalen Zeitalter die Ressource „Mitarbeitende“ zielgerichtet und menschengerecht einsetzen können. Denn Machtausübung ist ein Wechselwirkungsprozess zwischen den Menschen. Gelingt es, diesen Prozess in Unternehmen zeitgemäß und menschenorientiert zu gestalten und zu praktizieren, kann Macht auch ihre positive Wirkung in Unternehmen entfalten. Zum Wohl der Unternehmen und den daran beteiligten Personen.

Wir sind uns bewusst, dass es ein umfassendes Werk zu den beschriebenen Themen im Zusammenhang mit Macht kaum geben kann. Dennoch wollen wir den Lesern einen nachvollziehbaren Zugang zum Thema „Machtsysteme in Unternehmen“ vermitteln. Ein wichtiger Faktor hierzu war für uns die Darstellung dessen, was den Menschen heute und in Zukunft entspricht und wie Macht eben gestaltet sein muss, dass sie den Menschen möglichst zum Nutzen ist und sie nicht abschreckt. Denn das ist der Zweck der Macht in Unternehmen: Für einen möglichst konfliktarmen Einsatz der Ressourcen im Unternehmen zu sorgen und somit dem Wohl möglichst vieler, im Idealfall aller daran beteiligter Menschen dienen.

Genderhinweis zu Beginn des Buches

Wir haben uns für unser Buch für das generische Maskulinum ohne jeglichen Gedanken einer Diskriminierung entschieden, weil wir der Auffassung sind, dass die Lesbarkeit des Textes im Vordergrund steht und Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit für uns seit jeher Selbstverständlichkeiten sind, die nicht zur Diskussion stehen.

Inhalt

Vorwort

1

Macht in der Welt

1.1

Hinführung zum Thema Macht

1.2

Annäherung an die Themen Macht und Machtsysteme in Unternehmen

1.3

Ökosysteme, deren Veränderungen und der entsprechende Einfluss auf Machtsysteme

1.4

Veränderungen der digitalen Arbeitswelt in den 2020er Jahren, New Work und die Auswirkungen auf Führungs- und Machtsysteme

2

Menschen und Macht

2.1

Machtbegriffe und -definitionen

2.2

Schauplätze, Erscheinungsformen und Chiffren der Macht

2.3

Arten von Macht, Wirksamkeitsbedingungen

2.4

Quellen der Macht und Wirkungsmodell

2.5

Streben nach Macht, Anforderungen und Konsequenzen der Macht, Wirkung auf Mächtige

2.6

Voraussetzungen und Grenzen der Macht

2.7

Insignien der Macht, Machtdemonstrationen und Machtmissbrauch

3

Macht in Unternehmen

3.1

Hauptquellen und Besonderheiten der Verfügungsmacht in Unternehmen

3.2

Entscheidungen und Macht in Unternehmen

3.3

Beeinflussungsmacht, ihre Quellen und Ausübung in Unternehmen

3.4

Organisation, Machtstruktur, Machtkultur

3.5

Ausgestaltung von Macht und Machtsystemen

3.6

Macht in zeitgenössischen Organisationformen

3.7

Die dunkle Seite der Macht, ihre Grenzen und Mächtige in Unternehmen

3.8

Anforderungen an Mächtige und Machtsysteme für ein Mindestmaß an Zukunftsfähigkeit

4

Typische Machtsysteme in der Praxis

4.1

Dominierende Machtstruktur und Art und Weise der Machtausübung

4.2

Typische Verhaltensweisen als Charakteristika von Machtsystemen

4.3

Typische Nutzung des Machtmixes

4.4

Machtquadrate

4.5

Veränderung von Machtsystemen

1Macht in der Welt

1.1Hinführung zum Thema Macht

Wer versucht, sich mit dem Thema Macht näher auseinanderzusetzen, stellt schnell fest, dass dieses Gebiet eine enorme Bandbreite an Präsenz- und Anwendungsfeldern sowie einen großen Facettenreichtum in ihrer jeweiligen Tiefe aufweist. Macht, in ihrer konstruktiven Ausprägung und mit ihrer „Rückseite der Ohnmacht“, ist omnipräsent in allen Lebenslagen, in jedem Lebensbereich, auf allen Kontinenten der Welt und über alle Zeit hinweg. Mag sie auch für eine lange Zeit nicht wahrgenommen werden, wird sie in den allermeisten Fällen nach irgendeiner Zeitspanne im Leben der Menschen wieder spürbar sein. Diese Tatsache macht sogar vor dem Kosmos nicht halt. Die Astronauten auf der ISS sind nicht nur den Mächten der Naturgesetze unterworfen, auch für sie gelten sowohl an Bord als auch für ihre Rückkehr Regeln. Diese müssen eventuell auch „mit Macht durchgesetzt“ werden, z. B. um für größtmögliche Sicherheit zu sorgen, sei es in der Station, einer Raumkapsel oder auf der Erde. Autorisierte Personen oder Instanzen nehmen dabei Einfluss auf andere Menschen, hier um die Geschicke der Raumstation oder der Besatzung zu bestimmen. Genau das ist es, worum es beim Themengebiet Macht geht: Durch autorisierte Einflussnahme das Handeln, das Verhalten oder gar das Denken anderer Menschen zu beeinflussen, und es geht auch um das Gegenteil, unbefugt Macht auszuüben, bis hin zum Machtmissbrauch.

So klar, nüchtern und einfach sich dies in einem Satz niederschreiben lässt, so kompliziert ist es in der Realität, hierfür eine Beschreibung und eine Systematik in der Weise zu erstellen, dass Präsenz, Einsatz und Auswirkungen von Macht in einem Teilbereich menschlichen Lebens, wie beispielsweise am Arbeitsplatz, nachvollziehbar gemacht werden können. Denn jenseits der nicht trivialen Darstellung der Wirkung machtvoller Handlungen oder Kommunikationen auf Menschen, gestaltet sich diese in den verschiedenen Lebensbereichen wie Arbeit, Freizeit oder Familie völlig unterschiedlich. Des Weiteren haben Machtverhältnisse und das Machtverständnis der Menschen in einem dieser Lebensbereiche auch Auswirkungen darauf, wie sich diese Größen in den anderen Lebensbereichen ausgestalten. Eine strenge Mutter kann am Arbeitsplatz mitunter nicht gleichermaßen machtvoll mit den ihr anvertrauten Auszubildenden umgehen wie vielleicht mit ihren Kindern. Und dennoch sind die beiden Bereiche nicht getrennt voneinander beobachtbar, sondern der eine beeinflusst den anderen.

Hinzu kommt auch die Tatsache, dass Macht in den verschiedenen Völkern und Kulturen der Welt unterschiedliche Ausgestaltung und Akzeptanz hat. Finden einige Länder für gewisse Vergehen oder Verbrechen harte Strafen als richtig und gerecht und fordern sie auch die Vollstreckung durch die jeweiligen Instanzen des Staates, so können die gleichen Delikte in anderen Staaten völlig unterschiedlich geahndet werden. Die Menschen, die in diesen verschiedenen Kulturen aufgewachsen sind und sozialisiert wurden, haben dementsprechend auch unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Macht z. B. in Handel und Wirtschaft, am Arbeitsplatz und in virtuellen Teams verwendet werden kann, soll und darf. Hier wird dann sehr schnell klar, dass es angesichts einer globalisierten, vernetzten, virtuellen Welt, in der eine große Zahl von Menschen unterschiedlicher Kulturen mit entsprechend unterschiedlichem Machtverständnis und einer jeweils unterschiedlichen persönlichen Geschichte im Umgang mit Macht zusammenarbeiten, einer sehr differenzierten Auseinandersetzung mit unserem Thema von Macht und Machtsystemen z. B. in Unternehmen bedarf.

Mit dieser Erkenntnis wird deutlich, dass es eine vollständige Darstellung, die alle Belange, Aspekte und Fragestellungen zum Thema Macht in Unternehmen abdeckt, nicht geben kann. Insofern stellen wir hier die Themen in den Mittelpunkt, die wir als grundlegend für das Verständnis von Macht sehen. Dabei gehen wir auch davon aus, dass wir Unternehmen nicht in ihren spezifischen Interaktionen mit Mitarbeitenden, Lieferanten, Kunden oder der Presse losgelöst in den Fokus rücken, sondern dass wir sie als Teil ihrer gesellschaftlichen Umwelt und der Wirtschaftswelt sehen. In dieser mittlerweile verstärkt als Ökosysteme bezeichneten Unternehmensumwelt ist natürlich auch Macht präsent, sodass hier zwangsläufig Beeinflussungen und Wechselwirkungen entstehen müssen. Ändert sich das Machtverständnis im Umfeld spürbar und dauerhaft, kann das meist nicht folgenlos an Unternehmen vorüber gehen. War in den 1950er und 1960er Jahren körperliche Züchtigung von Auszubildenden noch gängige Praxis, hat sich dies in den 1970er Jahren vehement verändert und ist in den 1980er Jahren zum Glück weitgehend verschwunden. Das Verständnis der Menschen davon, was „Mächtige“ mit den ihnen anvertrauten Personen machen können und dürfen, hat sich in der Gesellschaft in dieser Zeit grundlegend geändert. Diese gesellschaftlichen Veränderungen im Ökosystem der Unternehmen haben dazu geführt, dass sich auch die Machtausübung z. B. auf Auszubildende geändert hat. Die Umwelt eines Unternehmens ändert sich jedoch fortlaufend und auf vielen Gebieten in viele Richtungen. Kein Unternehmen kann in den 2020er Jahren die Augen vor Klimawandel, Dekarbonisierung oder Digitalisierung verschließen. Auch diese Themen haben Einfluss auf die Macht im Unternehmen, da sich dadurch zwangsläufig die Art und Weise der Zusammenarbeit verändert. Der Begriff Homeoffice spricht hierzu bereits eine deutliche Sprache.

Wie man nach dieser kurzen Darstellung bereits sieht, ist es nicht einfach oder selbstverständlich, sich mit Machtsystemen in Unternehmen zu beschäftigen. Dies ist vielleicht einer der Gründe, weshalb es diesbezüglich kaum Abhandlungen oder Standards gibt, die sich auf breiter Ebene etabliert hätten. Um aber ein Verständnis für die Besonderheiten, Wechselwirkungen und maßgeblichen Einflussgrößen eines solchen Machtsystems zu entwickeln, ist ein gewisses Grundverständnis von Macht im Allgemeinen, der Bedeutung von Ökosystemen für Unternehmen und der Einfluss des technologischen und gesellschaftlichen Wandels auf diese Ökosysteme und die Arbeitswelt sinnvoll. Deshalb sind diese Themen in den nachfolgenden Abschnitten des ersten Kapitels etwas genauer umrissen.

In Kapitel 1.2 nähern wir uns dem Thema Macht sehr allgemein und zeigen dessen große Bandbreite: vom kleinsten Mikrosystem des Individuums bis hin zu den globalen Makrosystemen. Überall ist Macht präsent, die Menschen können ihr gar nicht entgehen. Dabei kann man sie nicht immer gleich als solche erkennen, sondern man muss sich in den jeweiligen Situationen oft erst bewusstwerden, dass Macht im Spiel ist. Häufig sind Situationen merklich spürbarer Macht von positiven oder negativen Emotionen begleitet. Je nach persönlicher Erfahrung und Situation überwiegt bei den Menschen dann die eine oder die andere emotionale Grundhaltung zum Thema Macht, die sich von einem Machtbedürfnis bis hin zu einer absoluten Machtaversion entwickeln kann. Diese allgemeine Darstellung der Macht soll den Leser sowohl für die Präsenz als auch für die Relevanz von Macht in Wirtschaftsunternehmen und anderen Organisationen sensibilisieren, denn im Vergleich zum täglichen Leben taucht sie dort in der Regel häufiger und expliziter auf.

In Kapitel 1.3 betrachten wir die Bedeutung der Unternehmensumwelten, die sich wie gesagt mehr und mehr zu sog. Ökosystemen entwickeln, für die Unternehmen etwas genauer. Dies soll die Abhängigkeit der Unternehmen von ihrem Umfeld deutlich machen, um zu zeigen, dass Veränderungen im Ökosystem zwangsläufig Folgen für das Unternehmen inklusive der bestehenden Machtsysteme haben muss. Der Abschnitt zeigt auch, wie weitreichend und dynamisch diese Veränderungen durch die Digitalisierung sind. Deshalb kann sich auch nahezu kein Unternehmen mehr diesen Veränderungen entziehen, auch wenn das in den vergangenen Jahrzehnten vielleicht beim ein oder anderen Traditionsunternehmen noch funktioniert haben mag.

Kapitel 1.4 greift als explizites Detail der Veränderungen von Ökosystemen die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt von heute und morgen auf. Die scheinbare Omnipräsenz moderner Schlagwörter wie agiles Arbeiten, Selbstorganisation, New Work oder Homeoffice macht deutlich, dass sich die gesamte Arbeitswelt spätestens seit der Covid-19-Pandemie in einem massiven Umbruch befindet. Dies kann und wird nicht ohne einschneidende Folgen für die Präsenz, Verteilung und Anwendung von Macht in Unternehmen bleiben. Die sog. Generationen Y und Z haben im Vergleich zu den Vorgängergenerationen ein scheinbar deutlich verändertes Verständnis davon, wie Zusammenarbeit und Macht in Unternehmen gestaltet sein sollten. Anhand von Beispielen wird aufgezeigt, dass sich vollziehende Veränderungen von Machtverhältnissen und Machverständnissen in den verschiedenen Lebensbereichen wie Gesellschaft, Staat oder Wirtschaft gegenseitig beeinflussen. Einem geänderten gesellschaftlichen Machtverständnis kann sich kein Unternehmen, auch mit noch so langer Tradition komplett entziehen, sondern muss seine Strukturen und Ansätze entsprechend anpassen und modernisieren. Zu guter Letzt liefert dieser Abschnitt noch eine kurze Beschreibung davon, was der Begriff „zukunftsfähig“ im Zusammenhang mit Machtsystemen von Unternehmen unserer Ansicht nach bedeuten kann.

Somit ist es aus verschiedenen Gründen kein einfaches Unterfangen, eine Abhandlung zu Machtsystemen in Unternehmungen zu verfassen. Dennoch stellen wir uns als Autorenteam diesem Thema, da wir es in Anbetracht der massiven Veränderungen der (digitalen) Arbeitswelt für notwendig erachten, dass auch Machtsysteme hinterfragt und an die neuen Gegebenheiten angepasst werden. Wir haben über viele Jahre vielfältige Erfahrungen mit Machtsystemen in unterschiedlichen Organisationen kennengelernt und mitgestaltet. Veränderungen fallen umso schwerer, je länger Dinge konstant waren und je weitreichender und schneller diese dann vonstattengehen sollen. Es geschieht u. E. hierzu noch zu wenig, weshalb viele deutschsprachige Unternehmen im internationalen Vergleich an Attraktivität für Beschäftigte und damit an Wettbewerbsfähigkeit verlieren könnten. Auch ein noch so auf Zukunft ausgerichtetes Unternehmen kann nicht hinreichend prosperieren, wenn es einen zu rigiden Macht- und Führungsansatz hat. Ein reales Fallbeispiel soll dies etwas plakativer machen.

Fallbeispiel 1:

Ein kleiner, familiengeführter Hersteller von Medizinprodukten mit knapp 30 Mitarbeitern bereitete seit ungefähr einem Jahr den Generationenwechsel vor. Der Juniorchef sollte mit Anfang 30 in die Fußstapfen seines Vaters treten, der wie geplant mit Anfang 60 in den Ruhestand gehen wollte. Beide verstanden sich sehr gut und hatten die gleiche Vorstellung davon, wie die weitere Gestaltung des Unternehmens aussehen sollte. Daher hatten sie bereits vor mehr als einem Jahr eine Expansionsstrategie eingeschlagen und den Maschinenpark erweitert. Sie wollten so von den guten Marktaussichten profitieren und das Unternehmen nach dem Ausscheiden des Seniors „auf das nächste Level bringen“, sprich die Entwicklung hin zu einem kleinen Industrieunternehmen schaffen. Ziel war auch, die Mitarbeiterzahl bis in zwei Jahren auf über 50 zu steigern. Doch obwohl die Auftragslage sehr gut war und sie trotz Corona-Krise keinerlei Schwierigkeiten mit der Beschaffung der Rohmaterialien hatten, gelang das Wachstum nicht. Innerhalb eines Jahres hatten sie über 10 junge Produktionsmitarbeiter eingestellt, von denen aber nach 12 Monaten nur noch einer übrig geblieben war. Alle anderen hatten nach kurzer Zeit bereits wieder gekündigt oder waren schon vor dem Ende ihrer Probezeit vom Juniorchef wieder entlassen worden. Beide Chefs waren ratlos. Sie verstanden die Erwartungshaltung der neuen Mitarbeiter nicht, gab man ihnen ihrer Meinung nach doch einen sicheren Arbeitsplatz und die Chance auf ein langes, stabiles Berufsleben in der Firma. Sie sahen ihre Wachstumspläne gefährdet, sodass sie irgendwann zähneknirschend externe Beratungsunterstützung hinzuzogen. Eine erste Analyse brachte schnell Licht ins Dunkel. Die existierende Stammbelegschaft war überwiegend schon lange im Unternehmen, teilweise mehrere Jahrzehnte. Der Altersdurchschnitt der Belegschaft lag bei 51 Jahren. Mitarbeiter und Chefs hatten in den Jahrzehnten ein stabiles System einer Art „Anweisung und Umsetzung“ aufgebaut. Der Chef traf prinzipiell alle wesentlichen Entscheidungen allein und gab den Produktionsmitarbeitern zu Beginn jeden Tages ihre Arbeitsaufträge. Diese kontrollierte er am Feierabend akribisch. Er wollte sie „motivieren“, indem er sie regelmäßig zu mehr Fleiß und Qualität anhielt. So hatte sich über die Jahre ein System eingespielt, mit dem alle Beteiligten zurechtkamen. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte, alles andere nahm ihnen der Chef ab. Wenn es Probleme mit den Kunden gab, fing der Chef diese völlig ab und gab diese auch nicht an seine Mitarbeiter in Form von Kritik oder Druck weiter, sodass keiner der Beschäftigten etwas befürchten musste, wenn er einmal bei einer Charge nicht 100 % Qualität produziert hatte. Der Junior war nach seiner Lehre im Betrieb für drei Jahre zu einem befreundeten Unternehmen gegangen, um einmal etwas anderes kennenzulernen. Seit seiner Rückkehr vor sieben Jahren war er völlig in das vom Vater geschaffene System hineingewachsen, sodass er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass es ein besseres System zur Führung des Unternehmens geben könnte als das existierende. Der wirtschaftliche Erfolg „gab ihnen ja schließlich Recht“. Während der Analyse kristallisierte sich heraus, dass nahezu alle neuen Mitarbeiter unzufrieden damit waren, wie sie ihre Arbeit gestalten durften und was sie hierfür selbst entscheiden konnten. Mit diesem geringen Spielraum konnte sich eine Teamarbeit überhaupt nicht entwickeln. Die neuen hatten sich auch über den Kommandoton des Juniors beschwert, der eher „dem auf einer Galeere als in einer modernen Produktion“ ähnelte, so einzelne Kommentare. Die langjährigen Mitarbeiter konnten diese Kritik nicht verstehen, „führte doch der Junior die erfolgreiche Tradition weiter und kümmerte sich wie der Vater mit großem Einsatz um die Mitarbeiter, indem er ihnen klare Ansagen machte und alle Probleme von ihnen fernhielt“. Der einzig verbliebene neue Mitarbeiter kritisierte hinter vorgehaltener Hand den Führungsstil und ärgerte sich über den altmodisch führenden Juniorchef. Er konnte das Unternehmen jedoch aus familiären Zwängen nicht verlassen und gab an, diesen „Terror“ noch zwei bis drei Jahre ertragen zu müssen, bevor er sich dann ein anderes Unternehmen suchen würde.

Wie wir die Situation verstehen:

Mit diesem Beispiel wollen wir die Leser gleich zu Anfang mit der „dunklen bzw. destruktiven Seite“ der Macht vertraut machen, d. h. mit den Aspekten von unangemessenem Beharrungsvermögen bis hin zu Rigidität, die dem Unternehmen möglicherweise die Zukunft raubt. Und natürlich werden wir dieser Erscheinungsform die helle bzw. konstruktive Seite gegenüberstellen, aus der heraus wir die Macht als Kraft verstehen, die etwas bewirken kann.

Ohne Veränderung des bestehenden Systems, in dem Macht nur in einer Person konzentriert ist, wird das Unternehmen des Fallbeispiels nicht nur Schwierigkeiten mit der Umsetzung seiner Wachstumsziele haben. Es wird sich auch bald in einer weiteren Problemsituation befinden, wenn die langjährigen Mitarbeiter nacheinander in den Ruhestand treten und hierfür kein qualifizierter Ersatz an jüngeren Mitarbeitern gefunden werden kann. Wenn das Unternehmen sein Machtsystem nicht ändert, verspielt es mittelfristig nicht nur seine Wachstumschancen, sondern langfristig sogar seine Existenz. Dieses Fallbeispiel zeigt, wie ein Führungs- bzw. Machtsystem „irgendwann stehengeblieben ist“. Dass wie in diesem Fall der Umgang mit Macht generationsabhängig ist, wird uns im Laufe des Buches noch an einigen Stellen beschäftigen.

Um Hilfe beim schwierigen Wandel in den Machtsystemen zu bieten, haben wir dieses Buch verfasst. Es soll eine bestehende Lücke in der Managementliteratur zumindest zum Teil schließen. Des Weiteren soll es andere dazu anregen, sich offener mit diesem manchmal zu Unrecht tabuisierten Thema auseinanderzusetzen. Dabei werden wir auch darauf eingehen, dass Macht eine konstruktive Seite hat, die in positiver Weise zielführend eingesetzt werden kann.

Das Autorenteam verfügt zusammen über mehr als 110 Jahre Berufs- und Beratungserfahrung in dutzenden von Unternehmen mit jeweils verschiedenen Machtsystemen in diversen Branchen, Größen und Nationen. Wir haben diese Machtsysteme dabei aus verschiedensten Blickwinkeln kennengelernt: Als Azubi, Praktikant, Werkstudierende, Fachkraft, Führungskraft, Unternehmensverantwortliche, Berater, Coach, Auditor, Interims-Manager oder Aufsichtsrat. Aus jedem dieser Blickwinkel wirkten die Machtsysteme anders. Das ist insofern wichtig, als dass dadurch ein großes Verständnis dafür entstand, dass verschiedene Menschen ein und dasselbe Machtsystem völlig unterschiedlich wahrnehmen und interpretieren. Azubis anders als Ausbilder, Fachhandwerker anders als Informatiker, Vertriebsingenieure anders als Controller, oder Manager anders als Hausmeister. Auch Mitarbeiter derselben Gruppe haben oft unterschiedliche Wahrnehmungen und Empfindungen bezüglich desselben Machtsystems. Insofern haben uns die verschiedenen Betrachtungswinkel gelehrt, wie schwierig es ist, Machtsysteme so zu gestalten, dass sie den größtmöglichen Nutzen für ein Unternehmen bedeuten und gleichzeitig bei möglichst vielen, im Idealfall sogar bei allen Mitarbeitenden Akzeptanz und Zustimmung finden. Einem jeden Recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann, lehrt der Volksmund. Das gilt auch für Machtsysteme. Eine dementsprechende Gratwanderung ist damit eben deren Ausgestaltung.

Wir sind aus verschiedenen Gründen, sowohl aus fachlicher als auch aus persönlicher Perspektive, davon überzeugt, dass ohne hinreichende Machtbasis, d. h. die Kraft, etwas zu bewegen, die in der einen oder anderen Form in der täglichen Arbeitspraxis Anwendung findet, ein Unternehmen nicht dauerhaft erfolgreich gemanagt werden kann, egal welches Führungssystem das jeweilige Unternehmen haben mag. Das gilt sowohl für sehr tradierte Firmen, deren Geschäftsmodell kaum digitale Lösungen beinhaltet, als auch für hochdynamische IT-Unternehmen oder Start-Ups mit agilem Führungsansatz. Macht als Begriff der zuvor genannten bewegenden Kraft ist für ein geregeltes Miteinander notwendig. Dabei ist der Umgang mit Macht von besonderer Bedeutung und sie sollte u. E. nach immer vor einem humanistischen Hintergrund genutzt werden. Denn Macht an sich ist weder gut noch böse, deshalb sollte ihr auch neutral und vorurteilsfrei begegnet werden. Sie kann in allen Lebensbereichen dafür sorgen, dass Regeln entstehen, durch die Menschen miteinander auskommen können und dient somit einem sehr guten Zweck. Natürlich ist sie wegen des ihr innewohnenden Potentials auch der Gefahr des Missbrauchs oder der falschen Anwendung ausgesetzt. Das Buch soll dabei helfen, Missbrauch und falsche Anwendung von Macht in Unternehmen und Organisationen zu erkennen und Machtsysteme möglichst zukunftsfähig auszugestalten. Dafür ist es unserer Erfahrung nach wichtig, sowohl die Tragweite des Begriffes zu kennen als auch einen Überblick über die beeinflussenden Parameter zu haben. Insofern sind die ersten beiden Kapitel als eine Hinführung an die betrieblichen Machtsysteme, die in den Kapiteln 3 und 4 untersucht werden, zu betrachten, und sollten in der entsprechenden Abfolge gelesen werden.

1.2Annäherung an die Themen Macht und Machtsysteme in Unternehmen

Von Anbeginn des Lebens stellt das Thema Macht eine elementare Facette menschlichen Daseins dar. Reflexartig setzt schon das Neugeborene oder dann der Säugling seine Kraft, die sich im Schreien ausdrückt, ein, um Empfindungen des Unbehagens Ausdruck zu geben. Erlebt er dann, dass „man“ diesen Missempfindungen durch Körperkontakt, Wärme oder Nahrung Linderung verschafft, so macht er erste Erfahrungen damit, dass der Einsatz der eigenen Kraft Einfluss auf „das Außen“ hat, welches etwas tut, um eigene, unangenehme Empfindungen zu lindern. Dies bewirkt auch eine Urerfahrung, dass der Einsatz der eigenen Kraft dazu verhilft, das Unbehagen, welches das ungestillte Bedürfnis mit sich bringt und was als Ohnmacht empfunden wird, zu überwinden. Damit werden erste Erfahrungen von Macht und Ohnmacht prägend. So kommt der Mensch von Anbeginn seines Lebens an mit Erfahrungen in Kontakt, wie er Kraft einsetzen kann, um wirksam zu sein, oder sich als unwirksam/ohnmächtig zu erleben, wenn er zu wenig Kraft hat, oder andere Menschen nicht auf seine „Kraftanstrengungen“ reagieren und er sich damit dem „Außen“ und dessen Macht ohnmächtig ausgeliefert fühlt. Diese Erfahrungen mit Macht und Ohnmacht sind Teil unserer weiteren Entwicklung und des gesamten Lebens. Da sich aber das Erleben von Hilflosigkeit und Ohnmacht bzw. Macht der anderen tiefer und nachdrücklicher in unser Gedächtnis und unsere Persönlichkeit einprägt als das des kraftvollen Einstehens für uns und unsere Bedürfnisse, ist der Begriff der Macht häufig negativ konnotiert und seiner kraftvollen Lebensenergie entkleidet. Diese wieder ins Gedächtnis zu rufen, sie konstruktiv nutzbar zu machen ist u. a. ein Anliegen dieses Buches.

Macht kann nicht nur negative, sondern auch positive Emotionen hervorbringen. Wenn wir sie selbst besitzen, d. h. in der Lage sind, in einer bestimmten Situation unser eigenes Geschick und das anderer zu bestimmen, wissen wir Macht nur allzu sehr zu schätzen.1 In so mancher Situation langatmiger und schwieriger Diskussionen wünschen wir uns manchmal, dass wir selbst oder andere mit einem „Machtwort“ diese quälende Situation beenden und andere zum Aufgeben ihres Widerstandes gegen unsere Entscheidung bewegen könnten.2 Denn sowohl das Ende der quälenden Situation als auch das Wissen um die Möglichkeit, sie aus eigenen Kräften heraus beenden zu können, erzeugen ein gutes Gefühl, wenn auch manchmal nur unterbewusst, verdrängt oder sich selbst oder anderen nicht eingestanden. Ein weitreichend bekanntes Beispiel solch quälender Situationen, die sich immer wieder häuften, waren im Jahr 2021 die sog. Bund-Länder-Gipfel zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie in Deutschland. Die zuständigen Bundesländer konnten sich dabei weder untereinander auf gemeinsame Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung einigen, noch gelang es, zusammen mit den zuständigen Stellen des Bundes einen gemeinsamen Ansatz zu finden, der einen hinreichenden Konsens dargestellt hätte. Zur Lösung dieses Dilemmas war daher immer wieder öffentlich lautstark ein „Machtwort der Kanzlerin“ gefordert worden, d. h. es gab die Sehnsucht nach einer Kraft, die alle Verantwortlichen machtvoll beeinflussen sollte, zu einer Einheit zu werden.

Politik ist jedoch nur ein Feld des Lebens, in dem Macht präsent ist. Kein Lebensbereich ist frei von ihr.3 Sie findet sich am Arbeitsplatz, in der Partnerschaft, im Straßenverkehr, im Verein oder in der Freizeit wieder, auch wenn uns das in den einzelnen Situationen nicht immer bewusst ist. Überall vermag Macht, negative Gefühle zu erzeugen, wenn man sie in der betreffenden Situation gerade nicht hat, und sie vermag positive Gefühle hervorzurufen, wenn man jeweils darüber verfügt. Die positiven Emotionen entstehen dabei nicht nur, weil wir wie zuvor beschrieben eine missliche Situation klären können. Sie entstehen auch durch die beglückende Erfahrung, über die nötige Kraft zu verfügen, wodurch Stresshormone abgebaut werden und unser Selbstwertgefühl steigt.4 Denn Macht verschafft auch Anerkennung und Prestige,5 was sich positiv auf das Selbstwertgefühl auswirkt. Dies ist ein wichtiger Umstand, denn wenn man auch in einzelnen Situationen machtlos sein mag, im Allgemeinen aber genügend Macht entwickeln kann, erzeugt der damit verbundene Selbstwert langfristig häufiger positive Gefühle. Im umgekehrten Fall einer geringer ausgeprägten Fähigkeit, Macht einzusetzen, verhält es sich entsprechend genau andersherum. Machtlosigkeit und das einhergehende Gefühl von Hilflosigkeit können Stress erzeugen, was bei länger anhaltender Dauer zu gesundheitlichen Problemen führen kann.6

Die Wahrnehmung von Macht wird von den durch sie entstehenden Emotionen häufig verdrängt. Dennoch spürt man sie laufend latent, in Schule und Erziehung, durch Chefs, durch Fremdbestimmung oder seitens des Staates (und sei es nur durch einen Strafzettel). Wir erleben ständig Momente und Situationen im Alltag, die uns machtlos erscheinen lassen, weshalb so manche negativen Erinnerungen aus der Kindheit dann wieder bedient werden. Beispielsweise der Moment im Supermarkt, wenn die Kassiererin beim Auflegen des ersten Stücks auf das Kassenband mit einem „Bei mir bitte nicht mehr auflegen!“ dem Kunden das Gefühl der Machtlosigkeit vermittelt, oder der zuckelnde Autofahrer, der einem bei nicht bestehender Überholmöglichkeit in der Stadt das Leben schwer macht. Es sind Situationen, in denen man an der Lage einfach nichts ändern kann, weil einem die Möglichkeiten fehlen (die Metapher „die Hände gebunden“ macht in einer solchen Situation die Präsenz einer Macht bewusst, die uns im Falle des Handelns eine Sanktion androht), andere Personen zur Abstellung eines Missstandes oder zur Hilfe in einer misslichen Lage zu bewegen. Kommentare wie „Da bin ich machtlos!“ oder „Da kann man nichts machen!“ drücken diese Gefühle aus, die nicht immer nur einfach hingenommen werden, sondern häufig auch mit einer gewissen Resignation verbunden sind. Andererseits erleben wir es, wie schon gesagt, als sehr beglückend, wenn wir unsere Macht einsetzen können. Wenn wir z. B. als Berater unsere Expertise nutzen können, um in einem Unternehmen Verbesserungen zu erreichen.

Es gibt also Gründe, weshalb Macht sowohl positive als auch negative Emotionen zu erzeugen vermag, die in ihrer Natur begründet liegen. Diese in „natürlicher Weise“ auftretenden negativen Emotionen können durch verschiedene Umstände im alltäglichen Leben auch noch verstärkt werden. Das kann beispielsweise durch sog. Machtspiele geschehen. Diese hat fast jeder schon bewusst oder unbewusst erlebt, denn da wo Macht ist, da sind auch Machtspiele nicht fern.7 Dies gilt wie die Präsenz von Macht für alle Lebenslagen: Familie, Verein, Kirche, Kita, Nachbarschaft, Beruf. Dabei handelt es sich nicht um Spiele im herkömmlichen Sinn. Es handelt sich dabei eher um Machtdemonstrationen, um Drohgebärden oder um manipulative, teilweise erpresserische Aktionen der scheinbaren Verhandlung, die meist jenseits der Grenze fairer Partnerschaften liegen. Sie haben im Wesentlichen den eigenen Machterhalt, die Machterweiterung oder die Verbesserung der Bedingungen für die eigene Machtausübung zum Ziel.8 Sie dienen auch der Durchsetzung der eigenen Meinung oder der Beeinflussung von Entscheidungen zu eigenen Gunsten in solchen Situationen, in denen dieser Erfolg auf dem normalen Verhandlungsweg nicht sonderlich wahrscheinlich ist. Dabei werden auch Mittel wie Drohungen oder gar Einschüchterungen verwendet. Hierbei entstehen bei den Betroffenen meist Gefühle von Unterlegenheit, Wut und Hilflosigkeit, von Scham, Trauer und Angst. Diese bleiben dann in Erinnerung an die Hilflosigkeit der Kindheit als negative emotionale Verbindung zur Macht zurück. Ähnliche emotionale Wirkungen hat Machtmissbrauch. Dieser gibt der Macht ein negatives Gesicht, denn die Kraft, die man z. B. durch bestimmtes Wissen hat, wird dann einseitig nur zum Durchsetzen eigener Interessen mobilisiert. Machtmissbrauch und Machtspiele können sich auch hin zu handfesten Intrigen auswachsen, welche die betroffenen Menschen jedoch nicht immer 1:1 als solche wahrnehmen. Oft verbleibt nur der Triumph des Intriganten, der vom Verlierer wahrgenommen und negativ mit der Macht des Triumphators in Verbindung gebracht wird, und somit letztendlich wiederum einen weiteren Strich auf der Strichliste der negativen Machterfahrungen erzeugt.

Macht findet häufig dann eine positiv erlebte emotionale Konnotation, wenn sich Menschen selbst in machtvollen Momenten, Situationen oder Positionen befinden. Das können Momente sein wie die Nutzung des Vorrechts des Fußgängers am Zebrastreifen, die Freimachung des besetzten reservierten Sitzplatzes im Zug durch Vorzeigen der Platzreservierung oder die Entscheidung über die Beschaffung eines neuen, umweltfreundlichen Fahrzeugs durch den Vorstand des Wohlfahrtsvereins. Hier bewirkt Macht, Recht durchzusetzen, bzw. allgemein anerkannte Verbesserungen umzusetzen. Macht kann aber auch positive Emotionen hervorrufen, wenn man gar nicht selbst direkt darüber verfügt. Befindet man sich in einer peinlichen, unangenehmen oder gar brenzligen Situation, die aus eigenen Kräften nicht verlassen werden kann, kann es höchst beglückend wirken, wenn durch den Kontakt zu einem Mächtigen, der seine Hilfsbereitschaft signalisiert hat, die ihm verliehene Macht die missliche Situation plötzlich zum positiven zu wenden vermag. Das Wissen um die Existenz der Macht spendet in solchen Situationen Hoffnung und Zuversicht und entwickelt beim Menschen ein wohltuendes, befreiendes Gefühl. Die Lösung eines besonders schwierigen Problems durch einen derart gestalteten Einsatz von Macht, der keineswegs unrechtmäßig sein muss, kann bei den Menschen auch nachhaltig die negative Konnotation der Macht abmildern und ins Positive wenden.

Die genannten Beispiele zeigen, dass Macht beim Menschen sehr unterschiedliche Emotionen hervorrufen kann. Halten sich positive und negative Erfahrungen und entsprechende Emotionen die Waage, kann sich eine gewisse Grundakzeptanz einstellen. Aber auch wenn man in der einen oder anderen Situation sagen mag, „So ist es nun mal, meine Ohnmacht muss ich akzeptieren, auch wenn es mir nicht gefällt.“, stellt sich doch immer wieder ein negatives Gefühl ein, wenn die Macht ihr „hässliches“ Gesicht zeigt. Hier kommt dann auch schnell Ungerechtigkeitsempfinden ins Spiel. Tritt dies häufiger und intensiver auf, kann sich als Reaktion auf die durch die Machterlebnisse empfundene Ungerechtigkeit und Herabwürdigung beim Menschen nach einer gewissen Zeit auch Verbitterung einstellen, die im Extremfall sogar zu einer Krankheit werden kann.9 Dementsprechend negativ und ablehnend kann sich die Haltung der Betroffenen zum Thema Macht entwickeln.

Die vielmals zitierte „Machtgier“, die einzelnen Politikern oder manchmal sogar der gesamten Politikerzunft nachgesagt wird, kann zur Ausprägung einer ablehnenden Haltung der Menschen gegenüber Macht führen. Auch Führungskräften, umgangssprachlich oft als Gruppe der „Chefs“ und „Manager“ bezeichnet, haftet das Label der Machtgier häufig an. Wie später noch gezeigt werden wird, ist dies aber wenig überraschend, hat doch der US-Psychologe David McClelland bereits in den 1950er Jahren das Streben nach Macht und Kontrolle über andere als einen der wichtigsten Motivationsfaktoren von Führungspersönlichkeiten identifiziert.10 Macht an sich ist auch, wie schon angeklungen und wie ebenfalls später noch gezeigt werden wird, für sich gesehen weder negativ oder positiv, sondern als neutral einzuordnen. Das den Chefs zugeordnete Attribut des Machtstrebens spielt jedoch eine wichtige Rolle, da es im verwendeten Sinn eben zu jener negativen Konnotation der Macht führt, die häufig im Umfeld von Unternehmen und Organisationen zu finden ist. Im Arbeitsalltag ist Macht in der Regel wesentlich häufiger und intensiver präsent als in vielen anderen Lebensbereichen. In Unternehmen müssen regelmäßig Entscheidungen getroffen werden, um den wirtschaftlichen bzw. zweck- und zieldienlichen Erfolg zu gewährleisten. Diese Entscheidungen und die damit verbundenen Maßnahmen müssen von einem dazu bestimmten Personenkreis getroffen und eingeleitet und meist von einem anderen Personenkreis akzeptiert und umgesetzt werden. Unabhängig von der Art und Weise, wie dies geschieht, ist aber diese Machtausübung und somit eben die Macht selbst oft wahrnehmbar. Dadurch ist das Machtempfinden, d. h. die emotionale Wirkung der Macht auf die Menschen und die Machtakzeptanz einzelner Personen, gewisser Personenkreise oder der gesamten Belegschaft in diesem Kontext meist ein anderes als in anderen Lebensbereichen.

In Anbetracht der Tatsache, dass wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen genau weiß, was mit den zuvor geschilderten Aspekten gemeint ist, verwundert es doch ein wenig, dass es keine ganzheitlich geltenden Definitionen für Bedeutung und Inhalt des Begriffes Macht gibt. Der Begriff ist zwar allseits bekannt und geläufig, die exakte Bedeutung variiert jedoch stark je nach Kontext. Das ist bei genauer Betrachtung allerdings wenig überraschend. Der Begriff beschreibt aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen heraus betrachtet nicht dieselben Inhalte und ist deshalb auch nicht interdisziplinär vollkommen konsistent. Bereits häufig mit dem Wort „Macht“ in Verbindung gebrachte Begriffe wie „Einfluss“ und „Autorität“ können in den verschiedenen Disziplinen teilweise völlig unterschiedliche Bedeutungen haben. Das deutet an, wie weitreichend und schwer dieses Thema zu fassen ist. Für eine Abhandlung des Themas in einem festgelegten Rahmen ist daher eine genaue Abgrenzung und eine Klärung und Festlegung der Bedeutung der verschiedenen Begriffe umso wichtiger, um keine Konfusion zu erzeugen.

Wie im Verlauf des Buches noch gezeigt werden wird, muss es in Unternehmen wie in allen anderen Organisationen auch Macht geben, die in geeigneter Form für geregelte Abläufe angemessen eingesetzt werden muss. Trotz aller zu erwartenden technischen und organisatorischen Entwicklungen der nächsten Jahre wird es in Unternehmen auch zukünftig Macht geben. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass es auch zukünftig einer der wesentlichen Funktionen bedarf, die der Macht eigens ist, nämlich der konfliktarmen Koordination von Ressourcen in Unternehmen.11 Auf die Zukunft gerichtet stellt sich also nicht die Frage, ob es in Unternehmen zukünftig noch Macht geben wird, sondern was die geeigneten Antworten auf die Frage sind, wie Macht gestaltet und ausgeübt werden soll, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Letzteres bedeutet, dass die Macht derart eingesetzt werden muss, dass z. B. Unternehmen durch ihren Einsatz möglichst erfolgreich sind. Wir nähern uns mit diesem Buch folgender Frage: Wie müssen Machtsysteme zukünftig gestaltet sein, um in den sich dynamisch verändernden internen und externen Bedingungen der Wirtschaftswelt noch zum Erfolg von Unternehmen und Organisationen sowie deren Stakeholdern zu führen? Alle Personen, die mit Wachstum und Veränderung von Organisationen zu tun haben, sollten sich mit Machtsystemen und deren Auswirkungen befassen, um die Organisation bzw. die Unternehmung wirklich zu verstehen und die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Einflusses zu kennen und einzuschätzen. Zur Diskussion dieses Themenkomplexes ist zunächst die Beantwortung zweier Fragen wichtig:

Wie können Machtsysteme beschrieben werden?

Welche Zukunftsfaktoren sind für die Veränderung von Machtsystemen zu berücksichtigen?

Die erste Frage werden wir im Laufe der Kapitel 2, 3 und 4 klären. Zum besseren Verständnis der relevanten Zukunftsfaktoren soll der Begriff „Machtsystem“ hier zunächst nur eine sehr kurze Einordnung finden. Knapp formuliert legen Machtsysteme in Unternehmen fest, welche Personen oder Personenkreise in der Unternehmensorganisation über welche Macht verfügen und auf welche Art und Weise sie diese zu welchen Zwecken anwenden können, dürfen und müssen. Die Machtsysteme legen dabei den Handlungsrahmen der Akteure fest und stellen der ausübbaren Macht ihre jeweilige Legitimation gegenüber. In einem Machtsystem sind auch die Grenzen der Macht festgelegt bzw. sie stellen sich jenseits festgelegter Regelungen in dem aus Menschen bestehenden System „Organisation“ im Zuge der Zusammenarbeit ein. Umgangssprachlich kann ein Machtsystem derart erklärt werden, dass es zum einen festlegt, wer im Unternehmen bestimmt „wo‘s lang geht“ und wie es zu laufen hat. Zum anderen beschreibt es, wie sich diese Umsetzung in der Praxis ausgestaltet, wo es Grenzen findet und wo es der Funktion und der Zielerreichung des Unternehmens nicht mehr dienlich ist. Diese Umschreibung beinhaltet auch, was im Allgemeinen mit dem Begriff „Macht“ in Unternehmen in Verbindung gebracht wird. Der Wortteil „System“ des Begriffs Machtsystem soll im Kontext dieses Buches verdeutlichen, dass es sich nicht nur um ein einfaches Werkzeug oder nur um ein Organigramm handelt, sondern dass dazu mehrere ineinandergreifende Werkzeuge, Methoden und Verfahrensabläufe, eben ein System, notwendig sind. Vergegenwärtigt man sich die Tatsache, dass alle Organisationen, in denen Menschen miteinander tätig sind, komplexe Systeme sind,12 wird schnell klar, dass solche Machtsysteme auch systemisch im Sinne der Systemtheorie betrachtet werden. Dieses Buch ist jedoch keine rein systemtheoretische Abhandlung, sondern vor allem eine Darstellung des Systems im Sinne der vorherigen Erklärung.

Die zweite Frage wird in den nachfolgenden Abschnitten eingegrenzt und präzisiert. Eine zuverlässige, exakte Vorhersage zukünftiger Tendenzen erscheint uns nicht möglich, sodass wir uns darauf konzentrieren, die jüngsten Entwicklungen aufzuzeigen. Dadurch sollen die Relevanz und die Notwendigkeit der Veränderungen gezeigt werden.

1.3Ökosysteme, deren Veränderungen und der entsprechende Einfluss auf Machtsysteme

Zur Bezeichnung von Unternehmen werden in der deutschen Umgangssprache häufig mehrere Begriffe synonym verwendet, wie z. B. Firma, Betrieb, Geschäft, Laden, Organisation oder Unternehmen, wobei es noch eine Reihe mehr gibt. Im Fokus dieses Buches stehen ertragsorientierte Unternehmen im marktwirtschaftlichen Sinn. Diese haben zwar in den meisten Fällen auch eine Organisation, sind aber nicht mit öffentlichen Organisationen wie der UNO oder sog. Non Governmental Organizations (NGOs, Nichtregierungsorganisationen) wie dem Roten Kreuz oder Amnesty International zu verwechseln. Die meisten Unternehmen haben zwar im betriebswirtschaftlichen und juristischen Verständnis auch einen Betrieb, jedoch ist ein Betrieb allein noch nicht identisch mit dem, was betriebswirtschaftlich und juristisch mit einem Unternehmen verstanden wird. Auch der Begriff Unternehmen selbst lässt sich noch unterscheiden in private Wirtschaftsunternehmen und öffentliche Unternehmen. Bei Letzteren sind staatliche Einrichtungen zumindest Mehrheitseigner und sie verfolgen wirtschaftliche und in gewissem Maße auch politische Ziele wie beispielsweise öffentliche Gas- und Wasserversorger.13 Private Wirtschaftsunternehmen verfolgen hingegen die Ziele der Gewinnerwirtschaftung und der Wertsteigerung für ihre Eigentümer (Aktionäre, Gesellschafter).14 Der Begriff „Unternehmen“ soll im weiteren Kontext dieses Buches synonym für private Wirtschaftsunternehmen verstanden werden, d. h. für das gesamte Buch ist unter dem Begriff des Unternehmens ein privatwirtschaftliches Wirtschaftsunternehmen zu verstehen. Wir betrachten also in diesem Buch vorwiegend Machtsysteme in ertragsorientierten Unternehmen und weniger in Behörden, NGOs, Vereinen oder Verbänden. Deren Machtsysteme sind aufgrund bestehender Abhängigkeiten, Verantwortlichkeiten und Rechenschaftspflichten anders geartet und es besteht bei ihnen auch eine andere Abhängigkeit von den später noch erläuterten Zukunftsfaktoren. Daher fokussieren wir unsere überwiegenden Betrachtungen auf Unternehmen nach oben genannter Festlegung.

Unternehmen sind niemals völlig autark und können nicht isoliert von anderen Einrichtungen oder Unternehmen agieren. Sie sind in eine externe Unternehmensumwelt eingebettet, deren Bestandteil sie gleichzeitig sind. Von ihr sind sie immer, wenn auch in unterschiedlichem Umfang, abhängig und werden gleichzeitig von ihr beeinflusst.15 Sie sind in Gesellschaft, Staat und Wirtschaftswelt eingebettet. Wie wir noch sehen werden, bildet jeder dieser drei genannten Orte mindestens einen der sog. Schauplätze der Macht. Diese Schauplätze wirken sowohl aufeinander als auch auf jedes Unternehmen und somit auf die dort Anwendung findende Macht ein. Wenn sich in einem der genannten Bereiche Veränderungen ergeben, hat dies meist auch Veränderungen in den anderen Bereichen zur Folge. Die Folgen in den anderen Bereichen können jedoch hinsichtlich ihrer Auswirkung im Vergleich zum auslösenden Bereich völlig unterschiedlich sein. So könnte eine Forderung nach einer Helmpflicht auf Fahrrädern seitens der Gesellschaft zu einer entsprechenden Gesetzgebung des Staates führen. Im Bereich der Wirtschaft hätte dies fast unweigerlich zur Folge, dass plötzlich rasant ein größerer Markt für Helme entstehen würde, der durch mehr Produktion und ausgebauten Handel entsprechend bedient werden müsste. Ähnliches, wenn auch ohne entsprechende gesetzliche Pflicht, fand statt, als der bekannte Formel-1-Rennfahrer Michael Schumacher im Jahr 2013 in den französischen Alpen einen schweren Skiunfall erlitt und dabei keinen Helm getragen hatte. Schlagartig entstand im Wirtschaftsbereich ein großer Markt, der durch ein gesellschaftliches Ereignis getriggert worden war. Ähnlich verhält es sich bei Macht in Unternehmen. Gesellschaftliche oder technologische Entwicklungen können zur Folge haben, dass sich Machtverhältnisse in Unternehmen verändern oder verändern müssen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Homeoffice-Pflicht während der Corona-Krise. Lange Zeit wurden viele Formen der sog. „Telearbeit“ von einem Großteil der Unternehmen abgelehnt. Das Corona-Virus sorgte für signifikante Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens, die zwangsläufig auch auf die Arbeitswelt durchschlugen. Die in den 2010er Jahren vorangetriebene Vernetzung der Gesellschaft stellte für viele Büromitarbeiter dadurch in den 2020er Jahren die Möglichkeit dar, ihren Arbeitsplatz ins eigene Zuhause zu verlagern und somit zur Bewältigung der Corona-Krise beizutragen. Für viele Führungskräfte bedeutete dies einen gewissen Machtverlust, da sie plötzlich nicht mehr, wie lange Zeit noch der Fall, die volle Kontrolle über das Schaffen ihrer Mitarbeiter hatten und auch nicht mehr in allen Belangen bestimmen konnten, wann, wo und in welcher Weise die Mitarbeiter ihre Arbeitsleistung erbrachten. Technologische Entwicklungen und eine gesellschaftliche Krise haben viele Unternehmen gezwungen, ihre Macht-, Führungs- und Kommunikationssysteme nahezu über Nacht anzupassen. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie wichtig es ist, die verschiedenen Bereiche der Umwelt eines Unternehmens zu kennen und diese regelmäßig zu analysieren. Kleine Veränderungen in der Umwelt, die mit Machtsystemen in Unternehmen zunächst absolut nichts zu tun haben, können jedoch zu gravierenden Änderungen dieser Systeme führen. Daher ist ein gewisses Grundverständnis hinsichtlich der Gegebenheiten von Unternehmensumwelten wichtig, wenn Machtsysteme in Unternehmen zukunftsfähig gestaltet und auch regelmäßig angepasst werden sollen. Hierzu ist es auch wichtig, ein hinreichendes Grundverständnis über die sog. Zukunftsfaktoren zu haben, die auf die Unternehmenswelten einwirken, wie z. B. die globale Migration. Dadurch lassen sich gewisse Entwicklungen, wenn auch nur gering, vorausahnen und können beim Auftreten der Veränderungen in passende Maßnahmen zur Anpassung der Machtsysteme umgesetzt werden. Darum geben wir in den folgenden Abschnitten eine Darstellung grundlegender Beschreibungen von Unternehmensumwelten und relevanter Zukunftsfaktoren, um ein Verständnis für die Abhängigkeiten von Machtsystemen von scheinbar völlig unbeteiligten Veränderungen in anderen Lebensbereichen zu wecken.

In diesem Buch beziehen wir uns auf eine Beschreibung der externen Unternehmensumwelt, die insbesondere den Faktor „Gesellschaft“ etwas stärker detailliert. Dies ist insofern vorteilhaft, als dass das Thema „Macht in Unternehmen“ nicht separat vom gesetzlich festgelegten und sozial akzeptierten Machtverständnis betrachtet werden kann. Eine auf den amerikanischen Wirtschaftsprofessor Jay Bourgeois zurückgehende Strukturierung aus dem Jahr 1980 enthält eine Aufteilung der Unternehmensumwelt in zwei Komponenten:16 Die allgemeine Umwelt und die Aufgabenumwelt.17

Dar. 1: Umwelten im Unternehmen (nach Bourgeois)

Die allgemeine Umwelt enthält die Elemente Technologie, Natur und Wirtschaft. Die Umweltsphäre „Gesellschaft“ ist hingegen wie erwähnt weiter detailliert und in die Elemente Soziales und Kultur, Politik und Recht sowie Internationales unterteilt. Die Aufgabenumwelt enthält konkret die Elemente Kunden, Wettbewerber, Lieferanten und den Arbeitsmarkt. Spätestens bei diesen Punkten wird die Abhängigkeit jedes Unternehmens von seiner Umwelt deutlich. Die interne Umwelt eines Unternehmens beschäftigt sich im Wesentlichen mit den Themenkomplexen Management, Beschäftigte und Unternehmenskultur.

Eine etwas neuere Sichtweise der Unternehmensumwelt argumentiert, dass sich Unternehmen zu Geschäfts-Ökosystemen entwickeln.18 Nach diesem Verständnis beinhalten solche Ökosysteme Organisationen aller Sektoren der allgemeinen und der Aufgabenumwelt, welche die Transaktionen, Flüsse und Verbindungen von Informationen und Ressourcen zur Verfügung stellen, die Unternehmen für den Erfolg benötigen.19 Die Ökosysteme von Tech-Unternehmen wie beispielsweise Apple oder Meta Platforms umfassen neben einer großen Anzahl von Lieferanten auch die vielen Millionen an Kunden, die nicht nur die Produkte und Dienstleistungen konsumieren, sondern durch ihr Feedback auch zur Weiterentwicklung der Unternehmen beitragen.

Eine kompakte Zusammenfassung des Themas „Ökosysteme“ ist in der Einleitung des Buches der Autoren um Wolfgang Becker mit dem Titel „Ökosysteme im Mittelstand“ zu finden. Wegen ihrer Prägnanz wird diese Darstellung nachfolgend ohne Veränderung oder Kommentierung in Auszügen dargestellt:20

„Die Unternehmenslandschaft hat sich in den letzten Jahren stark verändert und befindet sich aktuell in einem tiefgreifenden Umbruch. Während früher die Unternehmensgrenzen und die Austauschbeziehungen zu Kunden und Stakeholdern klar definiert waren, führt die Digitalisierung zu einer zunehmenden Dynamisierung und Komplexität der Unternehmensumwelt, bei der die Unternehmensgrenzen sich immer stärker auflösen und Branchen verstärkt miteinander zu konvergieren erscheinen. Folglich werden Unternehmen nicht mehr als Teil sequentiell verlaufender Wertschöpfungsketten, sondern als Bestandteile komplexer Ökosysteme verstanden. In der immer komplexer werdenden digitalen Welt basieren Ökosysteme zumeist auf Plattformen, auf denen sich Akteure dynamisch vernetzten und neuartige, kundenzentrierte Wertangebote gemeinsam mit den Kunden und weiteren Wertschöpfungsakteuren kreieren. Ein in diesem Zusammenhang häufig verwendeter Begriff ist die sogenannte ‚Plattformökonomie‘. Im Zuge dieser Entwicklung machen sich bestimmte Unternehmen die technologischen Möglichkeiten gezielt zu Nutze, um tradierte Wertschöpfungsketten gezielt zu fragmentieren und zu disruptieren und etablierten Unternehmen jedweder Größenordnung ihre Wettbewerbspositionen streitig zu machen. Beispiele von innovativen Unternehmen wie Apple, Google, oder Amazon haben bereits verdeutlicht, dass sie als finanzstarke (Groß)Unternehmen in der Lage sind, in bestehende sowie bisher unbesetzte Branchenstrukturen vorzudringen, etablierte Wertschöpfungsketten zu disruptieren, und innerhalb von kurzer Zeit dominierende Positionen zu besetzen. Diese Entwicklungen werden durch die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechniken grundlegend begünstigt sowie weiterhin beschleunigt.“

Bei aller Plausibilität dieser Darstellung ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Unternehmen Geschäftsmodelle wie Apple, Google oder Amazon haben. Deshalb können auch nicht alle wie zuvor beschrieben die technologischen Möglichkeiten in gleichem Umfang zu ihrem Vorteil nutzen. Es gibt eine große Bandbreite der digitalen Weiterentwicklung von Unternehmen, beginnend von nur vereinzelten digitalen Ansätzen in tradierten oder handwerklich ausgerichteten Branchen (z. B. Spengler, Schornsteinfeger etc.), über eine weitgehende Automatisierung vieler bisher noch lange Zeit semi-manuell durchgeführter Arbeitsschritte inklusive der digitalen Planung und Überwachung (z. B. Werkzeugbau in der Automobilzulieferindustrie, Produktion chirurgischer Instrumente etc.) bis hin eben zu voll digitalen Geschäftssystemen ähnlich wie bei den zitierten Unternehmen Apple oder Amazon. Dementsprechend werden sich auch die verschiedenen Unternehmensumwelten mehr oder weniger stark als Ökosysteme im obigen Sinn ausprägen. Ökosysteme bleiben sie aber dennoch, denn auch bei geringem Digitalisierungsgrad hat sich die Unternehmensumwelt nahezu aller Wirtschaftsunternehmen spätestens seit Einführung der Smartphones spürbar verändert. Zweifelsfrei steht aber für alle Unternehmen eines fest: die Digitalisierung wird mehr und mehr alle Unternehmen erfassen und Digitalisierungsverweigerer werden über kurz oder lang trotz einer eventuell noch so langen Tradition den Zugang zum Markt entweder verlieren oder aber zumindest stark einbüßen. Deshalb ist ein Denken in Ökosystemen bei einer überwältigenden Anzahl von Unternehmen legitim, adäquat und opportun.

Eine gute Zusammenfassung der zuvor angedeuteten Auswirkungen der Digitalisierung auf die Unternehmen und ihre Führung findet sich wiederum an geeigneter Stelle: Dem Buch „Digitale Transformation und Unternehmensführung. Trends und Perspektiven für die Praxis“ vom Herausgeberteam Schellinger et. al. aus dem Jahr 2020. Zur Vereinfachung wird hier noch einmal deren Zusammenfassung des Themas nachfolgend auszugsweise direkt wiedergegeben:21

„Die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ist ein Phänomen, dem als derzeit wohl bedeutsamste global wirksam werdende Umweltveränderung für die strategische Entwicklung von Unternehmen eine wachsende Relevanz zukommt. Die mit dem Einsatz neuer digitaler Technologien verbundenen gravierenden Veränderungen können unter dem Begriff der „digitalen Transformation“ subsumiert werden und beeinflussen im ökonomischen Kontext die gesamte Wertschöpfungskette. Ursachen dieser Veränderungen sind die direkten und indirekten Technologieauswirkungen in Bezug auf Rahmenbedingungen und Strukturen des Wirtschaftens sowie auf völlig neuartige Produkt- und Dienstleistungsangebote. Die Digitalisierung durchdringt in zunehmendem Maße alle Führungs- und Funktionsbereiche von Unternehmen und Organisationen und verändert die Art und Weise, wie Unternehmen in Zukunft geführt werden. Agilisierung, Individualisierung, Lateralisierung und Holokratisierung der Führungsbeziehungen und -systeme scheinen hier für die Zukunft wegweisende Entwicklungsrichtungen für in wachsendem Maße selbstorganisierte Netzwerkorganisationen mit fortgeschrittener digitaler Infrastruktur. Vor diesem Hintergrund scheint der Terminus einer „digitalen Unternehmensführung“ als Management-Entwicklungsperspektive und Konsequenz der digitalen Transformation, aber auch im Sinne einer unternehmerischen Bewältigungsstrategie für die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft naheliegend.“

Auch wenn sich drei Jahre nach Erscheinen dieses Buches nicht alle genannten Theorien als gleich leistungs- und zukunftsfähig herausgestellt haben, so ist doch in weiten Bereichen der Wirtschaft eindeutig der Drang und der Trend hin zu deutlich veränderten Führungsansätzen und Strukturen zu bemerken. Dabei spielt weniger eine Rolle, welchen Namen das angewandte Konzept hat (z. B. „agiles Arbeiten“ oder „selbstorganisierte, teilautonome Teams“). Entscheidend ist, dass deren Verbreitung im Rahmen des New Work Ansatzes zu Beginn der 2020er Jahre nicht zuletzt durch die bereits erwähnten massiven Forderungen nach Homeoffice-Regelungen im Zuge der Bewältigung der Covid-19-Pandemie deutlich beflügelt wurde. Ein kurzer Abriss der relevanten Ansätze zu New Work sowie deren Auswirkungen auf Führung und Leadership werden im nächsten Kapitel näher dargestellt. Die Gründe liegen dabei sowohl im veränderten Führungsverständnis jüngerer Generationen begründet als auch in der in vielen Bereichen der Wirtschaft zu spürenden Auswirkungen der Digitalisierung. Nicht zuletzt deshalb ist es in Anbetracht der vorherigen Ausführungen opportun, die Unternehmensumwelt von Unternehmen allgemein durch den Begriff der Ökosysteme zu beschreiben. Diesem Verständnis hat auch die European Foundation for Quality Management (EFQM) in Brüssel Rechnung getragen und in ihrem 2019 erneuerten Modell zur nachhaltigen Erzielung herausragender Unternehmensergebnisse als ein wesentliches Element der Unternehmensführung den ständigen Wandel und die stetige Anpassung des Unternehmens an die jeweiligen Gegebenheiten als expliziten Punkt aufgenommen.22 Hierzu ist das Verständnis des Ökosystems des Unternehmens ein weiterer zentraler Punkt.23

Für die Beschreibung von Ökosystemen für Unternehmen sind Faktoren zu berücksichtigen, welche Trendcharakter haben und deren verändernde Wirkungen Einflüsse auf das Geschäftsmodell eines Unternehmens haben können. Ebenfalls wichtig ist hierbei festzuhalten, dass diese Trends nicht nur auf das Geschäftsmodell selbst, sondern auch auf die Organisation der Unternehmen entscheidenden Einfluss haben können. So können beispielsweise gesellschaftliche Trends direkten Einfluss auf die Beschaffung von Nachwuchspersonal haben. Die Ende der 2010er Jahre stärker werdende Purpose-Debatte, wonach Beschäftigte verstärkt danach fragen, ob ihre Arbeit und das Unternehmen, in dem sie tätig sind, einen wertvollen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung des menschlichen Lebens leistet, ist ein Beispiel hierfür. Aufgrund des guten Arbeitsmarktes vor der Covid-19-Pandemie haben sich zahlreiche Nachwuchskräfte in dieser Diskussion entschieden, nicht bei Unternehmen arbeiten zu wollen, die die besagten Fragen nicht zufriedenstellend beantworten konnten. Technologische Weiterentwicklungen wie beispielsweise die künstliche Intelligenz sowie weitere politische oder gesellschaftliche Themen werden auch zukünftig stets neue Herausforderungen für Unternehmen bringen, denen sich diese dann stellen und passende Veränderungen im Unternehmen einleiten müssen. Dies sollen nochmals betonen, wie wichtig die stetige Beobachtung des Ökosystems eines Unternehmens für seine weitere Entwicklung ist. Diese Faktoren haben nämlich auch wesentlichen Einfluss auf Führung und Zusammenarbeit in Unternehmen und tragen so zu Erfolg oder Misserfolg eines Machtsystems bei.

Zur Zukunftsgestaltung und Veränderung müssen Unternehmen sämtliche Faktoren ihres Ökosystems betrachten und berücksichtigen und können nicht mehr, wie dies viele Jahrzehnte lang möglich war, einzelne davon als für sich irrelevant ausblenden. Damit ihr Umgang mit Macht konstruktiv bleibt, müssen daher die Mächtigen fortlaufend Umweltfaktoren und Umweltbedingungen in die Etablierung und Gestaltung von Machtsystemen einbeziehen, damit die Rahmenbedingungen nicht die Wirkung konstruktiver Machtanwendung aushebeln. Das Ignorieren dieser Faktoren führt zu negativen Ergebnissen von Machtausübung. Denn Zukunftsfaktoren als solche üben bereits Einfluss auf die Geschicke der Menschheit aus, ohne dass sie selbst vom Menschen immer groß beeinflusst werden könnten. Manchmal bleibt nur ein entsprechendes Reagieren auf die mächtigen Auswirkungen der Zukunftsfaktoren. Aktuelles Beispiel ist der Klimawandel. Die Menschheit kann ihn nicht mehr verhindern, da er schon spürbar eingesetzt hat. Sie kann lediglich versuchen, seine Auswirkungen in einem noch verträglichen Rahmen zu halten. Denn diese wirken massiv auf Gesellschaft, Staat und Wirtschaft ein und führen zu entsprechenden Veränderungen wie beispielsweise den Maßnahmen zur Dekarbonisierung. Hierdurch werden sich ihrerseits zukünftig noch viele weitere Veränderungen ergeben, die sich heute noch gar nicht abschätzen lassen. Es wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht ausbleiben, dass sich dadurch zukünftig das Zusammenarbeiten von Menschen in Unternehmen und damit auch die Machtsysteme, d. h. die Machtstrukturen und die Machtkulturen, weiter verändern müssen, ohne dass dies heute schon genau vorhergesehen werden könnte. Dieses Beispiel fasst die Bedeutung dieses Kapitels noch einmal sehr prägnant zusammen. Um Machtsysteme zukunftsfähig zu gestalten und sie regelmäßig passend zu verändern, müssen Unternehmen ihre Ökosysteme und die Zukunftsfaktoren kennen und beides analysieren sowie deren Wirkungen einzuschätzen vermögen. Denn bereits kleine Veränderungen in einem Bereich können große Veränderungen an den Machtsystemen erforderlich machen. Es liegt daher in der Verantwortung der Mächtigen, der Berücksichtigung der Ökosysteme und deren Veränderungen den notwendigen Raum zu gewähren. Dies weist auf die Verbindung von Macht und Verantwortung hin.

1.4Veränderungen der digitalen Arbeitswelt in den 2020er Jahren, New Work und die Auswirkungen auf Führungs- und Machtsysteme

Seit ihrer Einführung im großen Maßstab hat die Digitalisierung massiven Einfluss auf die Unternehmens- und Arbeitswelt. Durch die digitalen Technologien verändert sich die Art und Weise, in der Unternehmen Wettbewerb treiben und Wertschöpfung erzielen.24 Selbst lange Zeit stabile Geschäftsmodelle sind durch disruptive Ansätze ins Wanken geraten.25 Kunden sind zunehmend für einen schnellen Anbieterwechsel bereit, was bei den Unternehmen zu einer erhöhten Unsicherheit führt, die mit dem Begriff „VUCA“ (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit) umschrieben wird.26 Unternehmen müssen daher nicht nur ihre Strategien häufiger und schneller hinsichtlich veränderter Rahmenbedingungen verändern, auch Struktur und Organisation brauchen eine regelmäßige Anpassung.27 Nur so können Organisation und Abläufe die Dynamik, Effizienz und Effektivität behalten, die für ein erfolgreiches Bestehen in einem hochdynamischen Umfeld nötig sind. Auch hier ist selbstverständlich zutreffend, dass nicht alle Unternehmen der gleichen Dynamik ausgesetzt sind und tradierte Geschäftsmodelle im Vergleich zu rein digitalen Ansätzen einen anderen Anpassungsbedarf haben.

Neben der Anpassung von Organisation und Prozessen ist unter den genannten volatilen Bedingungen auch ein veränderter Führungsansatz nötig. Dieser muss zu den geänderten Abläufen passen. Führungskräfte sehen sich im digitalen Umfeld vermehrt Führungsdilemmata ausgesetzt: sie sollen mit Ungewissheit umgehen und zugleich Orientierung geben; Widersprüche aushalten – und sie zugleich plausibel erklären; Planabweichungen als Normalfall behandeln – und zugleich verlässliche Strukturen anbieten.28 Solche Dilemmata im Führungsalltag sind nicht neu, jedoch ist deren Häufigkeit im digitalen Umfeld größer als früher (d. h. vor der großflächigen Digitalisierung) und es betrifft nun nahezu alle Führungsebenen. Damit dies alle Führungskräfte bewältigen können, bedarf es verständlicherweise einer Erweiterung der Führungskompetenzen und bestehende Führungswerkzeuge müssen so umgestaltet werden, dass sie auch für den Umgang mit Ungewissheiten, Widersprüchen und Planabweichungen taugen.29 Des Weiteren verlangen moderne Ansätze auch andere Wege der Umsetzung als tradierte. So werden im Rahmen der digitalen Transformation auch Maßnahmen zur Kulturbeeinflussung eingesetzt, die bislang nahezu unbekannt waren und daher eventuell befremdlich wirken mögen. Ein Beispiel hierfür sind die unter dem Begriff „Gamification“ bekannten Maßnahmen.30 Unter „Gamification“ ist dabei die Kunst zu verstehen, „Spaß zu vermitteln und Elemente zu nutzen, die typischerweise in Spielen vorkommen, und diese auf produktive Handlungen in der Realität anzuwenden“.31 Diesbezügliche Elemente werden dabei genutzt, um für Mitarbeitende für gewisse Handlungen Anreize zu schaffen.32 Solche in der breiten Führungspraxis weitgehend noch unbekannte oder wenig angewandte Elemente werden aber zunehmend salonfähig oder durch die Umstände oder Mitarbeiter gar gefordert. Auch dadurch entstehen für erfahrene Führungskräfte häufig neue Herausforderungen.

Nicht zuletzt verändert die Digitalisierung sowohl den Inhalt der täglichen Arbeit als auch die Art und Weise, wie sie erbracht wird. Sie steht insbesondere für digitale Arbeitsprozesse und -inhalte, die Beschleunigung von Arbeit, mobil-flexible Arbeitsformen und Arbeitsmodelle im Sinne von mehrdimensionalen Systemen der Zusammenarbeit, die anhand der fünf Dimensionen Arbeitszeit, Arbeitsform, Arbeitsführung, Arbeitsstruktur und Arbeitsraum charakterisiert werden können.33

Diese Dimensionen haben, nicht zuletzt unterstützt durch die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie, zu Entwicklungen der Arbeitswelt in Richtung Flexibilisierung, Individualisierung, Selbstorganisation, Autonomie der Mitarbeitenden, partnerschaftlich systemisch-symbolische Führung, Agilität und Mobilität geführt. Ein hierzu mittlerweile nahezu jedem bekanntes Ausführungsbeispiel dessen ist die mit dem ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie sehr breit angewandten und dadurch auch sehr populär gewordene Maßnahme Homeoffice. Für Führungskräfte bedeutete dies die Herausforderung, neben der Bewältigung der Pandemie mit all ihren Ungewissheiten und Belastungen auch dafür zu sorgen, dass der Geschäftsbetrieb weitgehend aufrechterhalten werden musste, obwohl viele Mitarbeiter sich kaum oder für eine gewisse Zeit überhaupt nicht vor Ort im Unternehmen befanden. Die für die Führungskräfte daraus resultierenden Schwierigkeiten bedürfen keiner weiteren Erklärung, denn dabei war es schwierig, die bisher etablierten Formen sinnvoller Machtausübung weiter fortzusetzen. Das Beispiel eines renommierten Unternehmens soll die Veränderungen der Zusammenarbeit durch die Digitalisierung zeigen, deren Umsetzung durch die Covid-19-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 wesentlich beschleunigt wurden.

Telefónica Deutschland: 5 Bold Moves & Beyond Initiative34

Die Erkenntnisse der Corona-Pandemie haben die Aktivitäten von Telefonica Deutschland mit mehr als 8.000 Mitarbeitern hin zur digitalen Arbeitswelt beschleunigt. Mit den sog. „5 Bold Moves“, fünf Punkten zur Veränderung der Arbeit und Zusammenarbeit im Unternehmen, richtete sich das Unternehmen zukunftsorientiert aus und stellte eine virtuelle Arbeitsweise, individuelle Flexibilität und maximale Produktivität ins Zentrum der Zusammenarbeit. Die Inhalte dieser fünf Punkte sind:

Working Anywhere

Die Mitarbeiter können ihren Arbeitsort in Absprache mit der Führungskraft flexibel wählen. Büro, Homeoffice oder an anderen Orten – dort wo die Mitarbeiter am produktivsten sind.

Working Anytime

Die reguläre Arbeitszeit wurde auf den maximalen gesetzlichen Rahmen von Montag bis Samstag zwischen 6 und 23 Uhr ausgeweitet. Das soll insbesondere Eltern eine größtmögliche Flexibilität bei der Gestaltung des Arbeitsalltags geben.

Outcome Based Leadership

Mit der neuen Arbeitsweise wurde auch eine veränderte Art der Führung eingeführt, bei der das Arbeitsergebnis und nicht Ort und Zeit seines Entstehens im Fokus steht.

Digital by Default

Digitale Meetings stellen den Standard dar. Dies soll die flexibilisierte Arbeitsweise fördern und Vorteile für eine direkte Kommunikation und eine gleichberechtigte, effiziente Zusammenarbeit über Standorte hinweg bieten.

70 % Less Travel

Reisen für interne Meetings sollen auf ein Minimum reduziert werden. Neben den Zeit- und Kostenersparnissen soll dies auch der Reduzierung der CO2-Emissionen dienen.

Die Initiative BEYOND ermutigt die Mitarbeiter von Telefónica Deutschland, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und ihre eigene Karriere aktiv selbst zu managen. Dazu wurde eine auf künstlicher Intelligenz basierende Plattform eingerichtet, die den Mitarbeitern Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigt, sowie die für den nächsten Schritt benötigten Kompetenzen und die zu deren Aufbau nötigen Aktivitäten transparent macht. Aus den fünf Punkten des Beispiels Telefónica Deutschland lassen sich folgende Schlüsse ziehen:

Führungskräfte haben Aspekte etablierter, struktureller Macht abgegeben (Wann und wo gearbeitet wird).

Die Art der Machtanwendung verändert sich mit diesem Programm, da die strukturelle Macht an Fülle verliert. In gewissen Fällen muss dies durch eine Änderung und Erweiterung der Machtkultur, d. h. hier des persönlichen Umgangs mit Macht, kompensiert werden.

Zugunsten der Dekarbonisierung werden digitale Meetings zum Standard und Reisen werden weitgehend reduziert. Wird dadurch evtl. die direkte Wirksamkeit und so der Einfluss der Macht durch weniger persönliche Begegnungen reduziert, wird dies zugunsten des Zukunftsfaktors „Klimawandel“ bewusst in Kauf genommen.

Vermutlich wird ein Teil der reduzierten strukturellen Macht durch verstärkte Sozialkompetenzen, eine veränderte Machtkultur sowie durch ein verändertes Verantwortungsverständnis der Mitarbeiter ausgeglichen.

Im beschriebenen Zusammenhang der Bewältigung der Corona-Pandemie hat sich in weiten Teilen der Arbeitswelt der mit einer großen inhaltlichen Unschärfe behaftete Begriff der „New Work“ etabliert, mit dem zunehmend das Individuum, seine Wünsche und seine Talente in den Mittelpunkt der Arbeitswelt rücken.35 New Work ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Virtualisierung von Arbeitsmitteln, Vernetzung von Personen, Flexibilisierung von Arbeitsorten, -zeiten und -inhalten.36 Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO umreißt New Work wie folgt:

Örtliche und zeitliche Flexibilisierung von Arbeit;

Agile und projektbasierte Organisationsformen;

Praktische Relevanz der Wertebasierung von Arbeit und Sinnstiftung durch Arbeit;

Veränderte Führungsstrukturen und neue Machtverteilung durch Enthierarchisierung, partizipative Entscheidungsmechanismen und Selbstorganisation.

Der letzte Punkt enthüllt bereits Konsequenzen und Probleme, die mit New Work verknüpft werden. Führungskräfte „haben weniger zu sagen“ und werden „entmachtet“