Zur Strafe wirst du mich heiraten - Anni Lechner - E-Book

Zur Strafe wirst du mich heiraten E-Book

Anni Lechner

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Beschreibung

Die Modedesignerin Judith Pallhuber kehrt in ihr Heimatdorf Erlkofen zurück und eröffnet dort einen modernen Trachtenladen. Damit ist sie jedoch der Trachtenmodekette Singer ein Dorn im Auge, da sie dem großen Modehaus die beste Geschäftslage vor der Nase weggeschnappt hat. Auch in der Nachbarschaft ist sie nicht gerne gesehen, gibt es doch noch einen alten Konflikt von früher zu lösen. Wird Judith den Anfeindungen der Konkurrenz trotzen können? Und wird sie mit ihrer Vergangenheit ins Reine kommen? Dieser und die zwei weiteren spannenden Romane „Bauer für ein Jahr“ und „Ich war eure Magd“ sind in diesem Buch enthalten.

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Seitenzahl: 346

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Anni Lechner

Zur Strafe wirst du mich heiraten

Bauer für ein Jahr

Ich war eure Magd

Anni Lechner: Band 24, Zur Strafe wirst du mich heiraten ... und zwei weitere spannende Romane

Copyright © by Anni Lechner

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf.

Überarbeitete Neuausgabe © 2017 by Open Publishing Verlag

Covergestaltung: Open Publishing GmbH – Mathias Beeh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

eBook-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95912-233-7

Zu Strafe wirst du mich heiraten

Die Musik endete mit einem letzten, sanften Akkord und ließ Helga Wiesner mit ihren Träumen allein. Nur allmählich und ein wenig mühsam kehrten ihre Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. Sie sah wie ein staunendes Kind um sich, so als wenn sie ihre Umgebung zum ersten Mal sehen würde. Und doch war ihr das große Wohnzimmer mit seinen gediegenen Möbeln aus Nussbaumholz ebenso vertraut wie der gläserne Tisch mit seiner, von einem Bronzekrokodil getragenen Platte. Helgas Ehemann Anton saß über einigen Papieren gebeugt am Tisch und drehte, als er ihre Bewegungen sah, den Kopf zu ihr her.

»Hast du ein bisserl geschlafen, Schatzerl?«, fragte er sanft. Helga nickte, denn sie wusste selbst nicht, ob sie nun wirklich geträumt oder ob ihr nur die Fantasie einen Streich gespielt hatte. Sie hatte sich in Venedig gewähnt, inmitten von flatternden Tauben auf der Piazza San Marco und hatte über die Scherze ihres Begleiters gelacht. Es war jetzt schon sechs Jahre her, seit sie die Lagunenstadt besucht hatte, aber nicht mit ihrem jetzigen Ehemann Toni, sondern mit dem stets lustigen und zu allen Streichen aufgelegten Bernd Felix. Sie war damals rasend in diesen Burschen verliebt gewesen, doch dieses Gefühl hatte nicht lange anhalten. Genervt von Bernds notorischer Unzuverlässigkeit hatte sie wenige Monate danach mit ihm Schluss gemacht und Tonis Antrag angenommen.

Der junge Bauernsohn war so erdverbunden und so verlässlich, wie sie es sich nur wünschen konnte. Er besaß zwar nicht die Gabe, sie alle Augenblicke zum Lachen zu bringen, wie es Bernd stets gelungen war. Aber er wusste wenigstens, wann seine Lieblingspizzeria Ruhetag hatte und schleppte sie nicht hungrig durch die Gegend, um sie dann doch nur in das nächstbeste Restaurant zu führen. Auch die gemeinsame Zeche hatte sie bei Toni noch nicht zahlen müssen, was bei Bernd früher mehr als einmal der Fall gewesen war.

Es war das erste Mal seit Jahren, dass Helga wieder an die gemeinsamen Ausflüge mit Bernd dachte. Die Melodie des letzten Liedes, das der CD-Player gespielt hatte, schwang in ihrem Herzen nach und erzeugte eine seltsame Stimmung ihr. Sie spürte, wie sich die Schleusen für all die unterdrückten Gefühle, die sie schon seit Längerem plagten, die sie sich jedoch bisher nicht eingestanden hatte, öffneten. Wie gern würde sie wieder einmal etwas anderes sehen als den Hof hier in Hannetsried und ihr Heimatstädtchen Erlkofen. Helga verspürte plötzlich eine Sehnsucht nach Palmen und Meer und nach dem warmen Wind, der die Haut liebkoste. Sie hätte auch gern wieder etwas anderes gegessen als den sattsam gewohnten Schweinebraten mit Knödeln. Ihr Gaumen träumte von Gerichten wie Meeresfrüchten und Paella, zu denen kühler Sangria oder Vino tinto gereicht wurden.

Anton hatte ihr schon mehrmals versprochen, mit ihr nach Gran Canaria oder an die Costa de la Luz zu fliegen. Beim letzten Mal waren sie sich sogar schon mit dem Nachbarn Sinnhuber darüber einig geworden, dass dieser während ihrer Abwesenheit die Tiere versorgte. Helga hatte für den Urlaub eh eine Zeit gewählt, wo auf dem Bauernhof am wenigsten Arbeit anfiel, denn Gran Canaria war auch Ende November schön. Doch dann hatte sie entdeckt, dass sie schwanger war, und von dem Augenblick an war mit Toni nicht mehr zu reden gewesen. Er hatte sie in Watte gepackt und umhegt, ihren Wunsch nach einer Luftveränderung jedoch mit Ausdauer ignoriert.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ihr Schwiegervater nicht durch einen Unfall aus dieser Welt gerissen worden wäre. Bis zu jenem Tag hatte sich ihr Toni trotz kleinerer Schwächen, die sie ihm gerne nachsah, den Schwung seiner Jugend bewahrt gehabt. Der frühe Tod seines Vaters und die plötzliche Verantwortung für den Hof hatten ihn jedoch in wenigen Wochen weit über seine Jahre hinaus reifen lassen. Was für einen Wein jedoch gut sein mochte, führte bei einem Mann leicht zu Gewöhnung und Bequemlichkeit. Bei Toni bedeutete dies nicht Faulheit, denn er war bei seiner Arbeit fleißiger als sonst einer. Aber er war zufrieden mit seinem Leben und dem, was er daraus gemacht hatte und besaß wenig Verständnis für ihren Wunsch, die eingefahrenen Gleise verlassen zu wollen.

Helga schämte sich ein wenig ihrer eigenen Gedanken, doch sie konnte den schönen Seiten ihrer Erinnerung nicht entkommen. Bei Bernd hatte sie zwar nie sicher sein können, ob er genug Geld in der Tasche und genug Benzin im Tank hatte. Doch wenn sie einen Wunsch äußerte, hatte er die Wagentür geöffnet und ‘Auf geht’s!’ gerufen. Doch Bernd Felix weilte nun schon seit Jahren in der Ferne. Helga wusste von ihm nur, dass er jetzt mit Judith zusammen war, der besten Freundin ihrer Jugendjahre. Diese hatte die Kleinstadt Erlkofen schon vor Langem verlassen und ließ außer gelegentlichen Kartengrüßen wenig von sich hören. Für einige Augenblicke beneidete Helga ihre Freundin glühend, die so herrlich unkompliziert und fröhlich dem Leben trotzte. Warum nur bin ich so frustriert und unzufrieden, fragte sie sich in Gedanken und schaute ihren Mann nachdenklich an.

Anton Wiesner hatte sich, nachdem er von seiner Frau keine Antwort erhielt, wieder seinen Papieren zugewandt und rechnete eine Liste nach. Er sieht doch noch immer sehr gut aus, dachte Helga. Seine schlanke, fast ein wenig zur Hagerkeit neigende Gestalt strotzte vor Kraft, und sein schmales, rassiges Gesicht mit den grauen Falkenaugen ließ ihr Herz noch immer schneller schlagen. Helga spürte, wie ihr Unmut schwand und der Sehnsucht nach ihrem Mann Platz machte. Sie stand geschmeidig auf, trat hinter ihn und lehnte ihr Gesicht auf seinen Hinterkopf. Ihre Hände glitten dabei zärtlich über seine Oberarme und seinen Brustkorb.

»Ich hab dich lieb!«, flüsterte sie mit leiser, sehnender Stimme. Anton sah lächelnd zu ihr auf und strich über ihre Hände.

»Ich mag dich auch mehr als alles andere auf der Welt, Schatzerl!«, antwortete er. Seiner Stimme fehlte aber ein wenig das Feuer, das Helga so gerne darin hören wollte. Sie gab ihm einen scherzhaften Knuff und knabberte mit ihren Zähnen an seinem Ohr. Nimm mich ganz fest in die Arme, flehte ihr Blick. Sein Blick hingegen fiel auf die Uhr.

»Es ist schon zehn Uhr vorbei, Schatzerl. Der Tonerl wird Hunger haben!«, sagte er. Irrte sie sich oder klang in seiner Stimme wirklich ein leichter Tadel durch, weil sie die Stillzeit des Babys um ein paar Minuten versäumt hatte?

»Ich fütter den Tonerl gleich, Toni. Danach geh ich ins Bett. Kommst du nach?«

»Ja ja, ich rechne bloß noch die blöde Liste zusammen. Ich will die Woch noch ins Amt, da muss sie fertig sein!« Toni verabschiedete sie mit einem Klaps auf ihr Gesäß. Helga hätte ihn am liebsten gleich mit ins Schlafzimmer genommen. Doch genau in dem Moment forderte das Baby lauthals schreiend ihre Aufmerksamkeit. Sie eilte ins Schlafzimmer und hob das Baby aus der Wiege. Mit einem Arm schaukelte sie den Jungen und knöpfte mit der anderen Hand die Bluse auf. Tonerls Gebrüll ebbte ab und wich einem zufriedenen Glucksen, als er das Ziel seiner Sehnsucht vor sich sah. Während Helga den Jungen stillte, fiel ihr Blick auf den großen Spiegel am Schlafzimmerschrank. Sie spürte plötzlich den Wunsch, sich selbst anzusehen und trat, das Baby an der Brust, vor den Spiegel.

Sie sah das Bild einer hochgewachsenen blonden Frau vor sich, mit einem sanften, weichen Gesicht und großen, träumerischen Augen. Ihre Figur galt auf dem Land noch als schlank, während man sie in der Stadt schon als etwas stämmig bezeichnen würde. Helga gefiel, was ihr der Spiegel zeigte, auch das Kind auf ihrem Arm, das jetzt noch wie ein pausbäckiges Engelchen aussah, aber bereits die spähenden Falkenaugen seines Vaters besaß. Helga kam sich wetterwendisch vor, weil sie sich plötzlich für einige längere Augenblicke glücklich fühlte und über ihre Verstimmung von vorhin beinahe lachen konnte.

Wenig später war das Kind satt und schlief in seinem Bettchen rasch ein. Helga summte ein Lied und sah dabei immer wieder auf das breite Ehebett und von dort zu Tür. Doch die Klinke rührte sich nicht. Helga schaute noch einmal nach dem Baby und ging anschließend ins Badezimmer. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Abendtoilette. Doch als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, war ihr Ehemann noch immer nicht aufgetaucht. Helga wollte schon ins Wohnzimmer zurück und nach Toni schauen, doch als ihre Hand die Türklinke berührte, ließ sie diese wieder los und begann sich auszuziehen. Wenn Toni nicht merkte, wie sehr sie ihn brauchte, dann konnte sie ihm und auch sich nicht helfen. Sie war nicht erzogen dafür, sich ihrem Ehemann aufzudrängen.

Als sie bereits unter der Decke lag und der Ansturm ihrer Gefühle den Schlaf fernhielt, hoffte sie immer noch auf sein Kommen. Die Leuchtanzeige der Uhr wanderte jedoch unbarmherzig weiter. Erst eine Stunde später öffnete sich leise die Tür und Toni schlüpfte herein. Sein erster Gang galt der Wiege. Helga hörte, wie er dem Baby sein »Gute Nacht, Tonerl«, zuraunte. Als er in sein Bett kroch, beugte er sich kurz zu ihr herüber und küsste ihr Haar. Doch er kam nicht auf ihre Seite, so wie sie es sich wünschte, sondern sank mit einem tiefen Schnaufen auf sein Bett und schlief, wie ihr seine regelmäßigen Atemzüge zeigten, beinahe ebenso schnell ein wie sein Sohn.

Helga fühlte sich missachtet und kam sich gleichzeitig überflüssig vor. Ihr war, als hätte sie mit der Geburt des Hoferben ihre Pflicht erfüllt und wurde nun nur noch als Bäuerin zur Arbeit gebraucht, aber nicht mehr als Ehefrau. Dabei hatte sie sich die ganze Zeit, in der sie hochschwanger gewesen war und die ersten Wochen nach der Geburt, so richtig auf die Zeit danach gefreut. Aber Toni schien irgendwie nicht begreifen zu wollen, dass sie keine Schonung mehr brauchte. So kann es nicht weitergehen, dachte sie. Ich muss mit ihm darüber reden! Doch Helga wusste jedoch genau, dass sie genau dies nicht tun konnte.

*

Etwa neunhundert Kilometer entfernt, fand in einer kleinen Wohnung auf einem Hausboot in der Prinsengracht von Amsterdam eine Abschiedsfeier statt. Ein gutes Dutzend junger Frauen und ein paar Männer saßen auf den wenigen Stühlen und provisorischen Sitzgelegenheiten und verständigten sich fröhlich in einem Gemisch aus Niederländisch, Englisch und Deutsch. Die Wohnung war so winzig, dass die Gäste alle Räume in Beschlag genommen hatten und sich durch die offenen Türen unterhielten. Antje, eine hochgewachsene, dralle Holländerin stand am Herd und kochte ganze Eimer voll Tee für die Anwesenden. Nebenbei buk sie Berge von Poffertjes, ohne dabei aber auch nur ein Wort der Unterhaltung zu versäumen.

Judith Pallhuber, die Gastgeberin und gleichzeitiger Anlass der Abschiedsfete, thronte mangels anderer Möglichkeiten im Schneidersitz auf ihrem Bett und schnupperte den köstlichen Duft, der aus der Küche herüberdrang. Judith war genau das Gegenteil von Antje, eher klein, mit knabenhaft zierlicher Figur und einem länglich ebenmäßigen Gesicht, im dem zwei große braune Augen nur so vor Übermut funkelten. Ihr kurz geschorenes, grell getöntes Haar umgab ihren Kopf wie ein Helm aus violettem Feuer. Ihre engen Radfahrerhosen und das knallbunte T-Shirt waren nicht unbedingt die Kleidung, die man von einer mehrfach ausgezeichneten Modistin erwarten würde.

Die Nacht war bereits angebrochen, doch durch die kleinen Fenster des Wohnbootes konnte Judith die prächtigen Patrizierhäuser auf der anderen Seite der Gracht wie Scherenschnitte sehen. Ein Ausflugsboot tuckerte lichtergeschmückt am Hausboot vorbei, und sie hörte, wie der Reiseleiter den Passagieren die Höhepunkte des nächtlichen Amsterdam in vier Sprachen anpries.

Die jungen Leute im Hausboot sprachen mehr als vier Sprachen. Judith war die einzige Deutsche darunter. Antje, Friesje und ein paar andere Frauen stammten aus den Niederlanden, während Jane aus England und Concetta aus Italien kam. Wie der Franzose Gauthier und der Pole Marek gehörten alle zum Kreis der jungen Modemacher Amsterdams, von dem Judith heute Abschied nahm.

Trotz einer gewissen Wehmut, die das Scheiden nun einmal mit sich bringt, war Judith in bester Laune. Gerade äffte sie den Reiseleiter auf dem Touristenschiff nach und brachte damit ihre Freunde zum Lachen. Einen Augenblick später rief sie zu Antje in die Küche, dass diese ihr noch eine Portion Poffertjes machen sollte.

Während die junge Holländerin frischen Teig in die Formen füllte, kam ein weiterer Gast herein. Es war ein Mann knapp über dreißig, der sich betont jugendlich kleidete, aber dadurch weder den beginnenden Speckring über seine Hüften noch seinen schütter werdenden Haarschopf verbergen konnte. Sein Gesicht war beinahe frauenhaft hübsch, hatte aber einen gewissen, eigensinnigen Zug an sich.

Judith seufzte ein wenig, als sie den Mann sah und wusste gleichzeitig, dass sie auf sein Kommen gewartet hatte. »Hallo Bernd, such dir einen Platz«, forderte sie ihn auf. Bernd Felix spähte kurz herum und setzte sich schließlich neben sie auf das Bett. »Servus, Judith«, grüßte er schnurrend wie ein übergroßer Kater und küsste sie stürmisch auf den Mund. Judith presste die Lippen zusammen und wartete, bis er Atem holte.

»Bernd, ich glaub, du vergisst ganz, dass wir zwei derzeit wieder Ex sind!«, tadelte sie ihn mit einem nachsichtigen Lächeln.

»Aber Judith, du kennst doch deinen Kuckuck. Der ist doch bis jetzt jedes Mal zurückgekommen, weil er bei dir sein Nest am wärmsten gepolstert weiß!«, warf Friesje, die jüngste der Gruppe lachend ein.

Kuckuck, so hatten Judiths Freundinnen Bernd Felix deshalb getauft, weil er nach jedem Streit mit ihr für ein paar Tage zu einem anderen Mädchen verschwand und sich danach mit einem fröhlichen Lächeln wieder bei ihr einnistete, als wäre nichts geschehen. Mit holländischer Direktheit hatten ihre Freundinnen auch Judith einen Spitznamen verpasst – Schaf – da sie ihrer Ansicht nach eines war, weil sie Bernd dieses Spiel mit sich treiben ließ. Doch was wussten die anderen schon von der Liebe, dachte Judith. Wenn sie allerdings ehrlich zu sich war, so musste sie zugeben, dass sich diese Liebe im Verlauf der fünf Jahre, die sie jetzt, alle Unterbrechungen mitgerechnet, mit Bernd zusammen war, doch arg abgebraucht hatte. Seit er vor drei Wochen zum x-ten Mal schmollend abgerauscht war, hatte sie ihn kein einziges Mal vermisst, sondern die Zeit der Ruhe genossen und sie dazu benützt, um mit ihren Gefühlen und ihren weiteren Lebenszielen ins Reine zu kommen. Bernd Felix spielte in diesen Plänen mit Sicherheit keine Rolle mehr.

Judith konnte es sich im Nachhinein nur so erklären, dass sie damals das Mitleid dazu gebracht hatte, mit Bernd zusammenzugehen. Er hatte ihr leidgetan, als er von ihrer Freundin Helga so Knall auf Fall den Laufpass gekommen hatte. Damals hatte sie das Ganze natürlich anders empfunden und es als großes Glück angesehen, dass Bernd sofort Interesse an ihr gezeigt hatte. Na ja, dachte sich Judith, im Nachhinein ist man immer schlauer. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie erst aufmerkte, als Antje sie am Ärmel zupfte.

»Willst du lieber Zimtzucker auf deine Poffertjes oder Advocaat?«, fragte die Holländerin.

»Eierlikör bitte«, antwortete Judith. Antje eilte in die Küche und kam Sekunden später mit einem vollen Teller zurück. Bevor sie Judith die Poffertjes geben konnte, hatte Bernd schon zugegriffen und begann zu essen. Früher war er noch ein wenig anders gewesen, schoss es Judith durch den Kopf. Doch seit er einen gewissen Erfolg als Möbeldesigner aufwies, war er endgültig zum Egoisten geworden. Und sie war froh über ihre Entscheidung, die Brücken in Amsterdam hinter sich abzubrechen und eine neue Herausforderung zu suchen.

»Es ist wirklich sehr schade, dass du Amsterdam verlässt, Judith. Du warst die liebste Kollegin, die ich je hatte!«, erklärte Friesje jetzt traurig.

»Was willst du jetzt anfangen, Judith?«, fragte Gautier, der zusammen mit Marek in dem kleinen Nebenraum saß.

»Wir werden noch London ziehen und uns dort ansiedeln!«, antwortete Bernd in bester Kuckucksmanier an Judiths Stelle.

»Ach wirklich, wie ich euch beneide!«, rief Concetta bewundernd aus. Bernd grinste geschmeichelt, doch Judith schüttelte fast unmerklich den Kopf.

»Ich gehe nicht mit dir nach London, Bernd! Ich habe mich entschlossen, in meine Heimat zurückzukehren und dort einen Laden zu eröffnen!« Judiths Worte trafen Bernd wie ein Schwall kaltes Wasser. Er starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an und schnappte nach Luft.

»Was sagst du da? Aber wir waren uns doch bereits darüber einig, nach London zu gehen?«, würgte er schließlich hervor.

»Du warst mit dir einig, Bernd. Was ich dazu dachte, hat dich nie richtig interessiert. Solange ich noch glaubte, dich zu lieben, habe ich mich deinen Wünschen und Vorstellungen gebeugt. Doch das ist jetzt endgültig vorbei! Wenn du es bis jetzt noch nicht gemerkt hast, dass Schluss ist mit uns beiden, dann kann ich dir auch nicht mehr helfen!«, setzte Judith etwas leiser hinzu.

Ihre Freundinnen sahen sich an und begannen zu kichern. Auf diesen Augenblick hatten sie lange gewartet. »Unser Schaf streift sein Vlies ab und siehe da, darunter kommt zwar kein Wolfspelz, aber zumindest das Fell einer wehrhaften Katze zum Vorschein!«, raunte Jane den anderen zu. Marek trat grinsend neben Bernd und klopfte ihm gönnerhaft auf die Schultern.

»Wenn du jetzt etwas Stärkeres brauchst als Tee? Ich habe noch eine Flasche Wodka in meiner Tasche!«

»Das ist wohl sehr lustig, was?«, schnaubte Bernd in Richtung Marek und sah dann Judith mit bettelnden Hundeaugen an.

»Du kannst mich doch nicht auf der Straße stehen lassen? Wo soll ich denn heute Nacht schlafen?«

»Mietje hat dich wohl an die frische Luft gesetzt?«, fragte Antje ohne jedes Mitleid.

Bernd presste die Lippen zusammen und nickte. Sein Blick glitt mitleidheischend über die Anwesenden hinweg, ohne jedoch besonderen Eindruck zu hinterlassen.

»Schau mich nicht so an, bei mir kommst du heute Nacht nicht unter. Mir reicht das letzte Mal, wo ich so dumm gewesen war, dich mitzunehmen!«, wehrte Jane ab. Als auch die anderen energisch die Köpfe schüttelten, wandte sich Bernd wieder an Judith.

»Komm, Dirndl, seien wir wieder gut. Ich geh mit dir auch dorthin, wo du hingehen willst!« Er sprach jetzt im stark bayerisch gefärbten Akzent, den er sonst immer sorgsam unterdrückte. Doch er wusste aus Erfahrung, dass Judith bei der Erinnerung an die Heimat immer sentimental wurde und in diesem Zustand am meisten zum Vergeben seiner Sünden neigte. Für einen Augenblick hoffte er, es würde auch heute so sein. »Wo willst du denn hin?«, fragte er sie schon mutiger geworden.

»Ich habe mir in Erlkofen einen Laden gemietet, direkt am Marktplatz, wo man wirklich nicht leicht etwas bekommt!«, erklärte Judith mit einem Stolz, als würde sie über eine Verkaufsetage an der Neuhauser Straße in München sprechen.

»Erlkofen? Ja bist du närrisch geworden? Was willst du denn dort in der Prärie, in bayrisch Sibirien?«, stöhnte Bernd entsetzt auf.

»Es ist meine Heimatstadt, Bernd. Und übrigens auch die deine! Mein ganzes Leben habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt. Denn«, Judith wandte sich jetzt mehr an die anderen als an Bernd, »ich muss dorthin zurückkehren. Ich habe dort noch eine Rechnung offenstehen!«

*

Erlkofen im Oberland war eine typische bayerische Kleinstadt mit einer großen Kirche, deren Zwiebelturm schon von Weitem grüßte. Um den rechteckigen Marktplatz standen wuchtige, alte Bürgerhäuser und erzählten vom Patrizierstolz ihrer früheren Bewohner. Zwar hatte man im Lauf der Jahre ein paar Vorstadtsiedlungen gebaut, das Zentrum der Stadt aber war und blieb der Marktplatz an der Kirche. Wer als Geschäftsmann etwas gelten wollte, besaß hier sein Geschäft. Selbst eine bekannte Supermarktkette hatte dieser Tatsache Rechnung getragen und an der Stelle der früheren Krämerei Kroiss eine nagelneue Filiale eingerichtet.

Die meisten Geschäfte befanden sich jedoch schon seit Jahrzehnten in Familienbesitz, so wie das altehrwürdige Trachtenfachgeschäft Hiergerl, das jetzt in der fünften Generation geführt wurde. Die vier Schaufensterpuppen in seiner Auslage waren für die Einheimischen schon seit Jahren ein vertrauter Anblick. Im Winter trugen sie grünes oder graues Loden sowie dicke Stoffhosen oder feste Winterkleider, die sie im Sommer gegen Leinenhemden, Lederhosen und Dirndlkleider vertauschten. Auch der Laden selbst war noch so eingerichtet wie zu der Zeit, als Wilfried Hiergerls Großvater noch selbst am Ladentisch gestanden hatte. Die gesamte Rückwand des Geschäftsraumes nahm ein altersdunkler Schubladenschrank mit Messinggriffen ein. In den Regalen auf der anderen Seite der Ladentheke warteten die fein säuberlich gefalteten und gebügelten Trachtenanzüge und Dirndlkleider auf Kunden.

Der Geschäftsinhaber Wilfried Hiergerl stand hinter dem Verkaufstisch und las den Erlkofener Lokalteil des Rosenheimer Anzeigers. Aus dem Raum hinter dem Laden klang das gedämpfte Rattern einer Nähmaschine zu ihm vor. Hiergerls Verwandte und einzige Angestellte Renate Steinmann war gerade dabei, den bestellten Trachtenanzug für Sepp Sinnhuber, den neuen Vorsitzenden des Trachtenerhaltungsvereins Alpenrose in Hannetsried zu nähen. Wilfried Hiergerl war stolz darauf, dass er in seinem Geschäft nicht nur Trachtenkleidung von der Stange, sondern auch nach Maß gefertigte verkaufte.

Nachdem sich eine halbe Stunde nichts ereignet hatte, wurde es Wilfried Hiergerl allmählich langweilig. Er überlegte schon, auf einen Plausch zu Renate ins Nähzimmer zu gehen, obwohl seine Ehefrau Amalie, deren Eifersucht ihm das Dasein zeit seines Lebens vergällt hatte, dies nicht gerne sah. Doch da öffnete sich die Tür und die Ladenglocke schlug an. Eine Kundin trat ein und kam auf Hiergerl zu.

»Ja, Grüß Gott, Frau Mayer. Das ist aber schön, dass S’ uns beehren. Was darf’s denn heute sein?«, empfing Hiergerl die Frau mit geschäftsmäßig freundlicher Stimme.

»Grüß Gott, Herr Hiergerl. Ich brauch bloß ein paar Hirschhornknöpf für die Trachtenlederhose meines Mannes«, erklärte die Kundin.

»So, ein paar Knöpf brauchen S’?«

Hiergerls Stimme klang jetzt etwas enttäuscht, denn er hatte sich mehr Geschäft erhofft. Trotzdem öffnete er diensteifrig eine Schublade des großen Wandschranks und legte Frau Mayer ein paar Kärtchen mit den gewünschten Knöpfen vor.

»Sind die ned schön?«, fragte er zustimmungsheischend. »Das sind handgefertigte Hirschhornknöpf aus dem Bayrischen Wald und kein so Plastikglump, wie es andere Geschäfte als Trachtenknöpf verkaufen!«

»Dafür sind sie auch teuer genug«, erwiderte die Frau, die eben das Preisschild auf der Rückseite der Karten entdeckt hatte. »Aber was ich fragen wollt: Haben S’ denn keine Angst ums Geschäft, wenn dort drüben die Konkurrenz einzieht?«, fragte sie und wies mit dem Finger auf ein Haus, das auf der anderen Seite des Marktplatzes stand.

Die beiden Schaufenster, die zu diesem Ladenlokal gehörten, waren mit Papier verklebt, sodass man nicht hineinschauen konnte. Die Aufschrift »Laden zu vermieten« prangte jedoch groß auf den Scheiben und war selbst von hier noch zu lesen. Ein Gerücht im Ort besagte, das bekannte Rosenheimer Trachtenmodehaus Singer wolle dort eine weitere Filiale einrichten. Diese Nachricht brannte in Hiergerls Seele, doch seiner Kundin gegenüber gab er sich vollkommen unbeeindruckt.

»Was für eine Konkurrenz denn, Frau Mayer. Sie tun ja gerad so, als ob das Trachtenhaus Hiergerl Konkurrenz fürchten müsst. Dafür stehen wir viel zu gut da und die Leut kennen unsere Qualität!«, erklärte er mit einem etwas missratenen Lächeln.

»Die Leut kennen aber auch eure Preise, Hiergerl. Außerdem soll der Singer in Rosenheim von der Qualität her auch ned schlecht sein«, entgegnete die Kundin.

»Aber gehen S’, Frau Mayer. Was hat der Singer denn schon in seiner Auslag? Modernes Zeug, das sich höchstens ein Preiß auf Urlaub als angeblichen Trachtenanzug kauft. Da sind unsere Leut schon heimatverwurzelter. Bei uns wird noch auf Brauchtum und Originalität geachtet. Da lässt keiner was über unsere Original Erlkofener Tracht kommen. Und die gibt’’s nun einmal bloß bei uns. Also, wenn S’ mich fragen, Frau Mayer. Ich bin wirklich gespannt, wie lang sich der Singer bei uns in Erlkofen halten kann?« Wilfried Hiergerls Stimme klang bei Weitem nicht so überzeugend, wie von ihm gewollt. Die Kundin tat jedoch, als würde sie es nicht bemerken und reichte ihm einen Geldschein herüber.

Hiergerl öffnete die eiserne Registrierkasse und suchte umständlich das Wechselgeld zusammen. Frau Mayer steckte unterdessen die gekauften Knöpfe in die Tasche, nahm das Restgeld entgegen und verließ mit einem kurzen Gruß den Laden. Hiergerl war wieder allein und wollte gerade zu Renate ins Nähzimmer gehen, als er durch das Schaufenster hindurch seine Frau herankommen sah. Er kniff verwundert die Augen zusammen, denn seine Amalie bewegte sich trotz ihrer über fünfzig Jahre so rasch und beschwingt wie ein junges Mädchen und ihr Gesicht glänzte nur so vor Freude. Hiergerl war darüber so erstaunt, dass er ganz vergaß, die offene Schublade im Schrank zu schließen. Normalerweise hätte es dafür ein Donnerwetter von Amalie gegeben. Doch als sie jetzt in den Laden kam, meinte sie nur kopfschüttelnd »Du lernst es wohl auch nie!« und schob die Schublade selbst zu.

»Gibt’s was Besonderes?«, fragte Hiergerl angespannt, da er dem Braten nicht ganz trauen mochte.

»Ich komm gerad von der Immobilienverwaltung, wo ich wegen dem Laden dort drüben nachgefragt hab! Zum Glück war der Huber selber ned da. Der hätt bloß was vom Geschäftsgeheimnis gefaselt und nix gesagt. Aber seine Sekretärin, die Mali, ist doch meine Nichte und war Gott sei Dank allein im Büro. Sie hat uns einen guten Kaffee gekocht und mir ein bisserl was über den Laden erzählt. Der Herr Singer aus Rosenheim hat ausgespielt. Der Laden ist nämlich anderweitig vermietet worden, weil er ned schnell genug zugesagt hat. Jetzt kriegt den Laden eine Modedesignerin aus Holland!«

»Was will denn eine Holländerin bei uns in Erlkofen?«, wunderte sich Hiergerl.

»Es soll keine Holländerin, sondern eine Deutsche sein, hat mir die Mali gesagt. Aber uns kann’s Wurst sein. Hauptsach, der Singer hat den Laden ned bekommen. Der hätt uns echt wehgetan! Aber so eine ausgeflippte Modistin, die führt doch bloß den Fummel, den die jungen Leut heutzutag in die Disco anziehen, und macht uns damit keine Konkurrenz!«

*

Hans Hermann Singer saß am Schreibtisch seines geschmackvoll eingerichteten Büros und klopfte erregt mit dem Bleistift auf die Tischplatte. Er hatte weder Augen für den herrlichen Sonnentag mit seinem tiefblauen, mit winzigen weißen Wölkchen gesprenkelten Himmel noch für das zum Greifen nahe Panorama der majestätisch aufragenden Alpen, die durch das große Fenster zu sehen waren.

Sein Blick ruhte wie gebannt auf einem Schreiben, in dem ihm die Immobilienverwaltung Huber aus Erlkofen in zwar freundlichen, aber bestimmten Worten mitteilte, dass sie, nachdem die Firma Singer den letzten Termin ohne Absage versäumt habe, das ins Auge gefasste Ladenlokal in Erlkofen, Marktplatz vier, anderweitig vermietet hätte.

»So eine Frechheit!«, schnaubte der Seniorchef des Trachtenmodenhauses Singer, meinte damit aber weniger die Immobilienverwaltung, als vielmehr seinen eigenen Sprössling. »Na wart nur, Bürscherl, sobald du kommst, falte ich dich zusammen, dass du in einen Schuhkarton passt!« Da ihm die Zeit des Wartens zu lange wurde, drückte er die Taste der Sprechanlage zum Vorzimmer.

»Was ist jetzt, Frau Meisl? Ist der Ludwig endlich da?«

»Nein, Chef, noch ned. Aber ich hab grad sein Auto in die Tiefgarage fahren sehen. Er muss also gleich kommen!«, antwortete die Sekretärin.

»Schicken S’ mir ihn gleich herein, wenn er kommt!«, bellte Singer senior so wütend in das Mikrofon, dass Frau Meisl der Juniorchef leidtat. Was mochte Ludwig Singer schon wieder ausgefressen haben, weil sein Vater derart zornig auf ihn war?

Ein paar Minuten später klopfte es an die Tür des Büros und Ludwig Singer trat ein. Er war ein gut aussehender Mann knapp über dreißig mit der schlanken, durchtrainierten Figur eines geübten Freizeitsportlers. Sein gebräunter Teint zeigte, dass er sich nicht nur im Büro aufhielt. Im Gegensatz zu seinem Vater, der einen korrekt sitzenden, graugrünen Trachtenanzug trug, war Ludwig etwas nachlässig gekleidet. Seine Jacke war zwar dem Trachtenstil nachempfunden, aber er trug Jeans und moderne Schuhe dazu. Sein schwarzes Haar war kunstvoll gestylt und entlockte seinem Vater ein verächtliches Schnauben.

»Wie siehst du schon wieder aus? Und so was nennt sich Juniorchef eines angesehenen Trachtengeschäftes!«, blaffte er seinen Sohn an. Dieser setzte sich auf eine Kante des Schreibtisches, ohne die für Besucher vorgesehenen Sessel zu beachten und sah seinen Erzeuger neugierig an.

»Was gibt’s so Dringendes, Papa, dass du mich gleich mit einem Fax zum sofortigen Erscheinen auffordern hast müssen?«

Sein Vater reichte ihm wortlos das Schreiben der Immobilienverwaltung und wartete gespannt auf Ludwigs Reaktion. Dieser las die Absage durch und klopfte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Teufel noch mal, aber den Termin in Erlkofen hab ich wirklich total verschwitzt. Das ist aber ärgerlich, dass der Huber nicht warten hat können!«

»Gib ned dem Huber die Schuld, sondern pack dich an deine eigene Nase! Aber der junge Herr wird halt keine Zeit fürs Geschäft gehabt haben, weil er mit seiner Habergeiß herumziehen hat müssen und darüber alles andere vergessen hat!«, erklärte Singer senior ätzend.

»Du könntest dich auch ein bisserl höflicher ausdrücken, wenn du über die Monique sprichst! Ich dachte immer, du wärst ein Kavalier?«, antwortete Ludwig tadelnd.

»Ich bin dann Kavalier, wenn es sich lohnt. Aber ein Flitscherl erkenn ich, wenn ich eines seh! Und die Monique ist eines!«, gab der Senior grimmig zurück.

»Ich glaube, du hast ganz vergessen, dass es nach dem freundlichen Empfang, den du Monique im letzten Monat bereitet hast, zwischen ihr und mir aus ist, Papa!« Ludwig Singers Stimme klang bei diesen Worten nicht gerade wie die eines verzweifelten Liebhabers, sondern eher verärgert, weil er sich jetzt die Mühe machen musste, eine neue Freundin zu suchen.

»Also, was sollen wir jetzt machen, nachdem uns das Objekt in Erlkofen durch die Lappen gegangen ist?«, fragte er seinen Vater, als er von diesem keine Reaktion erhielt.

»Uns durch deine Schuld durch die Lappen gegangen ist!«, korrigierte ihn Singer senior beißend.

»Ich geb’s ja zu, dass ich die Sach vermasselt hab. Aber soll ich vielleicht deswegen in den Inn springen? Ich wollt ja an dem Tag den Huber in Erlkofen aufsuchen, aber leider ist mir etwas anderes dazwischen gekommen.«

»Das wird etwas Wichtiges gewesen sein!«

»Der Ingo Wolter hat mich auf sein Gut Scharham eingeladen. Du weißt, er und seine Bekannten sind die besten Kunden in unserer Münchner Filiale, die ich ja zufällig als Filialleiter führe. Ich hab diese Einladung beim besten Willen ned ausschlagen können. Ich wollt ja mit dem Huber einen neuen anderen Termin vereinbaren. Aber zuerst bin ich ned dazu gekommen, und als ich wieder daran gedacht hab, war bei ihm keiner mehr im Büro.«

»Und am nächsten Tag hast du‘s dann wohl ganz vergessen gehabt?«, höhnte der Senior.

»Am nächsten Tag bin ich in aller Herrgottsfrüh nach Mailand zur Messe gefahren. Darüber hab ich die Sach in Erlkofen wirklich vergessen. Es tut mir leid!« Ludwig Singer klang ehrlich zerknirscht.

»Davon bekommen wir den Laden in Erlkofen auch nimmer!«, erwiderte der Senior mit sarkastischer Stimme. »Dabei wäre es wirklich eine erstklassige Lage direkt am Marktplatz gewesen. Wir haben eine Menge Kunden aus der dortigen Gegend, denen das Angebot vom Hiergerl schon längst zu altbacken ist. Ich hab in der letzten Woch bereits einigen Leuten erzählt, dass sie bald nimmer bis Rosenheim fahren müssen, da wir eine Filiale in Erlkofen aufmachen würden. Und dann verschwitzt mein Herr Junior den Termin beim Huber. Ich könnt schreien vor Wut, wenn ich an die Blamage denk! Und das wegen ...«

»Und das wegen mir, wolltest du doch sagen, Papa? Aber wir werden schon eine Lösung finden, wenn wir nur danach suchen. Es gibt doch sicher mehr als nur diese eine Gewerbeimmobilie in Erlkofen.«

»Aber keine direkt am Marktplatz. Das wär ein Fressen für den Hiergerl, wenn wir uns irgendwo in einem Neubauviertel einmieten müssten. Außerdem machen wir dort höchstens die Hälfte des Umsatzes, der am Marktplatz möglich wär!«

»Der Hiergerl sieht uns so oder so ned gern in Erlkofen!«

»Natürlich ned, aber wenn wir unsere Filiale ned am Marktplatz aufmachen, wird er’s so richtig ausschlachten. Denn dort fürchtet er uns natürlich am meisten, weil wir bei unseren Trachtenmodellen mit der Zeit gegangen sind und keine solchen Museumsstücke verkaufen wie er. Er soll wegen mir ruhig weiter seine alten Trachten nähen und an die Trachtenvereine der Umgebung verkaufen. Aber beim Alltagsgewand der Leut will ich dieses Etikett aufgenäht sehen!« Der Senior zog seinen Janker aus und hielt ihn Ludwig so dicht vors Gesicht, dass dieser den schmucken Aufnäher mit der gestickten Inschrift Trachtenmodehaus Singer und Sohn beinahe mit der Nase berührte.

Ludwig Singer nahm noch einmal das Schreiben der Immobilienverwaltung zur Hand und las den Text erneut durch. »Ich werf die Flinte noch ned ins Korn, Papa. Du erlaubst?« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der Firma Huber in Erlkofen an.

»Grüß Gott, hier Ludwig Singer, Modehaus Singer und Sohn, Rosenheim. Kann ich Herrn Huber sprechen?«, begann er, als jemand abhob. »Selber am Apparat, das ist aber schön. Herr Huber, ich wollt mit Ihnen noch einmal über dieses Ladenlokal in Erlkofen reden. Was, nix mehr zu machen, sagen S’. Aber Herr Huber, irgendeinen Weg wird es doch geben. Was meinen S’? Der Vertrag wär schon unterschrieben? Eine Holländerin will den Laden übernehmen? Herr Huber, Sie wollen mir doch ned weismachen, dass Sie in den paar Tagen eine neue Interessentin gefunden haben? Gut, ich geb zu, es waren anderthalb Wochen. Aber trotzdem, wir waren uns doch so gut wie einig.«

Hans Hermann Singer hörte interessiert zu, wie sein Sohn die Verhandlung wieder in Gang bringen wollte. Das Gesicht des Juniors sah aber nicht so aus, als wäre ihm dabei viel Erfolg beschieden. Schließlich verabschiedete er sich und legte den Hörer auf. Für einige Augenblicke schwieg er und starrte wie abwesend zum Fenster hinaus. Als er wieder sprach, begann er mit einem Fluch, der seinen ganzen Ärger zum Ausdruck brachte.

»He, so einen Ton will ich bei mir herinnen ned hören!«, schalt ihn sein Vater deswegen. Ludwig schnaufte tief durch und schüttelte den Kopf.

»Ich bin mir sicher, dass der Huber ein doppeltes Spiel mit uns getrieben hat. Er kann ned in den paar Tagen eine Modedesignerin aus Amsterdam aus dem Ärmel gezogen haben. Er behauptet doch glatt, sie hätt sich den Vertrag per Fax zuschicken lassen und ihn per Fax noch am selben Tag zurückgeschickt, ohne sich das Objekt überhaupt anzuschauen. Das kann er seiner Großmutter erzählen und selbst die lacht ihn noch aus!«

»Eine Holländerin sagst du? Will die vielleicht Käs in dem Geschäft verkaufen?« Der Senior wollte einen Witz machen, doch sein Sohn hatte in dem Moment wenig Sinn dafür.

»Ich hab laut und deutlich gesagt, dass es eine Modedesignerin sein soll. Sie wird wahrscheinlich das moderne Zeug verkaufen, das auch in den flippigen Läden der Großstädte angeboten wird. Na, in Erlkofen wird sie damit auf die Nase fallen.« Plötzlich hellte sich sein Gesicht wieder auf.

»Das ist es. Sobald die Holländerin das Geschäft wieder aufgeben muss, greifen wir zu und holen uns das Ladenlokal doch noch. Ich werd der Frau Meisl gleich einen entsprechenden Brief an den Huber diktieren.«

»Tu dir keinen Zwang an. Du kannst dann auch gleich eine Kerze für den heiligen Korbinian stiften, dass es nicht zu lang dauert. Denn soweit ich weiß, sollen die Holländer ein verdammt zäher Menschenschlag sein!« Ludwig hörte jedoch den Spott seines Vaters nicht mehr, denn er war schon zur Tür hinaus. Singer senior hörte, wie er Frau Meisl seine Anweisungen gab.

*

Im Normalfall freute sich Helga auf das Einkaufen in Erlkofen. Doch heute hatte sich rein alles gegen sie verschworen. Als sie am Vormittag losfahren wollte, war eine Kuh krank geworden. Da Anton dringend aufs Feld musste, blieb sie daheim und wartete auf den Tierarzt. Nach dem Mittagessen war die Nachbarin Nanni Sinnhuber auf einen Schwatz herübergekommen. Helga mochte die Bauerntochter, die ledig bei ihrem einschichtigen Bruder Sepp lebte, nicht besonders. Nanni war nämlich vor einigen Jahren hinter Anton her gewesen wie der Teufel hinter einer armen Seele. Um der guten Nachbarschaft willen musste sie aber Nannis Gerede ertragen und konnte ihr erst entkommen, als ihr das Baby mit einem wütenden Gebrüll einen guten Grund lieferte, die andere zu verabschieden.

Zu guter Letzt hatte sie ganz vergessen, dass am nächsten Tag Feiertag und die Stadt daher entsprechend voll war. Helga hatte daher keinen Parkplatz am Marktplatz gefunden und musste ihr Auto in einer Nebenstraße der Siedlung parken. Mit dem Baby allein stellten die paar Hundert Meter zwischen ihrem Auto und dem Supermarkt im Stadtzentrum kein Problem dar. Doch Helga graute davor, ihren Einkauf die ganze Strecke schleppen zu müssen. Doch auch im Supermarkt ging es nicht besser zu. Einige der Sachen, die sie hatte besorgen wollen, waren bereits ausverkauft. Zum Glück ergatterte sie gerade noch das letzte Paket Windeln, sonst wäre sie wirklich in die Bredouille geraten.

Jetzt stand sie in der langen Schlange, die sich vor der Kasse gebildet hatte, und rückte im Minutentakt um einen Meter vor. Eine junge Mutter mit zwei vielleicht drei und fünf Jahre alten Buben stand vor ihr in der Reihe. Die beiden Kinder turnten gelangweilt am Einkaufswagen herum und schielten immer wieder zu dem Süßigkeitenregal vor der Kasse hin.

»Nein, Michi, heut gibt’s keinen Kaugummi mehr. Wir haben doch so viel Schokolad daheim!«, erklärte die Frau eben dem älteren Buben. Dieser zog eine Schnute und maulte.

»Ich mag keine Schokolad. Ich möcht einen Kaugummi!«

»Ich will einen Dinolutscher!«, stimmte sein Bruder mit ein.

»Nein, ich kauf euch heut nix mehr! Wir haben genug daheim«, wiederholte die Mutter genervt und erntete doppeltes Protestgeschrei. Tonerl, den Helga in einem Wickeltuch vor der Brust trug, fühlte sich aufgefordert, mitzutun und fing ebenfalls zu brüllen an. Helga schaukelte das Baby und kitzelte es mit dem Finger, bis es zu schreien aufhörte und sie anlachte. Die beiden anderen Jungen machten seinen Ausfall jedoch mit ihrem wütenden Kreischen doppelt wett. Ein junger, überkorrekt gekleideter Mann, der hinter Helga stand, fauchte die junge Mutter vor ihr wütend an.

»Können Sie nicht endlich dafür sorgen, dass Ihre Bengel Ruhe geben?«

Die junge Frau bekam einen roten Kopf und nahm eilig einen Kaugummi und einen Lutscher aus dem Regal und legte sie in den Einkaufswagen. Ihr gehetzter Blick bat dabei die Umstehenden so jammervoll um Entschuldigung, dass Helga der Kragen platzte.

»Sie haben wohl als Kind nie geschrien!«, fauchte sie den jungen Mann hinter sich an.

»Es ist schon gut!«, versuchte die Frau vor ihr zu vermitteln. Helga schnaubte etwas, das wie »Trottel« klang, vor sich hin und stieß den Einkaufswagen des Mannes, den er ihr schmerzhaft gegen die Fersen fuhr, mit einem heftigen Stoß nach hinten, sodass die drei Whiskyflaschen darin klirrend umfielen.

»Sie, das lasse ich mir von Ihnen nicht gefallen!«, fauchte der Kerl und drohte mit der Faust.

»Jetzt hört endlich zu streiten auf. Wie soll ich denn bei dem Lärm die Sachen eintippen«, rief die Kassiererin, der das Ganze langsam zu viel wurde, wütend. Die Frau vor Helga schien die Worte allein auf sich zu beziehen, denn sie legte ihre Waren im Rekordtempo auf das Förderband. Als Erstes nahm sie die Süßigkeiten für die Kinder, die sie, kaum dass sie die Kasse durchlaufen hatten, auspackte und den Buben reichte, damit diese endlich still wurden.

Helga ließ sich hingegen mehr Zeit als sonst, denn sie hatte sich über den Mann hinter ihr geärgert. Sie sah ihm an, dass er am liebsten vor Wut herausgeplatzt wäre. Doch zwei andere Frauen in der Schlange hinter ihm zischelten ihm einige besondere Freundlichkeiten zu, sodass er andere Objekte für seinen Zorn erhielt. Helga beachtete ihn nicht weiter, sondern zahlte die angezeigte Summe und packte ihren Einkauf in mehrere mitgebrachte Leinenbeutel. Wie erwartet schnitten ihr die Tragriemen tief in die Schultern ein, doch sie machte sich beherzt auf den Weg.

Trotz eines Autofahrers, der den langen Weg zum Marktplatz gescheut und seinen Wagen auf dem Gehsteig abgestellt hatte, kam sie gut zu ihrem eigenen Wagen zurück und verstaute ihre Sachen im Kofferraum. Sie streckte schon die Hand mit dem Schüssel aus, um den Wagen aufzusperren, als sich Tonerl erneut lauthals meldete. Ein schneller Blick auf die Uhr zeigte Helga, dass das Baby Hunger hatte. Ihr graute davor, mit dem greinenden Kind die halbe Stunde bis nach Hause fahren zu müssen und sie beschloss, ins Café Wendelstein zu gehen. Die kleinen, abgetrennten Nischen boten ihr sicher die Gelegenheit, den Kleinen ungestört stillen zu können.

Doch kaum hatte sie das Café erreicht, als sie diesen Gedanken wieder aufgeben durfte. Es waren zwar nicht alle Plätze, aber zumindest alle Nischen besetzt. Helga widerstrebte es, sich zu fremden Leuten zu setzen, um das Baby zu füttern. Sie kaufte sich daher nur eine Kugel Vanilleeis im Straßenverkauf und ging etwas ratlos den Gehsteig entlang. Sie beschloss schließlich, einen Mauervorsprung zu suchen, wo sie, mit dem Rücken zum Gehsteig Tonerl stillen konnte. Der Eingang zu dem leeren Laden neben dem Uhrengeschäft eignete sich am besten dazu. Außerdem waren die Glasflächen mit Papier abgeklebt, sodass sie niemand dabei beobachten konnte.

Doch als Helga die Hausnummer vier erreichte, erlebte sie eine Überraschung. Das Papier war von den Scheiben abgerissen und lag, zu einem großen Knäuel verknüllt, im Laden. Eine junge Frau stand im Laden und maß gerade die hintere Wand mit einem Meterstab aus. Im ersten Augenblick wollte Helga weitergehen, doch dann kam ihr die Frau bekannt vor. Der kurze, grelle Haarschnitt irritierte sie einen Moment, dann klopfte sie an die Schaufensterscheibe und winkte der anderen freudestrahlend zu.

*

Judith Pallhubers Hände zitterten vor Erregung, als sie den Ladenschlüssel ins Schlüsselloch steckte und die Tür aufsperrte. Die Luft im Laden roch etwas abgestanden, da lange nicht gelüftet worden war. Dennoch atmete Judith tief ein und trat mit einer Mischung aus Stolz und einer gewissen Scheu ein. Das Papier an den Glasfenstern störte sie und sie riss es mit Begeisterung ab. Dem Schild Laden zu vermieten erging es nicht anders. »Schließlich ist der Laden ja ned mehr zu vermieten«, sagte Judith lachend zu sich selbst. »Jetzt ist es mein Laden! Und je eher die Leut das merken, desto besser ist es für mich!« Ihr Blick fiel durch das Schaufenster auf die andere Seite des Marktplatzes, wo die Auslagen des Trachtengeschäftes Hiergerl zu erkennen waren.