Zusammen wachsen - Andreas Audretsch - E-Book

Zusammen wachsen E-Book

Andreas Audretsch

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Wir erleben eine Zeitenwende" – die Bedrohungslage, auf die Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 reagiert, hat nicht mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen. Reaktionäre und rechtsextreme Kräfte arbeiten seit Jahren weltweit daran, imperiales Denken gesellschaftsfähig zu machen – genau wie Menschenverachtung und die Leugnung der Klimakrise. Die Antwort darauf müssen wir gemeinsam geben. Es gibt Grund zur Hoffnung: Millionen Menschen schließen sich zusammen, schmieden breite Allianzen, um eine Gesellschaft der Gleichen und Freien zu schaffen und den Planeten zu retten. Industriearbeiter, "Fridays for Future", Unternehmerinnen, Queer-Feminist*innen, (post)migrantische Organisationen, Nonnen und Imame – Seite an Seite. Welche Beispiele für solche Allianzen gibt es? Wie nutzen sie verbindende Erfahrungen und Werte? Und was braucht es, um eine starke gemeinsame Bewegung zu bilden? Andreas Audretsch warnt davor, Bewegungen gegeneinander auszuspielen und plädiert dafür, altes Lagerdenken unter progressiven Kräften zu überwinden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 237

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas Audretsch

ZUSAMMEN WACHSEN

Eine neue progressive Bewegung entsteht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7042-1 [Printausgabe]

ISBN 978-3-8012-7042-1 [E-Book]

Copyright © 2022 by

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Ute Lübbeke | Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2022

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

DIETZ& DAS

Der Podcast zu Politik, Gesellschaft und Geschichte

Auf allen Podcast-Plattformen abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Danksagung

Vorwort: Zeitenwende – es liegt in unserer Hand

1. Gemeinsam oder gar nicht

Grund für Optimismus – und Anforderung an progressive Politik

»Progressiv« bedeutet mehr als »Fortschritt« – es geht um Haltung

Das Progressive Zentrum – an die Arbeit

2. Worauf wir bauen

Lehren der Vergangenheit – das Beispiel der Arbeiterbewegung

Vom Arbeiter zur Bewegung – trotz aller Differenzen

Innere Spaltung – der doppelte Kampf von Frauen in der Arbeiterbewegung

Strukturen bilden

In die Breite der Gesellschaft

Selbstbestimmung und Solidarität – gedankliche Koordinaten

Die individualistische Gesellschaft

Das soziale Band

Gemeinschaften und Gesellschaften

Von der Solidarität zur Allianz

Reizwort »Identitätspolitik« – ein bisschen Sachlichkeit bitte

Wer bin ich und wer sind wir?

Persönliche Erfahrungen und gemeinsame Werte

3. Was wir teilen

Erfahrungen schweißen zusammen – ob Arbeiter oder Aktivist*in

»Gays and Lesbians Support the Miners«

Von der Erfahrung, keine Stimme zu haben

»Die Gesellschaft der Anderen«

Ihr werdet es einmal schlechter haben, oder tun wir was dagegen?

Werte sind die Basis – von Gleichheit und Freiheit

Die egalitäre Gesellschaft

Artikel 3 – progressive Kräfte kommunizieren in Waschkörben

Das Grundgesetz wird Wirklichkeit–alles eine Frage der Interpretation?

Bewusstsein schafft Allianzen – seht Euch

Das Bewusstsein einer progressiven Bewegung wächst

Die Klasse an und für sich

Rechte und Selbstbestimmung statt revolutionärer Parteiapparate

4. Wie wir Wirkung entfalten

Allianzen wachsen lassen – von unten und von oben

Erneuerbare Energien sind sozialdemokratische Energien – verstanden?

Deutschlands größter queerer Club residiert in Neukölln

Feminismus im Benediktinerorden und »bunte Fahnen« an den Kirchen

Die »Kampagne für saubere Kleidung« und das Beispiel Tchibo

Exkurs: Die Regenbogennation – in Freiheit und Gleichheit

Menschen, Symbole und jede Menge Arbeit

Die Institutionen unserer Gesellschaft gestalten

Reaktionäre und rechtsextreme Angriffe

Gleichheit und Freiheit in die Kitas und Schulen des Landes

Arbeiter*innen und queere Menschen – im Alter vereint

Demokratie leben – die demokratische Zivilgesellschaft fördern

Freiheit und Gleichheit dauerhaft verankern

5. Progressive Wege in die Breite der Gesellschaft

Das populistische »Mitte-Marketing«

Gespaltene »Mitte« – verlorene »Mitte«?

Konzepte von »Mitte« – von Frieden bis Menschenverachtung

#WirSindMehr– mit Haltung statt Populismus

6. Stimmen der Bewegung

Wir wachsen zusammen – und das ist gut so

Wann, wenn nicht jetzt

Erfahrungen und Identitäten …

… oder Ziele und Werte? Oder einfach beides?

Es knirscht im Gebälk – und das muss so

Zusammen wachsen und Wachstumsschmerzen – je diverser, desto besser?

Aus welcher Richtung starten – Grundüberzeugung oder Zuspitzung?

Die Sache in die Hand – oder sich zurücknehmen?

7. Zusammen Wachsen – wir sind überall

Progressive sind überall – Reaktionäre auch

Eine andere Perspektive auf progressive Parteiarbeit

Anmerkungen

Über den Autor

Danksagung

Dieses Buch erzählt die Geschichten von Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die für Selbstbestimmung und Freiheit kämpfen und ebenso für die Gleichheit aller. Es erzählt von ihrem Engagement, ihren Sorgen, ihren Wagnissen und Erfolgen. Viele von ihnen kenne ich aus langer gemeinsamer Arbeit, andere habe ich auf Demonstrationen oder Veranstaltungen getroffen oder mit Ihnen Pläne für Aktionen geschmiedet. Wieder andere haben in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten Möglichkeiten erkämpft, die wir heute leben. Ihnen allen möchte ich Dank sagen für die Arbeit, das Durchhaltevermögen, den Ungehorsam, die Leidensfähigkeit und häufig das Risiko, das sie bereit waren einzugehen. Unsere Freiheit und Gleichheit verdanken wir den Kämpfen, die Ihr geführt habt und heute noch führt. Sie sind Auftrag, die Arbeit gemeinsam fortzusetzen.

Danken möchte ich auch denen, die sich die Zeit genommen haben, mich ganz konkret mit Interviews bei diesem Buchprojekt zu unterstützen. Katarina Stjepandić, Wissenschaftlerin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, Axel Hochrein, langjähriges Mitglied des Bundesvorstandes des »Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland« (LSVD), Elke Ferner, Leiterin des Fachbereichs Armut beim Deutschen Frauenrat, Olaf Bandt, Vorsitzender des »Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland«, Thomas Fischer, Abteilungsleiter für Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), und Katarina Reuter, Geschäftsführerin des »Bundesverbandes Nachhaltige Wirtschaft«.

Ganz besonders danken möchte ich zwei Personen die mich seit Jahren beim Think Tank »Das Progressive Zentrum« (dpz) begleiten. Claudia Gatzka ist Historikerin und, wie ich, Policy Fellow beim Progressiven Zentrum. Mit ihr habe ich schon das letzte Buch, »Schleichend an die Macht«, herausgebracht, in dem wir uns mit der Geschichtsschreibung und Narrativen der Neuen Rechten beschäftigen. Auch für »Zusammen Wachsen« hat Claudia ihr unschätzbares historisches Wissen und ihre klugen Gedanken immer wieder beigesteuert. Paul Jürgensen ist Referent für Grundsatzfragen beim Progressiven Zentrum und hat mich erneut mit Geduld, Klugheit und Verlässlichkeit durch dieses Projekt begleitet. Danke für Eure große Unterstützung!

Berlin, März 2022

Vorwort

Zeitenwende – es liegt in unserer Hand

»Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.«13 Die Bedrohungslage, auf die Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages reagierte, hat nicht mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Wladimir Putins auf die Ukraine begonnen. Reaktionäre und rechtsextreme Kräfte arbeiten seit Jahren daran, Großmachtfantasien und faschistisches Gedankengut gesellschaftsfähig zu machen. Dabei geht es nicht nur um militärische Fragen. Es geht um eine tiefgreifende Auseinandersetzung zwischen progressiven Kräften, die für Freiheit, Gleichheit und eine regelbasierte Ordnung eintreten – und der ewigen Reaktion autoritärer, chauvinistischer und faschistischer Kräfte.

2020 habe ich gemeinsam mit der Historikerin Claudia Gatzka ein Buch mit dem Titel »Schleichend an die Macht« veröffentlicht. Am Beispiel von Geschichtsschreibung haben wir analysiert, wie die Neue Rechte weltweit Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über die Zukunft zu erlangen. Auch die Verstrickungen der Neuen Rechten, der AfD und anderer reaktionärer Kräfte, mit rechtsextremen Vordenkern und Financiers aus Russland, haben wir 2020 analysiert.

Da ist Alexander Gauland, der den 8. Mai, den Tag an dem der Zweite Weltkrieg endete, als »Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit« bezeichnet. Genau wie andere Größen der AfD reist er nach Russland, trifft die Vordenker des russischen Faschismus wie Alexander Dugin oder russische Financiers der Neuen Rechten in Europa wie Konstantin Malofeew.14 Da ist Donald Trump, der die Großmachtfantasie im Slogan »America First« zum zentralen Thema seiner Präsidentschaft gemacht hat und Allianzen mit Putin nicht scheut, um Macht zu erlangen und zu sichern. Da ist Marine Le Pen, die schon 2017 die Allianz der Faschisten völlig offen beschwört: »Die Welt von Wladimir Putin ist die Welt von Donald Trump in den USA und von Herrn Modi in Indien und ich bin die Politikerin, die mit diesen großen Nationen eine gemeinsame Vision teilt, eine Vision der Zusammenarbeit, nicht der Unterwerfung.«15

Nicht zufällig hat Wladimir Putin seinen Angriffskrieg mit der Umdeutung von Geschichte begonnen. Am 21. Februar versucht er im russischen Fernsehen fast eine Stunde lang aus historischer Perspektive zu argumentieren, warum er zunächst die Regionen Donezk und Luhansk als unabhängig anerkennen wolle. Die Ukraine habe keine echte Staatlichkeit, sei vielmehr eine Fehlkonstruktion und eigentlich Teil des russischen Einflussbereichs. Wenig später folgt der brutale Angriffskrieg auf die Ukraine.16

Das faschistische Denken, dass dem Angriffskrieg auf die Ukraine zu Grunde liegt, hat längst auch die USA, Frankreich, Ungarn, Polen oder auch Deutschland erfasst. Ob »America First« von Donald Trump in den USA, »La France d’abord« (Frankreich zuerst) von Marine Le Pen in Frankreich oder das Beschwören Deutscher Größe unter Bismarck – die Propaganda entstammt dem gleichen gefährlichen reaktionären Gedankengut. Charakteristika sind imperiale Ansprüche, chauvinistische Über- und Unterordnung von Menschen, ungenierter Rassismus, offen zur Schau getragene Frauenfeindlichkeit, Homophobie, die Infragestellung der Religionsfreiheit, Menschenverachtung in allen Facetten und die Leugnung der menschengemachten Klimakrise.

In »Schleichend an die Macht« haben Claudia Gatzka und ich 2020 die große Geschichte der neuen Faschisten analysiert. Was ist die Antwort auf das Erstarken dieser reaktionären Kräfte? Was ist die große Geschichte, die wir Progressive dem entgegensetzen können? Was können wir tun, um die Welt nicht der Zerstörung preiszugeben, sondern zum Besseren zu entwickeln?

Diese Fragen haben Claudia Gatzka und ich uns schon 2020 gestellt, während wir das Streben der Neuen Rechten nach gesellschaftlicher Hegemonie analysiert haben. »Zusammen Wachsen« ist nun der Versuch einer Antwort. Sie entsteht nicht am Reißbrett, nicht allein am Schreibtisch einer Bibliothek, sondern aus vielen Gesprächen, gemeinsamer Analyse und der Beobachtung vieler Menschen, die täglich an dieser Antwort arbeiten.

Wir, die vielen progressiven Kräfte, können zusammenwachsen – und nur zusammen können wir ausreichend wachsen, um stark genug zu werden, der Zerstörungswut reaktionärer Kräfte Einhalt zu gebieten. Alleine sind wir verloren. Nur wenn wir aufeinander achten, nur gemeinsam können wir uns gegenseitig Freiheit und Gleichheit garantieren – jedem einzelnen Menschen. Der Angriffskrieg in der Ukraine hat gezeigt – es ist an uns, die Zeitenwende gemeinsam anzunehmen und zu gestalten. Es liegt in unserer Hand.

1.

Gemeinsam oder gar nicht

Zwei Tage vor der Bundestagswahl, weltweit ist Klimastreik. Am Freitag, 24. September 2021, strömen Hunderttausende Menschen auf den Platz vor dem Reichstag in Berlin, auf der Bühne Musik, Durchsagen, um die Menschenmenge anzuheizen, und Redebeiträge. Es geht um die Klimakrise, aber nicht nur, genauso geht es um Ungleichheit, Ausbeutung, Unterdrückung. Um kurz nach 12 Uhr steigt Emilia Roig auf die Bühne. Für viele ist die Politologin Anfang 2021 mit ihrem Bestseller »Why We Matter« bekannt geworden.1 Heute ist sie beim Klimastreik, um über die Themen ihres Buches zu sprechen, es geht um Hierarchien, Muster von Unterdrückung und Wege zur Solidarität. »Wir Menschen haben diese Hierarchien in den letzten 500 Jahre so tief in uns verinnerlicht, dass wir sie nicht mal infrage stellen«, sagt sie und blickt über die Massen vor ihr – am anderen Ende des Platzes, das Kanzleramt. Die Hierarchie »scheint von unserer Welt untrennbar zu sein. Wie Wasser von Fischen.« Viele Menschen seien entmenschlicht worden. Jüdinnen und Juden, Roma und Romnija, Indigene, Geflüchtete, Menschen mit Behinderung. »Doch diese Hierarchie ist nichts anderes als eine Konstruktion. Sie ist eine Lüge«, sagt sie und ergänzt, es werde nur gelingen, die Ausbeutung und Zerstörung unserer Welt zu stoppen, wenn wir diese Konstruktionen und Lügen überwinden. »No Justice«, ruft sie, »ohne Gerechtigkeit«, und aus Tausenden Mündern schallt es zurück »No Peace«, »wird es keinen Frieden geben«. »No Justice – no Peace«, »No Justice – no Peace.«

Zur Auflockerung erst mal ein »Pinguintanz«, übernimmt der Moderator. Die Stimmung steigt und immer mehr Menschen strömen vor den Bundestag. Eindringlich bittet die Polizei, nicht mehr auf den Platz zu gehen. Durch Lautsprecher tönt der Aufruf »Masken tragen, Abstand halten« – es ist nicht nur Klimakrise, es ist auch Coronakrise. Als Greta Thunberg einige Zeit später auf die Bühne tritt, haben sich über eine halbe Million Menschen2 in Berlins Regierungsviertel versammelt. Viele Kinder und Jugendliche sind gekommen, das Bündnis aber ist mittlerweile viel größer. Gut organisiert reihen sich hintereinander die Blocks und Gruppen: »For Future-Block«, »Hochschul-Block«, »Antikapitalistischer Block«, »Initiativen-Block«, »Gesundheits-Block«, »Landwirtschafts-Block«. Über den Köpfen wehen Banner von Umweltverbänden, Fahnen der Gewerkschaften »IG Bau« und »GEW«, auf einem Schild ist »Queers for Future« zu lesen.

Was haben der globale Klimastreik, die schwarze Bürgerrechtsbewegung, die feministische, die queere oder die Arbeiterbewegung gemeinsam? Warum brauchen wir uns gegenseitig, um gemeinsam eine gute Zukunft für alle zu schaffen, und wie kann dieses gigantische Projekt einer großen gemeinsamen progressiven Bewegung funktionieren? Genau darum geht es in diesem Buch.

Zwei Tage später ist für mich klar, es hat geklappt. Ich wurde für Neukölln und Berlin in den Deutschen Bundestag gewählt – was für eine Ehre und Verantwortung. »Ein Weiterso darf es nicht geben«, eine abgegriffenere Standardphrase gibt es kaum und dennoch ist alles daran richtig. Die Klimakrise braucht jetzt Antworten, genau wie die vielen anderen Krisen unserer Zeit. Die Bundestagswahl 2021 muss eine Zäsur sein und ein Aufbruch zu einer anderen Politik. In den ersten Tagen nach der Wahl wird klar, viele junge Abgeordnete sind in den Bundestag eingezogen, viele meinen es sehr ernst. Ja, ein Weiterso darf es nicht geben. Die Verantwortung dafür liegt bei der neuen Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Aber schon während der Sondierungen und Verhandlungen wird klar, die riesigen Transformationen, die so nötig sind, werden nur gelingen, wenn die vielen progressiven Kräfte der Gesellschaft gemeinsam weiter Druck machen. Unseren Planeten retten und eine Gesellschaft der Gleichen und Freien schaffen, ist ein so gigantischer Anspruch, dass er nur gemeinsam zu schaffen ist – in großen gesellschaftlichen Allianzen.

Die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung, die Bürgerrechtsbewegung, die queere Bewegung, die Friedensbewegung oder die Klima- und Umweltbewegung – sie alle haben die Gesellschaft in langen Kämpfen zum Besseren verändert. Die Kämpfe gehen weiter und gleichzeitig entwickelt sich derzeit etwas Neues. Der Gedanke, diese Entwicklung systematisch zu analysieren, kam mir vor gut zwei Jahren, Anfang 2020.

6:30 Uhr am Morgen – ein Samstagmorgen. Aufstehen, anziehen, Zähne putzen und raus aufs Fahrrad. Es ist der 15. Februar, noch ist es dunkel, und bitterkalt ist es sowieso. Auf dem Weg nach Berlin-Mitte ein kurzer Stopp beim Bäcker – heißen Kaffee und vor allem Proviant kaufen, der Tag soll lang werden. Weiter durch das ausgestorbene Berliner Regierungsviertel bis zum Platz vor dem Neuen Tor, zwischen Charité und Bundesverkehrsministerium. Und da steht er schon, der Reisebus. Es ist erst 7.30 Uhr und doch sind schon die ersten Mitfahrer*innen da. Wir packen Fahnen und Transparente ganz unterschiedlicher Bewegungen in den Gepäckraum – sie sind weiß, grün, rot oder regenbogenfarben. Langsam füllt sich der Platz vor dem Bus. Die letzten Schritte auf und ab, für einige die letzte Zigarette in der Kälte, dann rein und Abfahrt – pünktlich um 8:00 Uhr. Drei Stunden Fahrt liegen vor uns, es geht nach Erfurt.

Zehn Tage vorher hatte dort, in Erfurt, alles seinen Ausgang genommen. Im dritten Wahlgang hatte sich Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen wählen lassen – mit Unterstützung der rechtsextremen AfD, unter Regie des Faschisten Björn Höcke. »Wir haben ein kleines Stück Geschichte geschrieben«, kommentiert dieser. »Noch sind wir nicht stark genug, einen eigenen Ministerpräsidenten zu wählen, als AfD, aber wir sind bereits jetzt stark genug, rote Ministerpräsidenten […] in den Ruhestand zu schicken.« »Ein Hauch Weimar liegt über der Republik«, so beschreibt es wenig später Gerhard Baum, ehemaliger Bundesinnenminister (FDP). »Ich bin ein alter Mann, 87 Jahre alt. Mir stecken die Schrecken der Nazis und übrigens auch der Nachkriegszeit, in der das Naziwesen noch lebendig war, tief in den Knochen. Und ich sehe in dieser Entscheidung in Thüringen einen Schritt in Richtung Weimar.« Der Schock sitzt tief, aber er lähmt nicht, ganz im Gegenteil. Um 13:32 Uhr meldet der MDR den Wahlsieg Kemmerichs, schon um 15:39 Uhr die Meldung, es hätten sich über 200 Menschen vor dem Landtag eingefunden, um gegen den AfD-Coup zu demonstrieren. Am Abend weitere Demonstrationen in Weimar, Gera, Jena und Berlin – es sind Tausende Menschen, die deutlich machen, dieser Dammbruch darf nicht ohne Antwort bleiben.5 Und auch in den sozialen Medien melden sich immer mehr zu Wort und verurteilen, was passiert ist – Bürger*innen, Menschen des öffentlichen Lebens, Personen aus allen demokratischen Parteien, von der Union über die FDP, die SPD, die Grünen bis hin zur Linkspartei.

An der Messe Nord biegen wir auf die Autobahn. Ich nehme mir das Mikrofon aus der Halterung: »Guten Morgen, ich hoffe, alle sind fit« – was man so sagt, um diese Uhrzeit. Da ist Linda, lange weiße Haare, die bunte Brille baumelt um den Hals. Sie ist Italienischlehrerin, Gewerkschafterin und bestens ausgestattet – ihre Tupperbox ist voll mit geschnittenen Äpfeln, die sie später an die Mitreisenden verteilen wird. Da ist Jana, Anfang zwanzig, Studentin, Mitglied der Grünen Jugend. Da sind SPD-Mitglieder und ein älteres Ehepaar, engagiert in einer Kirchengemeinde, wie sie berichten. Und da sind Leute, die nie zuvor gesellschaftlich engagiert oder politisch aktiv waren, aber heute dabei sein wollen. Sie alle sind den Aufrufen gefolgt, nach Erfurt zu kommen, um gemeinsam zu demonstrieren. Die Logistik ist enorm. Auf einer eigens eingerichteten Plattform werden unzählige Busverbindungen angeboten, teils kostenlos, teils gegen Kleinstbeiträge. Das Dach bilden der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die zivilgesellschaftliche Initiative »Unteilbar«, ein Bündnis aus Organisationen, die »gemeinsam für eine solidarische, antirassistische, klima- und geschlechtergerechte Gesellschaft eintreten«, so die Selbstbeschreibung. Aus ganz Deutschland starten an diesem Morgen Busse, aus Köln, Hannover, Duisburg, Essen, Leipzig, Jena, Bochum, Darmstadt, Chemnitz, Dresden, Frankfurt am Main, Göttingen und vielen weiteren Städten. Aus dem ganzen Land reisen Menschen Hunderte Kilometer an, ein großes Netz von Aktiven, die alle Kurs auf Erfurt genommen haben. Organisiert und finanziert sind die Busse von Gewerkschaften, von Parteien, von vielen Initiativen, Organisationen und Privatpersonen. Auf der Seite von »Unteilbar« werden alle Fahrten zentral angeboten, alle können überall mitfahren, wer einen Platz nach Erfurt sucht, soll auch einen finden, egal aus welcher Organisation man kommt, ob man das erste Mal dabei ist oder sich nicht fest zuordnen möchte. Ich selber bin nicht nur Mitglied der Grünen, sondern auch Mitglied der Gewerkschaft ver.di. Unser Bus ist von den Grünen finanziert, unsere kleine Reisegruppe aber besteht aus Menschen aus ganz unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft. Was uns eint, ist das Ziel, unsere liberale Demokratie zu verteidigen.

Um kurz nach 11 Uhr erreichen wir den Domplatz mitten in Erfurt. Von allen Seiten kommen Busse an, immer mehr Menschen strömen auf den Platz. Vor dem Dom eine Bühne, an der Rückwand in großen Buchstaben der Hashtag »#NICHTMITUNS« und der Aufruf »Kein Pakt mit Faschist*innen. Niemals und Nirgendwo!« Langsam füllt sich der Platz, das Fahnenmeer wird immer bunter. Auch unsere weißen, grünen, roten und regenbogenfarbenen Flaggen wehen dazwischen. Die »Omas gegen Rechts« sind mit Schildern da: »Wehret den Anfängen«, »Nicht mit uns«, »Schöner Leben ohne Nazis«. Auf der Bühne ein Programm, das die Breite der Gesellschaft repräsentieren soll. Die Liste der Redner*innen ist lang: Stefan Körzell vom DGB Bundesvorstand, Reinhard Schramm von der »Jüdischen Gemeinde«, Christian Stawenow von der »evangelischen Kirche Mitteldeutschland«, Suleman Malik von der »Ahmadiyya Muslim Jamaat Gemeinde Erfurt«, Thomas Jakob vom »Bürgerbündnis gegen Rechts«, Moritz Fromm und Pia Oelsner von »Fridays for Future Erfurt«, Lilli und Aaron von der Initaitive »WannWennNichtJetzt Thüringen«, Miriam als Vertreterin des »Frauen*streik Jena«, José Paca, Vorstandsvorsitzender des »Dachverbands der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland«, Jibran Khalil von »Jugendliche ohne Grenzen«, Karin Schrappe von der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Thüringen«. Die große Esther Bejarano, Vorsitzende des »Auschwitz-Komitees«, ist mit einer Audiobotschaft angekündigt.6 Als die Reden gehalten sind, ist der Domplatz voll mit Menschen. Über 18.000 werden es am Ende sein, die gekommen sind, um vor allem eines zu zeigen: Wir sind mehr, wir sind hier und wir werden Euch das Feld nicht überlassen.

Grund für Optimismus – und Anforderung an progressive Politik

Die Aufgaben, die vor uns liegen sind enorm. Die Klimakatastrophe und das große Artensterben zu verhindern ist die Menschheitsaufgabe dieser Generation und es bleiben nur wenige Jahre. Die liberale Demokratie gegen die Angriffe von Rechtsextremen und Rechtspopulisten zu verteidigen, ist die Voraussetzung für Freiheit und Selbstbestimmung. Die Ungleichheit und die sozialen Verwerfungen zu verringern, wird darüber entscheiden, ob unsere Gesellschaft auseinanderfällt, in Missgunst und gegenseitiger Abwertung endet, oder ob jede*r Einzelne ein Leben in Würde führen kann. Herausforderungen, die wir nur meistern werden, wenn wir sie gleichzeitig angehen.

Die Kräfte, die all das verhindern wollen, sind stark – aber die letzten Jahre haben auch gezeigt, dass viele progressive Kräfte in der Lage sind, große Allianzen zu schmieden. Die Angriffe der vergangenen Jahre haben nicht zur Resignation geführt, ganz im Gegenteil. Gerade in den letzten Jahren ist enormes entstanden: Fridays for Future hat die Klimakrise seit August 2018 mit Wucht auf die Tagesordnung gesetzt. »Black Lives Matter« hat seit 2013 einen ganz neuen Fokus auf Rassismus und Ausgrenzung geschaffen. Die »Omas gegen Rechts« gehen seit 2017 mit jungen Antifaschist*innen auf die Straße. Die feministische Bewegung beschäftigt sich unter dem Stichwort »Intersektionalität« stärker als je zuvor mit der Frage, wie die Diskriminierung von Frauen mit Klassismus, Rassismus oder Queerfeindlichkeit zusammenhängt. In den Kirchen machen sich Frauen auf, die verkrusteten patriarchalen Strukturen aufzubrechen, Maria 2.0 erhält seit 2019 Zulauf, und das Verbot aus dem Vatikan, Homosexuelle zu segnen, beantworten Kirchengemeinden 2021 in ganz Deutschland mit einem Tag der Segnungen für alle und Regenbogenflaggen an den Gotteshäusern. Die Gewerkschaften gehen Bündnisse mit »Fridays for Future« ein, der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) hat sich mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband zusammengetan, um all jene eines Besseren zu belehren, die immer wieder Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit gegeneinander auszuspielen versuchen. Die Arbeiterwohlfahrt und der Arbeiter-Samariter-Bund kooperieren mit dem Lesben- und Schwulenverband, um ihre Einrichtungen stärker für queeres Leben zu öffnen, und »Unteilbar« hat immer wieder Zehntausende Menschen mobilisiert und in ganz Deutschland auf die Straßen gebracht. »Unteilbar«, das sind antirassistische Gruppen, Menschen aus der Krankenhaus- und Care-Bewegung, Mieter*innen-Initiativen, Menschenrechtsorganisationen, Menschen aus antifaschistischen Gruppen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, feministische und queere Gruppen, das sind netzpolitische Organisationen, Aktive aus der Anti-Kriegs-Bewegung und viele Aktivist*innen der Klimabewegung.7 Nicht zuletzt gibt es immer mehr Unternehmer*innen, die realisieren, dass Klimaschutz, eine freie Gesellschaft und soziale Gerechtigkeit auch die Voraussetzung sind, um langfristig wirtschaftlichen Erfolg zu haben.

Es liegt etwas in der Luft. Kann es sein, dass sich eine breite progressive Bewegung gerade jetzt formiert? In dem Moment, in dem der Druck zu handeln gigantisch wird? Im Angesicht einer Klimakatastrophe, die keinen Aufschub mehr duldet. Im Angesicht von Rechtspopulist*innen, die den menschengemachten Klimawandel leugnen, die Rechte von Minderheiten angreifen und bewusst auf Spaltung setzen? Im Angesicht von sozialen Verwerfungen, die aus der Aufstiegshoffnung vergangener Jahrzehnte, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, für breite gesellschaftliche Gruppen Abstiegsängste haben werden lassen?

Mit der neuen Ampelregierung beginnt eine neue politische Ära in Deutschland – nach 16 Jahren konservativer Politik, wegschauen, verdrängen und ignorieren. Eine progressive Ära kann daraus nur werden, wenn das gelingt, was progressive Bewegungen in den vergangenen Jahren bereits begonnen haben und vorleben. Klientelpolitik im Sinne einzelner Milieus ist zum Scheitern verurteilt, denn die neue progressive Bewegung zieht sich längst quer durch alle Milieus. Progressive gibt es in Kirchen, Moscheen und Gewerkschaften, in Klima- und Umweltorganisationen und im Stahlwerk, in der queeren Kneipe und im Seniorenheim. Überall dort gibt es aber auch die Gegenbewegung reaktionärer Kräfte. Um erfolgreich zu sein, muss die Ampelkoalition eine Politik machen, die progressive Menschen erreicht, egal in welchem gesellschaftlichen Milieu sie zu finden sind. Gleiches gilt für die Zukunft progressiver Parteien. Orientierung an Milieus wird kaum noch erfolgreich sein können. Vielmehr geht es künftig darum, beides zu verbinden – einen klaren progressiven Kompass und die Ansprache von Menschen in allen Milieus der Gesellschaft. Die Partei, der das am besten gelingt, wird das Vertrauen der vielen progressiven Kräfte erringen – quer durch alle Milieus der Gesellschaft.

»Progressiv« bedeutet mehr als »Fortschritt« – es geht um Haltung

Ich habe auf den letzten Seiten immer wieder von »progressiven Allianzen«, einer »neuen progressiven Bewegung« gesprochen. Was bedeutet das? Bewegungen, die sich als »progressiv« beschreiben, haben eine lange Tradition. Kurz gesagt vereint alle progressiven Kräfte der Gedanke, den Audre Lorde in ihrer Rede 1982 formuliert hat: Es geht um »Freiheit« und »Gleichheit«. Die Freiheit, uns in all unserer Unterschiedlichkeit zu entfalten, und die Gleichheit aller Menschen an Würde, an Rechten und, konkret, an tatsächlichen Möglichkeiten. Freiheit des einzelnen Menschen und Gleichheit aller werden immer wieder reflexhaft als Gegensätze beschrieben, als sich gegenseitig ausschließend. Genau andersherum macht es Sinn, ohne Gleichheit wird es keine Freiheit geben. Gleichheit und Freiheit konsequent zusammen zu denken erfordert von einigen, eine gewisse Form egoistischer Freiheit einzuschränken. Mit 150 km/h durch die Innenstadt zu brettern ist nicht die Freiheit des Einzelnen, sondern eine Ignoranz gegenüber der Freiheit vieler anderer. Die Ausbeutung von Menschen in Fabriken ist nicht freies Unternehmertum, sondern Unterdrückung der Freiheit vieler anderer. Oder zuletzt, in der Coronapandemie – die Freiheit, ungeimpft eine Party zu schmeißen oder an Silvester zu böllern, während die Intensivstationen mit Coronapatient*innen voll sind, ist nichts als die dreiste Verletzung der Freiheit vieler anderer, die sich verantwortungsvoll verhalten. Freiheit und Gleichheit bedingen sich gegenseitig. Nur zusammen macht beides Sinn. Das gilt im alltäglichen Zusammenleben, aber natürlich auch in der globalen Perspektive und mit Blick auf das Leben künftiger Generationen. Und spätestens hier wird klar, progressives Denken heißt zwingend, die Klimakatastrophe abzuwenden und die Freiheit und Gleichheit unserer Kinder und Enkelkinder zu sichern. Natürlich geht die progressive Bewegung nicht nur bis in die Zeit von Audre Lorde zurück. Wir stehen auf den Schultern großer Bewegungen der vergangenen Jahrhunderte. Darauf werde ich im nächsten Kapitel genauer eingehen.

Progressive richten sich nicht zwingend gegen alles Konservative. Diese Haltung wäre unterkomplex und würde manch wichtige Allianz unmöglich machen. Die Schöpfung zu bewahren ist eine dezidiert konservative Haltung, Umwelt- und Klimaschutz ist gleichzeitig zentrales Thema progressiver Kräfte. Auch gesellschaftspolitisch treffen sich Konservative und Progressive an einigen Stellen, zum Beispiel wenn durch die »Ehe für alle« die Rechte queerer Menschen und gleichzeitig der Wert von Ehe, von Familie gestärkt werden – wenn auch in neuem Gewand. Die Idee der Nächstenliebe bringt gerade Kirchen häufig zu Haltungen, die dem Einsatz progressiver Kräfte für weniger privilegierte Menschen sehr nahe stehen, zum Beispiel in der Arbeit für Geflüchtete.

Auch wenn progressiv und konservativ häufig gegeneinanderstehen, will ich die Gegner*innen progressiver Allianzen und einer neuen progressiven Bewegung im Folgenden nicht mit dem Wort »konservativ« fassen, dies wäre sicher häufig richtig, aber gleichzeitig dennoch zu undifferenziert. Ich werde das Wort »reaktionär« nutzen. Damit meine ich ein Denken und Handeln, das sich gegen die grundlegenden Ideen von Gleichheit und Freiheit richtet. Es geht um diejenigen, die Über- und Unterordnung von Menschen entlang von Hautfarben, Religionen, Geschlechtern, Klassen oder sexuellen Orientierungen dezidiert als politische Zielsetzung verfolgen oder diese in Kauf nehmen. Es geht damit auch um diejenigen, die nicht bereit sind, die nötigen Maßnahmen angesichts der Klimakrise zu ergreifen, den fatalen Status quo akzeptieren und damit künftige Generationen und Menschen in anderen Teilen des Globus ihrer Gleichheit und Freiheit berauben.

Progressive Allianzen zu schmieden ist kein einfaches Unterfangen. Gerade progressive Kräfte sind Weltmeister darin, sich in Konflikten untereinander aufzureiben. Besonders beliebt ist derzeit der Streit unter dem Label der »Identitätspolitik«. Haben sich urbane progressive Kräfte zu sehr auf Gesellschaftspolitik, Feminismus, Antirassismus, Queerpolitik gestürzt und in vermeintlicher Selbstbezogenheit Menschen in Armut und prekärer Beschäftigung vergessen? Haben sich die Gewerkschaften in ihren alten Strukturen festgefahren und versäumt, sich für neue Gerechtigkeitsfragen zu öffnen? Die Debatte wird weltweit kontrovers geführt. In Frankreich sind Bücher wie »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon zum Bestseller geworden. Darin beschreibt der Soziologe seinen Weg aus einem prekären und zugleich schwulenfeindlichen Umfeld seiner Familie ins liberale Paris und gleichzeitig die Entfremdung der großstädtischen Linken von den Problemen der Arbeiterschaft. In den USA wurde James