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Eigentlich wollte ich im Sommer 2013 nur zum Geburtsort meiner Oma Wally nach Bad Salzbrunn reisen. Doch dann interessierte mich, welche Verwerfungen zwei Weltkriege, der Nationalsozialismus sowie Flucht und Vertreibung in meiner Familie hinterlassen hatten. Stück für Stück konnte ich in Breslau, Danzig, Vilnius, Kischinau, Odessa und Tiraspol mein Familienpuzzle zusammenfügen. Wobei ich in Osteuropa immer wieder mit der Frage konfrontiert wurde, wie ich es als Deutsche heute mit Russland halte. Denn wie hatte es Jean-Claude Juncker bereits 2012 formuliert: Wer an Europa zweifelt, sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!
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Seitenzahl: 241
Veröffentlichungsjahr: 2023
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VORWORT
HIMMEL ÜBER SCHLESIEN
FAMILIE WIESNER
SOMMER IN DANZIG – ON THE ROAD TO FREEDOM
THEOPHIL »THEO« BUCHNA
BRETZENHEIM/NAHE – DAS FELD DES JAMMERS
WILLI UND ELLI RIEDLE
POTSDAM – ZWISCHEN SCHWEIZERHÄUSERN UND BERLINER MAUER
LITAUEN: BIS ZUR MEMEL – UND ZURÜCK
FAMILIE BIEMÜLLER
KÖLN – MEIN URURGROSSVATER WAR MAURER AUF DEM KÖLNER DOM
FAMILIE RIEDLE
AUFBRUCH NACH TRANSNISTRIEN
HANS-JOACHIM TURSKY
PRAG UND DIE GESCHICHTE VOM MANN MIT DEM PFERD
EPILOG
DANKSAGUNG
Der geografische Mittelpunkt Europas in Purnuškės (Litauen)
Eigentlich wollte ich im Sommer 2013 nur einige Tage Bad Salzbrunn anschauen, wo meine Oma Wally 1919 geboren wurde. Eigentlich. Dass daraus eine Reise in die Vergangenheit meiner Familie wurde, war nicht geplant. Acht Jahre später hatte ich nicht nur eine neue Welt kennengelernt. Denn über Breslau, Danzig, Vilnius, Chișinău oder gar Tiraspol hatten meine Großeltern, soweit ich mich erinnern kann, nie gesprochen. Obwohl es Verbindungen zu diesen Orten hinter dem »Eisernen Vorhang« gab. Als 2013 »Unsere Mütter, unsere Väter« die Schicksale von fünf jungen Menschen im Zweiten Weltkrieg thematisierte, habe ich mich gefragt, ob meine Großeltern genauso zerrissen gewesen waren. »Krieg bringt nur das Schlechteste in uns hervor«, hatte Tom Schilling als Friedhelm Winter prophezeit, als das »Unternehmen Barbarossa« begann.
Die Verbindungen meiner Familie mit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere dem Überfall auf die Sowjetunion beschränkten sich in meiner Wahrnehmung auf den Bau eines Mahnmals, das Foto eines jungen Soldaten in der Vitrine meiner Großeltern, einen grenzenlosen Respekt vor Willy Brandts Kniefall in Warschau und sporadische Besuche einer Tante aus der »Zone«. Doch nach dem Tod meiner letzten Großmutter hatte mein Vater alle Dokumente und Fotos vernichtet.
Wo also sollte ich mit der Spurensuche beginnen? »Wenden Sie sich an die Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin«, empfahl mir Viola Krause vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Sommer 2013 auf dem Hessentag in Kassel. Dort seien die militärischen Lebensläufe der deutschen Soldaten archiviert. Und Fragen zur NS-Vergangenheit von Familienangehörigen beantworte das Bundesarchiv. Durch Unterstützung im »Wehrmacht-Forum«, der Heimatsortskartei Danzig, des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes und diverser regionaler Archive konnte ich mein »Familienpuzzle« Stück für Stück kontinuierlich vervollständigen. Was nicht nur mich überraschte, sondern auch meine Mutter sowie einige Tanten und Onkel, die die Zeit von 1933 bis 1945 als Kinder erlebt hatten.
Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie weit sich Teile meiner Familie durch Krieg, Gefangenschaft oder Flucht von ihrer ursprünglichen Heimat entfernt hatten, bin ich – manchmal allein, manchmal mit Freunden – gereist. Denn die Frage, welche Spuren zwei Weltkriege, der Nationalsozialismus, Flucht und Vertreibung in unserer Familie hinterlassen haben, beschäftigte mich. Ebenso die Frage, wie ihre Entscheidungen beziehungsweise Verstrickungen mit dem »Dritten Reich« mein heutiges Leben beeinflusst haben. Doch wie sollte ich Akten, Fotos, Reportagen und Erinnerungen ordnen, um »gefühlte« Strukturen erkennbar zu machen? Reicht eine Chronologie der Reisen, die um Biografien ergänzt wird? Und was waren die Ereignisse, die mich in all den Jahren besonders betroffen gemacht hatten? Eines ist sicher die Randnotiz »Zur besonderen Verwendung« in den Wehrmachtspapieren meines Stiefgroßvaters Theo. Er war, trotz schwerster Verletzungen, bis 1944 immer wieder in die erste Reihe gestellt worden. Warum? Weil man das in der Deutschen Wehrmacht so machte? Oder weil er 1933, nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten, nicht schnell genug aus der SPD ausgetreten war?
Die Coronapandemie hat 2020 die letzte Reise nach Königsberg verhindert. Deshalb ist das Buch an dieser Stelle leider unvollendet. Doch meine Reisen hinter den »Eisernen Vorhang«, nach Polen, Litauen, in die Ukraine und die Republik Moldau bis nach Transnistrien haben bereits jetzt meinen Blick auf Europa verändert. Viele interessante Gespräche haben mein Gefühl dafür geschärft, dass ich als Deutsche für unsere besondere Geschichte Verantwortung trage. In diesem Sinne ist dies mein Beitrag »Zur besonderen Verwendung«.
Petra Tursky-Hartmann
im Sommer 2022
»Du fährst nach Polen? In den Urlaub???« »Hm, ja … meine Oma ist doch vor einem Jahr gestorben, … und da dachte ich, also wollte ich, ähm ja, mal nachschauen, wo sie geboren ist …« Es klang nicht wirklich überzeugt, mehr defensiv, als ich 2013 zum ersten Mal Freunden von meinen Ferienplänen erzählt hatte.
Darf man wieder unbefangen »Schlesien« sagen? Oder katapultiert man sich damit nicht unweigerlich in eine Ecke, in der man sich nicht verorten würde? Klingt vielleicht seltsam, aber ich hatte diesen Sommer mit meiner Reise auch »etwas zu erledigen«. Was sich beim besten Willen nicht mehr aufschieben ließ.
Alles hatte im Mai 2012 mit der Gestaltung der Traueranzeige meiner verstorbenen Großmutter väterlicherseits begonnen. Nun ja, eine Todesanzeige ist nicht wirklich der Anfang, sondern im Prinzip eher das Ende einer Reise. Aber da meine Oma auf eine preußisch geprägte Ordnung in ihrem Leben – ein Leben, das die Zeitläufte des Zweiten Weltkriegs kreuz und quer durch Deutschland geführt hatte – bestanden hatte, fühlte ich mich irgendwie verpflichtet, eine ihrem Leben würdig formulierte Anzeige zu schalten. Mit dem Nachsatz, dass wir sie gerne auf ihrem letzten Weg begleitet hätten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Mit einer Mischung aus »Chronistenpflicht« und »Ablenkung durch Beschäftigung« wollte ich die aufkeimende Trauer eingrenzen und hoffte, mit diesem »Verwaltungsakt« meinen familiären Verpflichtungen in gebotenem Maße Genüge getan zu haben.
Dachte ich.
»1919«, hatte sich Onkel Werner erinnert, »die Wally ist 1919 in Weißstein geboren. Noch vor dem Umzug nach Bad Salzbrunn«, als wir wegen der seltsamen Umstände ihrer Beerdigung telefonierten. Er ist der jüngste Bruder meiner Oma und eigentlich der Onkel meines Vaters. Aber da er nur unwesentlich älter als mein Vater ist, war er immer als »Onkel« bezeichnet worden. Werner ist in Bad Salzbrunn geboren. »Am selben Ort wie Gerhart Hauptmann«, ergänzte er stolz. Und setzte voraus, dass ich natürlich wusste, wo der deutsche Dramatiker und Schriftsteller, der 1912 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, gelebt hat.
Als sechstes von sieben Kindern ist der Onkel 1934 in der Bahnhofsstraße 8, direkt neben der Post, im Hinterhaus neben dem Garten geboren. Hinter einer wunderschönen Backsteinvilla, wo sein Vater »in der schlechten Zeit« bis zu sechzig Kaninchen gehalten hatte. Wobei das Schicksal der flauschigen Langohren in der Regel am Sonntag als Braten mit Rotkraut und »Knedeln« besiegelt wurde. Die Hasen waren damals eine willkommene Ergänzung der trotz »Hamsterfahrten« immer karger werdenden Tafel der Großfamilie am Ende der Dreißigerjahre.
Denn »das Geld reichte hinten und vorne nicht«, seufzte der Onkel. Obwohl mein Urgroßvater als Bergmann nahezu ausschließlich Nachtschichten auf »Louise Charlotte« für die »Consolidirte Fuchsgruppe« in Waldenburg schob. Als Kind hatte ich mächtig Respekt vor dem alten, hochgewachsenen, und meist sehr bedächtig wirkenden Mann gehabt. Alle in unserer Familie waren irgendwie stolz auf ihn. Wer mehr als dreißig Jahre seines Lebens unter Tage unbeschadet überstanden hat, hatte sicher auch Glück gehabt. Mit »Glück auf« hat übrigens mein späterer Chef Franz Müntefering oft gegrüßt. Das Glück, das er meinte, kannte ich.
Wałbrzych, das frühere Waldenburg, liegt etwa fünfundsechzig Kilometer südwestlich von Breslau und war bis in die Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts »das« Zentrum des niederschlesischen Steinkohlereviers. Meine Großmutter pflegte immer, wenn zum Beispiel Geburtstage anstanden, über die Anreise der weitverstreuten »Mischpoke« zu lamentieren. Und hat sich trotzdem riesig gefreut, wenn sie dann eintrafen. Aber Weißstein bzw. Biały Kamień, wie der Ort heute heißt, lag um Himmels willen wo? »Weißstein ist ein Stadtteil der Großstadt Wałbrzych in der Woiwodschaft Niederschlesien in Polen«, erklärte mir Google. Und Wikipedia ergänzte: »Die deutsche Bevölkerung wurde, soweit sie nicht schon vorher geflüchtet war, zum größten Teil vertrieben. Die neuen Bewohner waren zum Teil Heimatvertriebene aus Ostpolen.«
Vertrieben.
Ein hässliches Wort, das mich unwillkürlich zusammenzucken ließ. Weil es so penetrant nach »Frau Steinbach von der CDU« klang. Eine Frau, für deren Auftritte ich mich als Deutsche immer wieder fremdgeschämt habe. Vergiss es, dachte ich und schloss den Browser. Bei aller Liebe für die Oma, hier ist Schicht im Schacht. Mit so einem reaktionären Zeug wollte ich nichts zu schaffen haben. Wobei meine Oma das Wort »vertrieben« meiner Erinnerung nach nie benutzt hatte. Es existierte nicht in ihrem Sprachschatz, zumindest nicht gegenüber uns Enkeln und ihren Urenkeln. Das Gleiche gilt rückblickend für meinen Stiefgroßvater Theo, der als Kriegsversehrter mit einem Holzbein von der Ostfront zurückgekehrt war. Er hatte sich in der noch jungen Bundesrepublik für den VdK engagiert. Und für die Sozialdemokratie. In Rheinland-Pfalz, wo damals traditionell CDU gewählt wurde. Meine Großeltern verehrten Willy Brandt und »den Onkel«. Womit sie damit nicht den kleinen Bruder meiner Oma, sondern Herbert Wehner meinten. Der damalige Bundeskanzler mit seinem Kniefall in Warschau war die Ikone in unserem provinziellen Familienkosmos. Und rangierte noch weit vor der umfangreichen Sammeltassensammlung und den handgeschnitzten Engelsfiguren aus dem Erzgebirge, die meiner Oma in der Vitrine ihres Wohnzimmerschranks absolut heilig gewesen waren. Nachdenklich hatte ich damals den PC ausgeschaltet und versucht, die Vergangenheit aus meinem Kopf zu verbannen. Dann rief der Onkel wieder an. Und bedankte sich überschwänglich für ihre Todesanzeige. »Die hätte deiner Oma gut gefallen«, äußerte er im Brustton der Überzeugung. Und ergänzte dann ungefragt: »Ohne die Wally wären wir damals nicht in den Zug gekommen.«
Damals.
Damals, das war diese Geschichte vom Februar 1945, die meine Oma eher beiläufig erzählt hatte, als sie einen ausgesetzten Spitz von der Straße mit nach Hause gebracht und »Lumpi« getauft hatte. Natürlich mussten für das Hündchen umgehend ein Halsband und eine Leine gekauft werden. Und dann sagte sie so en passant, damals, auf dem Bahnsteig in Prag, habe sie meinen Vater aus Angst, dass sie ihn zwischen den Tausenden von umherirrenden Flüchtlingen und den schrecklichen Bombenangriffen verliert, angeleint. Ich murmelte ein »das mit dem Zug hat die Oma schon mal erzählt« in den Hörer. Doch von dem Moment an war ich mit dem Verdrängen der Geschichte so erfolgreich wie dem Ignorieren von Zahnschmerz. Oder dem Abstreiten von Wehen. Um es kurz zu machen, es war ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. »Es ist so schön dort«, hatte der Onkel zum Abschied am Telefon geschwärmt. »Fahr doch mal hin, das hätt‘ die Wally sicher gefreut!«
»Sorry, aber da hast du absolut nix verloren«, pochte es in meinem Kopf. »Ach komm, wir können doch mal unverbindlich bei Google Street View kucken, wie es dort aussieht«, lockte eine andere Stimme. Der amerikanische Technologieriese hatte ja super Vorarbeit geleistet, da er weite Teile Polens bereits 2012 virtuell im Internet annektiert hatte. Mit ziemlich gemischten Gefühlen brach ich also an einem Ostersamstag im April 2013 heimlich zur ersten digitalen Erkundungsfahrt in die alte Heimat meiner Oma auf.
Das ehemalige Steinkohlenbergwerk »Julia« in Weißstein/Biały Kamień
»Der Vater ist immer mit der Straßenbahn zur Arbeit gefahren. Und der Walter hat im ‚Schlesischen Hof‘ ja schon als Koch gearbeitet, bevor Generalfeldmarschall Schörner das Grandhotel zu seinem Hauptquartier erkoren hatte«, erinnerte sich der Onkel. Walter war eines der sieben Kinder meines Urgroßvaters. Bernhard, der Erstgeborene, war Oberfeldwebel der Wehrmacht und mit seiner Kavallerieeinheit in Fürstenwalde bei Berlin stationiert. »Weit weg vom Vater«, hatte sich der Onkel eher zögerlich erinnert. Denn der alte Herr hatte die Angewohnheit, im Zweiten Weltkrieg die von Emma belegten Brote in der Nachtschicht unter Tage mit russischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern zu teilen. Bis er wegen »Wehrkraftzersetzung« beim Ortsgruppenleiter von Bad Salzbrunn angeschwärzt wurde. Mit seinem ehrlosen Verhalten »gegen Führer, Pflicht und Vaterland« gefährde er nicht nur die Karriere seines Sohnes, so der Vorwurf, bevor er mit Lebensmittelkürzungen und Gefängnis bedroht wurde. Der eine in der Familie verpflegt die Russen, der andere erschießt sie, dachte ich damals seltsam berührt. Doch der Konflikt zwischen Vater und Sohn hat nicht ein Parteibonze der Nazis, sondern ein Soldat der Roten Armee 1945 auf dem Rückzug nach Berlin mit einem Lungendurchschuss entschieden.
Ende April 2013 war klar, dass ich zu einem unaufschiebbaren Termin ins Krankenhaus »einrücken« musste. Um mich abzulenken, surfte ich in den Nächten davor wieder ziellos durch Schlesien. Und irgendwo zwischen den Seiten war eine Werbeanzeige vom »Europa Sommer Special« der Deutschen Bahn geschaltet. Wrocław (das frühere Breslau) – eine Stadt, von der meine Oma mit glänzenden Augen geschwärmt hatte, stand auf der Liste der vergünstigten Zielorte. 49 Euro für die Fahrt von Frankfurt nach Breslau in der 1. Klasse. Bisschen dekadent, dachte ich. Meine Oma hatte es im Februar 1945 bei minus zwanzig Grad in den Zügen der Deutschen Reichsbahn weniger komfortabel gehabt. Dass meine Reise wegen unterspülter Gleise in Sachsen-Anhalt noch kurzfristig über Dresden umgebucht werden musste, nahm ich gelassen hin. Seit 1945 war so viel Zeit vergangen, da kam es jetzt auf ein oder zwei oder drei Stunden Verspätung auch nicht mehr an. Breslau ist übrigens gefühlt viel weiter von Frankfurt entfernt als es dann de facto der Fall war. Das war mein erster Gedanke, als mich der völlig überfüllte Regionalexpress, der täglich zwischen Dresden und »Wrocław Glowny« pendelt, mit polnischen Großfamilien, einem tobenden Kleinkind inklusive dazugehörigem Buggy plus unzähliger Persil- und Pamperskartons am Bahnsteig ausspuckte.
Es dauerte keine zwanzig Meter die Piłsudzkiego (ehemals Gartenstraße) hinauf, und ich fühlte mich angekommen. Breslau würde ich atmosphärisch irgendwo zwischen Berlin und Wien verorten. Also fünf Sterne auf meiner inneren sympathisch morbid angehauchten Beliebtheitsskala. Wobei ich nicht einmal zwei der drei Sterne – mit denen es ausgezeichnet war – an das »Hotel Polonia« vergeben würde. Es hat mich weniger gestört, dass das ehemalige »Vier Jahreszeiten« schon mächtig in die Jahre gekommen war. Was nicht allein am ächzenden Eisenaufzug ohne Türen lag. Und nein, auch für die ehemals rot-goldene Samttapete im engen, dafür aber umso höheren Flur würde ich mich sicher noch erwärmen können. Denn der Patina-Look ließ zumindest erahnen, wie es um das ehemalige Grandhotel in der Weimarer Republik bestellt gewesen sein muss. Damals, als der elitäre, am englischen Stil ausgerichtete »Schlesische Klub” im ersten Stock residierte.
Frühstück im ehemaligen Hotel »Vier Jahreszeiten«
Was ich jedoch seit meiner Flugbegleiterzeit partout nicht leiden kann, sind zerschlissene Orientteppiche, die kreuz und quer die Stufen der einzig brauchbaren Fluchttreppe vor meinem Zimmer im dritten Stock blockierten. Plus ein Hinterhof, der so verwinkelt war, dass da keine Feuerwehr der Welt mit einer Drehleiter bis hier oben auch nur ansatzweise hineinkam. Im Innenhof sind übrigens bis heute die Folgen des Generalumbaus des Hotels zu besichtigen, die ein gewisser Otto Schenderlein dem Haus im Geiste seines Führers hat angedeihen lassen. Denn da Hitler ein eklektisches Verhältnis zum Barock hatte, ist der zauberhafte Stuck der Jahrhundertwende nach 1939 gnadenlos einer verkrampften Monumentalität geopfert worden.
Die polnische Stadt an der Oder hat sich in den vergangenen Jahren auf den Weg gemacht, 2016 als Kulturhauptstadt Europas zu repräsentieren. Allein die beeindruckenden Bürgerhäuser am Marktplatz, dem »Rynek«, die wiederauferstandene Oper und die famose Aula der Leopoldina Universität sind für sich schon eine Reise in die viertgrößte Stadt Polens wert gewesen. Als das spätgotische Rathaus, Wahrzeichen und politischer Mittelpunkt der Woiwodschaft Niederschlesien, in der Abendsonne strahlt und funkelt, fühle ich mich spontan an meine Heimatstadt und den Frankfurter Römerberg erinnert. Beide Städte haben gemeinsam, wichtige mittelalterliche Handelsplätze gewesen zu sein.
Der »Rynek« ist vergleichbar Frankfurts »Gudd Stubb«, allerdings nicht ganz so eng und kuschelig. Als Frau Bebel bei unserer Stadtführung am nächsten Tag einräumt, dass die Fassaden der Bürgerhäuser an der Südseite des Marktplatzes »pseudohistorisch« nachgebaut wurden, umspielen meine Mundwinkel ein verständnisvolles Lächeln. Frankfurter kennen die Probleme rekonstruierter Häuser wie zum Beispiel des »Großen Engels« an der Ostzeile des Römerbergs. Schade, dass Breslau mit Wiesbaden eine Städtepartnerschaft eingegangen ist. Nichts gegen unsere hessische Landeshauptstadt, möge den Nassauern am Rhein vieles vergönnt sein. Aber im Schweidnitzer Keller könnte man mit Piroggi und polnischem Bier, Grüner Soße und Äppler auf jeden Fall eine formidable Main-Oder-Freundschaft besiegeln. Was Breslau allerdings gravierend von Frankfurt unterscheidet, sind seine Zwerge.
Die kleinen Gnome aus Bronze sind ein Überbleibsel der »Alternative in Orange«, die sich in den Achtzigerjahren an der Solidarność-Bewegung beteiligt hatte. Ein weiteres Symbol für den Umbruch vom Kommunismus zur Demokratie kreuzt an der Józefa Pilsudskiego meinen Weg. Hier verschwinden in Bronze gegossene Figuren auf der einen Straßenseite im Untergrund und kehren auf der gegenüberliegenden Seite wieder ins pulsierende Leben zurück. Die Installation von Jerzy Kalina »Przejście 1977– 2005« erinnert an die Zeit, als politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger vor der Staatssicherheit untertauchen mussten.
»Breslau hat eine sehr bewegte Geschichte«, eröffnet Frau Bebel unsere dreistündige Stadtführung vor dem Denkmal von Aleksander Graf Fredo, dem polnischen Molière. Wir, das sind acht Deutsche. Beim Blick in die Runde beschleicht mich jedoch schnell das Gefühl, dass ich den Altersschnitt der Fußgruppe deutlich senke. Wobei Breslau mit über 140.000 Studierenden bei 630.000 Einwohnern eine ausgesprochen junge Stadt ist. Frau Bebel interessiert, woher wir kommen. »Görlitz.« »Dresden.« »Magdeburg.« Ich bin als Letzte dran. »Frankfurt«, sage ich und schiebe zögerlich »am Main« nach und ernte erstaunte Blicke. Über den Rathausvorplatz mit seinem Pranger nur für Männer, am Naschmarkt und den Häusern von Hänsel und Gretel vorbei, pilgern wir dann durch die Altstadt Richtung Tumski-Brücke und Dominsel. Im Schatten der St.-Elisabeth-Kirche passieren wir das »Denkmal zu Ehren von Schlachttieren«. Trotz des Verbots haben hier im Viertel die Metzger im 13. Jahrhundert ihre Schlachtereien über den Wohnungen errichtet. Frau Bebel umschreibt die Zustände pittoresk mit Begriffen, die ich mit »zivilem Ungehorsam« assoziiere. Und fühle, dass mir die Polen zunehmend sympathischer werden.
Auf den Steinstufen der weltberühmten Aula der Leopoldina erzähle ich ihr, dass mein Urgroßvater von 1918 bis 1945 in den Waldenburger Kohlezechen gearbeitet hat. Und ich das erste Mal zum Geburtsort meiner verstorbenen Oma reise. »Entschuldigen Sie«, unterbricht uns die Frau aus Dresden mit klassisch sächsischem Akzent, »ich suche diese Straße«, und wedelt mit einem Stück Papier ungehalten in der Luft herum. »Leider ist hier alles auf Polnisch.« Das Lächeln unserer Stadtführerin bleibt entwaffnend freundlich. »Ja«, nickt sie verständnisvoll, sie kenne das. »Wir hatten hier nach dem Ende des Kommunismus auch Umbenennungen.« Galant die Klippe umschifft, denke ich amüsiert. Und seufze vernehmbar, weil offensichtlich für einige immer noch das Leben zwischen 1933 und 1945 stehengeblieben ist. Ist es nicht ein deutsches Problem, dass die Straßen in Breslau heute andere Namen haben? Und dass es so ist, ist sicher nicht die Schuld der Polen, oder? Denn die haben ja das Schlachthaus, das die Deutschen hinter Oder und Neiße hinterlassen hatten, wieder aufgeräumt.
Mit der Straßenbahn geht es am Nachmittag über die »Ślężna« Richtung Süd-Osten zum Alten Jüdischen Friedhof, um Ferdinand Lassalle einen Besuch abzustatten. Immerhin hat er vor mehr als 150 Jahren den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« gegründet, aus dem meine Partei hervorgegangen ist. Und da die SPD den runden Geburtstag zum Anlass nimmt, mal wieder die ganze Geschichte zu feiern, habe ich beschlossen, ihm ein Steinchen auf die schwarze Grabplatte zu legen. Als Dank für seinen Mut, für alle Deutschen das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu fordern. Und grübele auf dem frisch geharkten Kiesweg, was aus der Sozialdemokratie geworden wäre, wenn er das Duell um Helene von Dönniges gewonnen hätte.
Ein Vogel zwitschert leise im üppigen Grün des Friedhofs. Zwischen überwucherten Grabsteinen und einfachen Stelen, die sich mit von steinernen Rosen umrankten Sarkophagen und prunkvollen Grabstätten abwechseln, gaukelt ein weißer Schmetterling sanft hin und her. Ich folge dem Falter, der ziellos zwischen Grabsteinen von Schriftstellern, Bankinhabern, Unternehmern, hochrangigen Beamten und Gefallenen des Ersten Weltkriegs umherschwebt. Galt der Schmetterling in der Antike nicht als Sinnbild für Wiedergeburt und Unsterblichkeit?
Der Alte Jüdische Friedhof in Breslau
Zwischen hebräischen und deutschen Inschriften fühle ich mich plötzlich wie ein Wanderer zwischen den Welten. »Eine Rose gebrochen – ehe der Sturm sie entblättert«, die im Jugendstil gehaltene Grabinschrift erinnert an eine Frau, die nur dreiundzwanzig Jahre alt wurde. Verschnörkelte Säulen im Schatten riesiger Buchen und Kastanien wechseln sich mit einfachen Mazewas ab. Einzelne, gebrochene Bäume aus Stein stehen sinnbildlich für einen viel zu frühen tragischen Tod. »In der Jugend schönste Hoffnungen erweckend, wurde er später zum Schmerze der Seinen. Von einem Traumleben umfangen, dass ein sanfter Tod endete«, beschreibt einfühlsam in goldenen Lettern auf schwarzem Granit das Leben eines Mannes, von dem sich seine Familie 1920 verabschiedet hatte. Inschrift um Inschrift lese ich mich in die Vergangenheit. Ein Friedhof als in Stein gemeißeltes Poesiealbum. Nur eben nicht mit Wünschen für die Zukunft, sondern mit Erinnerungen gelebter Leben. 1850, 1900, 1939. Immer wieder 1939. Jahreszahlen wie im Klassenbuch. Dann haben die Deutschen das Heft zugeklappt. Es gab keine Nachgeborenen mehr, die man beerdigen konnte. Der Holocaust hat auch das Schicksal des Pantheons der Breslauer Juden besiegelt. Der Schmetterling flattert weiter, um herabgefallene Grabsteinplatten an der meterhohen Umfriedung des Alten Jüdischen Friedhofs herum und entschwindet plötzlich im Gegenlicht. Bestürzt blinzele in die untergehende Abendsonne und verspüre einen dicken Kloß im Hals.
Am nächsten Tag hat der Regionalexpress nach Wałbrzych (Waldenburg) Verspätung. Da ich nicht zur Arbeit muss, nehme ich es mehr als gelassen hin. Ist eh nicht zu ändern, denke ich. Das putzige Abteil in der zweiten Klasse erinnert mich an meine Schulzeit, als ich jeden Morgen mit der Bahn in die Kreisstadt zum Unterricht fuhr. Tiefe Polstersitze auf dicken Sprungfedern – darauf ließ sich schon als Kind prima hüpfen –, taubenblaue Vorhänge aus Synthetik und zwei karamellfarbene Resopalbrettchen fürs Frühstück am Fenster wirken wie eine aus der Zeit gefallene Puppenstube. Das Fenster klemmt ausnahmsweise nicht, und ich genieße den warmen Fahrtwind im Gesicht. Willkommen zur Reise in die Vergangenheit.
Bei Jaworzyna Śląska (Königszelt) passiert die Diesellok pfeifend das örtliche Lokomotivmuseum (www.muzeumtechniki.pl). Rund einhundertzwanzig Dampfloks und Waggons mit einer Ausstellung über die Rolle der Reichsbahn auf das Schicksal der Vertriebenen sind direkt neben unserem Gleis geparkt. Das Museum hatte vor Jahren ein Patenschaftsprogramm übers Internet gestartet, um die majestätischen Stahlrösser aus ihrem Dornröschenschlaf aufzuwecken. Die übermächtigen schwarzen Riesen flößen mir nicht nur Respekt ein. Sondern wecken auch eine unterschwellige Ambivalenz, die vermutlich meine Oma und meine Mutter aufgrund ihrer Erfahrungen mit Bahnfahrten unter Bombenangriffen auf mich übertragen haben.
Seit 1853 verbindet der Eisenbahnanschluss Wa brzych, das zwischen Riesen- und Eulengebirge im Waldenburger Bergland liegt, mit Breslau. Ab 1898 hat die Waldenburger Kreisbahn die schlesische Kreisstadt mit den umliegenden Steinkohlezechen, Spinnereien und Porzellanfabriken verbunden. Die Straßenbahn brachte meinen Urgroßvater sechs Tage die Woche zur Arbeit in die Stollen. In den Sechzigerjahren wurden der Bahnbetrieb eingestellt und 1996 die Zechen geschlossen. Dreißig Prozent der 130.000 Einwohner sind damals in die Arbeitslosigkeit entlassen worden. Erst seit 2007 entbietet ein Denkmal aus weißen Stelen an der »Aleja Wyzwolenia« den »Söhnen der Waldenburger Erde« für vierhundert Jahre Industriegeschichte einen letzten Gruß.
So schnell will Frau Buniewicz im Waldenburger Tourismusbüro sich nicht geschlagen geben. Fast eine halbe Stunde sucht sie im Netz nach historischen Dokumenten über die Zeche, wo mein Urgroßvater gearbeitet hat. Wir verständigen uns in Englisch, das klappt super. Das Foto meiner Urgroßeltern, das anlässlich ihrer Goldenen Hochzeit im August 1963 in der »Allgemeinen Zeitung« mit Glückwünschen der örtlichen Honoratioren veröffentlicht worden ist, hat ihr ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Okay, ich komme spät, gestehe ich der jungen Frau. Vielleicht zu spät, da die Zechen mittlerweile alle dicht sind. Doch Zeit ist im Tourismusbüro von Waldenburg in der »Biblioteka« am mit roten Geranien gesäumten und frisch gefegten Marktplatz ein ausgesprochen relativer Begriff. Der Onkel hatte sich vage erinnert, dass der Vater bis zur Einberufung in den Volkssturm »auf Louise« gearbeitet habe. Die Russen haben ihn 1945 als Zwangsarbeiter in den Uranbergbau ins Erzgebirge geschickt. Als sich 1948 seine Geschichte mit den Butterbroten für die Kriegsgefangenen herumgesprochen hatte, konnte der alte Mann nach Hause gehen. Wobei »nach Hause« damals relativ war, denn seine Frau mit ihren Töchtern und Enkeln war nach der Flucht in Furth im Wald in Bayern gestrandet. Sie findet in der Waldenburger Flözkarte von 1905 eine Grube mit dem Namen »Louise Charlotte«, die damals der »Consolidirte Fuchsgrube« gehörte. In einer späteren Karte ist der Name »Louise« getilgt. Ich erinnere mich, dass die jüngere Schwester meiner Oma, die eigentlich Charlotte hieß, immer »Lotte« gerufen wurde. Ist das die Verbindung in die Vergangenheit? Oder hat der Onkel den »Lisia sztolnia« gemeint? Ich bin verunsichert. Doch Frau Buniewicz motiviert mich, nicht zu schnell aufzugeben. Sie mailt mir die Links zu den Karten der stillgelegten Bergwerkschächte auf mein Handy und wünscht mir für meine weitere Reise viel Glück.
Steinkohlerevier von Waldenburg © TW40-Dolny.slask.org.pl
Ich will in der Bibliothek des »Muzeum Przemysłu i Techniki« (Museum für Industrie und Technik), das die fünfhundertjährige Geschichte des Bergbaus im Sudetenland beherbergt, weitersuchen. Weit über Waldenburg hinaus flimmern die beiden Fördertürme »Julia« und »Sobótka«, die Teil des Museums sind, in der flirrenden Sonne vor grauen Kumuluswolken am Horizont. Ich schöpfe neue Hoffnung. Die kurze Zeit später ein junger Mann mit langem Zopf, Kappe und martialisch tätowierten Armen am Eingangstor der stillgelegten Fuchs-Zeche unbeeindruckt beerdigt. Das Museum habe geschlossen. Wegen Umbau. Morgen und übermorgen auch. Also eigentlich bis ins nächste Jahr. Wir verhandeln in Englisch – hier spricht offensichtlich niemand unter fünfzig Deutsch –, ich zeige ihm das Foto meines Urgroßvaters, bevor ich eine Charmeoffensive starte. Doch alles umsonst. Der Wachmann bleibt so unbeeindruckt wie der Security-Chef, der die VIP-Betreuung von Till Lindemann in Wacken verantwortet. Tausend Kilometer mit der Bahn aus Deutschland gekommen? Selbst wenn ich vom Mond angereist wäre, wäre es ihm egal gewesen. Ich soll nächsten Sommer wiederkommen, rät er mir achselzuckend und stapft ins Wächterhäuschen hinterm Schlagbaum. Einfach mal im Internet gucken, ruft er mir noch zu, wann das Museum wieder öffnet. Guter Rat, denke ich, denn im Internet steht nicht, dass die Zeche wegen Umbau geschlossen ist. Aber auf den Tourismusseiten von Waldenburg wird ja auch noch das Hotel »Sudety«, das kurz vorm Abriss steht, zur Übernachtung empfohlen.
Polen wäre nicht Polen, wenn sich für mein Problem keine Lösung fände. Irgendwas ging mit meiner Mischpoke doch auch immer. Also trabe ich unbeirrt am Zaun entlang und stelle zufrieden fest, dass Kabeldiebe nicht nur in Hessen ihr Unwesen treiben. Je mehr ich mich durch hüfthohes Grün den Werkhallen nähere, umso dramatischer wirkt der Verfall der Zeche. Die Natur erobert sich erbarmungslos die verlassene Anlage zurück. Als ich zum Fotografieren über eine verrostete Turbine klettere, flüchtet ein Rudel erschreckter Heuschrecken ins Gras. Und über meinem Kopf steigt zornig pfeifend ein erboster Mauersegler ins wolkige Blau. Zwei weiße Falter gaukeln um mich herum.
Ich will die Karte von Frau Buniewicz im Handy aufrufen, doch der Empfang hier im Nirgendwo von Südschlesien erweist sich als ausbaufähig. Wie lange würde es wohl dauern, bis mich jemand hier unten in den Gruben einer stillgelegten Zeche kurz vor der polnisch-tschechischen Grenze suchen würde?
Als ich mein Zimmer im Hotel »Maria Helena« in Szczawno-Zdrój (Bad Salzbrunn) übers Internet gebucht habe, wusste ich noch nicht, dass meine Familie bis 1945 hinter der nächsten Straßenbiegung in der Bahnhofstraße 8 im Gartenhaus gelebt hatte. Die rote Backsteinvilla mit ihrer großen Freitreppe in den vorderen Garten hat mit Geranien und Vergissmeinnicht offensichtlich alle Zeitläufte unbeschadet überstanden. Auch die Post neben der Villa ist immer noch in Betrieb. Nur das Hinterhaus mit den Kaninchenställen meines Urgroßvaters ist zwei modernen Einfamilienhäusern gewichen. Klingt vielleicht seltsam, aber ich finde keinen Bezug zu diesem Ort. Muss auch nicht sein, denke ich und überquere gut gelaunt die Straße Richtung »Schlesischer Hof«.
Das ehemalige Hotel »Schlesischer Hof« in Bad Salzbrunn
Das ehemalige Grandhotel wurde von 1909 bis 1911 von Graf Hans Heinrich XV. von Hochberg, dem dritten Fürsten von Pleß, und seiner Frau Daisy, errichtet. Heute beherbergt der imposante Bau ein Sanatorium. Das »Dom Zdrojowy« scheint ausgebucht zu sein, denn an nahezu allen Balkonen flattern die bunten Handtücher der Kurgäste. Eine schwere Holzdrehtür befördert mich quietschend ins letzte Jahrhundert. Die prachtvolle Eingangshalle, Stuck, Marmorkamine, bis an die Decke reichende Spiegel und ein riesiger Kristallleuchter aus der Jugendstilzeit lassen eine längst vergangene Zeit wieder aufleben.
Über einen purpurroten, leicht abgewetzten Teppich voll stilisierter Lilien, dessen tiefer Flausch jeden Schritt schluckt, schreite ich durch weit geöffnete Flügeltüren in den Garten. Hier also hat sich die wilhelminische Gesellschaft nach dem Golfspiel zum Tee getroffen. Verloren stehe ich auf einer menschenleeren Terrasse. Zwei Gärtner rechen im Park frisch gemähtes Gras. Eigentlich ein Idyll. Eigentlich. Wenn da nicht die braunen Flecken wären. Und damit meine ich nicht die sichtbaren, die das Regenwasser hier und da im ockerfarbenen Putz hinterlassen hat. »Sanatorium Göringa« steht als Bezeichnung für die Zeit bis 1945 auf der in Polnisch verfassten Tafel im Seitenflur zum Frühstücksraum. In den »Hidden Places« im Internet ranken sich unglaubliche Mythen um den »Schlesischen Hof«. Fakt ist jedoch, dass in diesem Haus Hitlers Wehrmachtsgeneräle bis zur Flucht vor der Roten Armee am 12. Februar 1945 fürstlich residiert haben. Zwischen den Seitenflügeln der Kurklinik soll sich noch heute ein geheimer Bunker unter dem Park befinden. Denn als sich der Luftkrieg 1943 zuspitzte, hatte man in Berlin nach einem Ausweichquartier für den Führer zu suchen begonnen. In die Planungen wurde auch »Zamek Książ«, das acht Kilometer von Bad Salzbrunn entfernte Schloss Fürstenstein der Familie Pleß, einbezogen. Und zur Realisierung eines gigantischen unterirdischen Bauvorhabens über zwanzigtausend der 125.000 Häftlinge des nahe gelegenen KZs Groß-Rosen in ein Außenlager verschleppt. Arbeit machte damals ja bekanntlich »frei«. Die letzten Überlebenden der deutschen Mordmaschinerie hat dann die Rote Armee befreit.
Auf den Stufen des »Dom Zdrojowy« wirkt die Parklandschaft siebzig Jahre danach unglaublich friedlich. Heilt Zeit wirklich alle Wunden? Ich lasse