Zwei Schwestern - Åsne Seierstad - E-Book

Zwei Schwestern E-Book

Åsne Seierstad

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Beschreibung

An einem Nachmittag im Oktober 2013 kommen die zwei Teenagerschwestern Ayan und Leila nach der Schule nicht wie gewohnt nach Hause. Stattdessen schicken sie eine E-Mail – mit einer Nachricht, die ihren Eltern und Geschwistern schier die Luft zum Atmen nimmt: Die beiden Schwestern befinden sich auf der Reise nach Syrien, um sich dort dem Islamischen Staat anzuschließen. Sofort begibt sich ihr Vater auf die Suche nach ihnen mitten hinein ins Kriegsgebiet. Auf seiner verzweifelten und lebensgefährlichen Odyssee kooperiert er mit Schmugglern, Geheimdiensten und Terrormilizen. Wieso haben seine Töchter freiwillig ihr sicheres Leben aufgegeben? Wieso wurden im Vorfeld die Zeichen nicht richtig gedeutet? Und wie schafft er es, sie wieder zurückzuholen, notfalls auch gegen ihren Willen? Åsne Seierstad beleuchtet das Thema in seiner gesamten Komplexität. Sie deckt nicht nur die Hintergründe der Radikalisierung sowie die Auswirkungen auf die Hinterbliebenen auf, sondern gewährt auch dramatische Einsichten in das Leben und Überleben im Terrorstaat.

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Seitenzahl: 743

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» Weitere eBooks des Autors

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Åsne Seierstad, geboren 1970 in Oslo, arbeitete als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin für verschiedene internationale Zeitungen und ist Autorin mehrerer Sachbücher. Sowohl als Journalistin als auch für ihre weltweiten Bestseller Der Buchhändler aus Kabul (2002) und Einer von uns (2016) wurde sie vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in Oslo.

»Åsne Seierstad ist die renommierteste Journalistin Skandinaviens, spezialisiert auf Abgründe.« Das Magazin

ÜBER DAS BUCH

»Wir sind jetzt bald am Ziel. Seid uns bitte nicht böse, es hat sooo wehgetan, ohne Abschied wegzugehen. Wir haben Euch sooo lieb und hoffen, dass Ihr den Kontakt nicht abbrecht.« Die zwei Schwestern in ihrer Abschieds-E-Mail

Als Ayan und Leila nach der Schule nicht nach Hause kommen, ahnt niemand, dass sich die beiden Schwestern auf dem Weg nach Syrien befinden, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen. Åsne Seierstad fragt nach den Gründen für die Radikalisierung und begleitet die Familie der Schwestern bei den dramatischen Versuchen, sie zurückzuholen. Ein dokumentarisches Meisterstück und Norwegens Sachbuch des Jahres.

»Wenn man den Radikalisierungsprozess verstehen möchte, gibt es kein besseres Buch.« Aftonbladet

Vorbemerkung der Autorin

Dieses Buch handelt von einer wahren Begebenheit.

Es basiert auf den Erlebnissen derer, die dabei waren. Anhand ihrer Erzählungen wurden die einzelnen Szenen rekonstruiert, wobei es für manche Szenen mehrere Quellen gibt, für andere jeweils nur eine.

Die im Folgenden beschriebenen persönlichen Gedanken beruhen auf den Berichten der jeweils Betroffenen. Diejenigen, die nicht selbst zu Wort kommen wollten, wurden anhand ihrer Handlungsweisen, schriftlicher Quellen sowie Schilderungen anderer dargestellt.

Zur Transliteration arabischer und somalischer Wörter wurde in Abstimmung mit Fachleuten eine vereinfachte und vereinheitlichte Version gängiger Schreibweisen herangezogen. Im Falle bestimmter Eigennamen, für die es in westlichen Sprachen bereits etablierte Schreibweisen gibt, wird davon abgewichen.

Die in diesem Buch zitierten E-Mails und anderen Nachrichten wurden im Großen und Ganzen nicht korrigiert. Hier entspricht die Schreibweise arabischer Wörter und Namen der Schreibweise, die der Verfasser jeweils gewählt hat.

Eine ausführlichere Darstellung meiner Arbeitsmethode findet sich im Nachwort. Darüber hinaus enthält der Anhang auch ein Glossar und ein Literaturverzeichnis.

Teil I

Der Prophet sagte über die Märtyrer:

»Ihre Seelen sind in grünen Vögeln, die sich in den Lampen unter dem Throne Gottes Nester bauen und nach Belieben von den Früchten des Paradieses essen. Der Herr sieht sie und fragt, ob sie einen Wunsch hätten. Sie antworten: ›Was sollen wir uns wünschen? Wir essen ja schon von den Früchten des Gartens, wie es uns beliebt.‹ Der Herr fragte noch einmal, und als Er zum dritten Mal fragte, sagten sie: ›Herr, schick unsere Seelen zurück in unsere Körper, sodass wir erneut unser Leben für dich opfern können.‹ Da sah Gott, dass sie nach nichts anderem trachteten, und ließ sie im Paradies bleiben.«

Überliefert nach ‛Abdallāh ibn Mas‛ūd, gestorben 650

Wenn wir sterben, kehren wir alle zu Allah zurück, aber lasst uns schon im Leben danach streben, zu Ihm zurückzukehren.

Umm Hudayfah alias Ayan, 10. Oktober 2013

Die Umkehr

Das Etagenbett stand mitten im Zimmer. Eine hohe Absturzsicherung aus weiß lackierten Metallstäben sorgte dafür, dass vom oberen Bett niemand herunterfallen konnte. Die Decken und Kissen waren mit bunter Bettwäsche bezogen. Neben der Tür standen ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein Kleiderschrank, auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Kommode. Ein Fenster gab den Blick auf einen Rasen und einen Wohnblock aus rötlichem Backstein frei, der ganz genauso aussah wie alle anderen Häuser hier. Das Sims war so niedrig, dass man einfach durchs Fenster steigen und sich draußen ins Gras fallen lassen konnte. An den Möbeln klebten Zettel mit zierlichen Schriftzeichen, die mit Bleistift vorgeschrieben und mit blauem Filzstift nachgezogen worden waren: Bett. Fenster. Stuhl. Tisch. Schrank. Tür. Die Tapete über der Kommode war übersät mit solchen Zetteln. Groß, klein, hoch, niedrig, warm, kalt, arm, reich. Die arabischen Wörter waren kunstvoll aufgemalt, offensichtlich von einem Anfänger der Sprache, denn hier und da waren Buchstaben verwechselt. Die Übersetzung ins Norwegische war jeweils richtig geschrieben, aber nur dünn mit Bleistift danebengekritzelt.

Aufgehängt hatte die Zettel die jüngere Schwester, die im Etagenbett oben schlief. Sie zierten nicht nur das Mädchenzimmer, sondern waren überall in der Wohnung verteilt: Lampe. Sofa. Vorhang. Regal. Der Arabischkurs begann mit weltlichen Dingen, zielte jedoch auf etwas Geistliches ab – die Lektüre des Korans, wie er dem Propheten Mohammed offenbart worden war.

Ich. Er. Wir. Ich bin. Er ist. Wir sind. Allahu akbar. Gott ist groß. Gott ist größer. Führe uns auf den rechten Weg!

An diesem Oktobermorgen war Leila früher als sonst die Leiter des Etagenbetts hinuntergestiegen. Sie zog sich ein bodenlanges Kleid an und ging zu ihrer Mutter in die Küche, die sich gleich im Nebenzimmer befand. Sara wachte morgens immer als Erste auf. Dann kroch sie leise aus dem Ehebett und schlich sich vorsichtig aus dem Schlafzimmer, um Sadiq nicht zu wecken. Erst wenn er ihre Wärme nicht mehr spürte, wenn es im Bett kälter geworden war und er zu frösteln begann, wachte auch er auf.

Sara stand gedankenversunken am Frühstückstisch. Überrascht blickte sie zu ihrer Tochter auf, die in der vergangenen Woche sechzehn geworden war. Leila hatte die Statur ihres Vaters: schlank, hochgewachsen, langgliedrig.

»Soll ich dir helfen, die Jungs fertig zu machen?«, bot sie an.

»Hast du heute keine Schule?«, fragte die Mutter.

»Doch, doch. Ich dachte nur, du könntest vielleicht etwas Hilfe brauchen …«

»Das schaffe ich schon allein, mach du dich ruhig selbst fertig.«

Im Gegensatz zu ihrer großen Schwester, die im Haushalt regelmäßig mit anpackte, war Leila normalerweise nicht gerade die Hilfsbereiteste. »Königin der Faulpelze« nannte ihr Vater sie immer.

Sara ging an ihrer Tochter vorbei in das Zimmer der kleinen Brüder Isaq und Jibril, die sechs und elf Jahre alt waren. Sie weckte die beiden behutsam, half ihrem Jüngsten beim Anziehen und kam anschließend mit ihnen in die Küche.

Dort stand Sadiq mittlerweile am Herd.

Die braunen Bohnen hatte er schon am Vorabend eingeweicht. Nun dünstete er in heißem Öl eine fein gewürfelte Zwiebel, gab ein paar Knoblauchzehen, noch etwas Öl, eine in Streifen geschnittene rote Paprika und Gewürze hinzu und wartete, bis das Ganze etwas Farbe angenommen hatte. Dann mischte er die Bohnen darunter, ließ die Masse eine Weile auf mittlerer Hitze köcheln und pürierte sie schließlich mit dem Stabmixer. Den fertigen Brei schöpfte er auf einen großen Teller und gab zum Schluss noch ein paar goldgelbe Spiralen Olivenöl darüber.

Isaq und Jibril waren noch nicht ganz wach und setzten sich schwerfällig an den Küchentisch. Häppchenweise tunkten sie Brot in das Bohnengericht und schoben sich die Stücke in den Mund, wobei Isaq wie immer kleckerte. Bei Jibril ging so gut wie nichts daneben.

Leila schlich um den Tisch, auf dem auch eine Kanne Schwarztee mit Kardamomsamen stand.

»Willst du dich nicht setzen?«, fragte der Vater.

»Nein, ich faste«, antwortete die Sechzehnjährige.

Sadiq fragte nicht weiter nach. Leila und ihre große Schwester Ayan, die gerade ins Bad gegangen war, hielten sich streng an die Fastenzeiten. Für Frauen waren religiöse Rituale während ihrer »unreinen« Tage tabu, doch die Mädchen holten die verlorene Zeit so schnell wie möglich nach. Am liebsten montags und donnerstags, denn an diesen Tagen hatte der Prophet Mohammed ebenfalls gefastet. Heute war Donnerstag.

Der Ramadan hatte sie dieses Jahr auf eine harte Probe gestellt, denn der Fastenmonat war auf den Juli gefallen, und da ging die Sonne erst nach zweiundzwanzig Uhr unter und nur wenige Stunden später wieder auf. Die Phasen ohne etwas zu essen oder zu trinken waren lang gewesen. Jetzt, im Oktober, im Dhū l-Hiddscha – dem Pilgermonat –, fasteten die Mädchen erneut und hatten ihren Gebetsrhythmus intensiviert. Es war die heiligste Zeit im islamischen Kalender, ideal für den Hadsch, die Wallfahrt nach Mekka. Gute Taten zählten jetzt mehr denn je.

Ismael, der sich in der Geschwisterreihe genau zwischen Ayan und Leila befand, erschien mit einem Handtuch um die Hüften in der Küche. Er war auf dem Weg ins Bad, wo Ayan soeben fertig geworden war. Wenn er so halb nackt durch die Wohnung stolzierte und dabei seinen Schwestern begegnete, rempelte er sie gern wie aus Versehen an. »Lass das!«, riefen sie dann. »Mama, er ärgert uns!«

Zwischen den drei Jugendlichen im Haus – der neunzehnjährigen Ayan, dem achtzehnjährigen Ismael und der sechzehnjährigen Leila – lagen mittlerweile Welten. Ismael habe nichts als Fitnesstraining, Ausgehen und Computerspiele im Kopf, meinten die Schwestern. Sie fanden es peinlich, dass er sich nie in der Moschee blicken ließ. Das falle schließlich auf. »Du bist überhaupt kein Muslim!«, hatte Ayan ihm an den Kopf geworfen und von ihrer Mutter verlangt, ihn vor die Tür zu setzen. Mit jemandem, der nicht bete, könne sie nicht unter einem Dach leben.

»Er ist nur ein bisschen verwirrt«, hatte die Mutter sie zu beruhigen versucht.

»Schmeiß ihn raus!«

»Im Sommer nehme ich ihn mit zu einem Scheich in Hargeysa«, erwiderte die Mutter. »Der soll mal mit ihm reden, ein paar Gebete für ihn lesen …«

Ayan hatte in den geschwisterlichen Auseinandersetzungen stets die führende Rolle übernommen. Leila schloss sich ihr in der Regel an, doch am Vorabend, als Ismael vom Training gekommen war und gerade seine Tasche im Flur abstellen wollte, war sie plötzlich auf ihn zugestürmt und hatte ihn überschwänglich umarmt.

»Ach, Ismael! Du hast mir so gefehlt!«

»Hä? Ich war doch nur ein paar Stunden weg …«

»Wo warst du denn?«

»Beim Training.«

»Und was hast du trainiert?«

»Äh … Oberkörper. Brust und Arme.«

Verstehe mal einer die Mädchen. Die ganze letzte Zeit hatte Leila die Krallen ausgefahren, und auf einmal war sie wieder so lieb und anhänglich.

Ismael zog sich ein Paar Jeans und ein Hemd an und ging zurück in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, an dem die Mädchen Aufkleber mit Weisheitssprüchen vom Islamic Cultural Centre Norway befestigt hatten, gleich neben einem Zettel mit der Aufschrift Thallādscha, dem arabischen Wort für Kühlschrank. Auf einem grünen Aufkleber, dessen Ränder schon etwas abstanden, als hätte ihn jemand abzuknibbeln versucht, stand: Allah sieht nicht deinen Wohlstand und Besitz, Er sieht dein Herz und deine Taten. Ein lilafarbener Aufkleber verkündete: Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, soll seinem Nachbarn kein Übel zufügen, er soll gastfreundlich sein und die Wahrheit sprechen, welche gut ist, und ansonsten schweigen (alsonicht unsittlich oder schmutzig daherreden, lästern, lügen, Gerüchte verbreiten usw.).

Ismael schmierte sich im Stehen drei Scheiben Brot mit Makrele in Tomatensoße. Der Achtzehnjährige achtete darauf, stets ausreichend Proteine zu sich zu nehmen, und fand, dass seine Eltern zu viel Öl verwendeten und ihr Essen völlig zerkochten. Er legte Wert auf eine reine, gesunde und einfache Ernährung und hatte nichts für die somalischen Gewürzmischungen übrig.

Als er sich zu den anderen an den Tisch setzte, rempelte er seine kleinen Brüder spaßeshalber an. Isaq beantwortete die Attacke mit einem Clownsgesicht und schlug mit geballter Faust zurück, während Jibril sich nur abwandte und seinen großen Bruder bat, ihn in Ruhe zu lassen.

»Lass die Jungs in Frieden essen«, sagte Sara.

Langsam wurde es draußen heller, doch bis die Sonne über den Wohnblöcken im Osten aufging, dauerte es noch eine Weile.

Sadiq Juma war krankgemeldet. Er hatte Schmerzen in der Schulter, nachdem im Coca-Cola-Lager ein voller Getränkekasten auf ihn gestürzt war. In der kommenden Woche hatte er einen Termin bei einem Physiotherapeuten, an den ihn das norwegische Arbeits- und Sozialamt überwiesen hatte. Er hing seinen Gedanken nach. Seine Mutter zu Hause in Somaliland hatte sich schon länger nicht mehr gemeldet. Ob sie wohl krank war? Er würde sie später mal anrufen.

Im Zimmer der Mädchen fiel eine Schranktür zu, und etwas Schweres wurde verrückt. Ayan hatte im Frühjahr die weiterführende Schule beendet und half gerade in einem Büro aus, das älteren Menschen mit Bedarf an »praktischer Hilfe im Alltag« persönliche Assistenten vermittelte, wie es im Arbeitsvertrag hieß. Sie wollte sich zuerst ein Jahr Bedenkzeit nehmen, bevor sie sich für ein Studium entschied.

Nun kam sie mit einem Koffer aus dem Mädchenzimmer.

»Was hast du denn damit vor?«, fragte Sadiq.

Ayan blickte ihren Vater an. »Den möchte Aisha sich leihen. Sie will verreisen.«

Die Freundin, die ein paar Blöcke weiter wohnte, hatte sich schon öfter etwas von den Mädchen ausgeliehen oder ihnen ihrerseits etwas geborgt. In letzter Zeit hatten Leila und Ayan ihren Vater häufiger gefragt, ob er sie zu ihr rüberfahren könne. Als er wissen wollte, was sich denn in den Plastiktüten befinde, die sie zwischen den Wohnungen hin- und hertransportierten, hatten sie ihm erklärt, dass bei Aisha die Waschmaschine kaputt sei und sie ihr bei der Wäsche hälfen. Aisha war ein paar Jahre älter als Ayan und mit ihrem kleinen Baby zurück zu ihrer Mutter und den Schwestern gezogen, nachdem sie von ihrem Ehemann verlassen worden war.

Ayan zog den Koffer hinter sich her in den Flur. Auch sie wollte heute nichts frühstücken, sondern ging auf direktem Wege zum Spiegel neben der Haustür, wo sie ihr krauses Haar unter einem Kopftuch verschwinden ließ.

Die Älteste hatte die Züge ihrer Mutter: eine hübsch gewölbte Stirn, weiche, runde Wangen, tiefgründige Augen. Das Kopftuch wurde so eng angelegt, dass kein Haar mehr zu sehen war, darüber zog Ayan einen Dschilbāb, eine Art Tunika mit Kapuze, und schließlich einen weiten Mantel. Allmählich wurde es eng im Flur. Jibril stand bereits fertig angezogen an der Tür, während Isaq noch versuchte, seinen Fuß in den Schuh zu zwängen.

»Schnür ihn doch auf«, schimpfte Sadiq.

»Kann ich aber nicht«, beklagte sich der Sechsjährige.

Im Leben gelte für alles dieselbe Regel, erklärte ihm der Vater: »Gebrauch deinen Kopf, nicht die Muskeln!«

Der jüngste Sprössling war genau wie Sara und Ayan kräftig und kompakt gebaut, während die übrigen drei Kinder die schlanke Figur des Vaters geerbt hatten. Sadiq ging in die Hocke, um die Schnürsenkel seines Sohnes zu entwirren.

Ayan verließ als Erste die Wohnung.

»Tschüss!«, sagte sie und lächelte den anderen noch einmal zu.

Als sie mit dem Koffer verschwunden war und die Tür hinter ihr zufiel, war wieder etwas Platz im Flur. Nun trat Leila vor den Spiegel und führte die gleichen Handgriffe aus wie zuvor ihre Schwester. Als das Kopftuch saß, blieb sie noch eine Weile mit der Schultasche auf dem Rücken an der Tür stehen.

»Willst du mitfahren?«, fragte der Vater. Er mühte sich noch immer mit Isaqs Schnürsenkeln ab.

Wenn die Kleinen zur selben Zeit losmussten wie sie, ließ Leila sich normalerweise von Sadiq an der Schule absetzen, obwohl sie zu Fuß gerade mal eine Viertelstunde brauchte.

»Nein danke«, antwortete sie.

Der Vater sah überrascht auf.

»Ich brauche mehr Bewegung, sonst werde ich noch zu dick«, erklärte sie.

»Also hör mal! Wo bist du denn dick? Du bist doch ein Strich in der Landschaft!«, sagte Sara und verdrehte die Augen.

Leila lächelte nur und nahm beide Eltern nacheinander in den Arm.

»Ich hab dich lieb, Papa«, flüsterte sie Sadiq ins Ohr. »Ich hab dich lieb, Mama«, flüsterte sie auch ihrer Mutter zu.

Die Liebesbekundungen waren auf Somali. Mit der Mutter sprachen die Kinder nur die eine Sprache, mit dem Vater mal die eine, mal die andere und untereinander meist norwegisch.

»Gehen wir dann zusammen?«, fragte Ismael.

Leila und er besuchten beide das Fachgymnasium Rud, Leila die elfte Klasse mit dem Schwerpunkt Gesundheit und Soziales, Ismael die dreizehnte mit dem Schwerpunkt Elektrotechnik. Sie hatten einen unterschiedlichen Tagesrhythmus und machten sich morgens nur selten zusammen auf den Weg, aber da Leila am Abend zuvor »ganz die Alte« gewesen war, wäre es Ismael komisch vorgekommen, nun nicht gemeinsam loszugehen, wie sie es als Kinder immer getan hatten.

»Nein, ich wollte noch …«, antwortete Leila.

Den Rest hörte Ismael nicht mehr, und kurz darauf war sie auch schon mit ihrem Rucksack zur Tür hinaus verschwunden.

Nun waren alle bereit für den Tag. Die Kleinen stürmten die Treppen hinauf, Jibril voran und Isaq gleich hinterher. Der terrassenartig angelegte Wohnblock befand sich an einem steilen Hang, und um von der Wohnung zur Straße zu gelangen, musste man erst einmal drei Etagen nach oben gehen.

Der Gipfel des Kolsås, der sich wie eine schwarze Wand hinter dem Wohngebiet erhob, war von Nebel umhüllt. Während Sadiq das Auto aufschloss, stritten sich seine Söhne darum, wer vorne auf den Beifahrersitz durfte.

»Ok, ok, ok«, ging er dazwischen. »Wie war das noch gleich – ach ja genau, letztes Mal saß Jibril vorne, dann ist Isaq jetzt dran.«

Sie warteten kurz, bis der Motor vorgeglüht hatte, dann gab Sadiq Gas und fuhr aus dem Zufahrtsweg Lillehauger, viel zu abrupt, viel zu schnell, so wie immer.

Dem Sechstklässler Jibril wäre es am liebsten gewesen, wenn Sadiq sie einfach an der Schule abgesetzt und sich sofort wieder auf den Weg gemacht hätte, ihm war es peinlich, zusammen mit seinem Vater gesehen zu werden. Isaq hingegen, der erst vor knapp zwei Monaten eingeschult worden war, wollte noch bis auf den Schulhof gebracht werden.

Als es zur ersten Stunde läutete, kehrte Sadiq zum Auto zurück und fuhr nach Hause, um Sara abzuholen. Sie hatte einen Arzttermin. In letzter Zeit hatte sie über Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Schmerzen in den Fingern, in den Handgelenken, Beinen und Füßen geklagt. Sie fühlte sich oft abgeschlagen und müde, fror und war generell nicht in bester Verfassung. Vielleicht konnte sie ja irgendein Mittel nehmen. Womöglich fehlte ihr nur etwas Eisen? Kalzium? Vitamin D? Sie schluckte schon regelmäßig Lebertrankapseln, aber auch das hatte nicht geholfen. Was ich brauche, ist warme Kamelmilch, sagte Sara immer, dann verschwinden die Schmerzen sofort. Zu dieser Jahreszeit wärme die Sonne in Norwegen einfach nicht, sie spende ja kaum Licht. Dafür war Sara nicht geschaffen.

Sie fuhren zum Einkaufszentrum Sandvika und suchten sich einen Parkplatz, auf dem man drei Stunden kostenlos stehen konnte. Von dort aus gingen sie zur Gemeinschaftspraxis Bærumsklinikken, wo sie von der Hausärztin der Familie Juma in Empfang genommen wurden. Nachdem Sadiq ihr die Beschwerden seiner Frau übersetzt hatte, stellte sie ein paar Fragen, untersuchte Sara und kam zu dem Schluss, dass man hier mit Pillen und Mittelchen nicht weiterkomme, sondern dass eine grundlegende Änderung des Lebensstils erforderlich sei. Sara brauche mehr Bewegung, sie solle öfter mal spazieren gehen und müsse deutlich abnehmen.

Nach dem Arzttermin fuhr Sadiq seine Frau wieder nach Hause, wo sie sich erst einmal ausruhte, so wie jeden Mittag.

Isaq und Jibril hatten um halb zwei Schulschluss. Leila kam in der Regel kurz nach ihnen nach Hause. Dann nahm sie ihr Kopftuch ab, zog den langen Mantel aus, wusch sich, betete, aß ein wenig und verschwand schließlich in dem Zimmer, das sie sich mit Ayan teilte. Dort schaltete sie den Computer ein, um Hausaufgaben zu machen oder sich Predigten oder Koranrezitationen anzuhören. Die Mädchen verbrachten viel Zeit auf ihrem Zimmer. »Nicht reinkommen!«, riefen sie entrüstet, wenn jemand von außen die Türklinke hinunterdrückte.

Während andere Mütter sich Sorgen machten, ob ihre Töchter mit Jungen zu tun hatten oder zu freizügige Kleidung trugen, hatte Sara nichts dergleichen zu befürchten. Ihre Mädchen hielten sich genau an die Regeln. Sie fragten immer um Erlaubnis, selbst wenn es nur darum ging, bei den Nachbarn anzuklopfen, erzählte sie ihren Freundinnen stolz. Sie war froh, dass die beiden nicht zu tief in die norwegische Kultur eintauchten. Ismael hingegen bereitete ihr Sorgen, er entfernte sich immer mehr von seinen somalischen Wurzeln und wurde ihr allmählich zu norwegisch.

Inzwischen war es schon nach drei Uhr. Ismael war früher aus der Schule gekommen und hatte versprochen, seinen kleinen Brüdern bei den Hausaufgaben zu helfen. Sie hingen in einigen Fächern hinterher. Nun saßen die drei Brüder am Küchentisch und wunderten sich, dass Leila noch nicht da war. Sie kam sonst immer direkt nach der Schule nach Hause.

Sara versuchte, sie auf dem Handy zu erreichen, doch das war ausgeschaltet. Auch ihre Älteste ging nicht ans Telefon. Vielleicht hatten die Mädchen heute irgendein Nachmittagsprogramm, von dem sie nichts mitbekommen hatte.

Sie wartete eine Weile und versuchte es dann erneut. Erst bei Leila, dann bei Ayan. Auch Sadiq war nicht zu erreichen. Sie bat Ismael, ihm eine Nachricht zu schicken. Es musste irgendetwas passiert sein. Warum sonst war Leila so spät dran?

Sara rechnete oft mit dem Schlimmsten. Vielleicht war ihre Tochter ja von irgendwem überfallen worden? Sie wusste, dass es Norweger gab, die etwas gegen Dunkelhäutige und erst recht gegen Muslime hatten, und einmal war Leila von einer Gruppe Jungen drangsaliert worden.

Schließlich erreichte sie die Älteste.

»Wo seid ihr?«, rief die Mutter. »Ich mache mir Sorgen um Leila, sie ist noch nicht zu Hause!«

»Hab keine Angst. Leila ist bei mir«, antwortete Ayan.

»Oh«, rief Sara erleichtert. »Dann ist ja gut!«

Solange die beiden zusammen waren, war alles in Ordnung. Sie holte ein paar Stücke Lammfleisch aus dem Kühlschrank und gab Wasser in einen Topf, um für sieben Personen Reis aufzusetzen.

Währenddessen saß Sadiq in der Bücherei von Sandvika und las in der Illustrierten Wissenschaft. Ihm tat die Schulter weh, es würde sicher noch dauern, bis er wieder bei Coca-Cola anfangen konnte. Im Grunde wünschte er sich eine andere Arbeitsstelle. Eine Zeit lang hatte er davon geträumt, Ingenieur zu werden, er hatte sogar einen Abendkurs besucht, um die entsprechende Qualifikation für das Studium zu erlangen, doch dann hatte er aufgegeben.

Diese Bücherei war sein Ein und Alles. Er kam fast jeden Tag hierher. Als Erstes holte er sich immer seine Lieblingszeitschrift aus dem Regal, blätterte ein wenig darin und klappte dann den Laptop auf, um im Internet zu surfen.

Als er kurz vor die Tür ging, um eine Zigarette zu rauchen, sah er die entgangenen Anrufe und die Nachricht auf seinem Handy.

»Die Mädchen sind immer noch unterwegs«, ließ seine Frau ihm ausrichten. »Kannst du sie anrufen und ihnen sagen, dass du sie mit dem Auto abholst? Und dann kommt ihr alle zum Essen nach Hause, ja?«

Er wählte erst Ayans und anschließend Leilas Nummer. Wahrscheinlich waren sie in der nahe gelegenen Rahma-Moschee oder bei Aisha. Leilas Handy war ausgeschaltet. Ayan ging nicht ran. Oder waren sie vielleicht zur Tawfiiq-Moschee in Oslo gefahren?

Sadiq kehrte zu seinem Laptop zurück und chattete kurz mit einem Freund. Gegen fünf Uhr fuhr er nach Hause. Dort angekommen, zog er sich im Flur die Schuhe aus und steuerte auf das Kunstledersofa im Wohnzimmer zu. Er war müde und wollte ein wenig die Beine hochlegen, bis das Essen fertig war.

Vor ihm stand der Fernseher. Hinter ihm an der Wand hing ein Bild von Mekka. In der Ecke zur Veranda lagen ein paar Decken und ein altes Trainingsgerät. Ansonsten war das Wohnzimmer leer, spärlich à la Somali eingerichtet.

Sara bat ihn, es weiter auf den Handys der Mädchen zu versuchen.

»Wo stecken die nur? Für so was habe ich keine Zeit!«, ärgerte er sich.

Um kurz nach sechs ging seine älteste Tochter endlich ans Telefon.

»Beruhig dich, Papa«, sagte sie. Sie hielt einen Moment inne, als wollte sie ihm etwas Zeit geben, und sagte schließlich: »Abu, setz dich.« Sie klang kühl. »Wir haben euch eine E-Mail geschickt. Lest sie.«

Dann legte sie auf.

Sadiq holte den Laptop aus dem Rucksack, setzte seine Brille auf und öffnete das E-Mail-Programm. Zuoberst im Postfach fand er eine ungelesene Nachricht, verschickt am 17. Oktober 2013 um 17:49 Uhr.

»Friede, Gottes Gnade und Segen seien mit Euch, Mama und Papa«, stand dort auf Somali. Der Rest der E-Mail war auf Norwegisch verfasst.

Wir haben Euch sooo lieb, und Ihr habt uns alles im Leben gegeben. Dafür sind wir Euch ewig dankbar ♥.

Sadiq las weiter.

Wir bitten um Entschuldigung für alles, was wir Euch angetan haben. Wir haben Euch sooo lieb und würden alles für Euch tun und Euch niemals mit Absicht verletzen, und da liegt es doch nahe, dass wir alles für ALLAH swt tun und ihm für das, was er uns gegeben hat, danken, indem wir seine Gesetze, Regeln und Befehle befolgen.

Die Muslime werden heutzutage aus allen Richtungen angegriffen, und da müssen wir etwas tun. Wir wollen ihnen so gerne helfen, aber wirklich helfen können wir ihnen nur, wenn wir ihnen in Freud und Leid zur Seite stehen. Nur zu Hause zu sitzen und Geld zu spenden, reicht einfach nicht mehr. Deshalb haben wir beschlossen, nach Syrien zu gehen und da unten mitzuhelfen, so gut wir können. Wir wissen, wie absurd das klingt, aber es ist haq, und wir hatten keine andere Wahl. Wir haben Angst vor ALLAH swts Urteil am Tag des Gerichts.

Sadiq gefror das Blut in den Adern. Ihm wurde schwarz vor Augen, es war, als würde sämtliche Kraft aus seinem Körper entweichen. Während er weiterlas, schien die Luft um ihn herum immer dünner zu werden. Das musste ein Scherz sein. Sie wollten ihn auf den Arm nehmen.

Abo Du weißt, das ist fard al ayn, und zwar nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen und alle, die nur irgendwie die Möglichkeit haben.

Sadiq las die E-Mail in Windeseile, auf der Suche nach einer Erklärung für diesen Unsinn. Er wusste, was der Ausdruck Fard al-‛Ayn bedeutete, damit war die religiöse Pflicht des Einzelnen gemeint, der man etwa durch Beten, Fasten, das Spenden von Almosen oder eine Reise nach Mekka nachkommen sollte.

Wir sind jetzt unterwegs und bald am Ziel in shaa ALLAH. Seid uns bitte nicht böse, es hat sooo wehgetan, ohne einen Abschied wegzugehen, wie Ihr ihn verdient hättet. Vergebt uns in shaa ALLAH, mit dieser Entscheidung wollen wir nur das Beste für unsere Ummah, aber auch das Beste für unsere Familie, das ist jetzt vielleicht nicht so leicht zu verstehen, aber uns allen wird dadurch in shaa ALLAH am Tag des Gerichts geholfen in shaa ALLAH.

Wir haben Euch sooo lieb und hoffen, dass Ihr nicht den Kontakt abbrecht, in shaa ALLAH werden wir Euch eine SMS schicken, sobald wir im Hotel angekommen sind, und dann könnt Ihr uns anrufen in shaa ALLAH.

Noch einmal möchten wir sagen, dass wir Euch von ganzem Herzen lieben, und es tut uns leid, dass Ihr es auf diese Weise erfahren müsst, wir verlangen zwar schon zu viel von Euch, aber um einen Gefallen müssen wir Euch noch bitten: Für unsere und für Eure Sicherheit ist es wichtig, dass niemand außerhalb der Familie von unserer Reise erfährt, das können wir gar nicht genug betonen. Bitte versucht, uns zu verstehen in shaa ALLAH.

»Gelobt sei Allah, der Herrscher der ganzen Welt ♥. Ayan & Leila ♥.«

Sadiq schlug die Hände vors Gesicht.

»Was steht da?!« Sara beugte sich über seine Schulter und betrachtete abwechselnd ihren Ehemann und die schwarzen Buchstaben auf dem Bildschirm.

»Ismael, komm her!«, rief Sadiq.

Was habe ich denn jetzt schon wieder angestellt?, fragte sich der Achtzehnjährige, als die bebende Stimme seines Vaters zu ihm ins Zimmer drang.

»Lies das mal laut vor«, bat Sadiq, als der Junge ins Wohnzimmer kam.

Bereits nach wenigen Zeilen begann auch Ismaels Stimme zu zittern.

»Was? Was?«, rief Sara. Ismael las die E-Mail zuerst auf Norwegisch vor, dann übersetzte er sie seiner Mutter.

»Deshalb haben wir beschlossen, nach Syrien zu gehen …«, übersetzte er.

»Illaahayow, ii caawi! Gott, steh mir bei!«, rief Sara und sank zu Boden.

Sadiq wollte ihr aufhelfen, konnte sich jedoch selbst nicht auf den Beinen halten. Er saß einfach da, hielt seine Frau und wiegte sie in den Armen.

»Ich kann es einfach nicht glauben«, murmelte er. »Das ist unmöglich.«

Die beiden Jüngsten starrten ihre Eltern erschrocken an. Isaq kam angelaufen und schmiegte sich eng an sie.

»Papa, wo sind sie hingegangen?«, fragte Jibril.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Sadiq.

Er versuchte, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen. Sie konnten doch nicht einfach fortgereist sein, ganz ohne Ankündigung, nein, das glaubte er nicht. Es gab nur drei Möglichkeiten. Erstens: Das war ein Scherz. Zweitens: Jemand anders hatte diese E-Mail geschrieben. Drittens: Er hatte nicht richtig gelesen.

Im Protokoll der Polizeieinsatzzentrale wurde für 21:54 Uhr ein Notruf verzeichnet. Der Anrufer hatte »eine E-Mail erhalten, in der ihm seine beiden Töchter mitteilen, dass sie nach Syrien gegangen sind, um sich dem Dschihad anzuschließen«.

Sadiq hatte die Polizei gebeten, die Handys der Mädchen zu orten, um herauszufinden, wo sie sich aufhielten.

»Sie wurden gekidnappt!«, rief Sara.

Immer wieder versuchte Sadiq, die beiden zu erreichen. Weit konnten sie noch nicht gekommen sein. Endlich hob am anderen Ende jemand ab.

»Abu …«

Er fiel seiner Tochter ins Wort, räusperte sich, versuchte, sich zu beherrschen.

»Ayan, bleibt, wo ihr seid. Ganz egal, wo. Bleibt einfach da, ich komme, ich fahre nur schnell noch tanken, bitte, wartet auf mich …«

»Papa, hör mir zu …«

»Ich komme euch holen, mit dem Auto, wo seid ihr?«

»In Schweden.«

»Wartet auf mich. Ich nehme den Wagen, oder nein, ein Flugzeug, ich fliege zu euch!«

»Vergiss es, Papa.«

»Denkt doch nach, ihr Lieben, wir müssen darüber reden. Mit wem seid ihr unterwegs?«

Die Verbindung brach ab. Als Sadiq es erneut versuchte, hörte er nur die Ansage, der angerufene Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar.

Er sprach noch einmal mit der Polizei. Im Protokoll hielt man fest, die Mädchen befänden sich in einem »unbekannten Hotel in Schweden«.

Plötzlich rief Ismael etwas aus seinem Zimmer. Er kam ins Wohnzimmer und deutete auf den Bildschirm seines Laptops.

»Ayan ist auf Facebook!«

Sadiq sah einen Namen, den er nur zu gut kannte: Fatima Abdallah, den Mittelnamen seiner Tochter.

Er setzte sich hin und schrieb ihr.

»Mein Kind, sag mir, wo ihr seid, damit ich euch treffen kann, oder geh ans Telefon. Ihr bereitet der Familie große Probleme. Richtet nicht noch mehr Schaden an. Mein KIND, bitte, mein KIND, rede mit mir.«

Regungslos saß er da und starrte auf den Bildschirm. Ayan hatte so verschlossen geklungen. So hart. Sie müssten nach Syrien. Um zu helfen. Die Leute dort seien in Not. Es sei ihre Pflicht.

Die ganze Entschlossenheit, die Sadiq im Gespräch mit der Polizei aufgebracht hatte, war nun wie weggeblasen. Sara telefonierte mit einer Freundin.

»Oh, ihr Armen«, sagte die. »Ich habe von ein paar Mädchen aus England gehört, die nach Syrien gegangen sind und …«

Plötzlich drang aus der Küche ein verkohlter Geruch ins Wohnzimmer. Im Topf auf dem Herd war der Reis angebrannt.

Isaq hing wie eine Klette an seinem Vater, er klammerte sich an ihn wie ein kleines verschrecktes Tier. Sadiq ließ es einfach zu. Jibril hielt etwas mehr Abstand, unruhig und wachsam schlich er um seinen Vater herum.

Normalerweise brachte Ayan die beiden Jüngsten abends ins Bett. Sie las ihnen aus dem Koran vor, erzählte von Mohammeds Leben oder redete mit ihnen über den Tag.

An diesem Abend mussten sie ohne den Segen des Propheten schlafen gehen.

Um 22:47 Uhr kam eine Antwort von Fatima Abdallah alias Ayan.

»Abu, ihr müsst euch beruhigen. Am besten unterhalten wir uns, wenn alle zur Ruhe gekommen sind und ein bisschen nachgedacht haben.«

»Ok, dann lass uns jetzt reden«, antwortete der Vater.

»Können wir das bitte morgen machen?«, bat die Tochter und fügte hinzu: »Was ihr auch tut, ihr dürft niemandem etwas sagen, sonst bringt ihr uns alle in Gefahr.«

»Mein Kind, du bist zu stark für so eine Gehirnwäsche. Du bist doch meine kleine Ayan, die immer auf mich gehört hat. Deine Mutter liegt im Koma. Das Haus ist voller Polizisten. Das Jugendamt ist hier.«

»Warum habt ihr denn die Polizei gerufen? Wir haben euch doch gesagt, dass ihr das nicht machen sollt!«

»Mein Kind, habt ihr uns vielleicht irgendwas erzählt?«

»Ihr hättet uns nie gehen lassen.«

»Ayyyaaaan, fürchtet Gott, wenn ihr nach Ihm lebt. Ohne männlichen Vormund dürft ihr überhaupt nicht verreisen. Nenn mir den Scheich, der euch das erlaubt hat, er soll mir erst mal die theologische Rechtfertigung dafür liefern. Ich werde blind, wenn ich euch nicht finde!«

»Abu, beruhig dich! Du bekommst ein ganzes Buch.«

»Das werden wir euch nie verzeihen, meine Töchter, weder jetzt noch in der Ewigkeit. Und dafür bekommt ihr auch keine göttliche Belohnung.«

»Papa, sag nichts, was du später bereuen wirst. Im Moment sind alle erschöpft, wir sind sehr erschöpft, können wir bitte morgen weiterreden?«

»Das Paradies liegt zu Füßen deiner Mutter. Das ist ein Hadith, mein Kind. Das Wort des Propheten. Eure Mutter liegt im Koma, sie ist im Krankenhaus. Wie soll euch das gelingen? Woher kommt denn die göttliche Belohnung, die ihr sucht? Mein Kind, investiert nicht in die Hölle!«

»Ihr habt zwei kleine Kinder, um die ihr euch kümmern müsst, seid für sie stark. Wir sind in Sicherheit und kommen zurecht«, beteuerte Ayan.

»Sei doch nicht so naiv!«, schrieb Sadiq und wiederholte noch einmal, dass das Paradies zu Füßen ihrer Mutter liege. »Hast du das vergessen?«, fragte er seine älteste Tochter.

»Ins Paradies gelangt man durch Allahs Gnade«, antwortete Ayan. Dann loggte sie sich aus.

Auf Ismaels Handy erschien ein Foto, verschickt über Snapchat: ein Teller mit einem großen Stück Fleisch, dazu feines Besteck, im Hintergrund eine weiße Tischdecke.

»Letzte Mahlzeit in Europa!«, stand unter dem Bild, das wenige Sekunden später wieder verschwunden war.

Der Text war über Viber verschickt worden. Ismael tippte mit dem Finger darauf. Was seine Schwester nicht wusste: Der Nachrichtendienst zeigte automatisch den Standort des Absenders an, wenn man die Funktion nicht ausgeschaltet hatte. Seyhan, Adana, Türkei, stand da. Er tippte auf die Ortsangabe, und eine Karte mit einem blauen Punkt in der Mitte öffnete sich. Er zoomte hinein, sah Kreuzungen, Straßen.

»Sie sind in der Türkei!« Ismael kam aufgeregt zu seinen Eltern und zeigte ihnen den blauen Punkt auf der Karte. »Ich kann genau sehen, wo sie sind! Ruf die Polizei an, sie müssen der türkischen Polizei Bescheid geben, sie können sie aufgreifen, da im Restaurant. Sie sitzen gerade beim Essen!«

Sadiq verständigte sofort die Polizei und übermittelte die Informationen, die seine Tochter unwissentlich preisgegeben hatte. Mittlerweile war es elf Uhr abends.

»Wir gehen hier durch die Hölle«, sagte er mit Nachdruck. »Sie müssen uns jetzt helfen. Finden Sie sie, bevor es zu spät ist!«

In der Einsatzzentrale wurden seine Angaben notiert und an die örtliche Abteilung des norwegischen Geheimdienstes PST weitergeleitet. Dort lagen sie die ganze Nacht in einer ungelesenen E-Mail, während die Mädchen im Grand Hotel in Adana zu Bett gingen, wo sie mit ihren eigenen Pässen und vollen Namen eingecheckt hatten.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht signalisierte ein Piepen den Eingang einer neuen E-Mail auf Sadiqs Laptop. Sie stammte von Ayan. Keine Anrede, kein »Liebe Mama, lieber Papa«, sie kam direkt zur Sache.

Lest bitte das GANZE Buch und informiert Euch über den Autor, bevor Ihr antwortet, wir haben diesen Schritt fast EIN JAHR LANG geplant und genau durchdacht, so etwas würden wir NIE aus einer spontanen Laune heraus machen. Gruß Ayan

Sadiq öffnete den Anhang. Es war ein Manuskript, dessen Titelseite folgendermaßen aussah:

DEFENSE OF THE MUSLIM LANDS

The First Obligation After Iman

By Dr. Abdullah Azzam

(May Allah accept him as Shaheed)

Dem Text war ein Zitat von Mohammed vorangestellt.

»… But those who are killed in the Way of Allah, He will never let their deeds be lost.«

Während Sadiq sich in den Text vertiefte, ging Ismael auf sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Mit dem Smartphone in der Hand legte er sich aufs Bett und starrte an die Decke. Ihm kam alles so unwirklich vor. Er loggte sich auf Facebook ein, scrollte herunter, tippte hier und da etwas an, in seinem Kopf rauschte es. Plötzlich sah er, dass Fatima Abdallah online war.

»Ayan. Hier ist Ismael«, schrieb er. »Ich habe mitgekriegt, dass ihr abgehauen seid. Was wollt ihr da unten machen? Also konkret. Wann landet ihr in Syrien?«

Die Antwort seiner großen Schwester kam prompt.

»Zuerst mal: Was ist bei euch los? Ist die Polizei da? Und das Jugendamt?«

»Nein. Nein.«

»Gott sei Dank! Liegt Mama im Koma?«

»Sie weint. Ist traurig. Jetzt du.«

»Well, wir wollen halt machen, was so nötig ist.«

»Was genau meinst du damit?«

»Einfach alles, vom Wasserholen für Kranke bis hin zur Arbeit in den Flüchtlingslagern.«

»Mama glaubt, du willst dich als Ehefrau anbieten. Um Männer im Dschihad zu befriedigen. Lol. Sie meint, du wirst vergewaltigt.«

»Um Himmels willen. Du weißt genau, dass wir nicht so sind.«

»Ich weiß nicht, ob ich noch irgendwas weiß.«

»Hältst du mich für eine Nutte?«

»Keine Ahnung«, antwortete Ismael und schickte einen traurigen Smiley hinterher. »Ich hab gedacht, du hättest mehr Vertrauen zu mir. Du hättest mir doch was sagen können.«

»Du hättest uns nur zurückgehalten!«, schrieb die Schwester. »Sag Mama, dass es uns leidtut, aber Allah kommt nun mal zuerst, vor irgendwem sonst.«

»Sie ist sauer auf dich, komplett im Koma.«

»Sie ist nicht im Koma.«

»Sie kann kaum noch reden und weint die ganze Zeit. Wie würdest du das denn sonst nennen?«

»Wenn sie weint, ist sie nicht im Koma. Erzähl uns nicht solche Lügen.«

»Hm, ok, ich übertreibe, ich kann ja mal ein Video davon machen.«

»Neiiin.«

»Wie seid ihr an das Geld gekommen?«

»Ich habe gearbeitet.«

»Wie viel habt ihr?«

»Genug. So oder so, sag Papa, er soll das Buch, das ich ihm geschickt habe, von vorne bis hinten durchlesen.«

Dann reichte sie das Handy an ihre kleine Schwester weiter.

»Lieber Ismael, hier ist Leila, ich habe Mama unendlich lieb, aber wenn es um ALLAH und den Propheten geht, habe ich einfach Angst, was ALLAH mich am Tag des Gerichts fragen wird. Ich weiß, hier in der Dunya tue ich gerade vielen Menschen weh, aber an die Dunya denke ich jetzt nicht. Ich mach das alles nur, weil ich meine Mutter und meinen Vater und die ganze Familie sooo lieb habe, es geht hier nicht nur um mein eigenes Akirah, sondern auch um eures, ich bin nicht gerade die beste Tochter, und ich gebe meinen Eltern nicht, was sie WIRKLICH verdienen, aber jetzt habe ich die Chance, das wiedergutzumachen, indem ich ihnen im Akirah helfe. Versuch das bitte zu verstehen. Wenn du die Chance hättest, deinen Eltern am Tag des Gerichts zu helfen, auch wenn du ihnen dafür in der Dunya wehtun müsstest, aber am Ende könnte sie das ins Dschannah bringen, würdest du dann nicht auch ALLES für diese Möglichkeit tun?«

Die Nachricht kam in Bruchstücken, da Leila jedes Mal auf Senden drückte, sobald sie eine Zeile geschrieben hatte. Ismael wusste genug über den Islam, um die Botschaft zu verstehen. Dunyā bezeichnete das Leben hier auf Erden, Akhirah war das Leben nach dem Tod, und Dschanna bedeutete Paradies.

»Kommt ihr denn zurück? Also jemals?«, schrieb Ismael von seinem Bett aus.

»Wissen wir nicht so genau, aber eigentlich haben wir es nicht vor«, antwortete Leila.

»Dann sehen wir uns also wahrscheinlich nie wieder?« Ismael schickte einen weinenden Smiley.

»So darfst du nicht denken, wir haben immer noch Skype, haha.«

»Aber in real life jetzt.«

»Wer weiß.«

Ismael tippte auf ein enttäuscht dreinschauendes Emoji und schrieb: »Oh well.«

»Wie geht es dir?«, wollte seine kleine Schwester plötzlich wissen.

»Komisch. Weiß nicht. Traurig.«

»So richtig fassen können wir das alles auch noch nicht. Sei nicht traurig, wir sind ja nicht gestorben, und es geht uns gut. Versuch, positiv zu denken. Think pink ☺ Weißt du noch diesen Frühling? Du hast gesagt, so was würde ich NIE machen, weil du dachtest, ich wäre zu feige.«

»Ok, du hast gewonnen. Kannst du jetzt zurückkommen?« Leila antwortete nicht, weshalb er schnell hinzufügte: »Haha. Nee. Macht mal, was ihr für richtig haltet. Viel Spaß.«

»We will.«

»I’m cool«, antwortete Ismael.

»Gute Nacht.«

Leila schickte ihm noch einen Smiley und ein Herz.

Dann loggte sie sich aus.

Ismael blieb mit dem Smartphone in der Hand auf dem Bett liegen. Über seine Wangen kullerten die Tränen.

Im Wohnzimmer las Sadiq immer noch im Defense of the Muslim Lands und hatte gleichzeitig ein Auge auf sein Handy und Facebook, für den Fall, dass seine Töchter sich noch einmal meldeten.

»Es gibt keinen Kalifen mehr«, begann der Text. »Das prächtige Reich, das die Welt einst fürchtete. Das Volk, dem die letzten Offenbarungen Gottes anvertraut wurden. Eine Religion, die für die ganze Menschheit bestimmt ist. Wo ist das alles hin?«, fragte der Verfasser. »Die Unreinen haben Horden abgestumpfter Muslime hinters Licht geführt, indem sie Marionetten als falsche Leitfiguren einsetzten. Der Kolonialismus hat ein neues Gesicht. Sie kommen aus allen erdenklichen Himmelsrichtungen und wollen uns zwischen sich aufteilen, als würden sie zum Fest laden. Für ein Volk, das die Menschheit einst zur Erlösung führen sollte, gibt es keine größere Demütigung. Wie aber sollen die Muslime den Ernst der Lage erkennen? Ihre vier Wände wackeln, und die Nachbarn lachen.«

Den weiteren Text überflog Sadiq nur. Die Muslime müssten unter einem Kalifen vereint werden, hieß es. Dafür müsse mit dem Schwert gekämpft werden.

Abdullah Azzam war der Vater des modernen Dschihadismus. Als er Anfang der Achtzigerjahre in Saudi-Arabien lehrte, begegnete er Osama bin Laden und setzte sich maßgeblich dafür ein, dass der saudische Geschäftsmann die Mudschaheddin, also die heiligen Krieger im Kampf gegen die Sowjetunion, finanziell unterstützte. Während Azzam in Afghanistan seine Freundschaft zu bin Laden vertiefte, verfasste er eine Fatwa darüber, wann der Dschihad als individuelle Pflicht, Fard al-‛Ayn, verstanden werden müsse und wann man andere für sich kämpfen lassen könne, weil es die Pflicht der Gemeinschaft, Fard al-Kifāya, sei.

»Im Vergleich zum Dschihad auf dem Schlachtfeld sind Gebete nichts als Kindereien«, zitiert Azzam einen bekannten Gelehrten. Feigheit war für ihn verachtenswert. »Für jede Träne, die euch über die Wange rinnt, ist uns Blut über die Brust geflossen. Eure Frömmigkeit ist der reinste Spott, denn während die Gemeinde nichts als Gebete zu bieten hat, opfern die Mudschaheddin ihr Blut.«

Der Palästinenser zitierte aus dem Korankapitel »Die Umkehr«: »Stellt ihr etwa die Tränkung der Pilger und das Bevölkern der geschützten Gebetsstätte (den Werken) dessen gleich, der an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und sich auf Allahs Weg abmüht? Sie sind nicht gleich bei Allah. Und Allah leitet das ungerechte Volk nicht recht.«

Weiter hieß es bei Azzam: »Wird ein muslimisches Land gekränkt, und sei es nur so groß wie eine Handfläche, dann gilt der Dschihad als Fard al-‛Ayn, und zwar für alle Muslime, Männer wie Frauen. Dann kann ein Kind ohne die Erlaubnis seiner Eltern losziehen, eine Frau ohne die Erlaubnis ihres Mannes.«

Das also wollten die Mädchen ihm mit dem Buch zeigen. Die Verpflichtung der muslimischen Umma gegenüber gab ihnen das Recht, ohne sein Einverständnis nach Syrien zu reisen. Sie glaubten, sie hätten die Gelehrten auf ihrer Seite. Sadiq schloss das Dokument.

Dschihad.

Kalifat.

Märtyrertod.

So ein Unfug.

Lest bitte das GANZE Buch, bevor Ihr antwortet, wir haben diesen Schritt fast EIN JAHR LANG geplant.

In dieser Nacht fand Sadiq keinen Schlaf.

Die Welt war aus den Fugen geraten.

Verschleiert

Ein neuer Tag brach an.

Sobald Ismael wach war, sah er nach, ob auf Viber, Facebook, im Messenger oder auf WhatsApp neue Nachrichten eingegangen waren.

»Ayan, Leila, seid ihr am Leben?«, schrieb er unter den Chat-Verlauf der vergangenen Nacht.

Sara weinte. »Irgendwer muss sie hinters Licht geführt haben!«

»Das war Gehirnwäsche«, sagte Sadiq.

Ismael zitterte nicht mehr wie am Abend zuvor, doch der Schock saß ihm immer noch tief in den Knochen. Es war wie ein Faustschlag, auf den er nicht gefasst gewesen war. Er machte sich Vorwürfe, dass er es nicht hatte kommen sehen. Die vielen Videos von Predigern und Imamen, die seine Schwestern sich Stunde um Stunde auf YouTube angesehen hatten. Ihre Wut darüber, dass er sie nie in die Moschee begleitete. Die Anschuldigungen. Ihre Abscheu gegen Kuffār, die Ungläubigen.

»Hört auf, dieses Wort zu benutzen!«, hatten die Eltern sie zurechtgewiesen. »Das ist respektlos.«

Eine Weile hatten die Mädchen sich daran gehalten, bis ihre Verachtung den Ungläubigen gegenüber erneut durchbrach. Sie selbst schienen gar nicht rein genug werden zu können, während alles um sie herum immer schmutziger wurde.

Leila hatte oft vom Tag des Gerichts gesprochen, an dem nur die Rechtgläubigen Gottes Zorn entgehen würden. Dieses Leben sei bloß ein Test, hatte sie immer gesagt, das wirkliche Leben komme erst später, im Paradies, sofern man Gott folge. Dort werde man in einem Garten leben, in dem die köstlichsten Früchte wüchsen, an einem Fluss aus Milch, man sei von intensivem Wohlbefinden erfüllt und bekomme alles, wonach man sich sehne. Sämtliche Empfindungen seien rein und schön, man werde nie mehr Wut, Trauer, Reue oder Schmerz verspüren, sondern nur vollkommene Harmonie, Glück und übersprudelnde Freude. In Häusern aus reinem Gold werde man auf diamantenen Fußböden wandeln. Und die Engel würden singen, und man werde immerzu Gottes Nähe spüren. Als Ismael Zweifel an dieser Vorstellung äußerte, reagierte Leila gereizt.

»Was glaubst du denn, was nach dem Tod passiert?«, fragte sie.

»Ich glaube, man stirbt und kommt unter die Erde und dann … tja, das wars dann halt.«

»Nein«, hatte Leila ihm widersprochen. »Du kommst entweder ins Paradies oder in die Hölle. Glaub mir, Ismael, es ist noch nicht zu spät. Lass mich dir helfen. Ich kann dich auf den rechten Weg bringen.«

An Gottes Wort zu zweifeln, sei Blasphemie, sagte sie. Und die gerechte Strafe für Blasphemie sei der Tod.

Plötzlich sah er alles ganz deutlich. Wie extrem ihre Ansichten geworden waren. Wie hatte es ihm nur entgehen können, auf welchem Weg seine Schwestern sich befanden!

Wieder und wieder las Ismael die lange Nachricht, die Leila ihm am vergangenen Abend geschickt hatte. Es sei wichtiger, Allah am Tag des Gerichts Rede und Antwort stehen zu können, als sich darüber Gedanken zu machen, ob man hier und jetzt jemanden verletze, hatte sie geschrieben. »Ich bin nicht gerade die beste Tochter, und ich gebe meinen Eltern nicht, was sie wirklich verdienen, aber jetzt habe ich die Chance, das wiedergutzumachen, indem ich ihnen im Jenseits helfe.« Sie wollte sich dem Heiligen Krieg anschließen und so die ganze Familie vor der Hölle bewahren. Wer nämlich als Märtyrer starb, konnte siebzig Verwandte mit ins Paradies nehmen. Sie opferte sich für sie.

Irgendwann im Laufe des Morgens erhielt Sadiq einen Anruf vom PST, Abteilung Asker und Bærum, wo man nun endlich die Mitteilung gelesen hatte, dass die Mädchen sich in der Türkei befanden. Der Beamte hatte eine Reihe Fragen, er wollte wissen, in welchen Kreisen Ayan und Leila sich bewegt hatten, wen sie kannten, wer möglicherweise etwas wusste, ob die Eltern irgendwelche Anhaltspunkte hatten.

Damit nach ihnen gefahndet werden könne, müsse die Familie eine Vermisstenanzeige aufgeben.

Als Sadiq aufgelegt hatte, kamen die beiden Jüngsten ins Wohnzimmer geschlurft. Keine Mama hatte sie an diesem Freitagmorgen behutsam geweckt, kein Papa würde sich mit ihren Schnürsenkeln abmühen. Um den Platz auf dem Beifahrersitz würden sie heute nicht streiten müssen, denn es war ohnehin niemand in der Verfassung, sie zur Schule zu bringen. Unsicher schlichen sie um die Erwachsenen herum.

»War es falsch, dass sie weggegangen sind?«, fragte Isaq.

»Ja«, antwortete Sadiq.

Die Jungen sahen ihn an. Dann widmeten sie sich ihren Computerspielen.

Wer konnte etwas wissen? Wer war eingeweiht gewesen? Sadiq versuchte, Anhaltspunkte zu finden, eine Spur, irgendetwas. In der Nacht hatte er sich auf der Suche nach Antworten das Hirn zermartert, und gegen Morgen hatte er schließlich eingesehen, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was seine Töchter im Laufe des vergangenen Jahres getan, mit wem sie ihre Zeit verbracht hatten. Ein paarmal hatte er sie nach Oslo zur Tawfiiq-Moschee gefahren, der größten somalischen Moschee in Norwegen. Sie waren zum Fraueneingang hineingehuscht, doch darüber hinaus wusste er nichts. Auch zu Versammlungen der Organisation Islam Net und zur Moschee in Sandvika hatte er sie gefahren. Aber wen hatten sie dort getroffen? Den Koranlehrer – hatte er sie womöglich angestiftet? War er nicht mal heiliger Krieger in Mauretanien gewesen? Sadiq wusste es nicht mehr, vielleicht verwechselte er auch etwas. Er hatte nicht so genau zugehört, musste er sich nun eingestehen. Am besten fuhr er mal zur Moschee und hörte sich ein bisschen um. Er musste auch herausfinden, ob Aisha etwas wusste. Hatte Ayan nicht gesagt, der Koffer sei von ihr? Er musste hinfahren und der Sache auf den Grund gehen.

Aber er tat es nicht. Er drehte sich nur weiter um sich selbst.

Die Töchter hatten ihn und Sara mit solcher Zufriedenheit, ja, regelrechter Selbstzufriedenheit erfüllt. Er erinnerte sich noch daran, wie die Mädchen das erste Mal an einer Abendversammlung teilnehmen wollten. »Um acht Uhr geht es los«, hatten sie gesagt. Was hatten er und Sara gelacht, als ihnen klar wurde, dass es sich nicht etwa um eine faule Ausrede handelte, mit der die beiden am Freitagabend in die Stadt ausbüxen wollten, sondern dass es sie tatsächlich nur zu einer Abendversammlung in die Moschee zog. Aber dann, jetzt … Er hatte keinerlei Namen, kannte kein einziges Gesicht, er wusste rein gar nichts über die Bekanntschaften, die seine Töchter im Laufe des letzten Jahres geschlossen hatten.

Am Nachmittag vor ihrer Abreise wollte Ayan ein paar Besorgungen machen und hatte ihn dafür um Hilfe gebeten.

»Kannst du mich mit dem Auto fahren?«, hatte sie gefragt. Selbstverständlich, er war ja krankgeschrieben und hatte sowieso nichts Besonderes vor. Er freute sich sogar über ihre Bitte, denn in letzter Zeit war sie so abweisend gewesen, hatte ihn gemieden und fast gar nicht mehr mit ihm geredet. Das hatte ihn bedrückt, schließlich war Ayan ihm von allen Familienmitgliedern am ähnlichsten. Leila zu verstehen, fiel ihm oft schwer, aber Ayan hatte er sich immer sehr verbunden gefühlt, weil sie wie er gern diskutierte, den Dingen auf den Grund ging. Früher hatte sie ihn stets um Rat gefragt, doch mit der Zeit hatte sie ihre eigenen Ansichten entwickelt, und sie waren sich zunehmend uneins geworden. Irgendwann waren ihre Diskussionen verstummt.

An diesem Nachmittag jedenfalls war er mit ihr über die E18 nach Oslo gefahren. Ayan wollte in ein paar Geschäfte an der Rabita-Moschee. Aisha habe Reisepläne, sagte sie, und brauche ein bisschen Hilfe bei den Einkäufen. Er hatte nicht weiter nachgefragt, war einfach nur glücklich gewesen, dass er seine Tochter beim Shopping begleiten durfte.

Unterwegs hatten sie die meiste Zeit geschwiegen, oder besser gesagt: Er hatte versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber irgendetwas hatte zwischen ihnen gestanden. In der Stadt hatte er sich dann am Einkaufszentrum Gunerius in ein Café gesetzt, um dort auf sie zu warten.

Der Gedanke an diesen Tag versetzte ihm einen Stich. Er hatte sie herumkutschiert, damit sie in aller Ruhe Besorgungen für ihre bevorstehende Reise erledigen konnte. Ihre und Leilas Reise. Der Plan war sicher auf Ayans Mist gewachsen. Sie war die Chefin von den beiden. Die Macherin, die mutig vorausging. Unterfeldwebel, hatte Sadiq sie immer genannt. Nur Sara hatte noch mehr zu sagen.

Als Ayan mit all ihren Tüten zurück in der Wohnung war, hatte sie ihn umarmt und gesagt: »Danke, Papa!«

Sie haben uns mit Umarmungen betäubt, dachte Sadiq. Sie hatten seine Vaterliebe ausgenutzt, jawohl, sie hatten ihn geblendet.

Später am Abend war Ayan noch einmal aus dem Mädchenzimmer gekommen, um zu fragen, ob er ihr seine Visakarte leihen könne. Ihre eigene sei abgelaufen, und sie müsse noch etwas im Internet bestellen. »Ich habe kaum Geld auf dem Konto«, hatte er geantwortet – es befanden sich nicht mal mehr tausend Kronen darauf. Sie wirkte gestresst. »Kannst du mich zur Bank in Sandvika fahren? Dann zahle ich dir was ein.«

»Die Bank hat doch längst geschlossen, kann das nicht bis morgen warten?«

Ayan wollte es unbedingt versuchen, doch er hatte recht gehabt, die Bank war schon zu. Was hatte sie an dem Abend wohl noch bestellen wollen? Flugtickets? Nein, die hatten sie sicher schon gehabt. Wer hatte sich überhaupt um die Tickets gekümmert und die Reise organisiert? Wer um alles in der Welt hatte sie auf die Idee gebracht?

Leila war fast den ganzen Abend über nicht aus dem Zimmer gekommen.

»Bist du krank?«, hatte er sie gefragt. Doch seine Jüngste hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Dann hatte sie ihn sanft in den Bauch geboxt, so wie früher immer. »Den dicken Bauch werde ich dir schon plattmachen, Papa«, hatte sie grinsend gesagt. Und als Ismael vom Training nach Hause gekommen war, hatte sie ihren Bruder fest in die Arme geschlossen.

Nach der abendlichen Fahrt zur Bank war Ayan zu Leila ins Zimmer gegangen. Sie hatte sich auf Twitter eingeloggt und geschrieben: »Freundlichkeit ist eine Sprache, die Taube hören und Blinde lesen können.« Am Tag zuvor hatte sie getwittert: »Shaytan ist der Virus & der Islam ist die Kur.« Schaitan war das arabische Wort für Satan.

Auf ihrem Profilbild war ein Vogel mit glänzendem grünem Gefieder zu sehen. Der Prophet hatte gesagt, wer im Dschihad sterbe, dürfe in Gestalt eines grünen Vogels ins Paradies fliegen und in den Kronleuchtern nisten, die vom Throne Gottes herabhingen.

Um ein Uhr mittags ging bei der Polizei die Vermisstenanzeige ein. Erst da wurde eine internationale Suchmeldung über Interpol herausgegeben. Dem Protokoll nach wurden folgende Maßnahmen ergriffen: »Verhängung des rechtfertigenden Notstandes und Anfragen bei Banken, Telekommunikationsgesellschaften, Fluggesellschaften, Grenzübergängen.«

Die Polizeidirektion Asker und Bærum hatte einen Mitarbeiter der Einheit für Vermisstenfälle mit der Angelegenheit betraut. Er stand fortlaufend mit Sadiq in Kontakt.

»Schicken Sie jetzt Leute los, die nach ihnen suchen?«, wollte Sadiq wissen.

»Wir haben das Außenministerium informiert, und die Botschaft in Ankara geht der Sache nach, wir arbeiten mit der türkischen Polizei zusammen.«

»Und was unternimmt die?«

»Wir werden Sie auf dem Laufenden halten«, versprach der Beamte.

»Aber wie konnten Sie die Mädchen überhaupt aus dem Land lassen? Warum hat man sie nicht schon am Flughafen aufgehalten? Leila ist minderjährig … und …«

Sadiq erhielt keine Antwort. Stattdessen teilte man ihm mit, dass eine Streife vorbeikommen würde, um sie zum Verhör abzuholen.

»Wenn das norwegische Kinder wären, würden sie ganz anders vorgehen«, sagte Sara. »Das ist nur, weil wir Somalier sind! Die Polizei nimmt uns nicht ernst.«

Sara fühlte sich, als hätte man ihr ein Stück ihres Körpers entrissen. Der Verlust war geradezu physisch spürbar.

Einer nach dem anderen, wie es sich gehört, wurden sie abgeholt und in ein Büro auf der Polizeiwache gebracht. Erst Sadiq, dann Sara.

»Was soll ich denen denn antworten?«, fragte sie Sadiq.

»Antworte einfach«, sagte er. »Leila ist gerade erst sechzehn geworden, Ayan ist so eben volljährig. Sie sind norwegische Staatsbürgerinnen. Die Polizei wird alles daransetzen, sie zu finden«, versicherte er ihr.

Die Verhöre wurden von zwei Männern durchgeführt, einem Mitarbeiter der Einheit für Vermisstenfälle und einem Beamten von der örtlichen Abteilung des PST.

Ismael war als Letzter dran.

»Wie geht es dir?«, fragten sie ihn.

»Was hast du nächstes Jahr vor? Irgendwelche Pläne?«

»Hast du dich irgendwo beworben oder willst du erst mal ein bisschen reisen?«

»Hast du auch die Koranschule besucht?«

»Gehst du in die Moschee?«

»Bist du auch radikal?«

»Wusstest du von ihren Plänen?«

»Wurden sie von irgendwem gezwungen?«

»Was wussten deine Eltern?«

Den Achtzehnjährigen provozierten diese Fragen. Er hatte den Eindruck, als wollten die Polizisten nur herausfinden, ob er seinen Schwestern ideologisch nahestand und ihnen womöglich hinterherreisen würde und ob sie einem größeren Terrornetzwerk angehörten. Dabei ging es ihm doch vor allem darum, seine Schwestern aufzuhalten. Etwas Wichtiges, worüber Sadiq die Polizei im Ungewissen gelassen hatte, konnte er ihnen immerhin klarmachen: Die Schwestern waren aus freien Stücken gereist.

Auf dem Weg nach Hause war Sadiq frustriert.

»Sie betrachten uns als Gefahr«, sagte er. »Nicht als Familie, die zwei Töchter vermisst. Wir haben sie um Hilfe gebeten, und sie behandeln uns wie Kriminelle!«

Gegen fünf Uhr nachmittags klingelte es an der Tür.

»Wir haben einen Durchsuchungsbefehl«, sagten die Beamten, die nun auf der Matte standen, zwei uniformierte und einer in Zivil.

Sie wollten wissen, wo das Zimmer der Mädchen sei. Sara zeigte es ihnen. Während die Bediensteten in Uniform Schränke und Schubladen öffneten, machte sich der Zivilbeamte Notizen. Sie sammelten Papiere, Notizhefte und Computerkomponenten ein, bevor sie zur Durchsuchung der übrigen Zimmer übergingen. Sie schauten in Kleiderschränke, Regale, Kartons. Isaq klammerte sich wieder an Sadiq.

»Papa, gib mir die Hand«, bat er und ließ die Polizisten nicht aus den Augen.

Die Familie wurde aufgefordert, sich im Wohnzimmer aufzuhalten, und als Sadiq aufstand, um den Beamten zu folgen, wurde er barsch zurückgewiesen.

»Sind wir etwa Terroristen?!« Sara ging im Wohnzimmer auf und ab und machte ihrer Empörung auf Somali Luft. »Wollt ihr uns terrorisieren, anstatt uns zu helfen?!«

»Setz dich, beruhig dich. Sie machen nur ihren Job«, sagte Sadiq.

»Gott steh mir bei, Gott steh mir bei!«, rief Sara.

Entrüstet über das Verhör und die Hausdurchsuchung rief sie eine Freundin an. Dort war jedoch nicht viel Unterstützung zu holen.

»Was? Ihr habt die Polizei verständigt? Das war ein großer Fehler! Für Somalier tun die gar nichts! Sucht die Mädchen lieber auf eigene Faust, ihr könnt nicht darauf warten, dass die norwegische Polizei sich darum kümmert.«

Ismael konnte die Tränen der Mutter und die gereizte Stimmung des Vaters nicht mehr ertragen und verkroch sich in sein Zimmer. Im Chat gab es nach wie vor nichts Neues von seinen Schwestern. Um sieben Uhr abends schrieb er ihnen erneut eine Nachricht:

»Hallo. Antwortet pls.« Um acht Uhr: »Hallo.« Und um neun Uhr: »Ayan?«

Am Morgen desselben Tages hatten die Mädchen in Adana aus dem Grand Hotel ausgecheckt und ihre Pässe zurückerhalten, die sie bei der Ankunft an der Rezeption hinterlegt hatten. Anschließend waren sie weiter nach Süden zur syrischen Grenze gereist. Gegen Nachmittag schalteten sie ihre Handys aus und waren im türkischen Telefonnetz nicht mehr zu orten.

Sadiq fand keine Ruhe, der Gedanke daran, was seinen Töchtern alles zustoßen konnte, erfüllte ihn mit Angst. Doch ihn plagte noch etwas anderes: Die Mädchen hatten ihn gedemütigt, die Polizei hatte ihn gekränkt, er hatte sein Gesicht verloren. Er hatte die Dinge nicht unter Kontrolle.

Los, Sadiq, zeig ihnen, wer du bist, sagte eine Stimme in seinem Kopf.

Du bist Sadiq, der Mann, der Verantwortung für seine Familie übernehmen kann.

Gemäß der Viber-Nachricht war der letzte bekannte Aufenthaltsort der Mädchen Adana. Sadiq konnte nicht einfach herumsitzen und tatenlos darauf warten, dass seine Töchter wieder auftauchten, dass sie sich besannen oder die Polizei sie endlich aufspürte. Er musste sie finden, bevor sie weiterreisten.

Schließlich nahm Sara ihm die Entscheidung ab.

»Zieh los und such sie!«, befahl sie vom Sofa aus.

Da hatte er es plötzlich eilig. Jetzt war klar, wo es langging, er brauchte nur noch dem vorgegebenen Kurs zu folgen.

Die Turkish Airlines flogen täglich von Oslo nach Istanbul. Sadiq buchte gleich für den nächsten Tag ein Ticket, packte in Windeseile ein paar Sachen zusammen und lieh sich zwanzigtausend Kronen von einem Freund. Am Osloer Flughafen tauschte er den ganzen Betrag in Dollar um. Sein Flug ging um zwanzig nach zwölf.

Drei Tage nach dem Aufbruch der Töchter reiste der Vater ihnen hinterher. Seit dem Abend, an dem sie verschwunden waren, hatte er nichts mehr von ihnen gehört.

Please turn off all electronic devices. Die nächsten paar Stunden würde er darauf verzichten müssen, im Minutentakt sein Handy zu kontrollieren. Nun war er mit sich und seinen Gedanken allein.

Vor allem nach den Sommerferien hatte Ayan sich irgendwie verändert, sie war stiller und verschlossener geworden, und zwar über einen längeren Zeitraum. In den letzten Monaten hatte Sadiq auf Liebeskummer getippt.

Sara hatte nicht viel darauf gegeben. »Sie ist ein Teenager, das legt sich wieder. Lass sie einfach in Ruhe.« In der Regel war sie der strengere Elternteil. Als Ayan vor ein paar Jahren für einen Jungen aus dem Islam Net schwärmte, hatte die Mutter ein Machtwort gesprochen. Er war ebenfalls Somalier, und eines Tages hatte Ayan plötzlich verkündet, sie habe vor, sich zu verloben. Sara hatte ihr widerwillig erlaubt, sich mit dem Jungen zu treffen, aber zum Heiraten sei es eindeutig zu früh, hatte sie entschieden.

»Das ist mir egal, ich mache, was ich will«, hatte Ayan zu ihrer Mutter gesagt. Ismael war damals ziemlich beeindruckt gewesen. Er hätte sich nie getraut, in so einem Ton mit seinen Eltern zu reden. Doch nachdem sie erst einmal die Erlaubnis bekommen hatte, sich mit dem Jungen zu verabreden, war ihr Luftschloss zerplatzt, und sie hatte das Interesse verloren.

Ob nun ein neuer Schwarm auf der Bildfläche erschienen war und seine Tochter in diese Sache hineingezogen hatte?

Mit dem extremen Islam hatte er die Mädchen zum ersten Mal vor ein paar Jahren liebäugeln sehen. Leila war damals vierzehn gewesen und in die neunte Klasse gegangen. Ayan war siebzehn.

»Wir wollen mit ein paar Freundinnen nach Oslo, aber wir haben kein Geld«, hatte Ayan gesagt.

In der Regel gab Sadiq ihnen ein paar Kronen für Kebab und Eis oder andere Kleinigkeiten. Da er aber gerade kein Bargeld bei sich hatte, überließ er ihnen seine Visakarte samt Geheimzahl.

»Ihr dürft maximal fünfhundert Kronen ausgeben.«

»Und wenn das nicht reicht?«

»Das wird reichen.«

Er sah die Szene noch genau vor sich. Ayan hatte ihn umarmt, Leila auch. Am Abend waren sie mit mehreren Einkaufstüten nach Hause gekommen.

»Wir haben sechshundert ausgegeben«, sagte Ayan mit einem entschuldigenden Knicks.