Zurück zur Mobilität! - Hermann Knoflacher - E-Book

Zurück zur Mobilität! E-Book

Hermann Knoflacher

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Beschreibung

Schluss mit der Vorfahrt- Mehr Mobilität durch weniger Autos: Das Auto hat Vorfahrt in unserer Gesellschaft- dennoch droht allerorts der Verkehrsinfarkt. Denn die vorherrschende Meinung, dass der Ausbau der Straßennetze zu mehr Mobilität führt, ist falsch. Verkehrsexperte Hermann Knoflacher beweist, dass mit mehr und besser ausgebauten Straßen nicht die Mobilität, sondern nur die Länge der zurückgelegten Wege zunimmt und die Lebensqualität sinkt! Abkehr tut dringend not. Es braucht neue Denkmuster, die für den Rückzug des Autos aus den Lebensräumen sorgen und so zu weniger Lärm, Staub und Abgasen und kürzeren Wegen führen. Die Schaffung kleinräumiger, lokaler Strukturen belebt die Arbeits- und Sozialwelt und davon profitieren wir alle. Fangen wir an. Jetzt!

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Seitenzahl: 148

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Über dieses Buch

„Dieses Buch ist keine Streitschrift gegen das Auto! Auch nicht gegen Fußgänger, die von ihrem Auto gefahren werden und so zu Autofahrern mutieren. Es ist vielmehr ein Aufruf an den Homo sapiens sapiens, den doppelt-weisen Menschen, seinem Titel endlich gerecht zu werden. Hermann Knoflacher schreibt für das Leben und die ihm innewohnende Intelligenz und damit gegen die Dummheit, welche ja bekanntlich nicht das Gegenteil von Intelligenz ist, sondern vielmehr die Tatsache, dass man seine Intelligenz nicht nutzt.Es besteht also noch Hoffnung.“

Roland Düringer

Inhalt

Vorwort

Ein Beispiel lebendiger Mobilität

Die Kontrolle verloren

Wenn der Zusammenhang verloren geht …

Der Erkenntnisweg führt immer gegen den Entstehungsweg

Warum sind Pflanzen so erfolgreich?

Erfolgreich trotz geringer physischer Mobilität

Geistige Mobilität und technische Erweiterungen

Keine Zertifizierung für den homo sapiens sapiens

Macht und Mobilität

Die Möglichkeiten geistiger Mobilität

Das Problem: Geistige Mobilität ist beeinflussbar

Meinungsethik statt Verantwortungsethik

Symptombehandlung oder Ursachentherapie

Was Menschen bewegt?

Sein – Haben – Tun – Interagieren

Subventionierte Mobilität

Es gibt Alternativen

Zum aufrechten Gang

Disziplinierung der Menschen

Alleinstellungsmerkmal des Menschen: geistige Mobilität

Das dünne Eis der Zivilisation

Mit geistig Mobilen kann man keine Kriege führen

Siedlungen als Orte hoher Mobilitätsdichte

Städte als Orte geistiger Mobilität

Die Schönheit alter Städte als Folge menschlicher Mobilität

Gebaute geistige Immobilität: Hochhäuser, U-Bahnen, Autobahnen

Von Hotspots zu »No-go-Areas«

Gut Ding braucht Weile

Paradox

»Just-in-time« – ein alter Hut?

Codex Hammurabi

Was man nicht im Kopf hat, muss man in den Beinen haben …

Fruchtbarer Boden

Nicht mehr begreifbar

Eine Stadt mit 10 Millionen Fahrradfahrern

Eisenbahnen noch ohne Mobilitätsbegriff

Wenn die Begriffe unklar werden

Wegbereiter des Zeitalters der Mobilität

Wohlstand durch technischen Erfolg

Die Macht der Geschwindigkeit

Mobilitätsknotenpunkt Bahnhof

Probleme fördern geistige Mobilität

Gefahr der Umnachtung

Den Boden unter den Füßen verlieren …

»Mobilität« in den Städten und auf dem Land

Die unsichtbare Hand

Das Wunder müheloser räumlicher Bewegung

Der Geist aus der Flasche im Tank

Wenn das Recht nicht mehr mitkommt

Die Umformung des Wertesystems der Gesellschaft

Die Autogesellschaft – eine eigene Spezies

Von Straßen zu Autobahnen

Leitgröße Geschwindigkeit

Wenn aus Kosten der Nutzen berechnet wird

Wo ist die durch schnelle Mobilität gewonnene Zeit hingekommen?

Die primitive Stadt

Motorisierung als Grundlage der Massenmobilität

Wie sich der Blick verengt

Die Verkehrstechnik: eine Fahrbahnquerschnitts-Sicht

Das System der WC-Spülung

Die Anti-Ingenieure

Mobilität aus Punkten

Einen Schritt zurücktreten …

Eine teuflische Vorschrift

Drei Grundpfeiler des heutigen Verkehrswesens

Mobilitätsbarrieren …

Gefängnisse de jure und de facto

Blut an den Händen

Verursacherprinzip

Vorsorgeprinzip

Zurück zur Mobilität

Der Lösungsweg folgt dem Entstehungsweg

Keine Autoabstellplätze in menschlichen Siedlungen

Kameras für die Autos – Augen und Ohren für die Menschen

Anmerkungen

Vorwort

»Mobilität ist Leben.«

Diese Aussage ist sowohl richtig als auch falsch bzw. fehl am Platz.

Sie ist richtig, weil alle Strukturen ihre Existenz der unglaublichen Mobilität der Elementarteilchen verdanken, aus denen sie zusammengesetzt sind.

Sie ist fehl am Platz, wenn damit Automobilität gemeint ist, jene Mobilitätsform, die derzeit global in jeder Minute mehr als zehn Menschenleben zerstört.

»Mobilität« ist ein relativ neuer, häufig gebrauchter und ebenso häufig missbrauchter Begriff. Wenn Begriffe im Sinne von Bausteinen einmal falsch bzw. unpräzise verwendet werden, so darf es nicht wundern, wenn auf ihnen errichtete Gebäude nicht mehr halten, was man sich von ihnen verspricht.

Schnelle und bequeme Verkehrssysteme haben diesem unserem »Zeitalter der Mobilität« ihren Namen gegeben und den Begriff Mobilität auf die Bewegung von Verkehrsmitteln auf Bahnen reduziert.

Im 19. Jahrhundert wurde Mobilität als »Rührigkeit, Beweglichkeit, Mobilmachung oder Mobilisierung, die Überführung militärischer Streitkräfte vom Friedens- auf den Kriegsfuß« definiert, zu jener Zeit also noch auf den Fußgänger bezogen.

Der Begriff »Soziale Mobilität« wurde 1927 von dem Soziologen Piritim Sorokin eingeführt. Mitte des 20. Jahrhunderts findet man unter diesem Begriff noch die Wohnungs- und die geistige Mobilität.

Heute weist das elektronische Nachschlagewerk unter »Mobilität« die räumliche, soziale, die Elektromobilität und die E-Mobilität, E-Mobility oder virtuelle Mobilität auf. Man findet den Begriff in der Astrophysik im Zusammenhang mit der Entstehungstheorie des Universums – dem Big Bang (»Urknall«) – jedoch nicht. Dabei hätte dieser Theorie nach – durch die Kombination aus extremer Energie und extremer Geschwindigkeit ohne Beschränkung durch Zeit und Raum – ein Maximum an Mobilität stattgefunden. Ein Zustand, der sich mit den heutigen Mobilitätsbemühungen decken würde: unbegrenzt verfügbare Exergie1 für immer höhere Geschwindigkeiten, die sich Raum und Zeit selber schaffen, gefördert durch Milliarden Steuergelder.

»Smart Mobility« und Elektromobilität, Elektro- oder Hybrid-elektrofahrzeuge mit vollelektrischer Fahrmöglichkeit (»Vollhy-brid«) für individuelle Mobilitätsbedürfnisse sollen bisher nicht zu bewältigende Probleme lösen.

Damit ist die geistige Mobilität aber schon ziemlich erschöpft. So merkt kaum jemand, dass es E-Mobilität schon seit jeher und überall gibt, vor allem im Kopf. Dies hat Ursachen, aber auch Folgen, und zwar positive, wenn sie uns zu Erkenntnissen, bzw. negative, wenn sie uns in Sackgassen oder in den Abgrund der Irrtümer führt.

Für die Zukunft erwartet man weiteres Mobilitätswachstum, schnellere und umweltverträglichere Verkehrsmittel, dadurch kürzere Reisezeiten und damit eine weitere Zunahme der Wahlfreiheit.

In den knapp 50 Jahren meiner Forschungsarbeiten und praktischen Tätigkeiten musste ich – zum Glück erst nach meiner Berufung zum Ordinarius – feststellen, dass nicht nur die Hoffnungen auf die Lösung damaliger Verkehrsprobleme, sondern auch auf die Weiterentwicklung umweltverträglicher Verkehrsmittel bislang enttäuscht wurden. Das Verkehrswesen wurde von den Möglichkeiten der technischen Verkehrsmittel so überrollt, dass die allgemeine Begeisterung für diese jedes kritische Denken, genau genommen jedes Denken überhaupt, verhinderte.

Mobilität, früher ein Problemlöser, ist heute zu einem Problemerzeuger geworden. Alle bisherigen Ansätze, den Problemen beizukommen, scheitern, weil man nicht die Ursachen, sondern die Symptome behandelt, und das noch so, dass die Therapie die Krankheit noch verschlimmert. Obwohl sich zunehmend deutlicher abgezeichnet hat, dass die komplexe »Mobilitätsmaschine« auf falschen Grundannahmen basiert, findet kein Paradigmenwechsel statt. Doch genau dieser steht an, wenn die Voraussagen herrschender Theorien, durch Hilfshypothesen, besser gesagt durch Ausreden gestützt, nicht mehr ausreichen, um die Widersprüche zu erklären.

Jenseits dieser Sackgasse jedoch, in die die Mobilität geraten ist, gibt es heute nicht nur einen praktisch erprobten, sondern auch schon einen theoretisch gangbaren Weg »zurück zur Mobilität«, der Natur, Menschen und Wirtschaft nicht mit noch mehr Kohle, Erdöl, Kern- und auch Solarenergie zerstört, sondern der die gewaltigen Ressourcen geistiger Energien aus ihrer Umklammerung befreien kann.

Ich danke meiner Frau, meinen Kollegen und meinen Freunden, die mich in der Zeit, in der ich dieses Buch geschrieben habe, unterstützten, mir halfen, manch eine Unklarheit auszuräumen, und mir mit Nachsicht zur Seite standen.

Weiters danke ich Frau Magª Wagerer vom Ueberreuter Verlag, die mich zu diesem Buch angeregt hat, und Frau Magª Ballauff für das wertvolle Lektorat.

Wien, im Februar 2013

Hermann Knoflacher

Ein Beispiel lebendiger Mobilität

Futterkästchen für Eichkätzchen haben einen nach oben aufklappbaren Deckel. Vorne sieht man durch eine Glasscheibe die begehrenswerten Nüsse. Zwischen oberem Rand und Deckel ist ein schmaler Streifen offen. Erfahrene Eichkätzchen haben kein Problem, an das Futter zu gelangen. Was aber macht ein Junges, dem dies noch unbekannt ist?

Ende November beobachtete ich solch ein junges Eichkätzchen, das in meinem Garten vor einem Futterkästchen saß. Es schnupperte an dem Rand entlang und versuchte zunächst, das Kästchen seitlich zu öffnen, was sich jedoch als unlösbar herausstellte. Dann versuchte es, den Deckel von oben zu öffnen, indem es sich draufsetzte. Was natürlich ebenso wenig zum gewünschten Ergebnis führte. Schließlich sprang es vom Futterhäuschen auf die etwa anderthalb Meter weit entfernten Äste, um sich die Sache aus der Ferne anzusehen. Es hüpfte zuerst auf den linken, dann auf den rechten Ast. Seine Vorgehensweise erinnerte an Maler, die einige Schritte von ihrer Staffelei weggehen, um Abstand zu ihrem Werk zu gewinnen. Und tatsächlich: Es dauerte nur wenige Minuten, bis das Eichkätzchen erkannte, dass die Lösung am oberen Rand liegen musste und dass der Deckel so aufging. Es zwängte seine Pfote in den Spalt und anschließend sein ganzes Vorderteil – und es hatte das Problem gelöst.

Einmal geistig mobil, ersparte es sich ab diesem Moment für immer unsinnige physische Mobilität.

Diese Zufallsbeobachtung veranschaulicht das Wechselspiel zwischen geistiger und physischer Mobilität, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen – aber nicht nur das. Denn anstatt sich in das unmittelbar vor ihm liegende Fachgebiet zu verbohren, um »mit dem Kopf durch die Glasscheibe« zu kommen, entfernte sich das Eichkätzchen vom Gegenstand seiner Begierde – sozusagen von seinem engeren Fachgebiet, das ihm Probleme bereitete –, um es mit dem nötigen Abstand in Augenschein zu nehmen und festzustellen, was es falsch machte. Eine beachtliche Leistung, wenn man sein Vorgehen mit dem vieler Fachexperten vergleicht.

Das Eichkätzchen hat im Kleinen praktiziert, was im Großen stattfindet: Mängel der geistigen Mobilität – das Nichtdurchschauen des Systems – mussten durch physische Mobilität – Sprünge auf die weiter entfernten Äste – kompensiert werden. Das Eichkätzchen brauchte nur wenige Minuten, um dieses neue System erfolgreich zu beherrschen, im Verkehrswesen jedoch dauert dies Jahrzehnte bis Jahrhunderte. Dafür gibt es Gründe. Hätte das Eichkätzchen seine Körperkraft mittels einer Maschine auf das Tausendfache vergrößert, so wäre das Futterhäuschen zertrümmert worden und das Eichkätzchen hätte nichts dazugelernt.

Die Kontrolle verloren

»Ich habe die Kontrolle über mein Fahrzeug nicht verloren, weil ich die ganze Zeit das Lenkrad fest in der Hand hielt!«

Dies gab ein Autofahrer zu Protokoll, der nach einem Überschlag und einer 300 Meter langen Rutschfahrt auf dem Autodach durch einen Bahndurchlass hindurch auf dem Acker landete.

Die geistige Verfassung unserer automobilen Gesellschaft kann man kaum besser beschreiben. Mit Technik und neuen Energiequellen werde man, so wird behauptet, sich abzeichnende Holperstrecken wie bisher überwinden, und das umso besser, je mehr Informationstechnologie in die Verkehrsmittel gepackt wird. Solche und ähnliche Versprechen hört man seit über einem halben Jahrhundert, eingelöst wurden sie nicht. Je mehr man sich bemühte, desto größer und unlösbarer wurden nicht nur die Verkehrsprobleme, sondern auch die Finanzlage der Kommunen und Länder, die Lärm- und Abgasprobleme, abgesehen von den Auswirkungen auf die Sozialsysteme und die Umwelt. Während CO2-Emissionen aus den Haushalten und der Industrie seit Jahren rückläufig sind, steigen sie im Mobilitätssektor weiterhin an. Dies sind Indizien dafür, dass man – entgegen allen Zielsetzungen und Maßnahmen – die Kontrolle über die Entwicklung verloren hat.

Schon die Formulierung »Ich fahre mit dem Auto« ist eine Verdrehung der Tatsachen. Denn tatsächlich fährt das Auto – durch eine mit Treibstoff angetriebene Maschine – mit mir, und zwar nicht einmal immer dorthin, wohin ich will, sondern dorthin, wo ich einen Abstellplatz für das Auto finde, den ich in der Regel obendrein bezahlen muss. Auch den Treibstoff für das Auto muss ich kaufen.

Die Kontrolle kann auch durch noch so gut gemeinte Kurse für »Mobilitätsbeauftragte« oder geförderte »Transport Learning«-Aktivitäten offensichtlich nicht gewonnen werden. Die dem System inhärente Eigendynamik ist stärker, weil man sie nicht in den Griff bekommt, sie nicht »begreift«. Wir waren zwar in der Lage, die Geschwindigkeit der Mobilität von Personen, Gütern und Nachrichten durch ständige Beschleunigung zu erhöhen, nicht aber dazu, sie verantwortungsvoll zu beherrschen. Nicht nur die zahllosen Verkehrstoten, sondern auch die Schäden, die das Finanzsystem anrichtet, beweisen das. Über ein Jahrhundert gewachsene Sozialsysteme werden zerstört und auch die Folgen für die Umwelt und das Klima können nicht mehr geleugnet werden. Wie beim Zauberlehrling überfluten die Autos die Städte und das Land. Ganze Kulturen und wirtschaftliche Strukturen gehen in dieser Mobilität unter.

Wenn der Zusammenhang verloren geht …

… zerfällt die Struktur, die physische ebenso wie die geistige. Das System macht sich selbstständig, so wie auch das der technischen Mobilität.

Erklärungen dafür könnten sein:

Das technische Verkehrssystem ist der Gesellschaft »passiert«, ohne dass sie darauf vorbereitet war.Um mit den Kräften der Maschinen ohne Hirn, angetrieben durch fossile Energie, fertigzuwerden, wurden Behauptungen aufgestellt. Diese tradierte man ungeprüft einfach weiter, sobald sie als allgemein akzeptiert galten.Fundierte Grundlagen standen für den Umgang mit dieser neuen technischen Mobilität nicht zur Verfügung. Man extrapolierte individuelle und historische Erfahrungen bedenkenlos auf ein bisher nicht bekanntes System, ohne etwaige Folgen in Betracht zu ziehen.Das Wunder der mühelos schnellen Fortbewegung erzeugte Mythen wie etwa »Wachstum der Mobilität«, »Zeitgewinn durch Geschwindigkeitserhöhung«, »Freiheit der Verkehrsmittel«. Dadurch wiederum entstanden Dogmen in der Lehre aller Verkehrsdisziplinen und der Verkehrspolitik.Die überzeugenden Erfolge technischer Verkehrsmittel in der und für die Industrie, die Kriegsführung und – dank billiger fossiler Energie – auch für die Menschen, die sich motorisieren konnten, ließen keine Zweifel an der Richtigkeit ihres Einsatzes aufkommen. Der Mensch, die »Krone der Schöpfung«, setzte hier wie in kaum einem anderen Gebiet die Evolution mit technischen Mitteln erfolgreich fort. Alles schien technisch machbar zu sein.Teile der »überlebenden« Wirtschaft eliminierten mit diesem Verkehrssystem mühelos ihre frühere Konkurrenz und entwickelten sich zu treibenden Kräften öffentlich finanzierter Mobilität. Die Macht der heutigen Konzerne begann mit den Eisenbahnen.Hatte dereinst kaum jemand auch nur ein Pferd, so verfügen in den hochmotorisierten Ländern die meisten Menschen über Hunderte von Pferdestärken zwecks bequemer individueller Fortbewegung.Das Mobilitätswachstum – gemeint ist die räumliche Bewegung – ist unaufhaltsam.2

Mit dem Erfolg stellten sich jedoch auch Probleme ein und die Automobilität begann zu stocken. Man versuchte, die Probleme zunächst »wegzubauen«, dann mithilfe der Elektronik »wegzusignalisieren«, »wegzunavigieren« und schließlich »wegzumanagen«. Dadurch ergaben sich zwar lukrative Geschäftsfelder für neue Industriezweige und Forschungsbereiche, aber keine Lösung der Probleme.

Man kann sich heute auf dem Automonitor anschauen, dass man im Stau steckt, und bekommt Umleitungen empfohlen, die womöglich wieder in einen Stau führen. Es ist kein Wunder, dass die geistige Energie der physischen nicht folgen kann, wenn sie vor allem dafür verwendet wird, die physische noch schneller zu machen.

Man kann ja auch beispielsweise beim schnellen Laufen nicht besonders gut scharf denken. Wer sich schnell und bequem auf einem Irrweg befindet, merkt das nicht – oder zu spät. Auswege aus einem Labyrinth sind leichter zu finden, wenn man es überblicken kann, als wenn man in ihm unterwegs ist. Je schneller man sich bewegt, desto leichter verliert man den Über- und Rückblick. Wenn die geistige Mobilität der Bewegung nicht mehr folgen kann, dann kann Beschleunigen das Begreifen nicht erleichtern. Fehler lassen sich nicht beseitigen, indem man sie noch vergrößert. Doch paradoxerweise wird genau das im Verkehrswesen versucht bzw. gemacht.

Der Erkenntnisweg führt immer gegen den Entstehungsweg

Will man zu dem Punkt gelangen, an dem die geistige von der technischen Mobilität überholt wurde, so muss man den Weg von den Erscheinungsformen und Symptomen zurück zu den Ursachen finden.

Schon bei der Frage nach der richtigen Breite von Fahrstreifen für jeweilige Geschwindigkeiten musste man in jene Schichten vordringen, in denen die Evolutionswege der Krabben noch nicht von unseren getrennt waren3, um den Mechanismus zu begreifen, der uns befähigt, ein Auto in der Spur zu halten.

Alle Strukturen des technischen Verkehrssystems sind künstlich. Sie entstanden in den Köpfen der Menschen. Dort müssen auch die Ursachen für die Probleme der heutigen Mobilität zu finden sein. Der Weg dahin führt zwangsläufig durch viele Schichten der Evolution und zu den diesen Schichten zugeordneten Disziplinen. Deren Vertreter können wichtige Orientierungshilfen liefern, die wiederum zu Verbindungen in noch tieferen Schichten führen, in denen die Ursache dieser willkommenen Verengung geistiger Mobilität möglicherweise liegt.

Begleiter auf diesem Weg sind die Evolutionstheorie und die evolutionäre Erkenntnistheorie4 ebenso wie der notwendige kritische Abstand zu den Werkzeugen, mit denen wir die Wirklichkeit produzieren.5

Für die Naturwissenschaftler ist die Wirklichkeit der Inbegriff dessen, was erfahren wird. Das bedeutet, dass die naturwissenschaftliche Wirklichkeit auf Antworten beruht. Die Tatsachen entwickeln sich durch das Zugreifen des Forschers. Techniker ihrerseits greifen diese Tatsachen auf und wenden sie, leider oft ohne Kenntnis der Grenzen und Einschränkungen der Gesetze und Annahmen, an, wenn sie in die Komplexität der Welt eingreifen. Auch Folgen ihrer Handlungen liegen dann außerhalb der Reichweite ihres Begreifens.

Zunächst ist der Frage nachzugehen, ob uns die mühelose, technisch gestützte Mobilität intelligenter gemacht hat. Dass für ihre Entwicklung und Aufrechterhaltung Intelligenz notwendig war, steht außer Zweifel. Ob das jedoch ausreicht, um die Folgen der Eingriffe zu begreifen, darf bezweifelt werden. Deshalb ist der Vergleich mit einer Lebensform zweckmäßig, die als immobil gilt, wie etwa die der Pflanzen und Pilze.

Warum sind Pflanzen so erfolgreich?

Es erscheint paradox, dass Pflanzen, die ortsgebunden und somit immobil sind, in der Lage waren, sich global auszubreiten. Es ist ihnen gelungen, das Land um 100 Millionen Jahre früher zu erobern als Tiere. Sie mussten dabei eine Fülle neuer Probleme lösen, also »intelligent« handeln. Dabei haben sie sich nicht nur an unterschiedlichste Bedingungen angepasst, sondern auch die Erde und ihre Atmosphäre nachhaltig verändert – denken wir nur an den Sauerstoff, auf den wir angewiesen sind.

Wie kommt es zu der unglaublichen Artenvielfalt – es sollen zwischen 360 000 und 500 000 Arten sein –, zu ihrer erstaunlichen Flexibilität, Kooperation, Symbiose und zu dem »Einfallsreichtum« ihrer Bildungsstrategien, die wir erst beginnen zu begreifen? Pflanzen decken ihren Energiebedarf durch Licht und ihre Transportbedürfnisse durch Solarenergie und mobile Lebewesen ab. Eine Fülle von Innovationen, entwickelt und erfolgreich in die Praxis umgesetzt ohne Internet, TV und Hochgeschwindigkeitszüge. Durch ihre Leistungen konnten sie manchen Unsinn der Menschen kompensieren – bisher zumindest.

Ist Systemintelligenz das Ergebnis fehlender physischer Mobilität? Fast könnte man daran glauben, denn Pflanzen haben ja offensichtlich Zeit und Muße genug, über diese Strategien »nachzudenken«, da sie nicht gezwungen sind, aggregierten Energiepaketen nachzujagen. Auch Menschen verdanken ihre Fähigkeit zum intelligenten Handeln nicht der Fortbewegung, zu der sie fähig sind, sondern es kommt auf die geistige Mobilität an.

Erfolgreich trotz geringer physischer Mobilität

Wäre es so, wie es der Kabarettist Roland Düringer beschreibt, dass die klugen Affen auf den Bäumen blieben, während die dümmeren herunterstiegen, sich aufrichteten, vom Säbelzahntiger gesehen und gefressen wurden, gäbe es uns heute nicht.

Der aufrechte Gang war nicht nur energieaufwendig, sondern viel zu langsam und hätte die Überlebenschancen gewaltig reduziert, wäre die beschleunigte Hirnentwicklung nicht in die Bresche gesprungen, um dieses Defizit an physischer Mobilität durch geistige zu kompensieren. Man musste sich auf möglichst viele Alternativen einstellen, denn auch nur eine einzige zu übersehen, konnte das Leben kosten. Und genau diese Anforderung an die geistige Mobilität findet man in ihrer heutigen Definition: Denken und Handeln in Alternativen. Eine Alternative mehr bedeutet einen zusätzlichen Freiheitsgrad, und wer diesen nutzen kann, hat mehr Chancen. »Ashby’s Law« taucht hier auf, was schon vor vielen Millionen Jahren notwendig war, sonst hätte es einen Ashby6