VIRUS AUTO 4.0 - Hermann Knoflacher - E-Book

VIRUS AUTO 4.0 E-Book

Hermann Knoflacher

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Beschreibung

Der österreichische Verkehrsexperte Hermann ­Knoflacher analysiert und beschreibt die Fehlentwicklungen unserer vom »Virus Auto« befallenen Gesellschaft. Trotz der enormen Umweltschäden und hohen Unfallzahlen wachsen Jahr für Jahr die Autobahnlandschaften, steigen die Belas­tungen durch Abgase und Lärm, sodass sich die Frage stellt, warum der Mensch sein Verhalten nicht ändert. Hermann Knoflacher gibt praxiserprobte Antworten und zeigt Wege aus der Misere auf. »Knoflachers Vorschläge zu einer umweltschonenden und menschenwürdigen Verkehrspolitik haben gesellschaft­liche, ethische und verkehrspolitische Substanz.« Sacha Rufer (umweltnetz-schweiz) »Entgegen dem weitläufigen Begriff des ›weißen alten Mannes‹ ist Hermann Knoflacher ein weiser alter Mann, der trotz aller Gegenwehr mit unfassbar viel Charme, Kompetenz und Hingabe daran arbeitet, die öffentlichen Räume den Menschen zurückzugeben. Sein Durchhaltevermögen beeindruckt mich sehr. Ich habe alle seine Bücher gelesen und immer wieder gerne Interviews und Podcasts mit ihm gehört. Es könnte traurig sein, dass seine Werke noch so aktuell sind, aber ich sehe die Neuausgabe von Virus Auto als Chance, die Menschen wachzurütteln und das Richtige zu tun: Mobilitätswende jetzt – das Auto raus aus den Köpfen!« Katja Diehl (Autokorrektur)

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Seitenzahl: 492

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Hermann Knoflacher, Virus Auto 4.0

Hermann Knoflacher (*1940 in Villach) studierte Bauingenieurwesen, Mathematik und Geodäsie. Der emeritierte Professor und ehemalige Vorstand des Instituts für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der TU Wien realisierte zahlreiche Verkehrskonzepte, u. a. in Wien, Graz und Hamburg. Er ist Mitglied des Club of Rome, Präsident des Club of Vienna und war globaler Fußgehervertreter bei den Vereinten Nationen in Wien.

Die Wiener Professorin Helga Kromp-Kolb wurde durch ihre Forschungstätigkeit und ihr Engagement im Bereich des globalen Klimawandels bekannt.

Maria Vassilakou war von 2010 bis 2019 zweite Bürgermeisterin der Stadt Wien und maßgeblich für erfolgreiche verkehrsberuhigende Maßnahmen verantwortlich.

Hermann Knoflacher

VIRUS AUTO 4.0

Lebensraum für Mensch und Natur in Stadt und Land

Mit Beiträgen von

Helga Kromp-Kolb und Maria Vassilakou

Alexander Verlag Berlin

Hinweis:

Aus Gründen der Lesbarkeit wird auf die Verwendunggenderspezifischer Sprachformen verzichtet: Es sind ausdrücklich alle Geschlechteridentitäten gemeint.

Erweiterte, aktualisierte und vollständig überarbeitete Neuausgabe

© Alexander Verlag Berlin 2024

Alexander Wewerka, Fredericiastraße 8, D-14050 Berlin

[email protected] | www.alexander-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Soweit nicht anders angegeben, stammen die Handzeichnungen von Hermann Knoflacher.

Wir danken dem Carl Ueberreuter Verlag Wien.

Lektorat/Korrektorat: Katja Karau

Satz/Layout/Covergestaltung: Antje Wewerka

Coverabbildungen: Nicolas Bascop. www.nicolasbascop.com

ISBN 978-3-89581-610-9 (eBook)

Inhalt

Vorwort

von Maria Vassilakou

Von Systemen und Szenarien

von Helga Kromp-Kolb

Vorbemerkung

Der Mythos des Feuers und die Erfindung des Rades

Die Beschleunigung der Menschheit

Verkehrswesen und Verkehrspolitik im Bann der Mobilität

Die Zerstörung des Lebensraums durch das Auto

Eingriff in die menschliche Evolution: Gehirn und Genom

Das Virus Auto und seine verheerenden Wirkungen

Leben ohne Autozwang – Befreiung aus der Diktatur des Autos

Nachbemerkung

Anmerkungen

Bildnachweise

Danksagung

Maria Vassilakou

Vorwort

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so ist das erste Alltagsbild, das mir abseits der glücklichen Momente in den Sinn kommt, der Rücksitz unseres Autos. Ich wuchs im Athen der 1970er-Jahre auf und verbrachte meine Kindheit – genauer gesagt ein Viertel davon – im Stau. Das ist keine Übertreibung; allein die tägliche Fahrt zur Schule und zurück nahm drei Stunden in Anspruch, mühsam quälten sich die Autokolonnen während der morgendlichen und nachmittäglichen Rushhour im Schritttempo voran, und das ist mangels brauchbarer Alternativen in vielen Teilen der Athener Metropolenregion auch heute noch so.

Versuche ich heute, meiner Generation den Verlust an Lebensqualität bewusst zu machen, den die Fixierung unserer Lebensstile auf das eigene Auto tagtäglich »kostet«, spreche ich dabei nicht von Geld oder Lärm oder schlechter Luftqualität, sondern in erster Linie von Zeit. Produktive Zeit, Erholungszeit, Zeit mit der Familie und Freunden, Qualitätszeit – Zeit, die wir täglich im Stau verlieren. In der Tat ist Zeit das knappste und kostbarste Gut unserer Generation, und dennoch verschwenden wir in vielen Teilen der Welt täglich im Schnitt bis zu drei Stunden davon im Stau. Übers Jahr zusammengerechnet, ist es ein zweiter Urlaub, den man komplett im Auto verbringt. Würde ich Ihnen zwei Stunden täglich freischaufeln und schenken, wo würden Sie sie verbringen? Doch nicht etwa freiwillig im Auto. Eben …

Doch es sind weder meine Kindheitserfahrungen noch meine lebensphilosophische Auseinandersetzung mit der Zeit und deren Vernichtung, weshalb Hermann Knoflacher mir antrug, das Vorwort zur Neuauflage seines Werkes Virus Auto 4.0 beizusteuern.

Von 2010 bis 2019 hatte ich als Wiener Stadträtin für u. a. Stadtplanung und Verkehr das Privileg, jene zwei für die Lebensqualität in unseren Städten entscheidenden Handlungsfelder miteinander verbinden zu können, um eine zunächst etwas überraschende Antwort auf die ewige Frage »Für wen wird die Stadt geplant?« zu geben. Eine gute Stadt, eine Stadt, in der wir gerne leben, ist eine Stadt, die für Kinder geplant und gebaut wird. Doch warum ausgerechnet für Kinder?

Zweifelsohne hat die autozentrierte Stadtplanung vergangener Jahrzehnte unsere Städte so weit zerstört, bis nur noch diejenigen in Stadtzentren wohnten, die sich nichts »Besseres« leisten konnten. Von den trostlosen, nach Büroschluss menschenleeren und gefährlichen US-Downtowns über die Tausenden von Menschen, die entlang von Hauptverkehrsadern hinter verschlossenen, verstaubten Fenstern ihr Leben fristen, bis hin zu jenen Vororten, die sich zwischen Autobahnen und Industriegebieten in die Landschaft ausbreiten, so weit das Auge reicht – die autogerechte Stadt ist vor allem mit zwei vollkommen falschen Grundannahmen verbunden:

Dass es keine Rolle spielt, wie weit man es von zu Hause zur Arbeit, zur Schule, zum Gemüseladen oder zur Apotheke hat – mit dem Pkw ist das schließlich kein Problem.

Dass es in den eigenen Aufgaben- und Verantwortungsbereich fällt, diese Wege – also sämtliche täglichen Mobilitätsbedürfnisse – zu finanzieren und zu organisieren; mit dem Pkw ist das ja kein Problem.

Also hat die öffentliche Hand vorwiegend nur zwei Aufgaben zu erfüllen: nämlich Straßen zu bauen und für billigen Sprit zu sorgen. Alles andere liegt in der Verantwortung des Einzelnen. Nun, und da die Städte, je weiter man Richtung Zentrum fährt, zu unerträglich heißen, lauten, zugestauten und trostlosen »Asphaltwüsten« verkommen sind, bleibt einem kaum etwas anderes übrig, als sich nach dem schöneren Leben, nach dem Häuschen im Grünen am Stadtrand zu sehnen und – spätestens, nachdem sich das erste Kind angekündigt hat – auf dieses Häuschen und ein Zweitauto hin zu sparen. Ein Circulus vitiosus, der jegliche Urbanität erstickt, Städte aus Häuschen wachsen lässt wie endlose Teppiche und Menschen unabhängig von deren Alter, Beruf oder Einkommen in denselben Stau steckt.

Einen anderen Weg der Städteplanung findet man, wenn man sich fragt, was es denn genau ist, was man sich für die eigenen Kinder wünscht. Man möchte ihnen eine schöne Kindheit ermöglichen, das Aufwachsen in einer sicheren und gesunden Umgebung, die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, den Zugang zur Natur, Laufen, Schwimmen, mit dem Wasser spielen. All das wünscht man sich genauso für sich selbst. Die Antwort auf »Suburbia« sind Städte, die diese Lebensqualität überall zu bieten haben, vom Stadtrand bis ins Zentrum. Städte, die für Kinder gut sind, sind Orte des Lebens, die gut sind für uns alle.

Was uns bevorsteht, ist der radikale Umbau unserer Städte, um unserer eigenen Definition von Lebensqualität und unser aller Recht auf ein gutes Leben Rechnung zu tragen. Die Vorstellung von einer schönen Stadt, in der man leben will – nicht muss –, für die man den Stadtrand gern hinter sich lässt, ist längst keine Utopie mehr; sie wird von einem stetig wachsenden Teil der Bevölkerung eingefordert und erwartet. Der Trend zum »Outdoor«-Leben im Herzen der Stadt führt unweigerlich zur Wiederentdeckung des öffentlichen Raums und damit zu einer Neudefinition des Straßenraums. »Rethink the Street« lautet denn auch weltweit das Motto, man begreift die Straße als urbanen Lebensraum und die Verwandlung dieser bisherigen transitorischen Nicht-Orte in Orte des guten Lebens schreitet überall voran – von den New Yorker Mini-Piazze und der Umgestaltung des Times Square über das Mailänder Pocket-Park-Programm und die Super-Blocks in Barcelona bis hin zur Umwandlung der Mariahilfer Straße in Wien zu einer Kombination aus Fußgänger- und Begegnungszone, die den Weg für unzählige weitere Verkehrsberuhigungs- und Straßenumwandlungsprojekte ebnete, darunter das Wiener »Coole Straßen«-Programm.

Um Städte fürs Leben zu schaffen, braucht es Raum und Zeit! Die Transformation unserer Städte ist nicht zuletzt eine Frage der Umverteilung dieser zwei knappsten Ressourcen des 21. Jahrhunderts. Es gilt daher, den von Autos okkupierten Raum ebenso wie die im Fahrersitz hinter dem Steuer verbrachte Zeit wieder für andere Zwecke zurückzugewinnen.

Hier stellt sich die Frage, wie man das im großen Maßstab schaffen, wie man über die Ebene der Pilotprojekte und Demonstratoren hinauswachsen kann. Systemischer Wandel kann meines Erachtens nur gelingen, wenn zwei Grundvoraussetzungen zusammenkommen:

Erstens: massive Investitionen in die Entwicklung bzw. den weiteren Ausbau brauchbarer Alternativen, wie es sie seit den Anfängen im späten 19. Jahrhundert nicht mehr gegeben hat. Und zweitens: die Bereitschaft, selbst zu handeln. Ein grundlegender Wandel kann von oben weder verordnet noch umgesetzt werden. Es braucht funktionierende Alternativen und Steuerungsinstrumente, eine Politik, die handelt und neue Perspektiven eröffnet. Beispiele dafür gibt es genug: Umgestaltungen des öffentlichen Raums, Walkability-Strategien, die 365-Euro-Jahreskarte in Wien, die City-Maut in London und Stockholm. Und dennoch ist tiefgreifender Wandel nicht allein eine Frage der Infrastruktur. Gesellschaftlicher Wandel und neue Alltagskulturen brauchen genauso Ermöglichungsräume! Es mag sein, dass die Umwandlung der Mariahilfer Straße in eine Fußgängerzone nach vier Jahren voller Kontroversen alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat; wirklich entscheidend jedoch sind die bis heute von den Bürgern und lokalen Communitys aus eigener Kraft und Initiative umgesetzten Grätzel-Oasen: Mehrere hundert kleine lokale Projekte, die mit einfachsten Mitteln umgesetzt wurden und die genauso wie große Umgestaltungsprojekte (wie etwa die Umgestaltung der Herrengasse in eine Begegnungszone), die mit erheblicher finanzieller Beteiligung und auf Initiative der lokalen Immobilienbesitzer erfolgten, eines gemeinsam haben: sie alle wurden von Bürgern initiiert und mit Unterstützung der Stadt umgesetzt. Sie alle belegen eindrucksvoll: Wandel gelingt nur, wenn alle Seiten zur Tat schreiten.

Chancen zum Umdenken gibt es genug, auch wenn wir uns etliche der Anlässe lieber erspart hätten. Extreme Sommerhitze, die Bedeutung großzügiger, nahegelegener, nutzbarer Grünräume während der Pandemie, die infolge der aktuellen Energie- und Inflationskrise galoppierenden Benzinkosten, die bescheidene Erwerbseinkommen auffressen. Die alte Pkw-Gleichung stimmt nicht mehr – falls sie denn je gestimmt hat. Längst fällt auf, dass die oben erwähnten zwei Grundannahmen der 1970er-Jahre nie gestimmt haben, sondern durch die folgenden ersetzt werden müssen:

Eine gute Stadt bietet alles, was ich täglich brauche, in Gehdistanz. Von zu Hause in die Schule, in den Gemüseladen oder die Apotheke sollte der Weg zu Fuß nicht länger als fünf bis zehn Minuten dauern.

Den Weg zur Arbeit legt man in maximal dreißig Minuten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Die Kosten fallen weit geringer aus, die Verantwortung für die Bereitstellung wird nicht auf den Einzelnen abgewälzt. Ein fairer Zugang zur Mobilität hat mit weit mehr als mit gewonnener Lebenszeit zu tun.

Anders gedacht, stellt Mobilität allem voran den Zugang zu Ressourcen und somit ein grundlegendes Recht dar. Das Abwälzen der damit zusammenhängenden Kosten und Verantwortung auf den Einzelnen ist eine Form sozialen Versagens.

Bleibt die Frage: Schaffen es unsere Gesellschaften in absehbarer Zeit, Mobilität anders zu denken?

Mein Ausblick fällt diesbezüglich optimistisch aus. Irgendwie ist Andersdenken auch eine Art Virus. Eines mit katalytischer Wirkung. Das gute Virus heißt Entschleunigung und Zeit für Lebensgenuss. Und schöne Städte, in denen man leben möchte! Ob sich dieses Virus schnell genug ausbreitet, daran mögen sich die Geister scheiden. Hauptsache, es breitet sich aus.

Helga Kromp-Kolb

Von Systemen und Szenarien

Das Virus in Virus Auto 4.0 ist von Hermann Knoflacher durchaus ernst gemeint. Er sieht Parallelen zwischen dem Andockpunkt und dem Wirken eines Virus im Körper des Individuums und als Pandemie in der Gesellschaft und denen des Autos im Individuum und in der Gesellschaft. Wie man mit einem Virusbefall umgeht, insbesondere wenn er nach WHO-Definition zur Pandemie geworden ist, haben wir ja in den letzten Jahren erfahren: Abstand halten, Maske tragen, Lockdowns, sogar Pflichtimpfung. Ob sich die Menschen dem ebenso willig gefügt hätten, wenn COVID-19 nicht mit Fieber, Müdigkeit und Atemnot einhergegangen wäre, sondern Angenehmes bewirkt hätte? Wenn es mit einem Gefühl der Stärke und Macht verbunden gewesen wäre und darüber hinaus so manche Mühsal aufgehoben hätte? Wohl kaum – das Virus hätte sich ziemlich ungehindert ausgebreitet! Und wenn man dann gemerkt hätte, dass im Rausch des Hochgefühls die Lebensgrundlagen – Obdach, Kleidung und Nahrung – verloren gehen? Was dann? Hätte die Vernunft (Knoflacher: »das Gehirn«) über den Bauch (Knoflacher: »das Genom«) gesiegt? Welche Maßnahmen müsste eine Regierung verordnen, die ihrer Kernaufgabe gerecht werden und die Lebensgrundlagen retten will? Was, wenn die Regierungsmitglieder selbst erkrankt sind? Wer kann dann noch das Ruder herumreißen? Die Wissenschaftler? Knoflacher lässt keinen Zweifel daran, dass es auch um diese nicht so gut bestellt ist – zumindest was die Verkehrswissenschaftler angeht. Denn die, so Knoflacher, seien von solchen ausgebildet worden, die ihrerseits vom Autovirus befallen seien, und so pflanze sich die Krankheit von Professorengeneration zu Professorengeneration fort, das System reproduziere sich selbst.

Er spricht damit eines der Probleme des universitären Systems an. Erfreulicherweise gibt es aber dennoch immer wieder Ausreißer, wie etwa Hermann Knoflacher selbst, die mit erfrischend neuem Denken alte Probleme zerlegen und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Zu deren Umsetzung können sie aber nur punktuell beitragen, sonst wäre das Buch Virus Auto 4.0 schon längst nur mehr von historischer Bedeutung, eine aktualisierte Auflage hätte sich erübrigt.

Es ist erstaunlich, dass mehr als fünfzig Jahre nach Erscheinen von Die Grenzen des Wachstums und trotz der Übersetzung in mehr als dreißig Sprachen und der weltweit über dreißig Millionen verkauften Exemplare die beiden dieser epochalen Analyse zugrunde liegenden Methoden – Systemdynamik und Szenarientechnik – noch immer nicht zur Allgemeinbildung gehören. Das gilt jedenfalls für die Systemdynamik. Die Szenarientechnik ist mittlerweile in der Klimaforschung gang und gäbe und hat nach dem ersten Ölpreisschock 1973 auch die Wirtschaft erreicht.* Dennoch höre ich immer wieder, dass die »Vorhersagen« der Klimaforscher nicht gestimmt hätten, und dass dies für die »Vorhersagen« bezüglich der Grenzen des Wachstums sowieso gelte. Offenbar können sehr viele Menschen nicht unterscheiden zwischen Szenarien und Vorhersagen.

In der Verkehrsplanung sind Szenarien inzwischen zwar gebräuchlich, es dürfte aber häufig an der vorausgehenden systemdynamischen Analyse fehlen. Zukunftsszenarien gibt es nämlich unendlich viele, nutzbringend sind aber nur wenige. Extrapolationen bisheriger Trends reichen jedenfalls nicht aus. Auch die Klimaszenarien beruhen nicht auf Temperaturextrapolationen, sondern auf möglichen gesellschaftlichwirtschaftlichen Entwicklungen, die Demographen, Soziologen, Politologen und Ökonomen beisteuern. Die Kunst der Szenarienwahl liegt nämlich darin, die Grenzen der Systeme, die analysiert werden sollen, richtig zu wählen. Dabei können systemdynamische Modelle hilfreich sein.

Diese systemdynamischen Modelle haben noch einen weiteren Vorteil: Wenn das System verstanden wird, lässt sich abschätzen, welche Eingriffe sich wie auswirken werden. Das kann man sich zunutze machen, indem man selbstverstärkende Rückkopplungen, die eine erwünschte Entwicklung darstellen, unterstützt, und solche, die in unerwünschte Richtungen führen, unterbindet. Fördert eine Schule z. B. das Radfahren durch Bereitstellung überdachter Fahrradständer, werden mehr Schüler zur Schule radeln. Der Bürgermeister gerät unter Druck, die Radwege sicherer zu gestalten. Je besser das gelingt, desto mehr Schüler kommen per Rad zur Schule, desto mehr weitet sich das Radwegenetz aus, desto eher können auch andere über einen geeigneten Radweg zur Arbeit usw. fahren. Der Mobilitätsmix verschiebt sich hin zur aktiven Mobilität – angesichts der Klimakrise, aber auch solcher Faktoren wie Verkehrssicherheit, Luftqualität, Lärm und Gesundheit eine wünschenswerte Entwicklung.

Umgekehrt zeigt ein Beispiel, das wir gerne mit unseren Studierenden bearbeiten, dass man sich durch ein entsprechendes Systemverständnis ungeeignete Maßnahmen ersparen könnte: Ein Politiker ist ratlos, weil die Emissionen des Autoverkehrs wieder einmal zu hoch sind. Zuvor hatte er Druck auf die Industrie ausgeübt, effizientere Automotoren zu produzieren. Kurzfristig war er damit erfolgreich und die Emissionen des Autoverkehrs sanken. Die Bürger waren sehr zufrieden, denn das Autofahren wurde durch den reduzierten Spritverbrauch erschwinglicher. Doch jetzt steigen die Emissionen wieder an und liegen über dem ursprünglichen Wert. Gleichzeitig erreichen Politik und Verwaltung immer mehr Forderungen nach einem Ausbau des Straßennetzes, weil die Menschen auf dem Weg zur Arbeit im Stau stehen. Gibt der Politiker dieser Forderung nach, gerät er in Teufels Küche, die Emissionen werden weiter steigen, und er muss noch weiter ausbauen. Denn – so lautet eines der ständigen Mantras von Hermann Knoflacher – breitere, »schnellere« oder mehr Straßen produzieren auch mehr Verkehr. Selbst eine weitere Erhöhung der Effizienz wird in diesem Fall nicht helfen, denn das wurde ja bereits versucht. Die Systemgrenzen sind offenbar zu eng gesteckt: Die Einführung von ausreichend hoch angesetzten Mautgebühren könnte helfen, ist aber unsozial; Fahrverbote wären zwar gerechter, aber auf andere Weise unsozial. Die eigentliche Lösung bieten sinnvolle Raumplanung und attraktive Alternativen – schattige Fußwege, die zum Verweilen einladen, Fahrradwege, öffentlicher Verkehr. Damit kann der Teufelskreis durchbrochen werden.

Das Faszinierende an der systemdynamischen Betrachtungsweise ist, dass sich typische Zusammenhänge quer durch alle Fachbereiche und Problemstellungen finden lassen, für die es auch prototypische Reaktionen zur Verstärkung oder Auflösung selbstverstärkender Rückkopplungen gibt, und dass ein klares Verständnis dafür existiert, welche Stellschrauben was bewirken. Selbst wenn die Modelle nicht quantifiziert werden, helfen sie bei der Planung enorm.

Hermann Knoflacher beklagt auf amüsante Weise anhand vieler verschiedener Beispiele aus dem Verkehrsbereich dieses mangelnde Systemverständnis, die zu eng gefassten Systemgrenzen und die unausweichlichen, aber sehr unangenehmen Folgen. Wenn sich Betroffene über die teilweise vielleicht auch als beleidigend oder kränkend empfundenen Formulierungen hinwegsetzen können, finden sie in Virus Auto 4.0 eine Fülle von Anregungen und Ideen, welche Fallen es zu vermeiden gilt und wie das Verkehrssystem klimakompatibel gestaltet werden könnte.

Angesichts des immer dringlicher werdenden Klimaschutzes ist dem Buch eine flächendeckende Verbreitung zu wünschen, vor allem aber die Umsetzung seiner Lehren.

* Pierre Wack hatte wenige Monate vor dem Ölpreisschock 1973 den CEOs der Fa. Shell zwei Szenarien vorgelegt – eines mit ruhigem Fahrwasser für die Firma und eines, in dem die Ölpreise dramatisch ansteigen würden. Wack hatte es auch verstanden, die Firmenleitung davon zu überzeugen, dass sie sich auf ein derartiges Szenarium vorbereiten sollte – und so kam Shell besser durch die Krise als irgendeine andere Ölfirma.

Hermann Knoflacher

Vorbemerkung

Vermutlich hat keine technische Innovation das Handeln des Einzelnen und der Gesellschaft so grundlegend beeinflusst wie das Auto. Abgesehen von einigen Versuchen zu Beginn der Motorisierung, die Vorrechte der Menschen im öffentlichen Raum zu erhalten, hat das Auto die Menschen letztlich wie von selbst dazu gebracht, Straßen in lebensbedrohliche Fahrbahnen umzubauen und mit Abstellplätzen für nicht benutzte Fahrzeuge – vielfach noch immer ohne Gegenleistung – zu versehen. Wenn es hingegen um das Primärbedürfnis Wohnen geht und darum, sich zu diesem Zweck allgemeines Eigentum anzueignen, wird dies von der Gesellschaft nicht toleriert. Im Freiland wird lebendige Natur mit hohem öffentlichen Aufwand unter Streifen und Flächen aus Beton und Asphalt begraben, mit denen Landschaften wie nie zuvor in der Geschichte des Verkehrswesens verändert und bestehende Lebensräume zerschnitten werden.

Was ist passiert, dass aus einer Welt für die Menschen, um die sie sich über die Jahrtausende bemüht haben, innerhalb nur eines Jahrhunderts eine Welt für das Auto und den Autoverkehr wurde – und das offensichtlich mit Zustimmung der Allgemeinheit?

In Büchern wie Die ruhelose Gesellschaft. Ursachen und Folgen der heutigen Mobilität (1973) von Vance Packard, Unwirtlichkeit unserer Städte: Anstiftung zum Unfrieden (1965) von Alexander Mitscherlich sowie dem 1961 von Jane Jacobs veröffentlichten Tod und Leben großer amerikanischer Städte (dt.: 1963) haben die Autoren versucht, anhand der sozialen und städtischen Symptome der Automobilität die Verluste und Gefahren der Motorisierungsentwicklung darzustellen. Das jedoch hat die Gesellschaft nicht davon abgehalten, diese wie unter Zwang weiterzubetreiben.

Erst über die Evolutions- und die evolutionäre Erkenntnistheorie führte der Weg auf der Suche nach den Ursachen dieser Entwicklung in das Stammhirn des Menschen, in dem das Auto seine Wirkungen so entfalten kann, dass sich die Wertesysteme der automobilen Gesellschaft derart verändern, dass sie den menschlichen zuwiderlaufen, dass Beton und Asphalt mehr geschätzt werden als die Natur, dass die Rechte der Autos Vorrang haben vor der Sicherheit und freien Mobilität unserer Kinder. Unsere Vernunft, beruhend auf den 0,1 bis 0,2 PS unserer menschlichen Fußgängermobilität, verliert durch die Hunderte von PS eines Pkw, mit dem wir zu einem Überwesen mit übermenschlichen Ansprüchen verschmelzen, mit Begeisterung den Bodenkontakt. Eine Verwandlung, die mit viel Engagement und Steuergeldern auch durch die Politiker unterstützt wird, in deren Köpfen sich das Autovirus ebenfalls eingenistet hat. Aktuelle Beispiele dafür gibt es allerorten in großer Zahl, ob in Berlin, Wien oder bei der EU in Brüssel, in Peking ebenso wie in unzähligen anderen Städten und Regionen der Welt. Wie alle anderen Viren auch ist das Autovirus global aktiv, umso mehr, wenn es wie bisher von allen Seiten unterstützt wird.

Die Situation der Vernunft scheint aussichtslos, wenn man die Unzahl an Versuchen betrachtet, das Virus auf der Ebene der Symptome zu bekämpfen, die mehr oder weniger sichtbar sind. Sie wäre weit weniger aussichtslos, wenn man stattdessen bei den Ursachen ansetzen würde. Diese aber befinden sich tief in unserem Stammhirn, das, vom Virus befallen, für das Auto denkt, für das Auto handelt, das Auto toleriert, wo es nicht tolerierbar ist, Autorechte fordert, auch wenn dafür fundamentale Menschenrechte drastisch beschnitten werden, ohne dass es die Autogesellschaft überhaupt merkt. Die eigentliche Normalität, dass es keine Autoabstellplätze geben sollte, wird als Anomalie der Autonormalität empfunden. Die Lösungen zur Wiederherstellung von Vernunft und Verantwortung für die Menschen liegen im Rechtssystem, in der Finanzordnung, in der Bildungspolitik, in der Verwaltungspraxis – Ziel muss es sein, die physische, finanzielle und rechtliche Zwangsbindung des Autos an die Menschen wieder aufzulösen. Da Viren bekanntlich ansteckend sind, ist ein permanentes Monitoring mit wirksamen Sanktionen gegen die dem Virus innewohnende Unmenschlichkeit unverzichtbar.

August 2023

DER MYTHOS DES FEUERS UND DIE ERFINDUNG DES RADES

Faszination des Feuers

Rund 800.000 Jahre soll es her sein, dass ein Homo erectus sich das Feuer bewusst zunutze machte. Jedenfalls lässt sich aus den Überresten von verbrannten Samen, Holz und Feuersteinen schließen, dass diese nicht zufällig an dem betreffenden Ort zusammenkamen. Systematischen Gebrauch des Feuers durch den Menschen kann man seit rund 300.000 Jahren nachweisen. Von einem Beherrschen des Feuers kann allerdings bis heute nicht gesprochen werden: Beherrschte die Menschheit das Feuer, dürften dessen Folgen in Form der Klimaerwärmung nicht global zum nahezu unlösbaren Problem werden.

Das Auto ist ein Kind des Feuers. Ohne Feuer gäbe es das Auto nicht und all das, was wir damit anstellen. Bis es allerdings dazu kam, waren die Vorläufer des heutigen Menschen schon fünf bis sieben Millionen Jahre zu Fuß unterwegs. Dabei haben sie das Feuer zunächst als Naturerscheinung kennengelernt, vor der sie sich vermutlich fürchteten und die sie als Bedrohung empfanden. Es mag manchmal vorgekommen sein, dass sie nach einem Brand fallweise in den Genuss verzehrbarer organischer Reste gekommen sind. Dies hat sicherlich ihre Neugier geweckt. Aber eine andere Erfahrung war wichtiger als die Geschmacksfrage, mit der sie es zunächst zu tun hatten: die Erfahrung, dass Fleisch oder Wurzeln so leichter zu zerteilen und zu kauen waren. Sie konnten sich damit Körperenergie für das Zerkleinern und Aufschließen dieser Nahrung sparen. Der Keim zur Bequemlichkeit, der im Homo erectus wie in allen Lebewesen angelegt ist, dürfte auch hier bereits zu finden gewesen sein. Dieses wunderbare Geschehen, das die Naturwissenschaft heute als physikalisch-chemischen Prozess bezeichnet, findet seinen Niederschlag in den Mythen – einst wie heute. Das Feuer: einst ein Geschenk des Himmels und heute eine wunderbare Quelle der Kraft im Motor. Was im Magen passiert, wird bis heute nicht ganz verstanden. So angenehm manche Erfindungen sein mögen, sie bergen oft das Verderben in sich, wenn man die langfristigen Folgen nicht bedenkt.

Feuerbringer Prometheus

Prometheus, dem die Götter Verstand und Vernunft gaben, damit er die Menschen lehre, hat diese Eigenschaften, wie der Mythos berichtet, auch dazu missbraucht, Zeus zu täuschen, als er ihm einen zu opfernden Stier in zwei Haufen zur Wahl darbot, die beide mit Stierhaut bedeckt waren. Der größere Haufen bestand aus Knochen, der kleinere aus Fleisch. Er wäre damit der ideale Schutzheilige der heutigen Verpackungsindustrie.

Er brachte den Menschen aber auch das Feuer, das Zeus ihnen vorenthalten hatte. Um den »Vorausdenkenden«, den Lehrmeister der Menschen zu ehren, wurde sein Altar bei Festlichkeiten mit Fackeln geschmückt. Allzu weit hat er aber nicht vorausgedacht. Vernunft und Verstand haben ihn nicht vor den fürchterlichen Folgen seiner Freveltaten bewahrt. Er wurde in der schlimmsten Einöde des Kaukasus an einen Stein geschmiedet und jeden Tag kam der Adler Ethon und fraß an seiner Leber. Nach Jahrhunderten der Qual erlöste ihn Herakles – zumindest teilweise, denn er musste weiterhin mit dem Eisenring und dem Stein des Kaukasus herumlaufen. Die Fußfessel ist also gar nicht so neu, nur scheint sie zwischendurch aus der Mode gekommen zu sein, denn Prometheus begegnet uns heute in vielfacher Form: unter den Bankern, den Konzernmanagern und Politikern, die in der jüngsten Finanzkrise »Das war nicht vorauszusehen« zur Standardformel für ihre Fehler machten. An den Stein geschmiedet sind aber nicht mehr die Verursacher, sondern die Bürger, denen der Adler täglich an der Leber frisst.

Prometheus’ Taten hatten zahlreiche Systemwirkungen zur Folge, die ein Vorausdenkender zu beachten gehabt hätte. Dazu hätte er aber nicht nur in der Lage sein müssen vorauszudenken, sondern auch die Fähigkeit besitzen müssen vorauszusehen. Die Griechen führen uns durch ihre Mythen in eindrucksvoller Weise vor Augen, welche Folgen unbedachtes Handeln nach sich ziehen kann.

Die Kunstfigur Pandora, von Hephaistos aus Lehm geschaffen, mit allen denkbaren Reizen ausgestattet, schenkte dem Bruder des Prometheus, dem »Nachherbedenkenden« Epimetheus, eine Büchse mit Unheil bringenden Gaben, die er entgegen einer früheren Warnung des Prometheus auch annahm. Pandora öffnete den Deckel und alles Übel kam heraus, nur die Hoffnung blieb in der Büchse zurück, als diese geschlossen wurde. »Wer nicht hören will, muss fühlen«: Epimetheus wäre der ideale Schutzpatron für all jene, denen der Fortschritt nicht schnell genug gehen kann, unter ihnen die für die Folgen ihrer Erfindungen blinden Wissenschaftler und Techniker wie auch jene, die nicht wissen, woher und wohin der sogenannte Fortschritt uns führt.

Die Bewegungsprothese

Zur Entstehung des Mythos trug auch die Metallverarbeitung bei, für die Hephaistos, der Gott des Feuers, zuständig ist. Mit seinen Gehilfen betrieb er eine Schmiedewerkstatt, in der er seine berühmtesten Werke, unter anderem den Wagen des Helios und Prototypen des Roboters, Schmuck und Produkte der Rüstungsindustrie, herstellte. Hephaistos’ körperliche Beeinträchtigung führte in Kombination mit seinem Beruf geradezu zwingend zum Bau von verschiedenen Prothesen wie dem Sonnenwagen, einer Bewegungsprothese für mühelose Erdumkreisungen. Ein Wunschtraum der Menschheit zeichnete sich ab, blieb aber für die Massen lange Zeit unerfüllbar.

Feuer war seit jeher ein Begleitelement von Gotteserscheinungen. Gott selbst erscheint im brennenden Dornbusch, und Abraham wird von ihm aufgefordert, seinen Sohn als Brandopfer darzubringen, nur um schließlich an Ort und Stelle darüber belehrt zu werden, dass mit dieser Unsitte endgültig Schluss sein solle. 2.500 Jahre später war die Menschheit – vom Glauben geleitet – nicht viel weitergekommen, als nämlich Hexen und Andersgläubige verbrannt wurden. Mit Brandopfern wollte man die Götter besänftigen – früher ein ungewisses Unterfangen; heutzutage greift man mithilfe von Naturwissenschaft und Technik gezielt in die göttliche Ordnung ein. Das Feuer macht es möglich. Eingesperrt in einer kleinen Brennkammer – dem Motor des Autos –, gezündet bei hoher Temperatur, ging ein Wunschtraum der Menschheit in Erfüllung: die mühelose Fortbewegung. Nutzen kann man das Feuer sinnvoll, aber auch weniger sinnvoll, wovon schon Das Lied von der Glocke von Friedrich Schiller erzählt:

Wohltätig ist des Feuers Macht,

Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht,

Und was er bildet, was er schafft,

Das dankt er dieser Himmelskraft,

Doch furchtbar wird die Himmelskraft,

Wenn sie der Fessel sich entrafft,

Einhertritt auf der eignen Spur

Die freie Tochter der Natur.

Wehe, wenn sie losgelassen

Wachsend ohne Widerstand

Durch die volkbelebten Gassen

Wälzt den ungeheuren Brand!

Denn die Elemente hassen

Das Gebild der Menschenhand.

Eine ziemlich zutreffende Verkehrsprognose des Friedrich Schiller!

Eine Vorausahnung des Autoverkehrs?

Problematisch ist die Unterscheidung von Zweck- und Schadfeuer, denn jedes sogenannte Zweckfeuer ist gleichzeitig auch immer ein Schadfeuer, wenn der Mensch nicht in der Lage ist, die Wirkungen des Feuers zu begreifen. Unmittelbar erlebt, verursacht es weniger Probleme, weil unsere Rezeptoren dem Hirn Informationen liefern. Mittelbar aber wirkt es im scheinbar Verborgenen und man merkt den langfristigen Schaden oft viel zu spät – denken wir etwa an Feinstaub oder CO2. Es ist immer gefährlich, wenn die »Vorausdenkenden« nicht auch von »Voraussehenden« begleitet oder, besser noch, kontrolliert werden. Seit der technischen Revolution will man aber von Voraussehenden nichts wissen, denn diese behindern, ja gefährden den sogenannten Fortschritt.

Die technische Zähmung des Feuers in der modernen Form ist gar nicht so alt. Erst im 19. Jahrhundert kam der geschlossene Ofen langsam in Verwendung, und der Herd löste die bis dato weitgehend offene Feuerstelle als Kochstelle ab. Das Feuer als Mittel zur Jagd wird sowohl von den Aborigines wie auch von der Gesellschaft der Hochmotorisierten genutzt. Den Aborigines erleichtert das Feuer das Aufscheuchen und Erlegen von Wildtieren, also die Nahrungsbeschaffung; der Autogesellschaft die Jagd auf Schnäppchen in den immer weiter von den Wohnungen entfernt liegenden Shoppingcentern, sichtbaren Auswüchsen der voranschreitenden Wüste der Nahversorgung infolge der Autonutzung. Erhoffte man sich im Altertum durch das Entzünden der Opferfeuer die Erfüllung menschlicher Wünsche durch die auf diese Weise gewonnene Zuneigung und das Wohlwollen der Götter, so ist es uns dank Naturwissenschaft und Technik in der Zwischenzeit gelungen, die Götter gefügig zu machen und sie durch das Entzünden des Feuers zum unmittelbaren und störungsfreien Einlösen dieser Wünsche zu zwingen. Millionenfach entfachen Autofahrer fast überall auf der Welt in den Motoren ihrer Fahrzeuge das mystische Opferfeuer, um das Wunder der mühelosen Überwindung von Entfernungen und einer hundertfach gesteigerten Körperkraft zu erleben. Die Götter müssen folgen – tun es aber nur scheinbar.

Prometheus und die Folgen

Die griechische Mythologie führt uns, betrachten wir sie evolutionstheoretisch, zur Erkenntnis, dass das menschliche Denkorgan – Prometheus ist zwar ein Titan, aber kein Gott – offensichtlich mehr als mangelhaft ist. Wäre Prometheus tatsächlich der Vorausdenkende gewesen, dann hätte er gewusst, welch fatale Folgen seine Handlungen nicht nur für seine persönliche Zukunft, sondern für die gesamte Menschheit haben würden. Die Zuneigung und das Mitgefühl gegenüber den Menschen haben ihn offensichtlich blind gemacht für die größeren Systemzusammenhänge. Er hätte wissen müssen, dass mit Hephaistos eine Gottheit existiert, der er nicht gewachsen ist, und dass auch Zeus keine verbotenen Handlungen ungestraft geschehen lässt. Ihm wäre erspart geblieben, an die Felsen des Kaukasus geschmiedet zu werden und täglich eine brutale Leberoperation ohne Narkose über sich ergehen lassen zu müssen. Der Menschheit wären zumindest im Autoverkehr jährlich mehr als eine Million Tote bei Verkehrsunfällen und weit über zwei Millionen Tote aus dem Gesamtbereich des Verkehrs erspart geblieben. Auch hätte er wissen müssen, dass der Nachherdenkende sich später zum klassischen Techniker und Naturwissenschaftler entwickeln würde, der aus Neugier und voller Hoffnung die Büchse der Pandora durch seine Grenzüberschreitungen immer wieder neu öffnet, ohne zu wissen, welche Folgen sein Tun nach sich ziehen wird. Und Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Eingriffe in die Welt wollen Techniker ebenso wenig übernehmen wie Politiker.

Das Feuer wurde nur vorübergehend gezähmt, verstanden hat man es nie, aber die Nutzung immer mehr intensiviert, so weit, dass heute das gesamte Leben auf der Erde in seiner Existenz bedroht ist. Auch darf nicht vergessen werden, dass zum Prometheus’schen auch das Täuschen und Verstecken gehören, die Mogelpackung sozusagen, die heute zum Standard nicht nur in der Politik geworden ist. Die »Vorausdenkenden« haben auch davor nicht haltgemacht, noch effizientere Formen des Feuers, wie sie glauben, zu entdecken – wenn sie bei der Verbrennung nicht nur Biomoleküle zur Energiegewinnung nutzen, sondern den Atomkern spalten. Und heute stehen sie ebenso verständnislos vor den von ihnen ausgelösten Phänomenen wie der erste Homo erectus vor dem Blitz und dessen feurigen Folgen. Es gibt aber einen grundlegenden Unterschied: Die Folgen waren damals zeitlich und lokal begrenzt. Begrenzt waren auch das Systemverständnis und die Systemsicht des Prometheus, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Kaum ein Autofahrer versteht das System, in dem er mit seinem Fahrzeug agiert, ebenso wenig wie die sogenannten traditionellen Verkehrsexperten, die permanent mit der Büchse der Pandora hantieren, gemeinsam mit den politischen Entscheidungsträgern. Was heute fehlt, ist die unmittelbare negative Rückkopplung, die Prometheus erfahren musste. Man ist vom Brauch abgekommen, die Täter an die Felsen des Kaukasus zu schmieden. Gefressen wird, wie schon erwähnt, die Leber der Steuerzahler. Prometheus wollte nur das Beste, brachte aber durch sein Verhalten zahlreiche Leiden über die Menschheit.

Die wechselvolle Geschichte des Rades

Um ein brauchbares Auto zu bauen, wurde aber nicht nur das Feuer benötigt, auch das Rad musste zunächst erfunden werden. »Warum hat die Natur das Rad nicht erfunden?«, wurde ich vor einigen Jahren gefragt. Die Frage ist berechtigt, ist doch die runde Form in den Urformen des Lebens manifest. Es gibt kleine, vielzellige Lebewesen, die als »Rädertierchen« bezeichnet werden. Steine rollen so wie Baumstämme den Abhang hinunter. Betrachten wir die Vielfalt raffinierter, oft verzwickter Lösungen, die die Evolution hervorgebracht hat und deren Sinnhaftigkeit wir oft erst nach jahrzehntelanger Forschung entdecken, und die Bauteile, die ihr zur Verfügung stehen, ist anzunehmen, dass das Rad als Entwurf milliardenfach zum Einsatz kam. Es konnte sich aber offensichtlich nicht durchsetzen. Milliardenfach wurde es verworfen, weil es nicht passte und nicht effizient war: Keinem Lebewesen sind »Räder angewachsen«.

Das hat mehrere Gründe. Ein Rad allein schafft noch kein stabiles System, auch zwei noch nicht. Man braucht mindestens drei. Außerdem müssen diese lenkbar sein und, was das Wichtigste ist, es müssen Bremsen eingebaut sein, die so schnell und stark wirken, dass Kollisionen vermieden werden. Außerdem braucht das Rad Fahrbahnen irgendwelcher Art, die in der Natur in der Regel nicht vorkommen. Die natürliche Umgebung ist voller Hindernisse und Barrieren für ein mit Rädern ausgestattetes Lebewesen.

Bequem, aber ineffizient

Ein Rad hat eine sehr große Oberfläche, über die es abrollt, es erfüllt nur die Funktion des Rollens und das nur auf einer weitgehend ebenen Unterlage. Ein Rad ohne geeignete Oberfläche, auf der es rollen kann, ergibt keinen Sinn. Es bleibt leicht stecken, hat einen relativ großen Verschleiß und nur eine Funktion, nämlich jene der Fortbewegung. Hufe, Pfoten und Füße sind multifunktional und daher ungleich effizienter. Bewegen sich Lebewesen, gelangen sie sehr häufig in Neuland, in dem keine Wege existieren. Und da gibt es wichtigere Dinge als die Fortbewegung, nämlich die Wahrnehmung von Chancen und Gefahren und die rasche Reaktion darauf. Lebewesen, die mit Gliedmaßen ausgestattet waren, mit denen man nicht nur abrollen konnte, sondern auch klettern, bremsen, angreifen, verteidigen und bedrohen, waren den »geräderten« Lebewesen evolutionär, das heißt energetisch, überlegen. Es stand auch nicht so viel Energie zur Verfügung, um sich diese luxuriös große Oberfläche leisten zu können, die ansonsten keinen weiteren Nutzen bot. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Mensch das Rad für Transporte erst dann einzusetzen begann, als er über zusätzliche, nicht körpereigene Energiequellen verfügte. Ob es am Anfang Hunde waren, die seine Wagen zogen, oder domestizierte Rinder, die man vorspannte, um Wagen mit ein- oder mehrteiligen Scheibenrädern zu ziehen, beschäftigt die Archäologen bis heute und wird es wahrscheinlich noch einige Zeit tun. Funde lassen darauf schließen, dass das Rad – als das erste Maschinenelement eine bahnbrechende Erfindung – seit rund 5.000 Jahren in Verwendung steht.

Nicht immer ist die Entwicklung linear

Man könnte nun annehmen, dass der Siegeszug des Rades hätte beginnen müssen, als man damit Lasten leichter transportieren konnte. In manchen Gebieten konnten sich das Rad und der Wagen aber auf Dauer nicht durchsetzen. Topografische Verhältnisse, Flüsse, lange Distanzen oder schwieriges Gelände standen ihrer Ausbreitung im Weg, weil das jeweilige Eigengewicht des Rades und des Wagenkastens zu groß war. Man wandte sich wieder vom Rad ab und verlegte sich auf die zweckmäßigeren Tragetiere, die im Norden Afrikas, im Nahen und Fernen Osten noch bis heute eine bedeutende Rolle spielen. Diese können sich nicht nur im Gelände viel problemloser bewegen, sie haben auch den Vorteil, auf ein erprobtes Regel- und Steuerungssystem zurückgreifen zu können: ihre Sinnesorgane und das Gehirn. Die Karriere des Rades im Verkehrswesen ist daher zunächst dort gescheitert, wo nicht ausreichend Energieüberschuss zur Verfügung stand, um sich den Luxus von Fahrbahnen und Zugtieren leisten zu können.

Im Handwerk wurden Räder natürlich schon viel früher verwendet, so etwa in der Töpferei, bei der Bearbeitung von Jade in China, aber auch bei den Maya, bei denen sogar Zahnräder in mehr oder weniger feinmechanischen Geräten zum Einsatz kamen – für den Transport allerdings wurden sie nicht genutzt. Dazu wären Fahrbahnen notwendig gewesen – ein Aufwand, den man sich weder im Dschungel noch im Gebirge leisten konnte. Auch das Rad der Eisenbahnen war angewiesen auf Fahrbahnen: Schienenstränge, zunächst aus Holz, dann aus Metall – zunächst gegossen, später gewalzt.

Autoräder stellten, selbst nach Erfindung der Schlauchreifen, noch ein erhebliches Risiko dar; besonders aufgrund der Fahrbahnverhältnisse, spitzer Steine, verlorener Hufnägel und anderer Gegenstände, die für den Luftreifen nicht gerade von Vorteil waren. Der Flächenanspruch beweglicher Räder, heute als Flächenanspruch des Autos bezeichnet, ist enorm, weil ihre Spurführung trotz technischer Unterstützung noch immer von einem Lebewesen bestimmt wird, dessen Sinnesorgane und Informationsverarbeitungssystem für eine Geschwindigkeit von vier bis sechs Kilometern pro Stunde ausgelegt sind. Das Vergnügen an diesem technischen Element ist heute so groß, dass laufend Tonnen von Reifenmaterial als Abrieb in die Umwelt gelangen und mit zu dem beitragen, was man als gefährlichen Feinstaub bezeichnet. Um eine Vorstellung vom Abrieb eines Autoreifens zu erhalten: Wäre die Erde auf die Dimension eines Autoreifens reduziert, wäre die Humusschicht nach 250 Metern Fahrt verbraucht, kein menschliches Leben wäre mehr möglich.

Mit dem Rad allein ist es noch nicht getan

Der Evolution ist die Kreisform von Anfang an eingeschrieben, aber nicht zum Zweck einer ungehemmten Mobilität. Das Rad zum Rollen zu bringen ist im Allgemeinen leichter als ein rollendes Rad aufzuhalten. Das ist sicher eine der Ursachen, warum das Rad in der Natur gescheitert ist. Wo es unkontrolliert und zu schnell rollte, wurde zu viel zerstört. Erfolgreich war es zunächst nur im Kleinen, etwa beim Töpfern oder als Wasserrad, also überall dort, wo das Hirn das Rad beherrscht und nicht umgekehrt. Wie wunderbar die Bremsproblematik in den heutigen Autos gelöst wurde, beweist die Tatsache, dass es inzwischen kaum noch zu Bremsversagen kommt. Das Auto beruht daher nicht nur auf Feuer und Rad, sondern ist das Ergebnis eines komplexen Systems, dessen Wurzeln tief in die Vorgeschichte der Menschheit hineinreichen.

DIE BESCHLEUNIGUNG DER MENSCHHEIT

Immer schneller

Eine Frage, die bislang nicht gestellt wurde: Warum gelangte der Nebenzweig der Primaten, der sich zum heutigen Homo sapiens entwickelte, in den letzten 200 Jahren zu einer ständigen Erhöhung seiner räumlichen Geschwindigkeit? Bereits um die Zeitenwende herum hatte unsere Art die ganze Erde zu Fuß besiedelt. Heute sind wir mit hundertfacher Geschwindigkeit unterwegs, weitergekommen sind wir dabei aber nicht.

Energie

»Arbeitsvermögen«, wie Energie bezeichnet wird, bewegt alles im Universum. Dessen Ursprung liegt im Dunkeln, das die Naturwissenschaftler als »Urknall« und religiöse Menschen als Schöpfungsakt bezeichnen. In Erscheinung tritt Energie immer in den Wirkungen, man denke nur an die Gravitation oder an die starken Kräfte, die den »sozialen Zusammenhalt« im Atomkern beschreiben, oder die Elektronenbindungen, die für den tieferen »sozialen Zusammenhalt« in den Molekülen zur Beschreibung herangezogen werden.

Bild 1:

Die Hauptbeschäftigung der Autos: allein oder gemeinsam herum- und im Weg stehen.

Die Beschreibung ist eine Frage der jeweiligen Art von Illusion. Naturwissenschaften als die »objektive Illusion«, von Gerhard Fasching treffend erkannt und so bezeichnet1, haben eine Methode entwickelt, die jeden, der sie anwendet, zum gleichen Ergebnis führt – deshalb die objektive Illusion. Seit man den Begriff »Evolution« eingeführt hat und darunter den Aufbau von Ordnung versteht, die sich in verschiedenen Formen manifestiert, spielt Energie die zentrale Rolle. Denn Ordnung in Systemen, insbesondere in lebenden Systemen, kann nur durch den ständigen Zufluss von Energie aufgebaut und erhalten werden. Zwei Strategien haben sich dabei als erfolgreich erwiesen:

den Durchsatz an Energie zu maximieren sowie

verfügbare Energie so lange wie möglich zu speichern und in Energiekaskaden optimal zu nutzen.

Das Leben in all seinen Formen bedient sich beider Strategien, die, wie alles in der Realität, Chancen und Risiken bergen. Beim Bemühen, den Durchsatz zu steigern, kann man leicht in einen zu mächtigen Energiestrom geraten, der Strukturen zerstört, wenn sich etwa Bedingungen ändern, so zum Beispiel bei den Pflanzen die Austrocknung bei Wassermangel und starker Sonneneinstrahlung. Aber auch das Speichern von Energie ist mit Risiken verbunden, weil die Evolution darauf hinausläuft, Lebensformen hervorzubringen, die vorhandene Energiespeicher erfolgreich nutzen – von Bakterien und Pflanzenfressern, die Zellulose aufschließen, über Vögel und Säugetiere, die hochkonzentrierte pflanzliche Energie in den Samen ausbeuten, bis hin zu Raubtieren, die sich auf in Lebewesen gespeicherte Energie spezialisiert haben. Dazu gehört auch der Mensch. Der Trieb optimaler Energienutzung ist in allen Lebewesen tief verankert, war er doch in ihrer gesamten Evolution eine der erfolgreichsten Strategien, wenn nicht die erfolgreichste. Diese Strategie birgt allerdings das Risiko, dass durch Übernutzung vorhandener Energiequellen gerade diejenige Spezies, die das am besten beherrscht, gefährdet ist, wie es das Aussterben so erfolgreicher Beutegreifer wie Säbelzahntiger und Höhlenbären beweist. Die Verkarstung der Küstenregionen am Mittelmeer durch Übernutzung der Wälder oder der Zusammenbruch der Kultur der Maya sind nicht nur Zeugen für die Übernutzung vorhandener Energiequellen, sondern auch Beweise für den Missbrauch vorhandener Energieressourcen im Interesse nicht systemerhaltender Ansprüche des Menschen.

Neben der bereits erwähnten Nutzung des Feuers haben Menschen aber auch eine ähnliche Intelligenz wie Pflanzen entwickelt. Beide haben, wenn auch in unterschiedlich raffinierter Weise, gelernt, Solarenergie direkt oder indirekt zu nutzen – auch für Mobilität. Pflanzen nutzen nicht nur den Wind und das Wasser, sondern auch verschiedene Tierarten für den Transport und die Ausbreitung ihrer Samen. Und das seit Jahrmillionen. Menschen haben ähnliche Techniken erst in den letzten Jahrtausenden kennen und nutzen gelernt. Wind- und Wasserkraft in der Schifffahrt, in der Flößerei, im Holztransport, der in den Alpen periodisch an die Wasserführung der Flüsse und Bäche und die Schneeschmelze gekoppelt war, erleichterten den Transport auch großer Warenmengen in intelligenter Form. Intelligenz ist ja bekanntlich die Fähigkeit, Aufgaben durch problemlösendes Verhalten zu bewältigen.

Es hat Jahrtausende gedauert, bis die Menschheit in der Lage war, mit den Folgen ihrer Eingriffe in den Energiehaushalt der Natur fertigzuwerden. Zwar brennen heute Städte nicht mehr wie im Mittelalter flächendeckend ab, doch treten nahezu täglich irgendwo auf der Welt unkontrollierte Brände auf, bei denen nicht nur große materielle Schäden, sondern auch Todesopfer zu beklagen sind. Wer nicht in der Lage ist, Energie aus der Sonne und den lokalen Ressourcen zu nutzen, um Ordnung aufzubauen und zu erhalten, muss Körperenergie einsetzen, um an anderen Orten an Energiequellen zu gelangen. Selbst ortsgebundene Lebewesen wie Pflanzen unterliegen diesem Zwang, wenn auch nicht individuell, so doch zur Arterhaltung. Ihr Erfindungsreichtum, vorhandene Energie in ihrer Umwelt zu nutzen, ist nahezu unbegrenzt und überschreitet alles im Bereich der technischen Entwicklung bisher Dagewesene. Pflanzen haben eine Unzahl von Fluggeräten für den Transport entwickelt, raffinierte Befestigungseinrichtungen, um Samen an an ihnen vorbeiziehenden oder rastenden Tieren anzubringen; attraktive Verpackungsmaterialien für den Samentransport gehören ebenso wie Investitionen in wasser- und wetterfeste Verpackungen zu den Strategien, die eigene Immobilität durch Erfindungsreichtum zu kompensieren. Kein Wunder, dass die Pflanzen die mobilen Spezies diesbezüglich bei Weitem übertreffen, haben sie doch Zeit und Muße genug, über clevere Lösungen nachzudenken und diese im täglichen Experiment zu erproben, anstatt Energie fürs Herumrennen zu vergeuden.

Wenn in Australien immer mehr Land zu Wüste wird, weil es dank der Engstirnigkeit der Agrarindustrie und Profitgier in landwirtschaftliche Monokulturen umgewandelt wurde, so ist dies nur die Folge der Unkenntnis der komplexen Wirkungsmechanismen in der dortigen natürlichen historischen Flora. Optimal angepasst an die wechselnden Niederschlags- und Wetterverhältnisse, entstanden im Wissen um die Notwendigkeit der äußeren Rahmenbedingungen symbiotische Beziehungen von Tief- und Flachwurzlern. Tief wurzelnde Pflanzen versorgten die Flachwurzler in den Trockenperioden mit der notwendigen Feuchtigkeit und gaben dem Boden außerdem Festigkeit. Um Getreide anzubauen, wurde die australische Pflanzenwelt gerodet, das vorhandene Beziehungsnetz zerstört. Die Folgen bleiben nicht aus, Farmer verlieren ihr Land, Millionen von Tonnen fruchtbaren Bodens werden bei Stürmen ins Meer verfrachtet und die Wüste wächst.

Über Energie zu verfügen ist lebenserhaltend, über ein bestimmtes Maß hinaus führt es unweigerlich zu Entwicklungen mit – zumindest zeitlich – begrenztem Erfolg. Bequemlichkeit und Luxus sowie das Überschreiten von ökologischen Grenzen gefährden jedes Lebewesen in seiner Existenz – Pflanzen ebenso wie Tiere und Menschen. Überdüngte, im Glashaus aufgezogene Pflanzen erweisen sich unter natürlichen Bedingungen als nicht resistent. Wachsmotten in einem verlassenen Bienenstock entwickeln sich dank fehlender Feinde durch uneingeschränkte Nutzung der Ressourcen exponentiell, um am Höhepunkt ihrer Entwicklung, wenn das letzte Wachs verbraucht ist, kollektiv zu verenden. Erfahrene Systeme gehen mit verfügbaren Energieressourcen intelligenter um, indem sie diese nicht hemmungslos ausbeuten, sondern längerfristig und nachhaltig nutzen und deren Regenerationszyklen beachten.

Nutzung fremder Energie – eine evolutionäre Triebkraft

»Fressen und gefressen werden« ist der volkstümliche Ausdruck für den Aufbau einer neuen Ordnung durch den Abbau einer bestehenden Ordnung durch höhere Lebewesen, seien es nun Pflanzen- oder Fleischfresser. Noch besser ist es, wenn man vorhandene Energie unmittelbar nutzen kann, ohne selbst Verdauungsarbeit leisten zu müssen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn alle Lebewesen versuchen, sich fremder Energie – insbesondere der hochkonzentrierten gespeicherten Energie anderer – zu bedienen, wo es nur geht. So auch der Mensch. Dieser besteht zu zwei Dritteln aus Wasser und betreibt zur Aufrechterhaltung seines auf zwei Beinen bewegten Körpers einen leistungsfähigen »Computer« im Hirn, der über ständige Messung des Gleichgewichtszustandes eine Unzahl von Muskeln präzise steuern muss, um die schwabbelige, wandernde »Wassersäule« vor dem Umfallen zu bewahren.

Die Geschwindigkeit des Menschen im natürlichen Gelände beträgt vier bis sechs Kilometer pro Stunde und kann kurzfristig auf bis zu 20 Kilometer pro Stunde gesteigert werden. Der Mensch hat bei der Energieverrechnung zwei Optima: eines beim Gehen mit etwa vier Kilometern pro Stunde und eines beim Laufen mit etwa zwölf Kilometern pro Stunde. In beiden Fällen wird, misst man den Energieaufwand für eine bestimmte Strecke, ein energetisches Minimum erreicht, das ungefähr gleich hoch ist, beim Laufen ist es sogar etwas niedriger. Warum laufen wir aber nicht? Der Aufwand der Körperenergie wird im Hirn nicht über eine bestimmte Strecke gemessen, sondern sofort, in Nanosekunden oder noch schneller vielleicht. Sonst wären wir wohl nicht mehr da. Nur etwa acht Prozent der Muskelenergie kann der Mensch in Bewegungsenergie umsetzen. Nicht gerade besonders effizient. Pferde verfügen aufgrund ihrer Körperkonstruktion über drei Minima: Schritt, Trab und Galopp. Und auch sie bevorzugen die langsamere Gangart, wenn man sie lässt, außer im Spiel oder auf der Flucht.

Vertreibung aus dem Paradies

Es war daher seit jeher ein Wunschtraum der Menschen, dieser Mühsal, dem Aufwand für räumliche Bewegung zu entgehen. In den Religionen ist der Zwang zur physischen Mobilität eine Form der Strafe. So auch im Alten Testament: Die vergnügliche, sorgenfreie Mikromobilität des Paradieses wurde nach dem Sündenfall durch die erzwungene Makromobilität ersetzt. Liest man den Text sachkundig, wird hier bereits die Ursache jeder Mobilität erkennbar. Denn dort, wo es einem an nichts mangelt, wo man alles hat, was man braucht, gibt es keine Makromobilität. Je größer aber der Mangel an dem Ort ist, wo man sich aufhält, umso größer werden Zwang und Aufwand für die Fernmobilität. Nun scheint man schon zu Beginn der biblischen Gesellschaft nicht begriffen zu haben, wie Systeme funktionieren. Abel als Schafhirte führte unter den damaligen Bedingungen ein Nomadenleben verbunden mit der Ungewissheit und den Risiken langer Wege. Heute würde man das als Makromobilität bezeichnen. Kain hingegen reduzierte als Ackerbauer seinen Mobilitätsaufwand durch eine bessere Kenntnis der Pflanzen. Seine Wege wurden in dem Maße kürzer, in dem er den Boden besser zu bearbeiten und die Natur besser zu verstehen lernte. Doch als Gott die von Abel geopferten Tiere seiner Herde den von Kain als Opfer dargebrachten Früchten des Feldes vorzog, wurde Letzterer so eifersüchtig, dass er Abel erschlug. Die Strafe folgte umgehend: Kain wurde dazu verdammt, ruhelos auf der Erde herumzuwandern und dabei erkannt und möglicherweise getötet zu werden. Der furchtbare Zwang zur Makromobilität wird als Strafe und Fluch sichtbar. Diesem Fluch konnte er erst durch Sozialisierung, durch Eingliederung in eine größere Gemeinschaft entgehen: Kain wurde zum ersten Stadtgründer. Und die Stadt war immer ein Ort der Mikromobilität. Auf diese Art entstand wohl auch der Wunsch nach dem himmlischen Jerusalem, einer in völliger Harmonie mit den Menschen und der Natur organisierten Stadt. Nur über den Weg der geistigen Mobilität, die auch eine Voraussetzung für die Sozialisierung der Menschen ist, kann man sich wieder dem verlorenen Paradies nähern. Dass wir derzeit mit zunehmender Beschleunigung in die Gegenrichtung unterwegs sind, muss nicht mehr extra hervorgehoben werden. Auch scheinen wir aus den biblischen Fehlern nichts gelernt zu haben, weil wir mit immer schnelleren Waffen die Brüder und auch die Schwestern totschlagen und totfahren – allerdings in einem früher undenkbar großen Maßstab.

Zwang zur geistigen Mobilität

Der Drang, der Mühsal der Fernmobilität zu entgehen (möglicherweise wird hier die Auswanderung aus den Savannen Afrikas beschrieben), zwang die Menschen nicht nur zur Sozialisierung, sondern auch zur Suche nach Lösungen, um den Aufwand an Körperenergie für die physische Bewegung zu minimieren. Große Säugetiere waren die Lösung, die sozusagen vor der Nase lag. Als man diese zähmen, also domestizieren konnte, wozu wiederum geistige Mobilität für die Kenntnis ihres Verhaltens notwendig war, wurden sie mehrfach nutzbar; einerseits als wandernde Speisekammer, die sich selbst füllte, wenn man etwa an die Milch oder das Blut (die Massai z. B. gewinnen das Blut der Rinder durch einen gezielten Aderlass) denkt, andererseits aber auch als Trag-, Zug- und Reittier. Technische Verbesserungen, zum Beispiel die Steigbügel vor rund 2000 Jahren in China, erleichterten die Nutzung nicht nur, sondern verschafften den Reitern gegenüber jenen ohne Steigbügel in Auseinandersetzungen erhebliche Vorteile. Die europäischen Ritter machten auch bald unangenehme Erfahrungen mit der asiatischen Überlegenheit. Dass die Menschheit seitdem nicht klüger geworden ist, ist daran zu erkennen, dass sie jeden noch so kleinen technischen Fortschritt zunächst vor allem dazu nutzt, die Artgenossen auszubeuten, zu unterdrücken oder umzubringen. Dieser rote Faden menschlicher Unkultur zieht sich durch die gesamte Geschichte der Spezies und wird im Zeitalter der Motorisierung zur international tolerierten Form des individuellen Massenmordes, den man mit dem Begriff »Verkehrsunfall« verharmlost.

Auf die Barbarei durch den technischen Fortschritt folgt dann meist eine Form der Zivilisation. So auch bei den domestizierten Großsäugern. Ihr Gebrauch konnte in der Landwirtschaft, im Handwerk und im Landverkehr zu einer nachhaltigen Transportform entwickelt werden, die Jahrtausende erfolgreich im Einsatz war. Der Mensch hatte gelernt, wie man mit der zur Verfügung stehenden Energie auch verantwortlich umgehen kann. Dass sich immer wieder tödliche Auseinandersetzungen ereigneten, liegt wohl an der Mangelhaftigkeit der Kontrolle über kranke Hirne, deren Träger an die Macht gelangten, bevor man deren geistige Defizite bemerkt hatte. Diese Gefahr ist im Laufe der Menschheitsgeschichte leider nicht kleiner geworden, sondern hat sich eher ins nahezu Unendliche gesteigert. Als einem der wenigen Länder ist es der Schweiz gelungen, diese tödliche Bedrohung durch die Praxis der direkten Demokratie bis heute zumindest in Grenzen zu halten, obwohl die Erfahrungen aus der jüngeren Vergangenheit auch daran Zweifel begründen.

Das Fahrrad: maximale Effizienz im technischen Verkehrssystem

Mit dem Fahrrad, das Ende des 19. Jahrhunderts seine heutige Form erlangte, können rund 26 Prozent der Muskelenergie in Bewegungsenergie umgesetzt werden. Vorausgesetzt, es steht eine geeignete Fahrbahn zur Verfügung. Diese Steigerung auf mehr als das Dreifache des Normalwerts von acht Prozent stellt, abgesehen vom Umstand, dass damit dank der Räder auch Lasten bis zu einem gewissen Maß leichter transportierbar werden können, bei technischen Verkehrsmitteln einen einsamen Höhepunkt energetischer Effizienz dar. Theoretisch kann die für die Herstellung eines Rades aufgewendete Energie durch die Einsparung von Körperenergie nach einer Strecke von rund 10.000 Kilometern kompensiert werden. Mit dem Fahrrad können bei geeigneter Topografie Megastädte mit bis zu zehn Millionen Einwohnern versorgt werden, was in China vor dem Beginn der Motorisierung unter Beweis gestellt wurde. Abfallrecycling und die Rückführung der Fäkalien, wie sie in China über Jahrtausende praktiziert wurden, zeigen, wie eine nachhaltige Form der technischen Mobilität möglich ist, wenn die Städte nicht räumlich von der Natur getrennt werden.

Ein anderer, nicht zu unterschätzender Vorteil des Fahrradverkehrs liegt in der sozialen Gerechtigkeit. Denn jeder, egal ob reich oder arm, ist mit seiner eigenen Körperkraft unterwegs, wenn auch mit Rädern unterschiedlicher Qualität. Und wenn der Reiche die auch für die Armen segensreichen Fahrradrikschas in Anspruch nimmt, verschafft er den Rikschafahrern ihr Einkommen. Nun gibt es Einwände gegen diese Transportform, die in Indien unverzichtbar geworden ist. Auch der Verfasser war der Meinung, dass man nicht einen anderen Menschen dazu missbrauchen dürfe, seine eigene Bequemlichkeit zu unterstützen, bis er die Erfahrung vor Ort selbst machen konnte. Rikschafahrer radeln nicht wie Europäer, die ihr Gewicht auf dem Sattel abladen und mit der Kraft der Beine in die Pedale treten, sondern sie gehen sozusagen in der Rikscha, indem sie das Gewicht stehend von einem Bein auf das andere verlagern und so Energie sparen. Sie tun damit genau das, was übersättigte, bewegungshungrige Zeitgenossen in den hochmotorisierten Ländern gegen Bezahlung in den Fitnessstudios machen. Abgesehen davon bestreiten Millionen von Familien in diesen Ländern ihren Lebensunterhalt aus dem Einkommen dieser Fahrer.

Der Radverkehr macht darüber hinaus friedlich, denn er entlässt die Menschen nicht aus dem sozialen Netz, weil sie immer noch an ihrem Gesicht erkannt werden. Sie sind nicht anonym und nur über ein Nummernschild erkennbar. Die begrenzte Körperkraft wird zwar enorm gesteigert, überschreitet aber die evolutionäre Erfahrung nicht ungestraft. Wer sich darüber hinauswagt, lernt die Grenzen durch die Rückkopplung beim Sturz sehr schnell wieder zu beachten. Vielleicht ist die lange friedliche Periode nach dem Zweiten Weltkrieg auch darauf zurückzuführen, dass die bevölkerungsreichsten Nationen der Welt, Indien und China, als technisches Hauptverkehrsmittel das Fahrrad benutzten. Es wäre eine Chance für ein friedliches Zusammenleben auf der Erde gewesen, hätte der Rest der Welt diese Möglichkeit rechtzeitig erkannt und ergriffen. Nie wieder hat ein technisches Landverkehrsmittel eine ähnliche Energieeffizienz erreicht wie das Fahrrad. Dass man mit dem Fahrrad sogar einen Krieg gegen aggressive »Weltmächte« gewinnen kann, haben die Nordvietnamesen eindrucksvoll bewiesen, als sie dem Massenmorden Amerikas in ihrem Land nicht zuletzt dank des im Krieg vielfach eingesetzten Fahrrads ein Ende bereitet haben.2

Externe Energie aus fossilen Quellen – Grenzen fallen

Im 18. und 19. Jahrhundert waren es technische Innovationen, die konzentrierte fossile Energie durch Dampfmaschinen und Explosionsmotoren sowie die aus unterschiedlichen Quellen gewonnene elektrische Energie für Arbeitsmaschinen nutzbar machten. Zunächst führte das zu massiver Arbeitslosigkeit in manchen Berufszweigen; bekannt ist das Beispiel der Weber durch die Thematisierung in der Literatur. Bald war man aber in der Lage, diese Energie auch für Mobilität nutzbar zu machen. Was damit in Bewegung gesetzt wurde, hat man bis heute nicht verstanden. Weder die Experten aus den einschlägigen Disziplinen noch die Politik noch die Gesellschaft haben beide Seiten dieser neuen Entwicklung erkannt, vorausgesehen, verstanden und verantwortet. Man war von den neuen Möglichkeiten begeistert. Nicht nur war das Reisen nun für einen größeren Kreis von Menschen möglich, auch konnten Waren in großen Mengen in kurzer Zeit herbeigeschafft werden. Vor allem die Industrie erfuhr entscheidende Impulse. Massenproduktion wurde möglich, die Verteilung erfolgte über das sich immer mehr verdichtende Bahnnetz. Jene Gebiete, die nicht vom Anschluss der Bahn profitierten, blieben jedoch in der Entwicklung zurück. Die Industrie aber brauchte die Landbevölkerung, die sich nun in den Städten konzentrierte und das Arbeiterproletariat bildete. Die Abwanderung aus dem ländlichen Raum führte nicht nur zu Arbeitslosigkeit und zur Aufgabe vieler landwirtschaftlicher Betriebe, sondern auch bald zu sozialen Spannungen unter den Industriearbeitern. Die neue Form der Ausbeutung vor allem jener Menschen, die aus ihren gewohnten sozialen Strukturen herausgerissen wurden, erfolgte in Fortsetzung gewohnter feudaler Strukturen. Für die meisten Menschen begann damit auch die Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz. Die technischen Verkehrsmittel legten in derselben Zeit viel größere Entfernungen zurück; soziale Strukturen veränderten sich in einer nie dagewesenen Form; das Pendlerunwesen entstand. Das alles wurde in einer geradezu fatalistischen Art und Weise als Opfer für den »Fortschritt« in Kauf genommen, da das Individuum in der Masse marginalisiert, bedeutungslos wurde. Es zählten der Fortschritt der Technik und der industriell erzeugte materielle Wohlstand. Die Veränderungen der äußeren Strukturen waren unübersehbar, die Veränderungen der inneren – in den Menschen und in ihren Sozialbeziehungen – übersah man, bis sich die sozialen Bewegungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreich für die Rechte der Arbeitnehmer einzusetzen begannen. Dass diese Entwicklungen auch etwas mit dem Verkehrssystem zu tun haben, wurde selten wahrgenommen. So konnte sich dieses ungestört entwickeln und erhielt zusätzlichen Auftrieb durch die Kriege, insbesondere den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Denn wie bei allen technischen Errungenschaften wurde auch hier die Technik zunächst gegen die Zeitgenossen eingesetzt. Mit den technischen Verkehrsmitteln wurde der Raum, in dem man lebte, als zu klein empfunden, und man fühlte sich berechtigt und in der Lage, mithilfe der technischen Kriegsmaschinerie Ressourcen, Land und Arbeitskräfte für die eigenen Zwecke zu erobern und nutzbar zu machen. Ein künstliches System aus Technik und Energie begann sich auszubreiten, dessen Vorteile die dem System auch innewohnenden Nachteile in den Hintergrund drängten. Das Hirn war zu stolz auf seine Leistungen, weshalb die schon damals auftretende Kritik nicht ernst genommen wurde. Und die überlebende, von dieser Entwicklung profitierende Wirtschaft dachte nicht daran, ihre Vorteile aufzugeben oder mit den Benachteiligten zu teilen. Das gilt bis heute.

Das Hirn wird bei technischen Verkehrsmitteln nicht mitgeliefert

Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen den technischen Verkehrssystemen, deren Entwicklung im 18. (Dampfschiffe) und im 19. Jahrhundert begann, und allem, was davor war. Während vor den technischen Verkehrssystemen nicht nur die Körperkraft der Reit- und Nutztiere im Einsatz war, sondern auch das Hirn dazu, ist dieses bei den technischen Verkehrssystemen keineswegs von vornherein mit dabei. Die Sinnesleistungen des Menschen sind für seine Fußgängergeschwindigkeit optimiert, gemessen an den technisch möglichen Geschwindigkeiten von heute also nicht ausreichend, ebenso wenig wie für die bewegten Massen. Bei den Eisenbahnen wurde dies noch sehr bewusst wahrgenommen; man versuchte die fehlende Hirnleistung durch umfangreiche Sicherungssysteme auszugleichen, die von einer Unzahl von Personen bedient und gewartet wurden. Der externen fossilen Energie für den Antrieb musste ein kompliziertes externes Informations- und Sicherungssystem beigegeben werden, um nicht nur einen sicheren Transport von Personen und Gütern zu gewährleisten, sondern auch die Umgebung und die Allgemeinheit vor Schäden zu bewahren. Dass dies bis heute noch nicht gelungen ist, beweisen die Mängel dieser technischen Entwicklung. Immer noch ereignen sich schwere Unfälle sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr. Im Vergleich dazu, was der Autoverkehr heute an Schäden für Menschen und deren Lebensgrundlage anrichtet, ist das Ausmaß der durch schienengebundene öffentliche Verkehrsmittel verursachten Schäden zwar nicht vernachlässigbar, aber, allein was die Zahl der unmittelbar Getöteten betrifft, um mehr als eine Zehnerpotenz geringer.* Trotz des behaupteten technischen Fortschritts werden aber technische Verkehrssysteme noch immer weit jenseits der evolutionär erprobten, nicht technischen Mobilitätsformen betrieben, weil es zwar nicht an Energie für den Antrieb mangelt, aber an Hirn, um diese verantwortungsbewusst und verantwortlich zu handhaben.

Ein weiterer Unterschied besteht auch in den für das Verkehrssystem verwendeten Energieformen durch den Übergang von erneuerbarer zu nichtregenerativer fossiler Energie aus Kohle, Erdöl und Erdgas. Die Menschheit verlässt somit die Kreislaufwirtschaft der Ökosphäre und damit das Bewusstsein für deren Grenzen.

Folgen der Beschleunigung – Gefährdung der Sozialbeziehungen

Es ist gut 300 Jahre her, dass man Kohle als fossile Energie in der Dampfmaschine zu nutzen begann, und knapp 200 Jahre, dass man diese Dampfmaschine auf Räder stellte und Transporte so bequem wie nie zuvor und in Mengen, die früher nur mit dem Schiff möglich waren, realisierte. Ungünstige Standorte konnten nun besiedelt werden, weil billige und leicht verfügbare Mobilitätsenergie ihre Mängel durch das Herbeischaffen von Personen und Gütern leicht kompensieren konnte. Städte konnten weit über ihre natürlichen, durch menschliche Mobilitätsenergie gegebenen Grenzen hinaus wachsen, Straßenbahnen und Eisenbahnen durchbrachen diese Grenze mühelos um das Vielfache. Es entstanden Bevölkerungskonzentrationen, aber auch entsprechende soziale Spannungen durch die Beschleunigung und Unausgewogenheit der Entwicklung, weil sich Energie in Form von Geld bei denen anhäufte, die dieses neue Verkehrsmittel vorteilhaft für sich zu nutzen wussten. Für viele andere bedeutete es aber Verzicht, nicht nur auf Luxus, sondern auch auf Grundbedürfnisse des Lebens wie Freizeit und Zugang zur Natur. Der hemmungslose Bauboom der Gründerzeit mit den verdichteten Stadtvierteln musste in den Großstädten bald durch periphere Grünraumnutzung in Form von Schrebergärten ergänzt werden, um der arbeitenden Bevölkerung nicht nur Zugang zur Natur, sondern auch die Befriedigung jahrtausendealter Bedürfnisse wie Gartenkultur und Landwirtschaft zu ermöglichen. Bequemlichkeit war bereits damals die Triebfeder, die viele Menschen vom Land in die Stadt führte, wo das Leben einfacher schien.

Bequemlichkeit bedeutet aber meist nur Nutzung externer Energie zur Erfüllung individueller Bedürfnisse, ohne sich anstrengen zu müssen, weder geistig noch physisch. Maschinenenergie und Mobilitätsbedürfnisse verbanden sich auf nahezu ideale Weise zur Maximierung der Bequemlichkeit und trugen später auch wesentlich zum Wohlstand der Bevölkerung in den industrialisierten Staaten bei. Die durch die Eisenbahn ermöglichte Bevölkerungsballung baute aber auch den zunächst nicht sichtbaren Wunsch nach individueller Freiheit und unregulierter Mobilität auf, die der öffentliche Verkehr nicht leisten kann. Trotz der Energiemengen, die der öffentliche Verkehr im Vergleich zu den nichtmotorisierten Fußgängern oder Radfahrern verbraucht, ist der soziale Zwang durch die räumliche Enge